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LUDWIG STEIN
Kausalität, Teleologie und Freiheit

"Nicht Naturgesetze, nicht mechanische Kausalität, sondern Zweckgesetze, teleologische Kausalität, das Handeln nach Motiven, sind die letzten elementaren Bestimmungsgründe menschlichen Zusammenwirkens."

"Nach und nach lehnte sich die soziologische Opposition gegen diese moralstatistische Prädestination zur Sünde, welche den Menschen zur  Null und Marionette, zum mechanischen Produkt von Klima und Bodenbeschaffenheit, von Rasse und Umgebung, von Vererbung und Charakter herabdrückte. Unter dem Wahlspruch  le statistique, cést un mensonge en chiffres [Die Statistik ist eine Lüge in Zahlen.] wurde die Gültigkeit der moralstatistischen Voraussagen stark angezweifelt, jedenfalls der unbedingte Determinismus, der fatalistische Zwang in der unbedingten Abhängigkeit des Einzelnen von seinem Milieu rundweg abgelehnt."

"In 95% der Fälle handelt das menschliche Individuum nach Motiven, die es seiner Gruppe, Klasse, Kaste, Rasse, Religion, Nation, seinem Beruf, Rang, Stand, Volk, seinem Freundeskreis oder seiner Lektüre, kurz seiner Umgebung entnimmt. Aber in 5% aller beobachteten Fälle stimmt das Milieu-Exempel nicht, weil das Individuum im Spiel seiner Motive manches Unkontrollierbare und Inkommensurable einschiebt, das aller Schematisierung spottet, allem Milieu-Zwang Hohn spricht, mithin strenge Gesetzmäßigkeit und unfehlbare Gültigkeit der Voraussagen menschlicher Handlungen ausschließt."


Jedes Lebewesen führt Zwecken angepaßte Bewegungen aus. Neuere Biologen wie WOLFF (Beiträge zur Kritik der Darwinschen Lehre, 1898) und PLATE (Über Bedeutung und Tragweite des Darwinschen Selektionsprinzips) definieren das Leben geradezu als die Fähigkeit, auf die Einflüsse der Umgebung zweckmäßig zu reagieren. Nocht weiter geht DRIESCH (Analytische Theorie der organischen Entwicklung).  Jede  Ordnung in der Natur kann nach DRIESCH nur als  Form  begriffen werden, Formen seien nur teleologischer, nicht kausaler Erklärung zugänglich. Soweit wir es mit Kräften und Stoffen zu tun hätten, reichte die kausale Erklärung aus, sobald aber Formen, Ordnungen, Gesetzmäßigkeiten, Zusammenhänge in Betracht kämen, müßte die teleologische Beurteilung Platz greifen. Vollends befindet sich REINKE (Die Welt als Tat, 1899; Einleitung in die theoretische Biologie, 1901) (1) mitten drin in der von BAER-SCHELLINGschen Naturphilosophie. REINKE fordert für die Energien besondere "Lenker". Unter Auffrischung der stoischen Lehre vom  egemonichon  [Vorrangstellung - wp] nennt er diese "Lenker" Dominanten lebt gleichsam die HELMONTsche Lehre vom Archeus wieder auf. Zwar hält auch REINKE, ungeachtet seiner Hinneigung zum Theismus und zur mosaischen Schöpfungsgeschichte, die kosmische Vernunft für unerkennbar, aber seine Dominanten fordern gleichwohl den Monismus. Ohne schöpferische Intelligenz oder Gott sei die zweckmäßige Organisation von Pflanzen und Tieren schlechterdings nicht zu begreifen. Und so kehrt denn REINKE auf dem Umweg der modernen Biologie im vollen und stark betonten Gegensatz zum Monismus HAECKELscher Prägung zur kirchlichen Auffassung von Schöpfer und Schöpfung zurück. Die Teleologie schlägt auch bei REINKE wie bei LEIBNIZ und unzähligen anderen Temperamentsdenkern in Theologie um. Umso erfreulicher ist es, daß einzelne Besonnene unter den Wortführer dieser neu-teleologischen Bewegung, die mit REINKE direkt in SCHELLING und FICHTE einzumünden droht, - die Welt als  Tat  zu begreifen ist durchaus ein FICHTEscher Gedanke - vor dem gesunden Menschenverstand respektvoll Halt machen. PAUL NICOLAUS COSSMANN (Elemente der empirischen Teleologie, 1899) warn vor allzu handreiflichen Übertreibungen eines teleologischen Anthropomorphismus [Menschenbezogenheit - wp] Wird bei der Kausalität, heißt es bei COSSMANN (Seite 62) ganz vortrefflich, das menschliche  Müssen  in die Natur verlegt, so hier (in der Teleologie) das menschliche  Wollen;  wie es aber möglich ist, den Kausalbegriff von den ihm häufig anhaftenden anthropomorphistischen Elementen zu befreien, ebenso ist es möglich, ihn aus dem Begriff der Teleologie auszuscheiden. Immerhin bleibt auch COSSMANNN dabei, daß die Gesetzmäßigkeiten der biologischen Teleologie durch das Kausalgesetzt alleine keine ausreichende Erklärung dinden. Der letzte Versuch BÜTSCHLI's (Mechanismus und Vitalismus, 1901), an dem Dogma der restlosn Zurückführbarkeit aller Lebenserscheinungen auf mechanische Ursächlichkeit unbeirrt festzuhalten, wird die naturphilosophische Bewegung unserer Tage, die der teleologischen Betrachtung zuneigt, nicht zurückzudämmen vermögen.

In der Zweckmäßigkeit der biologischen Funktionen im Leben des Organismus sehen unsere Naturphilosophen ein geeignetes Mittel zur exakten Beschreibung und ökonomisch geordneten Klassifizierung unserer Erkenntnis des Lebens. Hier wird also die Causa efficiens in ihrem Erkenntniswert den  Causae finales  untergeordnet. Wir sind damit zu LEIBNIZ zurückgehrt. Denn dieser hatte uns schon gelehrt, uns die Welt der Erscheinungen zwar nach den Gesetzen der mechanischen Kausalität zurechtzulegen, diese Gesetze selbst aber als Spezialfälle der übergreifenden Weltzweckmäßigkeit anzusehen. In der MItte zwischen MACH, der die Kausalität ebenso wie die Substanz in funktionelle Beziehungen zerreibt, aber der teleologischen Betrachtung wenigstens heuristischen [Findekunst - wp] und methodologischen Wert zubilligt, (2) und LEIBNIZ, der die mechanischen Ursachen als Spezialfälle den Endzwecken unterordnet, steht EDUARD von HARTMANN (Kategorienlehre, 1896; Die Finalität in ihrem Verhältnis zur Kausalität, Wundts Philosophische Studien, 1902, Seite 512). Für HARTMANN sind Finalität und Kausalität auch im Reich der Natur gleichberechtigte und koordinierte Kategorien, die in der Wirklichkeit immer verbunden sind und durch die abstrahierende Tätigkeit des bewußten Denkens voneinander gesondert werden können. Dem Naturforscher ist aber auch nach HARTMANN die Finalität "nicht Ziel, sondern höchstens heuristisches Mittel" (Seite 513)

