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GEORG SIMMEL
Vorformen der Idee
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"Einerseits gibt es innerhalb der Menschenwelt nichts, was so absolut ohne Eigenwert und schlechthin bloß Mittel wäre, da es ja ganz und gar nur als wirtschaftliche Vermittlung entstanden ist; andererseits kein irdisches Ding, das einer gleich großen Anzahl von Menschen als der Zweck aller Zwecke vorkäme, als der definitiv befriedigende Besitz der Abschluß allen Strebens und Mühens."

"Freiheit ist nichts Negatives, nicht die Abwesenheit von Zwang, sondern die ganz neue Kategorie, zu der die Entwicklung des Menschen aufsteigt, sobald sie die Stufe der an seine innere Physis gebundenen Zweckmäßigkeit und deren bloßer Fortsetzung in das Handeln hinein verlassen hat."

"Indem die intellektuellen Formen die Welt für unser praktisches Leben um uns aufbauen, ermöglichen sie die tatsächliche Verbindung zwischen den Inhalten der Welt und uns, um der dazu erforderlichen Bearbeitung der Inhalte willen sind sie da. Außerhalb dieser Funktion haben sie im Leben nichts zu suchen."

Unser Geist besitzt eine Reihe von Betätigungsformen, durch deren gestaltgebende Anwendung auf beliebig einander fremde und ferne Inhalte es ihm gelingt, diese zu je einem prinzipiell einheitlichen Bezirk, zu einer - engeren oder weiteren - "Welt" zusammenzubringen. Eine jede solche erscheint uns immer schon von einem Begrif beherrscht, z. B. der Wissenschaft oder der Religion, der Kunst oder des Rechts - ohne daß dieser doch als abstraktes Bewußtsein zu bestehen braucht. Denn entscheidend ist nur die Funktion, die die Lebensinhalte tatsächlich so oder so formt, mag man ihr nachträglich einen allgemeinen Namen geben oder nicht. Allein, daß die Umfassung durch einen solchen Begriff möglich ist, ist das Symbol dafür, daß es sich hier jeweils um Erscheinungen handelt, die durch die aufgeprägte Form objektiv zusammengehören, eine der Idee nach einheitliche Welt bilden. Es ist die allgemeine Überzeugung, daß diese durch psychologische Kräfte wirklich gewordenen Welten dennoch einen Eigenbestand haben, der sie vom wirklichen Verlauf des seelischen Lebens unabhängig stellt und zwar von den beiden möglichen Seiten her. Wir erblicken in jedem dieser Bezirke eine innere sachliche Logik; diese gibt zwar Spielraum für große Mannigfaltigkeiten und Gegensätze, hat aber in jedem einzelnen Fall doch eine objektive Gültigkeit, an die auch der schöpferische Geist gebunden ist - mag man hier von Normen sprechen, die ein solcher erfüllen oder verfehlen kann, mag man mit einem symbolischen Ausruck das geistige Gebilde als eine Verwirklichung eines ideell vorgezeichneten ansehen, wie nach MICHELANGELOs Wort die Statue im Marmorblock ruht und es nur darauf ankommt, sie herauszuholen. Von der anderen Seite her: diese einmal geschaffenen Gebilde denken wir als in ihrem Sinn und Wert ganz unabhängig davon, ob und wie oft sie von Individuen aufgenommen und seelisch nachrealisiert werden. Als Werke oder Heiligkeiten, als Systeme oder Imperative haben sie einen selbstgenugsamen, von innen her zusammengehaltenen Bestand, mit dem sie sich sowohl aus dem seelischen Leben, aus dem sie gekommen sind, wie aus dem anderen, das sie aufnimmt, gelöst haben.

Immerhin - diese Reiche als ganze und auf den sie jeweils beherrschenden Begriff hin anzusehen, kommen aus dem gelebten Menschheitsleben, in dessen Unmittelbarkeit sie freilich in einer ganz anderen, sozusagen embryonalen Form auftreten, unter anderen begrifflichen Namen, mit zufälligen und empirischen Veranlassungen entstehend und vergehend. Oder besser ausgedrückt: es vollzieht sich hier dasselbe in der Form des Lebens, was dort in der Form eigenweltlicher Ideellität besteht. Es sind zunächst Erzeugnisse des Lebens, wie all seine anderen Erscheinungen, seinem kontinuierlicen Lauf eingeordnet und dienend. Und nun geschieht die große Wendung, mit der uns die Reiche der Idee entstehen: die Formen oder Funktionen, die das Leben um seiner selbst willen, aus seiner eigenen Dynamik hervorgetrieben hat, werden derart selbständig und definitiv, daß umgekehrt das Leben ihnen dient, seine Inhalte in sie einordnet, und daß das Gelingen dieser Einordnung als eine ebenso letzte Wert- und Sinnerfüllung gilt, wie zuvor die Einfügung dieser Formen in die Ökonomie des Lebens. Die großen geistigen Kategorien bauen zwar am Leben, auch wenn sie noch ganz in ihm befangen sind, noch ganz in seiner Ebene liegen. Allein solange haben sie dennoch etwas ihm gegenüber Passives, ihm Untertanes, weil sie sich seiner Gesamtforderung fügen und ihr gemäß das, was sie ihm leisten, modifizieren müssen. Erst wenn jene große Achsendrehung des Lebens um sie herum geschehen ist, werden sie eigentlich produktiv, ihre sachlich eigenen Formen sind jetzt die Dominanten, sie nehmen den Lebensstoff in sich auf und er muß ihnen nachgeben. Dies ist als ein historischer Prozeß gemeint, als die metabasis eis allo genos [Sprung auf eine andere logische Ebene - wp], mit der aus dem Wissen, das nur um praktischer Zwecke willen erworben wird, sich die Wissenschaft erhebt, aus gewissen vital-teleologischen Elementen die Kunst, die Religion, das Recht usw. Diesen Prozeß in all seinen Linien zu verfolgen, überall den Punkt des Umschlags der Form aus ihrer vitalen in ihre ideale Geltung unterhalb der gleitenden Übergänge des tatsächlichen Bewußtseins zu entdecken - geht natürlich gänzlich über unser Vermögen. Es handelt sich hier aber auch nur um das Prinzip und den inneren Sinn dieser Entwicklung, um die Charakterisierung ihrer Stadien in deren reinem Gegensatz, ganz gleichgültig gegen die Mischungen und Abflachungen, mit denen sie sich historisch vollzieht.