Unser knapper Überblick über die herrschenden Strömungen innerhalb unserer heutigen Naturphilosophie dürfte gezeigt haben, daß die Zweckbetrachtung augenblicklich wieder Trumpf ist. KARL ERNST von BAER, SCHELLING und LEIBNIZ leben wieder auf. Die Temperamentsphilosophie hat seit NIETZSCHE Oberwasser. Selbst gegenerische Stimmen, wie die EDMUND KÖNIGs (Über Naturzwecke, Wundts Philosophische Studien, 1902, Seite 418), können sich heute der Einsicht nicht mehr verschließen, daß "die vor etwa zehn Jahren zuerst schüchtern hervortretende Opposition der Neovitalisten und Antidarwinisten heute zu einer mächtigen Bewegung angewachen ist, die sehr wahrscheinlich mit dem Sieg der Teleologie enden wird." Was KÖNIG hier als Signatur unserer naturphilosophischen Bewegung bezeichnet, möchte ich als Sympton begreifen und in einen größeren philosophiegeschichtlichen Zusammenhang einordnen. An anderer Stelle werde ich an den typischen Beispielen von SPINOZA und LEIBNIZ aufzeigen, daß die reinen Verstandesdenker oder Erkenntnisphilosophen  absolute  Ordnungen aufzudecken bemüht sind und  deshalb  die mathematische Methode und in ihrer Folge die mechanisch Kausalität voranstellen, ja für wissenschaftlich einzig zulässig erklären, während die Temperaments- oder Bekenntnisphilosophen schon in  relativen  Ordnungen, wie sie die zwecktätig auftretenden Lebenserscheinungen zeigen, ihr Genüge finden und  deshalb  die biologische Methode bevorzugen. (3) So werden wir es auch zu deuten haben, daß der Neuschellingianismus unserer Tage von der Biologie seinen Ausgangspunkt genommen hat und mit dem Wiederauftauchen der Temperamentsphilosophie FRIEDRICH NIETZSCHEs zeitlich zusammenfällt.

Die Energetik ist die philosophische Signatur des Tages. Das zwanzigste Jahrhundert hat unter ihrem Zeichen philosophisch eingesetzt, et in hoc signo vinces [In diesem Zeichen wirst du siegen. - wp]. Wir wollen nun im Folgenden versuchen, die Energetik auf ihre psychologischen Fundamente und philosophiegeschichtlichen Voraussetzungen zurückzuführen, um anhand dieser Erklärung Kausalität, Finalität und Freiheit gegeneinander abzugrenzen.


II.

Um eine Psychologie der modernen Energetik zu gewinnen, müssen wir zunächst den Prioritätsstreit von Verstand und Gefühl, der unsere gegenwärtige Psychologie in zwei feindliche Lager spaltet, in seinen Hauptzügen erörtern. Intellektualisten sehen in der Empfindung, Voluntaristen im Willen, die Schule RIBOTs endlich sieht in den Gefühlen die primären seelischen Gebilde, aus denen sich das bewußtse Seelenleben zusammensetzt und aufbaut. Dem Anschein nach stehen hier drei, in Wirklichkeit nur zwei psychologische Grundtheorien einander gegenüber, da die Willenstheorie sich der Gefühlstheorie vielfach bis zur Ununterscheidbarkeit annähert. So steht z. B. die voluntaristische Psychologie WUNDTs, ungeachtet ihrer ausdrücklichen Betonung des Willens, SCHOPENHAUER ferner als etwa RIBOT, der direkt von den "Sentiments" ausgeht. Man lese nur SCHOPENHAUERs "Willen in der Natur" und man wird, daß er selbst vielfach "Gefühle"  meint,  wo er "Wille  sagt.  Ebenso meint HARTMANN recht eigentlich nur Gefühle, wo er Tätigkeiten der unbewußten Intelligenz in Instinkt, Naturheilkraft und Reflexbewegungen aufdeckt. Und so stehen einander, richtig verstanden, nur zwei psychologische Gegenfüßler gegenüber: Intellektualisten, welche mit SPINOZAs  Voluntas et intellectus unum et idem sunt  [Wille und Verstand sind ein und dasselbe. - wp] die Empfindung für das seelische Grundgebilde halten, Gefühle nur als ständige Begleiterscheinungen oder Gefühlstöne der Empfindung gelten lassen, welche, wie FECHNER nachgewiesen hat, den Gesetzen der Assoziation ebenso untworfen sind, wie Wahrnehmungen und Vorstellungen, den Willen endlich nur als ausgelösten Effekt eines vorangegangenen Spiels von Motiven auffassen, nicht aber als seelisches Elementargebilde oder gar als seelisches Primärgebilde zulassen. Umgekehrt die Voluntaristen. Sie sehen bald im Willen, bald in Gefühlen, bald in unbewußten Vorstellungen das Rudiment, in der bewußten Empfindung selbst aber  nur  ein sekundäres Erzeugnis des Seelenlebens.

Wir haben in diesem Zusammenhang keine Veranlassung, persönlich Stellung zu beziehen, machen aber keinen Hehl daraus, daß wir uns zu den Intellektualisten zählen. Deutet man Intellekt und Gefühl oder Wille in das Ding an sich - KANT zum Trotz - hinein, so verwandelt man psychologische Kategorien in metaphysische und man erhält auf diesem Weg zwei Grundtypen metaphysischer Systeme: intellektualistische (SPINOZA, HEGEL, HERBART) und voluntaristische (LEIBNIZ, FICHTE, SCHELLING, SCHOPENHAUER, HARTMANN, SPENCER, WUNDT). Die Einen begehen dabei den bedenklichen Anthropomorphismus, ihre  bewußten  Erlebnisse zum Ding an sich oder "Unerkennbaren" umzustempeln und durch oberste Generalisierungen zu substanzialisieren, die Anderen den  noch  bedenklicheren Anthropomorphismus, die  unter-  oder  unbewußten  Erlebnisse zu verdinglichen oder gar zu verpersönlichen. Jene erheben die deutlichen und klaren Vorstellungen, diese die dunklen und konfusen Seelengebilde zum Weltprinzip. Immer und immer ist es die als ruhend angenommene Einheit unseres eigenen Ich, die wir der hypostasierten [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] Einheit des Außen, des Weltengrundes, des Universums oder Gottes leihen. Beide Typen metaphysischer Systembildungen erliegen dem inneren Denkzwang, die Vereinheitlichungsfunktion des Bewußtseins zu objektivieren, in ein Transsubjektives, in ein  Außen  zu projizieren und vermöge des immanenten Einheits- und Ordnungsbedürfnisses der Menschen die Mannigfaltigkeit dieses von ihnen projizierten Außen in  ein  Außen umzudenken.

In Wirklichkeit übertragen wir immer nur die Ordnung in der Aufeinanderfolge unseres inneren Erlebens auf dieses notwendig hinzugedachte Außen. In unserem inneren Erleben treten aber deutlich zwei Ordnungsreihen auseinander: eine feste, lückenlos verkettete, keinerlei Abbiegungen oder Abirrungen im Ablauf der Vorstellungsassoziation zulassende Ordnung und diese fassen wir zu einem obersten Gesetz oder allgemeinen Begriff oder einer allgemeinen Aussage bzw. Kategorie zusammen: Kausalität. Kausalität ist also nichts anderes, als der zum Begriff verdichtete Ausdruck unfehlbarer, keinerlei Ausnahme zulassender Konstanz im Ablauf unserer Vorstellungen. Was wir als notwendig eintretend ansehen, formulieren wir entweder physikalisch als Realgrund (naturnotwendig) oder logisch als Erkenntnisgrund (denknotwendig). Neben dieser festen Ordnung, diesem logischen Fatum, dem das gefühlsmäßige, religiöse Denken die Bezeichnungen: Vorsehung, Prädestination, Kismet geliehen, das verstandesmäßige hingegen den Namen Determinismus beigelegt hat, beobachten wir eine zweite Ordnungsreihe im Ablauf unserer Vorstellungen, die viel lockerer, ungebundener und beweglicher erscheint. Diese zweite Ordnungsreihe zeigt zwar  auch  einen bestimmten Rhythmus im Ablauf der Vorstellungen, aber keinen starren und unveränderlichen wie die erste. Und diese zweite Ordnungsreihe stellt sich überall dort ein, wo wir diesen Ablauf der Vorstellungen unter den Gesichtspunkt des  Zwecks  rücken. Der Zweck verhält sich zum Mittel, wie die Ursache zur Wirkung, der Reiz zur Empfindung, der Grund zur Folge. Nur gehören die drei letztangeführten Kausalformen zur ersten Ordnungsreihe, die  keine  Ausnahme in der Abfolge des Bewußtseins zuläßt, während das Verhältnis von Zweck und Mittel wohl Ausnahmen gestattet. Anders ausgedrückt: logische, psychologische und physikalische Kausalität zeigen eine  absolute,  teleologische Kausalität nur eine  relative  Ordnung im Ablauf unserer inneren Erlebnisse. Erst wenn man die teleologische Kausalität auf eine mechanische zurückführt, indem man Urteile weiter zurückschiebt und dem Ursachenbegriff unterstellt, tritt Ausnahmslosigkeit der Geltung ein.

Ein Beispiel mag diesen Gedankengang erläutern. Auf einer Kegelbahn spielen seit Jahr und Tag dieselben Kegelfreunde, darunter Virtuosen und Stümper. Bei Figurenkegeln, wo der sogenannte "Zufall" (mit Recht als "Fux" verspottet), eine sehr seltene Erscheinung ist, Übung, Begabung, Gewandtheit und Aufmerksamkeit dagegen fast immer den Erfolg bestimmen, wird der Virtuose den Stümper tausendmal schlagen. Und alle Urteilsfähigen werden bei jeder Partie die bestimmte Erwartung hegen, der Virtuose werden den Stümper besiegen. Diese Erwartung im Ablauf unseres künftigen Erlebens gehört nun aber der zweiten Ordnungsreihe, der relativen, nicht der ersten, der absoluten, an. Die Sicherheit der Voraussage ist eine abgeschwächte. Der Ablauf läßt sich nicht mit der Unfehlbarkeit der Voraussage von Sonnen- oder Mondfinsternissen bestimmen. Da der Zweck - Gewinn einer Figurenserie - durch verschiedene Mittel erreicht werden kann, das Spiel der Motive also ein reiches und bewegtes ist, so könnte es sich immerhin einmal ereignen, daß der Stümper zum 1001. Mal die Partie gewänne, auch wenn die Erfahrung, d. h. der  wirkliche  Ablauf der Vorstellungen, tausendmal nein gesagt hat. Das ist auch der Grund, warum der Stümper in der Hoffnung auf das 1001. Mal immer wieder die Partie gegen den Virtuosen aufnimmt, ohne daß es ihm jemals einfiele, wie der Hund den Mond anzubellen, wie XERXES den Hellespont zu peitschen, wie DON QUICHOTE den Kampf gegen die Windmühlen aufzunehmen, vom Fallgesetzt etwa für sich eine Ausnahme zu fordern oder gar zu erwarten. Daß die Kugel so laufen muß, wie der Virtuose sie abgeschossen hat, d. h. an der mechanischen Kausalität der ihr mitgeteilten Bewegung zweifelt auch der Stümper nicht, wohl aber daran, ob der Virtuose neben der eingeübten Gewohnheit auch noch Stimmung, Laune, Zielsicherheit gerade diesmal so in sich vereinigt hat, wie sie erforderlich sind, um der Kugel die proportionale Bewegung und bestimmte Richtung zur Erreichung eines bestimmten Zweckes mitzuteilen. Der Zweifel und in seiner Folge das Hoffen des Stümpers knüpft sich nicht an die Erwartung der Durchbrechung der mechanischen, sondern nur an die Möglichkeit der Ausschaltung der teleologischen Kausalität.