Bevor ich dies für einige Einzelgebiete unternehme, lege ich dem eine prinzipielle Bemerkung über das Zweckmäßigkeitsprinzip zugrunde. Wenn ich davon sprach, daß gewisse Funktionen, innerhalb des Lebens ausgebildet und in seine Zweckverwebungen eingebettet, zu selbständigen Zentren und Führungen werden, die das Leben in seinen Dienst nehmen - so kann dies leicht als das typische Vorkommnis erscheinen, daß die Mittel zu einem Zweck psychologisch zu Zwecken werden. Das Beispiel dafür, dessen Reinheit ebenso extrem ist wie seine geschichtliche Wirkung, bildet bekanntlich das Geld. Denn einerseits gibt es innerhalb der Menschenwelt nichts, was so absolut ohne Eigenwert und schlechthin bloß Mittel wäre, da es ja ganz und gar nur als wirtschaftliche Vermittlung entstanden ist; andererseits kein irdisches Ding, das einer gleich großen Anzahl von Menschen als der Zweck aller Zwecke vorkäme, als der definitiv befriedigende Besitz der Abschluß allen Strebens und Mühens. Jene Drehung scheint sich hier also radikaler als irgendwo sonst vollzogen zu haben. In Wirklichkeit sind die geistigen Strukturen beider Typen ganz unterschiedlich. Das Auswachsen von Mitteln zu Zwecken bleibt durchaus in der allgemeinen Form des Teleologischen beschlossen und läßt nur den seelischen Akzent des Definitiven eine Stufe zurückrücken. Ob jemand, statt für Geld Genüsse zu erwerben, sich mit dem Besitz des Geldes für befriedigt erklärt, wie der Geizige, macht einen Unterschied in der Materie, aber nicht in der wesentlichen Form der Wertung. Die sachlich rationale Gliederung einer Reihe ist für das Wertbewußtsein nicht verpflichtend, sondern überläßt ihm die Wahl des Punktes, an dem es sich aufgipfeln will. Denn an und für sich ist jene Reihe ja doch unabschließbar. Kein noch so vernünftiges oder unmittelbar beglückendes Ziel ist davor sicher, als Durchgangspunkt für ein noch höher gelegenes enthüllt zu werden, die Kette irdischer Lebensinhalte reißt an keine Glied definitiv ab, sondern läßt die Markierung eines endgültigen der niemals inkorrigiblen Willens- oder Gefühlsentscheidung. Auch soll man nicht übersehen, wie tief dieses scheinbar Irrationale der Überbewertung der Mittel gerade in die menschliche Teleologie verflochten ist. Unzählige Male würden wir weder Mut noch Kraft für unsere Handlungen haben, wenn wir nicht die ganze Konzentration, das überhaupt verfügbare Wertbewußtsein auf die zunächst zu erreichende Stufe der teleologischen Leiter verwenden würden. Wir müssen diese Stufe, mag sie sachlich ein noch so vorübergehendes Mittel sein, so behandeln, als ob sozusagen das ganze Heil von ihr allein abhängt, da sie nun doch einmal unentbehrlich ist. Wollten wir ihr nur so viel Interesse widmen, wie ihrem Eigengewicht sachlich angemessen wäre und die volle Wertungsintensität nur auf das ferne und fernste Endziel richten, so würde dies unsere Energie der praktischen Aufgabe gegenüber höchst dysteleologisch zersplittern.

Die Wendung aber, mit der die idealen Gebilde sich erheben, tritt aus der ganzen Zweck-Mittel-Kategorie heraus und die Einsicht in diese - nachher auszuführende - Möglichkeit bedarf der anderen: daß diese Kategorie überhaupt innerhalb der tiefsten Schicht menschlicher Existenz eine viel geringere Bedeutung hat, als man ihr, verführt durch ihre Rolle in der oberflächlichen Praxis, zuzuschreiben pflegt. Das Gebiet allbeherrschender Zweckmäßigkeit bildet der körperliche Organismus. Daß sein tiefstes, eigentlich formendes Wesen damit bezeichnet ist, glaube ich freilich nicht, ebensowenig wie der Mechanismus, unter dessen Kategorie wir seine Erscheinungen mit nicht absehbarem Gelingen ordnen können, dazu ausreicht. Wird aber der teleologische Gesichtspunkt, so sehr er bloß heuristisch oder symbolisch ist, einmal auf die Organismen als physische angewandt, so findet er sich im erstaunlichsten, mit jeder neuen physiologischen Entdeckung wachsenden Maß bestätigt. Je genauer ein tierisches Wesen auf die unmittelbare Auswirkung seiner Körperlichkeit angewiesen ist, d. h. je geringer sein Aktionsradius ist, umso unbedingter ist es der Zweckmäßigkeit verhaftet. Die vollkommenste Zweckmäßigkeit besteht innerhalb des Körpers; sie verringert sich in dem Maß, in dem die Lebensbewegungen über ihn hinausgreifen, weil diese dann mit einer widerstehenden, gegen das Leben zufälligen Welt zu rechnen haben. Sie nähert sich dem Maximum ihrer Gefährdung und unter Umständen dem Minimum ihrer Realisierung, in dem der bewußte Geist und Wille sich in eine beliebige Entfernung von den innerleiblichen, strukturgegebenen Bewegungen und ihrer ganz unmittelbaren Auswirkung in sein Milieu begibt.

Der Mensch, weil er den größten Aktionsradius hat, weil seine Zwecksetzung sich am weitesten und unabhängigsten vom vitalen Automatismus seines Leibes stellt, ist seiner Teleologie am wenigsten gewiß. Das ist, was man seine Freiheit nennen kann. Das Wesen, das sich an jenen Automatismus hält, hat zwar die größte Lebenszweckmäßigkeit, aber es bezahlt sie mit der Enge des Gebundenseins an die körperliche Apriorität. Freiheit bedeutet gerade die Möglichkeit, die Zweckmäßigkeit zu durchbrechen, sie besteht eben in dem Maße, in dem das Verhalten des organischen Wesens über die Grenzen seines unwillkürlich regulierten Körpers hinausgreift. Hiermit ist natürlich nicht nur die Ortsveränderung gemeint, die einfach den Körper als ganzen den Raum durchmessen läßt, um der Nahrung, des Schutzes, der Fortpflanzun willen, sondern vielmehr die qualitativen und differenziellen Eingriffe des Menschen in die Umwelt. Je entwickelter, d. h. je freier der Mensch ist, umso weiter steht sein Verhalten von der Zweckmäßigkeit ab, die in seiner Körperstruktur als solcher und in ihrer Unwillkürlichkeit investiert ist. Um dieser Distanz willen, die zwischen der physiologischen Gegebenheit des menschlichen Organismus und seinem praktischen Verhalten besteht, kann man den Menschen prinzipiell als das unzweckmäßige Wesen bezeichnen, er ist relativ aus der Zweckmäßigkeit entlassen, die in der wesentlichen Unwillkürlichkeit und also Zweckmäßigkeit der niedrigeren Organismen herrscht.