Von hier aus übersieht man die psychologischen Ursprünge der mechanischen und teleologischen Deutungsweisen des Menschengeschlechts. Beide drücken den Grad der Sicherheit, die Vorausberechnung des Kommenden aus. Beide Deutungsweisen erweisen sich recht eigentlich nur als Geltungsgefühle für die Zukunft. Die kausale Deutung birgt das Geltungsgefühl der Unbedingtheit, der unfehlbaren Sicherheit, logisch ausgedrückt: des apodiktischen Urteils in sich, die teleologische Deutung hingegen, die auf Motive zurückgeht, welche sich aller Kontrolle, somit aller festen Vorausbestimmung entziehen, bietet nur die abgeschwächte Sicherheit eines hypothetischen Urteils dar: wenn du diesen Zweck erreichen willst, so müßtest du dich dieses probatesten Mittels bedienen. Aber ich brauche dieses Mittel weder zu kennen, noch zu wählen, selbst wenn ich es kennte, da andere Bestimmungsgründe für die Wahl anderer Mittel maßgebend sein können. Aus diesem Grund sind menschliche Handlungen, die der teleologischen Kausalität von Zweck und Mittel unterliegen, nie mit unfehlbarer Sicherheit, wie das mechanisch-kausale Geschehen in der Natur, voraus zu berechnen, eben  weil die Kausalität nach Motiven unserer Kontrolle unzugänglich ist.  Für das Naturgeschehen besitzen wir die sinnreichsten Apparate, die uns ermöglichen, seine Beziehungen in der konstanten Abfolge unseres Bewußtseins zu wägen, zu zählen und zu messen. Wir werden anderswo den Nachweis führen, daß alles Zählen und Messen nur identische Urteile, Feststellungen von Beziehungsgesetzen im Ablauf unseres Bewußtseins enthalten. Gerade  daher  rührt ihre Sicherheit. Nicht so die vierte Form der Kausalität, die aus Motiven entspringende teleologische Kausalität. Hier besitzen wir nur die abgeschwächte Sicherheit von hypothetischen Urteilen, von Wahrscheinlichkeitsrechnungen, von Regeln, Rhythmen, Typen menschlichen Handelns, nicht aber die unfehlbare Sicherheit von mathematisch-logischen Gesetzen. In anderem Zusammenhang habe ich dafür die Behauptung aufgestellt: Die Natur ist das Reich der Gesetze, die Geschichte das der Zwecke.

Die Erklärung der Konstanzen im Ablauf unseres inneren Erlebens nach Ursachen befriedigt das absolute Einheitsbedürfnis unseres Verstandes, die nach Zwecken beschwichtigt unser Streben nach einer Deutung des Sinnes menschlichen Zusammenlebens und Erfassung des Wertes menschlichen Zusammenwirkens. Dort ist die Einheit, hier die Mannigfaltigkeit, dort die Konstanz, hier die Variabilität, dort das Sein, hier das Tun, dort das Denken, hier endlich ist das  Werten  unser Problem. Das beharrlich Zusammen- und Nebeneinander-Gedachte hypostasieren wir, nach Ausschaltung alles Unterschiedlichen, zum Substanzbegriff, das beharrlich Nacheinannder-Gedachte und eben dadurch in ein beharrliches Durcheinander Gedeutete abstrahieren wir zum Begriff der mechanischen Kausalität, das durch Motive Verbundene verallgemeinern wir zur teleologischen Kausalität.


III.

In der zeitlichen Abfolge geht die teleologische Deutung der kausalen voraus. Der anthropomorphisierenden, mythologisierenden und personifizierenden Denkweise der alten Kulturen lag es unvergleichlich näher, die Verallgemeinerungen der inneren Erlebnisse nach persönlichen Motiven, denn nach unpersönlichen Ursachen oder Zuständen zu vollziehen. Die von  innen  gesehene Kausalität, die Motivation, wird anthropomorphisch in ein Außen projiziert und so entstehen Fetischismus, Totemismus, Animismus, Naturbeseelung, Traumverkörperung als  religiöse,  Hylozoismus [lebender Stoff - wp] und mikro- wie makroskopische Deutungen als erste  philosophische  Welterklärungen. Der Kausalbegrif selbst hat ja von Haus aus einen stark persönlichen Beigeschmack; er bildet sich allmählich anhand mythologischer Figuren, wie MOIRA oder ANANKE, heraus, bis er im Begriff des unpersönlichen Naturgesetzes seine Abkunft aus Göttergestalten nach und nach verleugnet. Erst im Begriff des Naturgesetzes, wie er im 17. Jahrhundert die Eierschale des Mythologisch-Persönlichen endgültig zerbricht, ringt sich die vollendete Form der Kausalität zur Erkenntnis durch, nach welcher Naturgesetze keine ewigen Befehle sind, denen man gehorcht, sondern ewige Zustände, denen man unterworfen ist.

Erwägungen ganz anderer Art haben ALFRED VIERKANDT (Naturvölker und Kulturvölker, 1896, Seite 380 und 464) zu ähnlichem Ergebnis geführt. Nach VIERKANDT geht im wissenschaftlichen Leben die teleologische Denkweise der kausalen zeitlich voran. Beide sind Widerspiegelungen des als ruhend und unveränderlich gedachten Ich. Das Altertum denke vorwiegen  statisch,  die Neuzeit  kinematisch  [Lehre von der Bewegung von Körpern und Punkten im Raum - wp]. Nur sollte man dabei nicht vergessen, daß das statische Denken von PARMENIDES und DEMOKRIT, das kinematische von HERAKLIT seinen Ausgangspunkt genommen hat.

Daß die Begriffe "wirkende Ursache" und "Zweck" ursprünglich gleicherweises von animistischen Vorstellungen abstammen, hat übrigens MACH klar gesehen. (4) Einen tiefgehenden Unterschied, zwischen teleologischer und kausaler Untersuchung läßt MACH gar nicht gelten; er sieht vielmehr in der ersteren eine vorläufige, in der letzteren eine endgültige Erklärung. Den Ursachenbegriff möchte MACH lieber durch den Funktionsbegriff ersetzen: er hat aber gegen die "empirische Teleologie" im Sinne COSSMANNs keine Bedenken.

 Wir  sehen in Ursachen sowohl als auch in Zwecken Denkbehelfe zur Orientierung in der Außenwelt - Ausflüsse unseres Sinnes für Ordnung. Um im bunten Wechsel des Geschehens und in der Mannigfaltigkeit der inneren Erlebnisse feste Orientierungspunkte zu gewinnen, schafft unser Einheitsbedürfnis - das Ich-Bewußtsein - auf dem Weg der Subsumtion, wie auf dem der Abstraktion, synthetisch zuerst, sodann analytisch, anfangs provisorische, späterhin eine definitive Ordnung. Die provisorische Ordnung kommt unter dem Gesichtswinkel des Zwecks, die definitive unter dem der Ursache zustande. Wie Archivare oder Bibliothekare Dokumente oder Bücher einreihen, so ordnet das wissenschaftliche Denken Erlebnisse. Das vorwissenschaftliche Denken steht der Natur ebenso hilflos und läppisch gegenüber, wie ein Laie, der das British-Museum in London beträte, wenn durch Brand- oder Wasserschaden alle Bücher, Manuskripte und Dokumente wirr oder chaotisch durcheinandergerüttelt wären. Wie der Laie hier auf gut Glück dieses oder jenes Buch herausgreifen und sich darin festlesen würde, ohne die Übung und die Kraft zu besitzen, die gewaltige Bibliothek wieder nach Rubriken, Zetteln, Alphabeten, kurzum nach Ordnungsprinzipien herzustellen, so steht der naive Denker der Universalbibliothek der Natur ratlos und unbeholfen gegenüber, bis Philosophie und Naturwissenschaft einen Katalog der Natur anfertigen.

Auch die Bibliothekare haben verschiedene Methoden, in die Vielheit Einheit, in den unübersehbaren Wust Plan und Zusammenhang zu bringen, indem sie Zettelkasten, alphabetische Methode, Fächereinteilung, Numeriereung etc. nacheinander ausprobierten, bis sie Methoden fanden, die sich als die besten und erprobtesten bewährten, um alsdann von der Bibliothekswissenschaft endgültig akzeptiert zu werden. Ganz ähnlich erging es menschlichem Denken und Wissen, als es das kühne Wagnis unternahm, in den scheinbaren Zufall des Naturgeschehens Zusammenhang, in dei unübersehbare Wirrnis Ordnung, in die verwirrende Vielheit Rubriken, Klassifikationen, Einteilungsformen, Prinzipien, zuletzt  eine  Einheit, endlich in das unenträtselbar scheinende Chaos den Kosmos zu deuten. Was dort Zettelkasten und alphabetische Ordnung leisteten, brachten hier Animisms, Anthropomorphismus, weiterhin Teleologie und Kausalität zuwege. Selbst die Einheit des Ich erscheint MACH (Analyse der Empfindungen, 2. Auflage, Seite 22) als Zweckeinheit. Auch nach ARISTOTELES ist die Seele eine Entelechie [Ziel in sich - wp] oder Zweckeinheit. Ebenso hieß die Monade bei LEIBNIZ ursprünglich Entelechie oder Zweckeinheit, bevor LEIBNIZ den Terminus Monade fand.


IV.

Jede Methode ist genausoviel wert, als sie zureichende Erklärungsgründe für alles Geschehen in und um uns zu bieten vermag. Die biologische Aufgabe der Wissenschaft, sagt MACH (a. a. O. Seite 26), ist, dem vollsinnigen menschlichen Individuum eine möglichst vollständige Orientierung zu bieten. Der geringstes Grad von Ordnung ist offenbar der Arterhaltung förderlicher als völlige Unordnung. Und so stellen sich denn Kausalität und Finalität als die beiden großen Ordnungsprinzipien, gleichsam als Wissenschaftsregister allen Geschehens dar. Das  eine  Register- heiße man es, wie herkömmlich, Kausalität oder mit MACH  Funktion  - ordnet  alles  Geschehen in Natur und Geist, in der organisierten wie in der nichtorganisierten Materie, in der belebten wie in der unbelebten Natur nach  strengen  Gleichförmigkeiten, nach immer in derselben Reihenfolge wiederkehrenden und in unserem Bewußtsein mit unfehlbarer Konstanz assoziativ ablaufenden Empfindungs- oder Vorstellungskomplexen. Diese Ordnung nennen wir eine  unbedingte,  keinerlei Ausnahme zulassende, also von Außen gesehen eine naturnotwendige, von Innen gesehen eine denknotwendige, kurz: eine  definitive  Ordnung.

Neben dieser endgültigen (kausalen oder funktionellen) Ordnungsserie läuft indessen ein zeitlich älteres, aber minder wirksames Ordnungsmittel einher: die Einreihung allen Geschehens unter den Gesichtswinkel des Zwecks, sei es unter den eines persönlich gedachten Endzwecks der Substanz oder der Gottheit und dann entsteht Finalität, sei es unter den persönlicher, mehr zuständlich gedachter Naturzwecke und dann entsteht empirische Teleologie. Dort sollen die  Absichten  der Urkraft metaphysisch ergründet, hier nur die tatsächlich nach Zwecken sich vollziehenden Prozesse im Naturgeschehen gesammelt, registriert, nebeneinander gestellt und zusammen geordnet werden, um künftigen Forschern eine Handhabe zu bieten, wie sie bestimmte Erscheinungen, insbesondere Lebenserscheinungen am besten zu deuten und am sichersten auszumitteln vermöchten. In der Finalität soll also die Zweckbetrachtung eine definitive, in der empirischen Teleologie dagegen eine nur provisorische Ordnung aufstellen. Mit dieser Einschränkung läßt auch MACH (Analyse der Empfindungen, Seite 66 und 67) die teleologische Betrachtung als Hilfsmittel der Forschung gelten. Gelänge der Nachweis einer Finalität oder des "Weltzweckes" fürs Universum ebenso lückenlos, wie für die Geltung der mechanischen Kausalität, so wäre damit, mit KANT zu sprechen, ein konstitutives Prinzip gewonnen und nicht bloß ein regulatives oder gar nur heuristisches Prinzip.

In Wirklichkeit ist dieser Nachweis nie zu führen. Der große Lebenstraum aller an LEIBNIZ orientierten Metaphysiker, es müsse dereinst gelingen, alle Kausalität nur als Spezialfall der Finalität aufzudecken, alle mechanischen Ursachen also in ewige Zweckgesetze aufzulösen, ist und bleibt ein Traum. Zweckmäßigkit ist, wieder mit KANT zu sprechen, nur eine Betrachtungsform, kein konstitutives Prinzip oder eine provisorische, keine definitive Feststellung, wie MACH zeigt.

In der Welt der organisierten Materie, insbesondere innerhalb der Sphäre der lebendig organischen Natur, hat diese Zweckbetrachtung wie ihren psychologisch-assoziativen Ursprüng, so auch ihre unübersteigliche Grenze. Die Betrachtungsweise nach Ursachen stellt eine  absolute Ordnung  innerhalb  allen  Weltgeschehens, die nach Zwecken nur eine  relative  Ordnung innerhalb des  lebendigen  Plasmas dar. Ausnahmslosigkeit der Geltung und unbedingte Sicherheit der Erwartung kommen daher nur der ersten, kausalen Ordnungsserie, nicht der zweiten, teleologischen zu. Nur die Ordnungsserie der Kausalität oder Funktion bietet uns Notwendigkeit und strenge Allgemeingültigkeit: Gesetze. Die zweite Ordnungsserie, die teleologische, die nur auf Lebenserscheinungen anwendbar ist, hat heuristischen Wert und eben darum nur empirische Geltung. Sie liefert uns Rhythmen des Geschehens, auffallende Übereinstimmungen in den Lebensäußerungen, kurzum Typen und Arten, aber keine Gesetze des Geschehens.