Der Mensch hat eine Existenzstufe erlangt, die über dem Zweck steht. Es ist sein eigentlicher Wert, daß er zwecklos handeln kann. Darunter sind nur Handlungen als ganze verstanden, die innerhalb ihrer selbst teleologisch konstruiert sein mögen oder müssen, d. h. die einzelne Handlungsreihe baut sich aus Mitteln auf, die zu einem Zweck führen. Aber das Ganze ist nicht wieder in eine übergreifende Gesamtteleologie eingestellt. Solche Reihen füllen das Leben natürlich nicht aus, welches vielmehr in seinem größten Teil zweckmäßig ist, d. h. in Reihen verläuft, deren Endglied wieder als Mittel für einen weiteren Zweck, d. h. schließlich zum Leben als solchem führt. Hier und da aber lebt der Mensch in der Kategorie des Nichtzweckmäßigen. Wenn man den Charakter solcher Reihen dadurch zu bezeichnen meint, daß man ihre Endglieder Selbstzwecke nennt, so bringt man ihre ganz einzigartige Bedeutung doch wieder auf die tiefere Stufe, auf die der Zweckmäßigkeit zurück. Diese ist vielmehr ein bloßer Durchgang, eine bloße Entwicklungsstufe. Wären wir reiner Geist, d. h. wäre unser Verhalten gar nnicht mehr als Teil oder Fortsetzung der unwillkürlichen Zweckmäßigkeit unserer körperlichen Organisation zu denken, so wären wir von der Kategorie des Zwecks prinzipiell unabhängig geworden.

Freilich, wenn man unter "zwecksetzend" die bewußt vernünftige Form des Zwecks und der beliebig verlängerten Mittelreihe versteht, dann ist nur der Mensch zwecksetzend. Aber dies ist doch nur ein Teil der Zweckmäßigkeit des Lebens und derjennige, der bei der Vergleichung mit der Teleologie der Tiere gar nicht in Frage kommt. Beim Menschen tritt nicht nur das teleologisch Entstandene in die Ablösung von allem Zweck auf, sondern indem es dies tut, stört und schädigt es unzähligemale unsere Zweckprozesse. Das kann jedoch nur für solche Wesen einen Sinn haben, die sich jenseits des Lebens stellen können. Alle Gebilde des spezifisch menschlichen Daseins scheinen freilich - und darauf wird es uns hier ankommen - die Stufe der Zweckmäßigkeit durchgemacht zu haben, ehe sie in die des reinen Fürsichseins, d. h. der Freiheit, aufgestiegen sind. -

Der Gegensatz zur Freiheit ist nicht der Zwang; denn erstens ist der Ablauf von Ereignissen nach der Teleologie einer organischen Gesetzmäßigkeit nicht als Zwang zu bezeichnen, weil die Gegenstrebung fehlt; nur das irgendwie freie Wesen kann gezwungen werden. Und dann beträfte die ganze Zwangskategorie, mit der ihr korrelativen Freiheit, nur die äußere Verwirklichungsform des tieferen Verhaltens. Der Gegensatz zur Freiheit ist vielmehr die Zweckmäßigkeit. Freiheit ist nichts Negatives, nicht die Abwesenheit von Zwang, sondern die ganz neue Kategorie, zu der die Entwicklung des Menschen aufsteigt, sobald sie die Stufe der an seine innere Physis gebundenen Zweckmäßigkeit und deren bloßer Fortsetzung in das Handeln hinein verlassen hat. Freiheit ist nicht Lösung vom terminus a quo [Zeitpunkt, an dem etwas beginnt - wp], sondern vom terminus ad quem [Zeitpunkt, bis zu dem etwas ausgeführt wird - wp]. Daher der Eindruck von Freiheit in der Kunst, Wissenschaft, Moral, wirklicher Religiosität, daher auch die volle Widerspruchslosigkeit gegen die Kausalität.


Den Vollzug dieser Emanzipation sollen die folgenden Seiten in einige wesentliche Linien verfolgen. Ich deute ihn einleitenderweise für zwei Gebiete an, deren ursprüngliche Verwebtheit in die Lebensteleologie ganz unlösbar seinen möchte - das eudämonistische und das erotische Gebiet.