Mechanismus und Teleologie sind nach alledem nicht auf ein aut-aut [alles oder nichts - wp] , sondern auf ein vel-vel [entweder-oder - wp] gestellt. Für die nicht organisierte Materie lehnen wir, genauso wie DESCARTES und SPINOZA, richtig verstanden sogar auch wie ANAXAGORAS und LEIBNIZ alle teleologische Betrachtung grundsätzlich ab. Sie hat sich dort als unzulänglich, mindestens als müßig und unnütz, wenn nicht geradezu als schädlich erwiesen. Wo wir, wie bei der nach mechanischer Kausalität begreiflich gemachten unbedingten Regelmäßigkeit der Bewegungsgesetze, die erste Ordnungsserie lückenlos anzuwenden vermögen, wäre es töricht, den minder sicheren und weniger zuverlässigen Denkbehelf der zweiten Ordnungsserie zu Rate zu ziehen. Teleologie ist eben nichts anderes, als abgeschwächte Kausalität, abgeschwächt darum, weil sie eine Kausalität nach Motiven ist, diese aber sich unserer strengen Kontrolle entziehen. Unsere Fernrohre und Mikroskope weiten und schärfen uns zwar den Blick für die Welt des unendlich Großen und unendlich Kleinen; aber für den Mechanismus des tierischen Trieblebens oder menschlichen Motivspieles im Anpassen seiner Bewegung an das stärkste Motiv besitzen wir keinerlei technische Behelfe.

Die Betrachtungsweise der Zweckmäßigkeit orientiert uns also nur dann über die Zusammenhänge des Geschehens in und um uns, wenn wir sie dort anwenden, wo wir sie erwarten dürfen. Ein Handeln nach Motiven dürfen wir aber nur erwarten, wenn und wofern Rudimente von Bewußtsein hervortreten, wie bei den Protisten [Ein- oder Wenigzeller - wp]. Schon in der Pflanzenwelt bringt uns die Zweckbetrachtung nicht sehr weit, obgleich die empirische Teleologie, wie COSSMANN gezeigt hat, in der Botanik noch etwelche Dienste zu leisten vermag. Hier aber findet die Anwendbarkeit der teleologischen Methode ihre äußerste, unübersteigliche Schranke: Plasma und Zelle heißen die Grenzpfähle, welche den Geltungsbereich der teleologischen Betrachtungsweise für immer einschließen. Jenseits dieser Grenze ist nur noch für die erste,  konstitutive  Ordnungsserie, die nicht nach der unkontrollierbaren Abfolge von Zweck und Motiv, sondern nach der unverbrüchlichen, in der bisherigen Erfahrung wenigstens noch niemals durchbrochenen Kausalreihe von Ursache und Wirkung Raum vorhanden.

Wir gelangen somit zu folgendem Ergebnis. Von den beiden Ordnungsserien des menschlichen Intellekts, welche uns eine Orientierung in uns selbst und in unserer Umwelt ermöglichen, hat die erste, die kausale, konstitutiven Charakter, gilt notwendig und allgemein und nimmt den Rang eines unausweichlichen Denkzwangs oder Gesetzes ein. Es spielt dabei kaum eine Rolle, ob man Kausalität mit KANT als apriorische Kategorie des Verstandes oder mit HUME als Denkgewöhnung begreift. Was für Naturmenschen einst eine bloße Denkgewöhnung war, ist uns durch Selektion und Vererbung Anschauungs- oder geradezu Denknotwendigkeit geworden, somit psychologisch notwendig und logisch allgemeingültig. Die zweite Ordnungsserie, die teleologische Betrachtung, ist zwar als Denkbehelf älter, aber in ihrer Anwendbarkeit enger, in der Gültigkeit ihrer Urteile oder Aussagen beschränkter, in der Sicherheit ihrer Voraussagen minder zuverlässig, als die erste Ordnungsserie. Der Grad der Sicherheit beträgt dort 100 % hier - infolge der Unberechenbarkeit der Motive - selten über 95% der Voraussagen.

Durch kausale Ereignisketten sind wir befähigt, Sonnen- und Mondfinsternisse mit apodiktischer Sicherheit vorauszusagen, durch teleologische Ereignisreihen sehen wir uns bemüßigt, mit der annähernden, also abgeschwächten Sicherheit von Wahrscheinlichkeitsrechnungen fürlieb zu nehmen, uns also bei hypothetischen Urteilen zu bescheiden.


V.

Diese Degradierung der Teleologie zu einer Ordnungsserie zweiten Ranges und ihre Einschränkung auf die lebendig organische Natur bedeutet indessen nur eine Einbuße an  metaphysischem  Ansehen und Gewicht. Denn dieser Verlust wird reichlich wettgemacht durch Gewinnziffern auf anderen Gebieten, wo uns wieder die kausale Erklärung im Stich läßt, während die teleologische uns umso größere Dienste leistet - und dieses Gebiet ist die Physik er Gesellschaft oder Soziologie. Ist nämlich die Einheit des Ich, wie MACH annimmt, im Wesentlichen nur eine aus dem praktischen Bedürfnis hervorgewachsene Zweckeinheit (Entelechie des ARISTOTELES), so ist die menschliche Gesellschaft, die sich wieder aus der Vielheit der Iche zusammensetzt, erst recht eine Zweckeinheit. Will man sich nun ebenso orientieren über die Zusammenhänge innerhalb  dieser  Zweckeinheit, wie etwa über die Ursacheneinhait in den Bewegungsgesetzen des Planetensystems (Gesetz der Schwere, Gesetz von der Erhaltung der Energie), so bietet uns die  erste  Ordnungsserie, die reine kausale, so gut wir gar keine Aufschlüsse, während die zweite, die teleologische, die Zusammenhänge der menschlichen Gesellschaft nach Zweckbetrachtungen so weit aufdeckt, daß sie uns den Sinn des Lebens und den Plan menschlichen Zusammenarbeitens aufhellt. Hier leistet die teleologische Betrachtung heuristisch die wichtigsten Dienste, zumal wir ohne dieselbe vollständig im Finstern umhertappen müßten.

In der Zweckeinheit menschlichen Zusammenwirkens kommt es eben nicht so sehr auf die ration fiendi, essendi [Seinsgrund - wp] oder cognoscendi [Erkenntnisgrund - wp], sondern lediglich und ausschließlich auf die ratio agendi [tätige Ursache - wp] an. Die mechanische Kausalität erklärt und das Sein, die logische das Denken und erst die teleologische, aus Motiven hervorgegangene, das  Handeln.  Wollen wir zum Behuf unserer Orientierung in der Welt des  Tuns  ebenso danach trachten, Gleichförmigkeiten aufzudecken und - aufgrund  ihrer  - Richtlinien für unser  Handeln  zu gewinnen, wie wir in den Gesetzen der formalen Logik einen Kanon fürs Denken und in den Naturgesetzen Kategorien des Seins zur Orientierung in der Welt des  Geschehens  und der Welt des  Denkens  gebildet haben, so können wir der teleologischen Methode schlechterdings nicht entraten. Heißt eben Teleologie: Causa nach Motiven, so können wir uns aus dem Chaos menschlichen  Tuns  nur dann einen Kosmos sozialer Regelmäßigkeiten konstruieren, wenn wir den Denkbehelf der zweiten Ordnungsserie, der Teleologie, herzhaft und konsequenz zur Anwendung bringen. Überall dort, wo das Geschehen sich in ein Handeln verwandelt, wo also nicht bloß das Kausalverhältnis von Ursache und Wirkung, von Reiz und Empfindung, sondern wesentlich und vorzüglich das von Motiv und Zweck die Richtung des Geschehens, d. h. das Tun bestimmt, ist die teleologische Betrachtung nicht bloß wie in der Tier- und Pflanzenwelt zulässig, sondern die einzig gebotene und berechtigte. Die Geschichte ist eben, wie ich immer wieder betonen muß, ebenso das Reich der Zwecke, wie die Natur das Reich der Gesetze ist.