Lust und Schmerz sind ursprünglich - so wird man wohl mit allgemeiner Zustimmung vermuten dürfen - Anregungen zu vital-zweckmäßigem Verhalten. Lustgefühle sind die lockende Prämie für das Einnehmen zuträglicher Nahrung, für den Aufenthalt in einem gesunden Milieu, frü die Fortpflanzung der Gattung; Schmerzgefühle sind Warnsignale gegen das entgegengesetzte Benehmen, biologische Strafen, die von dessen Wiederholung abschrecken. Indem diese Verbindung auch für den Menschen besteht, hat sie sich zugleich auch hier und da für ihn gelöst. Er kann nun zunächst Lust suchen, die der eigenen und der Gattungserhaltung zerstörerisch ist: allein dies ist nur das Zeichen für das prinzipielle Unabhängigsein von diesen Fördernissen, das das Lustgefühl gewonnen hat und das ihm auch zum Weiterbestand der biologischen Nützlichkeit zukommt. Wenn das Tier auch einzelne Handlungen um der winkenden Lust willen vornimmt, so ist dies doch immer nur etwas Sekundäres, hinter dem als eigentlicher Sinn die vitale Zweckmäßigkeit der so hervorgelockten Handlung steht. Beim Menschen allein kann diese Drehung eine definitive sein, er allein kann sein Leben samt dessen erhaltenen oder pervertierten Zweckmäßigkeiten in den Dienst der Lust als des schlechthin Letzten stellen. Der Begriff des "Glücks" scheint mir dies in tieferer Weise anzudeuten. Die rohe Psychologie der traditionellen Ethik hat mit seltenen Ausnahmen die entscheidende Wendung verkannt, mit der dieser Begrif sich von dem der Lust abhebt; nur die Griechen haben an diesem Punkt tiefer gesehen. Die Lust mag SCHOPENHAUER mit Recht von einem vorhergehenden Bedürfnis abhängen lassen, was ihre Eingewurzeltheit in den einreihigen Verlauf der Lebensprozesse anzeigt. Was wir aber Glück nennen - wobei es nicht auf einen definitorischen, sondern auf einen Unterschied innerer Realitäten ankommt - ist zwar auch für das leibliche Wohlbefinden und damit für die ganze Lebenszweckmäßigkeit von einem zweifellosen Wert; allein außerdem bedeutet es eine abschließende Zuständlichkeit, einen Gipfel, zu dem das Leben aufstrebt und über den es, in der Richtung dieses Strebens, so wenig hinaus kann wie man von dem erreichten Gipfel eines Berges noch weiter in die Höhe wandern kann. Dem Glück fehlt jene Vereinzelung des Lustgefühls, vermöge deren dieses zum bloßen Element des Lebenszusammenhanges wird. Dieser hat vielmehr in seiner Ganzheit eine gar nicht zu lokalisierende Färbung, sobald wir uns "glücklich" nennen, die eigentümliche Gefühlsspannung der Lust hat gewissermaßen ihren Ort in der Wechselwirkung der Lebensmomente verlassen und ist als Glück ein Definitivum geworden, zu dem diese Momennte zusammenwirken müssen. Durch nichts wird der Radikalismus dieser Wendung stärker erwiesen als durch die transzendente Steigerung des Glüücks zum Begriff der "Seligkeit". Hier kann nun die Übervitalität des Glückszustandes gar nicht mehr zweifelhaft sein, hier hat er die absolute und deshalb von aller Lustvermischung freie Form erlangt, für deren Gewinn das ganze Leben eingesetzt und oft genug das Märtyrertum erduldet wird. Im Begriff der Seligkeit ist die Emanzipation des Glücks von aller innervitalen Zweckmäßigkeit vollendet und unverkennlich geworden.

Ähnlich, wenn auch nicht in genauer Parallelität, verhält es sich mit dem Schmerz, der genetisch als Abschreckung von lebensunzweckmäßigem Verhalten zu denken ist. Und einigermaßen entsprechend wie sich zur Lust das Glück, scheint sich zum Schmerz das Leid zu verhalten. Als Schmerz bezeichnen wir - vorbehalten, daß der Sprachgebrauch die Begriffsgrenzen auch verschwimmen läßt - einen lokalisierten, in einer singulären Linie verlaufenden Vorgang. Neben ihm aber - und manchmal auch neben der Lust - steht der chronische Tonus unseres Gesamtseins, den wir Leid zu nennen pflegen und der biologisch in keiner Weise über sich hinausweist. Das Schmerzereignis innerhalb des Lebens hat sich damit jener Lokalisierung entrissen und sich zu einer Färbung des Lebens verbreitert, auf deren Basis es nun erst wieder immanent teleologische oder dysteleologische Ereignisse erfährt. Während der Schmerz sich dem Leben einfügt, rinnen die Ströme des Lebens, wie in das Glück, so in das Leid hinein, die Seele kann im Leid wie im Glück - nur mit umgekehrten Vorzeichen - eine Vollendung, ein Fertigsein des Lebens, ja eine Erlöstheit seiner von sich selbst finden, die das Gegenteil der Rolle des Schmerzes ist. Daß wir geistig Leiden empfinden können, die prinzipiell keine teleologische Bedeutung haben - das scheint mir ein ganz entscheidendes Kennzeichen des Menschenwesens zu sein.

Charakteristischer noch als in der eudämonistischen Teleologie tritt in der erotischen die bezeichnete Wendung hervor. Primär ist die biologische Bedeutung der Anziehung der Geschlechter und der an sie geknüpften Lustgefühle. Indem die letzteren zum psychologischen Ziel werden, um dessentwillen der Aktus gesucht wird, verschiebt sich schon die teleologische Reihung, die Fortpflanzung wird ein bloßes, oft nicht gewolltes Akzidenz des eigentlich Gewollten. Immerhin kann auch dies noch - etwas altmodisch ausgedrückt - als eine List der Natur zur Erreichung ihrer Gattungszweck erscheinen; ja sogar dann noch, wenn die erotische Absicht nicht mehr auf das Geschlecht als ganzes, d. h. nicht mehr auf irgendeine, einigermaßen annehmbare Person des anderen Geschlechts geht, sondern völlig individualisiert ist und unter dem Schema: diese oder keine - verläuft. Denn auch eine solche Zuspitzung kann als Instinkt für den geeignetsten Partner zur Erzeugung des wohlgeratensten Kindes gedeutet werden. Aber doch setzt sich an diesen Punkt zugleich die entscheidende Abwendung der Erotik vom Dienst des Lebens an. Gleichviel welches genetische oder homochrone Verhältnis zwischen der Liebe und dem sinnlichen Begehren besteht - ihrem Sinn nach und als Zuständlichkeiten haben sie nichts miteinander zu tun. Jenes Begehren ist gattungsmäßiger Natur und wo es ausschließend auf ein Individuum geht, ist dieser allgemeine Lebensstrom nur kanalisiert, fließt aber schließlich wieder in die Allgemeinheit seiner Quelle zurück. Die Liebe aber, als Liebe, hat das Eigentümliche, daß sie ein reines, in sich abgeschlossenes Binnenereignis in der Seele ist, das sich freilich um das jetzt schlechthin unvertauschbare Bild des anderen Individuums webt. Ungezählte, unverfolgbare Kräfte der Persönlichkeit münden in sie ein, aber sie ist nicht etwa für diese nur eine Durchgangsstation, sondern, beglückend oder vernichtend, ein Definitivum. Das: "Wenn ich dich liebe, was geht's dich an" - drückt das Wesen der Liebe zwar negativ, aber in unüberbietbarer Reinheit aus. Solange die Liebe im Generellen bleibt und solange sie Begehren bleibt, ist sie eine Form, die das Leben um seiner "Zwecke" willen annimmt. Allein diese Form emanzipiert sich, wie sich in der - hier ganz einseitigen - SCHOPENHAUERschen Lehre nur der Intellekt vom Leben emanzipieren kann; der Liebende, der sich und das geliebte Wesen aus dem breit und vorwärts strömenden Gattungsleben herausgehoben hat, weiß, daß nun das Leben dazu da ist, um diesen Wert,, dieses neue So-Sein zu nähren. Als eine "Zweckbeziehung" kann man das freilich nicht bezeichnen. Indem aber diese, wie sie im gattungsmäßigen Begehren herrscht, aufgehoben ist, - gleichviel ob dieses noch neben der autonomen Liebe und in unscheidbarer Verbindung mit ihr besteht - hat die Liebe die ganze Kategorie des Teleologischen hinter sich gelassen. Diese bestimmt nur eine lebengebundene Vorform, aus der sie zu einem freien Selbst-Sein herauswächst. Gewiß ist hier ein stetiger Übergang und so wenig etwa im ersten Getriebenwerden zum anderen Geschlecht die Liebe schon "präformiert" liegt, so ist es doch ein allmählicher Prozeß der Epigenesis [nachträglichen Entstehung - wp], der sie aus jenemm entstehen läßt, die Wirklichkeit setzt die Form der Kontinuität zwischen die beiden Kategorien, die ideell und dem Wesen nach durch eine absolute Schwelle geschieden sind.

Eine viel breitere Darstellung nun fordert dieser Prozeß, wo er die eigentlich sogenannten Kulturgebiete gestaltet (obgleich man vielleicht sagen kann: Kultur überhaupt entstünde eben, wo die im Leben und um des Lebens willen erzeugten Kategorien zu selbständigen Bildnern eigenwertiger Formationen werden, die dem Leben gegenüber objektiv sind). So entschieden Religion, Kunst, Wissenschaft ihren Sinn als solche in überpsychologischer Ideellität besitzen, so gewisse sind Vorgänge des zeitlich-subjektiven Lebens doch wie Embryonalstadien ihrer, sie erscheinen, von jener aus gesehen, wie ihre Vorformen; oder auch: eben dasselbe erscheint in der Form des Lebens, was jene in der der eigenweltlichen Ideellität sind. In dem Augenblick, in dem jene formalen - d. h. gegebenen Inhalte zu einer bestimmten Welt formenden - Triebkräfte oder Gestaltungsarten für sich das Bestimmende werden (während bisher das Leben und sein materialer Interessenzusammenhang es war) und von sich aus ein Objekt erzeugen oder gestalten - ist jedesmal ein Stück der kulturellen Welten aufgebracht, die nun gleichsam vor dem Leben stehen, ihm die Stationen seines Verlaufes oder einen Vorrat an Inhalten bietend.

Vielleicht ist das reine Wesen der Wissenschaft im Unterschied gegen das auch sonst vorhandene Wissen nur unter dieser Voraussetzung zu erfassen. Das praktische Leben ist auf Schritt und Tritt - und mehr als man es sich klarzumachen pflegt - von Erkenntnisvorgängen durchzogen: wir erwerben vor dem Entstehen der Wissenschaft im Großen und Ganzen nicht weniger und nicht mehr Wissen als zur Durchführung unseres praktischen, äußerlichen wie innerlichen, Verhaltens erforderlich ist. Nicht weniger: weil wir angesichts der Bedingtheit unseres Lebens durch Wissensvorstellungen nicht leben würden, wenn nicht ein gewisses Maß und eine gewisse Zulänglichkeit dieser bestünde; nicht mehr: weil dies, solange nur das Leben als solches und als praktisches in Frage kommt, eine unnütze Belastung für dieses, das sogar eigentlich gar keinen Platz dafür hätte, bedeuten würde - wobei natürlich das zwischen Zuwenig und Zuviel stehende Maß je nach Individuen und historischen Situationen äußerst variiert.

Wie entscheidend hier die vitale Determinatioin ist, zeigt sich daran, daß dieses jeweilige Wissen, so fragmentarisch und zufällig es anderen Perioden erscheinen mag, sich doch immer als ein irgendwie geschlossener und befriedigender Zusammenhang bietet: eine Rechtfertigung und zentrale Begründung für diese jeweils empfundene Einheit, nach Logik und Sachgehalt dieser Erkenntniskomplexe, pflegen jene anderen Perioden eben nicht zuzugeben, sie kann vielmehr nur in der real fordernden, souverän bestimmenden Lebenssituation liegen. Das weit überwiegende Quantum unserer Wissensvorstellungen stellt sich dar, als ob es von der Lebenszweckmäßigkeit hervorgerufen und bestimmt wäre - wobei die genauere Definition eben dieser nach Sinn und Richtung dahingestellt bleiben kann. Nur mache man sich, um eine pragmatistische Verengung zu vermeiden, klar, daß unsere inneren Vorgänge, so sehr sie unserem vitalen Verhalten in der Welt dienen, doch selbst ein Stück dieses Verhaltens und dieser Welt sind. Darum ist es ganz einseitig und verblendet, Sinn und Zweck unserer Bewußseinsvorgänge ausschließlich in unser Handeln, d. h. in unser praktisches Verhältnis zur Außenwelt zu setzen. Auch wenn wir annehmen, daß alle seelischen Vorgänge, auch die rein triebmäßig auftretenden, durch die Lebenszweckmäßigkeit bestimmt sind, so schließt diese doch auch unsere innere Beschaffenheit ein; der Gedanke erhält seinen Vitalwert nicht nur durch seine äußeren Folgen, nicht einmal unter Hinzurechnung seiner inneren, sondern sein So-Sein ist unmittelbar eine, wertvollere oder niedrigere, Qualität des Lebens, in dem er steht. Diese Erweiterung und Vertiefung ist stets mitgemeint, wo ich kurz von der Lebenszweckmäßigkeit spreche.