Um menschliches Tun im Zusammenhang zu begreifen, die Gruppenhandlungen von Individuen zu klassifizieren, das Zusammenwirken der Teile zu einem gemeinsamen Zweck, nach dem Vorbild des menschlichen Organismus, subsumierend und rubrizierend unter einheitliche Gesichtspunkte zu bringen, dazu bedarf es der teleologischen Betrachtungsweise und nur ihrer. Das Phantom geschichtlicher Gesetze, wie es BUCKLE vorschwebte, ist längst in Nichts zerronnen. Mit diesem Irrwisch haben wir uns zum Glück kaum noch ernstlich zu befassen. Nicht Naturgesetze, nicht mechanische Kausalität, sondern Zweckgesetze, teleologische Kausalität, das Handeln nach Motiven, sind die letzten elementaren Bestimmungsgründe menschlichen Zusammenwirkens. Und mag es auch hundertmal wahr sein, daß die zweite Ordnungsserie, die teleologische, uns keine strengen Gesetze im Sinne der Physik, sondern nur Regeln im Sinne der Grammatik, Klugheitsmaximen im Sinne der alten Gnomiker und der reinen Erfahrungsphilosophen, Verhaltungsweisen im Sinne des Rechtsgesetzes, Gesellschaftsaktes oder der Moralnorm anrät, so müssen wir wiederholt daran erinnern, daß jede Ordnung besser ist als totale Unordnung, jede Orientierung wertvoller als gar keine. Die teleologische Ordnungsserie ist gleichsam unser Lebensregulator, der Kompaß unseres Lebensschiffleins auf dem uferlosen Meer des Daseins.

Als Instinkt, Reflexbewegung und automatischer Akt wirkt das immanent Teleologische in uns dahin, daß wir aufgrund der in uns durch Selektion und Vererbung aufgespeicherten Gattungserfahrung ohne Überlegung, ohne Spiel von Motiven, wissen, wie wir im Interesse unserer Selbsterhaltung zu handeln haben. Durch Vererbung empfangen wir von den Vorfahren gleichsam das biologisch-psychologische Minimum, um uns im Kampf ums Dasein erfolgreichbehaupten zu können. Empfindung, Anschauung, Wahrnehmung, Vorstellung, Aufmerksamkeit, Phantasie, Begriffsbildung stellen weitere, höhere Etappen einer bewußtwerdenden Zwecksetzung dar, die uns diesen Kampf erleichtern und die Herrschaft auf unserem Planeten sichern sollen. Die Erkenntnisfaktoren garantieren uns gleichsam das logische Minimum zum Zweck unserer Selbstbehauptung als vernünftiger Wesen. Endlich sind gesellschaftliche Gebilde, soziale Schichtungen und Gliederungen, kirchliche Institutionen, rechtliche, politische und staatliche Einrichtungen, Staatenbündnisse und Bundesstaaten zuständlich gewordener menschlicher Gattungsgeist. Religionen, Rechts- und Moralsysteme setzen ferner das ethische Minimum zur Behauptung sozialer Selbsterhaltung fest. In der Sprache HEGELs heißen diese geschichtlich gewordenen Institutionen objektiver, in der von KARL MARX geronnener Geist. Nur sieht HEGEL in diesen geschichtlichen Gebilden einen rein logischen, MARX einen rein kausalen, wir hingegen sehen in allen Offenbarungsformen menschlichen Zusammenwirkens, in den öffentlichen Einrichtungen und durch die stillschweigende Zustimmung aller sanktionierten sozialen Gestaltungen, lediglich Zweckgebilde, d. h. einen teleologischen Prozeß.


VI.

Orientiert uns die kausale oder (mit MACH) funktionelle Methode über diejenigen Regelmäßigkeiten menschlichen Zusammenwirkens, welche, wie etwa der Chemismus und Mechanismus, das Energiegesetz oder die Äquivalenzformel, für  alles  Daseiende, also auch für Menschen ausnahmslos gelten, so zeigt uns die Statistik, inbesondere die Moralstatistik, eine andere Serie von Regelmäßigkeiten auf, welche, wie die Geburten-, Todes-, Brand-, Mord-, Diebstahlsstatistik zeigt, auch mit einer gewissen Konstanz wiederkehren, aber nicht mit der Sicherheit der Erwartung von 100%, wie Physik und Chemie sie bieten, sondern etwa 80 - 82% wie Metereologie oder 90 - 95% wie einzelne Gruppenhandlungen der Moralstatistik.

Als die ersten Moralstatistiker - PINEL, QUETELET, von ÖTTINGEN - die genannten Konstanten in der Wiederkehr menschlicher Gruppenhandlungen, welche übrigens schon KANT mit merkwürdigem Weitblick erkannt und in seiner Geschichtsphilosophie gebührend berücksichtigt hat, zahlenmäßig festgestellt hatten, war die allgemeine Verblüffung so groß, daß man in der ersten Entdeckerfreude gar voreilige Schlüsse gezogen hat. Man folgerte nämlich vielfach aus diesen moralstatistischen Konstanten, daß nunmehr der endgültige Beweis für den Determinismus zahlenmäßig erbracht sei. Die Milieutheorie TAINEs und die Rassenkampflehre von GUMPLOWICZ zogen aus den aufgedeckten Gleichförmigkeiten menschlicher Gruppenhandlungen, wonach selbst versehendlich adresselos in den Briefkasten geworfene Briefe eine gewisse Konstanz pro Jahr und Kopf der Bevölkerung aufzeigen, die temperamentvolle Generalisation: das soziologische Ei des KOLUMBUS sei jetzt gefunden! Der Mensch ist jetzt auch in seinen  Handlungen  der mechanischen Kausalität unterstellt.