Sehen wir unser Leben als biologischen Prozeß an, so ist es nicht anders als die Pflanze in die Wirklichkeit der Welt verwebt und alle seine Funktionen vollziehen sich in ihrer Zweckmäßigkeit wie das Atmen des Schlafenden. Schiebt sich nun in diese Teleologie unserer Wirklichkeit ein Erkennen ein, so ist unser Status und unsere Wirksamkeit damit noch nicht prinzipiell geändert: das vorwärtsströmende Leben ist nur um diese Wellenform bereichert. Das Erkennen ist insofern nichts anderes als eine Szene des Lebens selbst, die eine andere vorbereitet und damit der vitalen Gesamtintention dient. Für die sogenannten rein sinnlichen Vorstellungen ist dies schon ausgesprochen worden. Sie erscheinen als Fortsetzungen des körperlichen Mechanismus, der als ganzer teleologisch dirigiert ist. Wird diese letztere Vorstellung beibehalten, so müssen alle überhaupt dem Leben eingefügten und es mitbestimmenden Vorstellungen des gleichen Wesens sein. Der Fluß des Lebens geht, herrschend und beherrscht, durch sie hindurch wie durch jedes andere seiner Elemente; die Kategorien, in denen sich das bewußte Bilder der Dinge herstellt, sind bloße Werkzeuge innerhalb des vitalen Zusammenhangs. Ganz irrig scheint mir die typische Vorstellung, daß wir aus einer zuvor gegebenen, gleichsam im intellektuellen Raum freischwebenden Welt von Erkenntnisbildern diejenigen in unser praktisches Leben hineinnehmen, die ihm förderlich sind. Dies schneidet das Problem ab, indem es einen wählenden Menschen in den Menschen hineinsetzt und die Verbindung zwischen Theorie und Praxis ganz ungeklärt läßt. Ist erst einmal eine fertige Erkenntniswerlt unser erarbeiteter und durchgearbeiteter Besitz, so mag es so zugehen; allein die Frage, wie es überhaupt zu ihr kommt und was sie ursprünglich bedeutet, wird damit nicht berührt. Sie löst sich vielmehr in einheitlicher Weise nur so, daß das Leben, wie all seine anderen Funktionen, so auch die erkennenden schafft. Der Mensch ist ein zu vielfältiges Wesen, um sich in einer so geradlinig teleologischen Weise, wie die Pflanze, in der Welt erhalten zu können. Die Vielheit seiner Sinneseindrücke und seiner Berührungsflächen mit der ihn angehenden Welt fordert jene Konzentration der von dieser kommenden Einflüsse und jene Vorbereitung auf seine Reaktion, die vermöge der Begriffsbildung und der kategorialen Formen geschieht. Daß man auch umgekehrt diese als Grund ansprechen kann, der ihm jene Mannigfaltigkeit der Weltbeziehung zuwachsen läßt, beweist nur, daß die Teleologie überhaupt nur einen vorläufigen oder symbolischen Ausdruck für das eigentliche Gesetz des Lebens bietet. Indem die intellektuellen Formen die Welt für unser praktisches Leben um uns aufbauen, ermöglichen sie die tatsächliche Verbindung zwischen den Inhalten der Welt und uns, um der dazu erforderlichen Bearbeitung der Inhalte willen sind sie da. Außerhalb dieser Funktion haben sie im Leben nichts zu suchen. Wenn etwa behauptet wird, Kausalität sei nur die Übertragung der gefühlten, willentlichen Lebenswirksamkeit auf die Objektwelt, so heißt das eben, daß das Leben sich innerhalb seines eigenen Wesensbezirkes die Form ausgebildet hat, mit Hilfe deren es eine praktisch zu bearbeitende Welt gewinnt. Was vielfach Verwunderung erregte: daß wir die so fest geglaubte Kausalität doch nirgends "sehen", kommt einfach daher, daß sie eine Form und Bedingung für unsere praktisch reale Wirksamkeit in der Welt ist, sie außerdem theoretisch-objektiv durch "Sehen" festzustellen, ist für diesen Zweck: für unser rein tatsächliches Eingreifen, dessen Voraussetzung sie bildet - eben nicht erforderlich.

Aber das ganze vital bestimmte "Erkennen" ist noch keine Wissenschaft: durch keine graduelle, wenn auch noch so hohe Steigerung und Verfeinerung dieses Erkennens ist das Prinzip der Wissenschaft überhaupt zu erreichen - vielmehr erst in dem Augenblick, wenn sich das bisher geschilderte Verhältnis umkehrt, wenn die Inhalte ausschließlich insoweit von Interesse sind, als sie die Formen des Erkennens erfüllen. Das Wesen aller Wissenschaft als solcher scheint mir darin zu bestehen, daß gewisse geistige Formen ideell da sind (Kausalität, induktive und deduktive Erschließbarkeit, systematische Ordnung, Kriterien der Tatsachenfeststellung usw.), denen die gegebenen Weltinhalte, durch Einstellung in sie, zu genügen haben. In Form einer psychologischen Realisierung ausgedrückt: zuerst erkennen die Menschen um zu leben, dann aber gibt es Menschen, die leben um zu erkennen. Welcher Inhalt gewählt wird, um sich als Erfüller jener Forderungen zu zeigen, ist eigentlich zufällig und hängt von historisch-psychologischen Konstellationen ab, von Motiven, zumindest für die Ausgangspunkte, die, genau besehen, nicht innerhalb der Wissenschaft selbst liegen; denn für diese sind prinzipiell alle Inhalte gleichwertig. Die Zusammengehörigkeiten, in denen die Inhalte innerhalb der Lebensreihen mit ihrem Sinn und ihrem Zwang stehen, sind hier völlig aufgelöst; die Bedeutung ihres Erkanntwerdens für das Leben entscheidet nicht mehr über ihre Herausholung und Anordnung, sonden diese hängen von der Forderung und Möglichkeit ab, die jetzt als Eigenwerte betrachteten Erkenntnisformen auf die Inhalte anzuwenden - vorbehalten natürlich, daß das so Gewonnene diesen Einstellungen wieder entrissen werden und, von Neuem mit vitaler Dynamik geladen, in den teleologischen Lebensstrom tauchen kann. Wäre nun diese ideozentrische Einstellung an allen überhaupt möglichen Inhalten vollbracht; würden sie alle diejenige Form, denjenigen Gesamtzusammenhang zeigen, die die Alleinherrschaft der Erkenntnisgesetze ihnen auferlegt - so wäre die Wissenschaft vollendet. Die Annäherung hieran bleibt solange aus, wie unser tatsächliches Forschen statt durch die Erkenntnisnormen als solche, durch das Lebensinteresse bestimmt wird. Wenn wir Erkenntnisse suchen, die sich in den von praktischen Notwendigkeiten, von Willen und Gefühl gelenkten und durchsetzten Lebensstrom einstellen, so mögen diese noch so wahr sein - sie finden ihren Ort nicht durch den Zusammenhang mit anderen Wahrheiten, da ja Wahrheit gar nicht der letztenendes sie beherrschende und zusammenführende Begriff ist; sie müssen vielmehr aus der Lebenslinie erst herausgelöst sein, um Wissenschaft zu sein, d. h. dem ideell vorgezeichneten Bezirk des Nur-Wahren anzugehören, dessen Inhalte gerade nur dadurch designiert [vorgesehen - wp] und zusammengeschlossen sind, daß sie den Erkenntnisnormen genügen. Daß diese Normen selbst nicht nur ihrem zeitlichen Auftreten, sondern ihrer qualitativen Bestimmtheit nach den Forderungen des ihnen vorgelagterten Lebens entstammen, ist hierfür ganz gleichgültig. Es genügt, daß sie jetzt der Träger des - so paradox der Ausdruck klingt - genuin [neu - wp] gewordenen Wahrheitswertes sind, der Grund, aus dem Wahrheit Wahrheit ist, tritt in ihre jetzt gewonnene Alleinherrschaft nicht ein. Von hier aus erhält KANTs Äußerung, daß die apriorischen Sätze (die man mit dem, was ich hier Formen der Wahrheit nenne, identifizieren kann) "für sich nicht Erkenntnisse sind" eine interessante Beleuchtung. Einzelne Wahrheiten können sich auf einzelne bestehende Wahrheiten gründen; Wahrheit überhaupt aber kann sich nicht wieder auf Wahrheit gründen, ohne daß ein Zirkel entstünde. Behandelt man also, wie KANT es tut, als Erkenntnis ausschließlich die Wissenschaft, schneidet man das Wahrheitsproblem mit dieser ab, so ist es durchaus in der Ordnung, daß man die formgebenden Normen als "für sich nicht Erkenntnisse" seiend erklärt. Läßt man aber die Frage weiter vorrücken, sieht man die primäre Geltung jener Formen schon im bloß praktischen Lebensbezirk, so können auch sie schon Erkenntnisse sein, weil anstelle der Begründung, die sie innerhalb der Wissenschaft allein haben könnten, der selbst wieder theoretischen, jetzt eine andere getreten ist: die aus den Forderungszusammenhängen des bloß gelebten Lebens. Im Sinne dessen, was hier Wahrheit heißen kann, sind auch sie Wahrheiten und daraus wird erklärlich, daß sie in der völlig anders konstruierten, durch jene radikale Wendung entstandenen Wissenschaft die Voraussetzungen für deren Wahrheiten werden können - ohne doch innerhalb dieser, wenn KANT recht hat, selbst Wahrheiten zu sein. Wie sie zu dieser Rolle kämen, wäre nicht recht verständlich, hätte etwas von Zufall und Willkür, wenn ihnen nicht von ihrer Rolle innerhalb jenes anderen Zusammenhanges her eine Dignität bestimmt wäre. - Im Gegensatz also zu einer vital-teleologischen Erkenntnis ist in der Wissenschaft der Gegenstand als solcher gleichgültig, weil, wie schon erwähnt, eine jeder jedem anderen gleichwertig ist; ein Wertvorrang eines Gegenstandes kann hier nur die Technik innerhalb der Wissenschaft angehen, insofern der eine für den Gewinn weiterer Erkenntnisse fruchtbarer ist als der andere. Daß uns im Übrigen die Physiologie des Menschen wertvoller ist als die der Fledermaus und die Biographie GOETHEs wertvoller als die seines Schneiders, ist in Schätzungen begründet, die von außerhalb der Wissenschaft herkommen, die nicht vom Wahrheitsinteresse als solchem ausgehen. Die allgemeine Wendung: in Wissenschaft würde "die Wahrheit um der Wahrheit willen gesucht" trifft tatsächlich das Richtige - während sie innerhalb der Praxis um des Lebens willen, innerhalb der Religion um Gottes oder des Heiles willen, innerhalb der Kunst um der ästhetischen Werte willen gesucht wird. Wenn innerhalb dieser beiden letzten Teleologien etwa andere Vorstellungen als die wahren die dienlicheren wären, so würden diese anderen statt der wahren gesucht werden.

Wir pflegen freilich auch die innerhalb dieser Gebiete als gültig akzeptierten Vorstellungen als "wahre" zu bezeichnen und sprechen von einer künstlerischen und einer religiösen Wahrheit und Logik. Dies entstammt ersichtlich dem ungeheuren Übergewicht, das den mit intellektueller Gültigkeit ausgestatteten Vorstellungen innerhalb eines Vorstellungsbezirks überhaupt zukommt, und zwar deshalb zukommt, weil gerade diese Ganzheit unseres Lebens entstammen und zugeordnet sind. Freilich gehören Religion und Kunst als erzeugte und wirkende Realitäten gleichfalls in das Leben hinein und zweifellos sind manche von ihnen ausgehende Impulse und Ansprüche in einen Vitalzusammenhang verwebt, innerhalb dessen unsere Intelligenz die "Wahrheit" bildet; hier und da hat man die Zeugnisse davon in unseren als rein rational akzeptierten Erkenntnissen aufweisen können. Faßt man Praxis in dem engen, wesentlich äußerlichen Sinn, in dem der Pragmatismus es zu tun liebt, so können auch für sie Vorstellungen gültig werden, die von denen der theoretischen Intelligenz abweichen. Wird sie aber in einem weiteren, weitesten Sinn des gesamten Lebensverhaltens verstanden, so ist eine Abweichung der für sie gültigen Vorstellungen von denen der reinen Theorie - wie die religiösen und künstlerischen eine solche Abweichung zeigen - unmöglich und sich selbst widersprechend, da die Theorie ihre konstitutiven Formen, so souverän sie im Augenblick der Wissenschaftswertung sind, ja gerade aus der Totalität des Lebens und seines Weltverhältnisses bezieht. Den Hiatus zwischen Theorie und Praxis, den die Redensart symbolisiert: das mag in der Theorie richtig sein, gilt aber nicht für die Praxis - hat man damit zu überwinden gemeint, daß in diesen Fällen die Theorie nur noch unvollständi ist; als ganz vollendete umfaßt sie eben die ganze Realität, also auch die praktische. Für die Oberfläche der fertig ausgebildeten Erfahrung verhält es sich freilich so. In der innerlichsten Schicht aber liegt es umgekehrt; jener Spruch hat eine relative Richtigkeit, insofern "Praxis" im gewöhnlichen, eingeschränkten Sinn einer mehr oder weniger momentanen Aktivität der Außenwelt gegenüber verstanden wird. Hier kann sich, innerhalb einer ganz partiellen Lage, tatsächlich eine Vorstellung zweckmäßig in unser Verfahren einfügen, die "theoretisch" unhaltbar ist. Faßt man aber Praxis als das Gesamtverhalten unseres Lebens und als Bestimmung jeder Vornahme durch das dieser Totalität Förderliche - so verliert der Spruch seinen Sinn, weil Theorie ja nichts anderes ist, als das Erzeugnis und der Herrschaftsbezirk der jenem Gesamtverhalten zweckmäßig eingefügten Erkenntnisformen; von jedem Einzelzweck, Einzelnutzen ist die Theorie prinzipiell unabhängig, da sie, in ihrer Vollendung, dem Ganzen des Lebens entsteigt. Daß sie der Praxis in diesem Sinne entspricht, ist ein analytischer Satz. Und, auf den eigentlich wurzelhaften Zusammenhang angesehen, ist jener Hiatus nicht, wie die angedeutete Kritik wollte, durch eine Vollendung der Theorie zu überwinden - dies zumindest nur rückläufig - sondern durch eine Vollendung der "Praxis", denn diese erst entläßt aus sich die vollendete Theorie.