Die Statistik verwandelte sich in der konsequenten Milieutheorie zu einer Mechanik der Soziologie. Die 4 - 5%, welche der Moralstatistik, selbst in ihren gelungensten Nachweisen, bis zu den 100 % der  absolut  regelmäßigen Wiederkehr fehlten, wurden achselzuckend als quantité négligeable [vernachlässigbare Größe - wp] ausgeschaltet; die unbequemen Brüche wurden mit einem bequemen Schwamm einfach weggewischt. Nach und nach lehnte sich indessen die soziologische Opposition gegen diese  neue  Fatum auf, gegen diese moralstatistische Prädestination zur Sünde, welche den Menschen zur "Null und Marionette", zum mechanischen Produkt von Klima und Bodenbeschaffenheit, von Rasse und Umgebung, von Vererbung und Charakter herabdrückte. Unter dem Wahlspruch "le statistique, cést un mensonge en chiffres" [Die Statistik ist eine Lüge in Zahlen - wp] wurde die Gültigkeit der moralstatistischen Voraussagen stark angezweifelt, jedenfalls der unbedingte Determinismus, der fatalistische Zwang in der unbedingten Abhängigkeit des Einzelnen von seinem Milieu rundweg abgelehnt.

Und hier stoßen wir nun auf die moderne energetische Fassung des Problems der Freiheit. Im Gegensatz zu jenen Deterministen, welche aufgrund der Moralstatistik den strengen spinozistischen Determinismus für zahlenmäßig erwiesen erachten, finden wir gerade durch die Moralstatistik das Gegenteil des strengen, ausnahmslos gültigen Determinismus bestätigt. Wir legen eben nicht, wie jene, das Schwergewicht auf die 95% der  übereinstimmenden,  sondern gerade auf die 5% der  nicht übereinstimmenden  Fälle. Gehörte die Kausalität menschlichen Zusammenwirkens der  ersten  Ordnungsserie, der mechanischen An, wie spinozistisch gerichtete Deterministen annehmen müssen, so dürfte die Regelmäßigkeit der Wiederkehr sozialer Phänomene kein Manko von 5 - 15% aufweisen, sondern, wie physikalisch und chemische Phänomene, 100% betragen. Das ist aber nie und nirgends der Fall. Die günstigste Übereinstimmung kommt bei genauem Nachweisen über 95% der Wiederkehr sozialer Massenerscheinungen nicht hinaus, folglich beweisen nicht die 95% der übereinstimmenden Fälle den strengen Determinismus, sondern beweisen die fehlenden 5% die Freiheit.

In 95% der Fälle handelt das menschliche Individuum nach Motiven, die es seiner Gruppe, Klasse, Kaste, Rasse, Religion, Nation, seinem Beruf, Rang, Stand, Volk, seinem Freundeskreis oder seiner Lektüre, kurz seiner Umgebung entnimmt. Aber in 5% aller beobachteten Fälle stimmt das Milieu-Exempel nicht, weil das Individuum im Spiel seiner Motive manches Unkontrollierbare und Inkommensurable einschiebt, das aller Schematisierung spottet, allem Milieu-Zwang Hohn spricht, mithin strenge Gesetzmäßigkeit und unfehlbare Gültigkeit der Voraussagen menschlicher Handlungen ausschließt. Aus alldem folgt, daß die Gleichförmigkeiten innerhalb der sozialen Gebilde, die niemand bestreiten wird, der ein moralstatistisches Werk je vor Augen gehabt hat, keine absolute, sondern relative, keine endgültige, sondern vorläufige Orientierung gewähren, keine Gesetze von strenger Allgemeinheit und Notwendigkeit, sondern nur Rhythmen oder Typen des Geschehens zulassen. (5)

Hier leistet nun die teleologische Methode heuristisch Unentbehrliches. Wie uns die Instinkte Orientierung für unser ganzes Triebleben und unbewußtes Erleben, die Gesetze der formalen Logik Orientierung über unsere Gedankenwelt oder unser bewußtes Erleben gewähren, so verschaffen uns Zweckgesetze oder teleologisch abgeleitete Regeln Orientierung über das, was wir im Interesse unserer Selbst- oder Arterhaltung  sollen.  Die soziale Teleologie wirkt im höchsten Sinne arterhaltend, sofern sie uns für das  Spiel unserer Motive, worin allein unsere Freiheit besteht,  empirisch abgeleitete Regeln, Zweckmäßigkeitserwägungen, Gattungserfahrungen über die nützlichsten, lebenerhöhenden, also arterhaltenden Formen menschlichen  Handelns  in Bereitschaft hält. Das Spiel unserer Motive, welches die Moralstatistik in ihren 5 - 15% der vom Milieu abweichenden Fälle. In dieser Wahl des Motivs, bei welcher das  stärkste  Motiv psychologisch freilich immer den Ausschlag gibt, liegt unsere Freiheit dem Milieu gegenüber beschlossen. Von Außen gesehen, d. h. im Verhältnis zur Umgebung, sind wir frei, sofern wir empirsch nachweisen können, daß unser Spiel der Motive dem Milieu in 5 - 15% der konstatierten Fälle tatsächlich Widerstand entgegengesetzt. Von Innen gesehen, psychologisch, vom Standpunkt des stärksten Motivs betrachtet, sind wir nur frei, wie es Gott bei SPINOZA ist, nämlich als Causa sui [Selbstursache - wp], sofern wir keinem Zwang von Außen, sondern nur einer Nötigung von Innen unterliegen. Die erste Ordnungsserie, die mechanische Kausalität, gilt also von der gesamten (belebten und unbelebten), die zweite, teleologische, hingegen nur von der lebendig organischen Natur. Freiheit heißt nicht anderes als: Spiel von Motiven. In unserem Mechanismus und Chemismus sind wir Menschen als der mechanischen, in unseren vitalen Funktionen der teleologischen Kausalität unterworfen. In unserem sozialen Zusammenwirken endlich, das nicht, wie bei Herdentieren, durch den Instinkt vorgeschrieben, sondern mit wachsendem Bewußtsein von der menschlichen Vernunft, also einem System von Motiven, reguliert wird, kommt jenes bescheidene Maß von Freiheit zum Vorschein, das uns von der Tierwelt abhebt und zu Lebenwesen höchster Ordnung stempelt.
LITERATUR - Ludwig Stein - Kausalität, Teleologie und Freiheit, Annalen der Naturphilosophie, Bd. 2, Leipzig 1903
    Anmerkungen
    1) Dazu die Abhandlung über Energetik, Deutsche Rundschau, März 1903
    2) ERNST MACH, Analyse der Empfindungen, 2. Auflage, 1900, Seite 27, 37, 60 62f
    3) Es sei hier nur daran erinnert, daß LEIBNIZ die von MALPIGHI, SWAMMERDAM und LEEUWENHOEDK entdeckten Mikroorganismen zuerst metaphysisch verwendet und fruktifiziert [Früchte gebildet - wp] hat.
    4) ERNST MACH, Analyse der Empfindungen, 2. Auflage, Seite 70
    5) Vgl. darüber meine "Soziale Frage im Lichte der Philosophie", 1897, Seite 519f und "Wende des Jahrhunderts", Versuch einer Kulturphilosophie, 1899, Seite 179 und 194f