In welchen Lebensbeziehungen und im Dienst welcher historischen Zwece jedoch auch die (im weitesten Sinn) logischen und methodischen Formen entstanden sein mögen; das Entscheidende ist, daß sie nun in reiner, jede weitere Legitimierung abweisender Selbstherrschaft sich ihren Gegenstand - als Inhalt der Wissenschaft - selbst schaffen. Jenes praktische, vom Leben erforderte und in das Leben eingewebte Wissen hat prinzipiell mit Wissenschaft nichts zu tun; von ihr aus gesehen ist es eine Vorform ihrer. Die kantische Vorstellung, daß der Verstand die Natur schafft, ihr ihre Gesetze vorschreibt, gilt nur für die immanent wissenschaftliche Welt. Das Erkennen, insofern es ein Pulsschlag oder eine Vermittlung des bewußten praktischen Lebens ist, stammt keineswegs aus dem eigenen Schöpfertum der reinen intellektuellen Formen, sondern es wird von jener Dynamik des Lebens getragen, die unsere Realität in sich und mit der Realität der Welt verwebt. Mag nun auch das Bild des einzelnen Objekts für die Wissenschaft das gleiche sein wie für die Praxis; die weltmäßige Gesamtheit der Bilder und ihrer Zusammenhänge, die wir Wissenschaft nennen, entsteht erst durch die Achsendrehung, die die Bestimmungsgründe der Erkenntnisbilder aus den Inhalten und ihrer Bedeutung für das Leben heraus und in die Erkenntnisformen selbst hineinverlegt. Diese erscheinen jetzt wie mit einer ganz genuinen Schöpfungskraft erfüllt und stellen von sich aus eine Welt her, deren Eigengesetzlichkeit und Selbstgenügsamkeit dadurch nicht alteriert wird, daß unsere Arbeit von ihrem ideellen Bestand nur einzelne und oft ganz unzusammenhängende Teile zu unserem Besitz macht. Denn erst mit jener Wendung steht die in sich logisch verbundene Totalität ideell vor uns, als deren Nachzeichnung das wissenschaftliche Wissen erscheint. Solange das Wissen nur einen Moment des Lebensverlaufes ist, aus ihm kommend und in ihn mündend, ist hiervon nicht die Rede; der Sinn, zu dessen Realisierung es in diesem Fall berufen ist, ist die vitale Zweckmäßigkeit, die Herstellung eines gewissen Seins in uns und Seinsverhältnisses zwischen uns und den Dingen. Man könnte sagen: das Leben erfindet, die Wissenschaft entdeckt. Auch dort ordnet sich das Erkennen seiner Intention nach einer einheitlichen Ganzheit ein. Nur ist es nicht der theoretische Kosmos der Wissenschaft, sondern die Linie des praktischen Lebens, im Sinn eines inneren wie äußeren Verhaltens. Indem die einzige Erkenntnis in diese organisch hineingehört und ihren Zweck völlig erfüllt, fragt sie als Erkenntnis gar nicht über sich hinaus. Das vom Leben erzeugte und verbrauchte Wissen ist für die Wissenschaft darum nicht weniger etwas Vorläufiges, weil die Denkformen, die von sich aus die Gestaltung der Weltinhalte zur Wissenschaft übernehmen, selbst im Lebensprozeß erzeugt worden sind, selbst nur den prinzipiellsten Ausdruck jenes praktischen Verhältnisses zwischen uns und dem übrigen Sein bilden. Von der Provenienz dieser Formen und Forderungen wird das Wesen der Wissenschaft gar nicht angerührt. Denn o sie ihrer qualitativen Artung nach solche oder solche sind, ist für dieses Wesen in seinem reinen Begriff ohne Belang; nur daß sie nun ihrerseits eine Welt bestimmen, daß die Inhalte nun in diese Welt aufgenommen werden, um deren Formen zu genügen - das macht die Wissenschaft in ihrer Abtrennung vom Leben aus.

Das scharfe Erfassen des Radikalismus dieser Wendung wird dadurch einigermaßen erschwert, daß der isolierte Inhalt innerhablb der vitalen Vorform der Wissenschaft und innerhalb der Wissenschaft selbst oft ununterscheidbar aussieht und daß der Unterschied nur durch die Betrachtung vom Ganzen her, durch die Zusammenhänge und die innere Intention gestiftet wird. Viel deutlicher tritt er hervor, wo sich aus und über den vom Leben erzeugten Vorformen die Welt der Kunst aufbaut.

Für das Gebiet der empirisch praktischen Anschaulichkeit steht es fest, daß es uns ein prinzipiell anders gebautes Weltbild liefert, als dasjenige, das die Wissenschaft uns als objektives anzuerkennen veranlaßt. Für dieses nämlich sind die Dinge in einer absoluten Koordination durch den unendlichen Raum hin ausgebreitet, ohne daß ein Punkt besonders betont wäre und ihnen dadurch eine Abgestuftheit der räumlichen Ordnung aufdrängt. Ferner bestehen sie hier in absoluter Kontinuität, in der gleichen wie der Raum selbst, und jeder kleinste Teil ist durch seine rastlose Bewegtheit mit jedem seiner Nachbarn dynamisch verbunden. Endlich bedeutet diese Bewegheit ein stetiges Fließen, die rastlose Umsetzung der Energien gestattet keine wirkliche Festigkeit einer Form, kein qualitatives oder räumliches Beharren eines einmal gewordenen Daseins. Diese Bestimmungen ändern sich vollkommen, sobald ein lebendiges Subjekt die Welt anschaut. Mit ihm ist zunächst ein Zentrum oder Ausgangspunkt gegeben, der das gleichmäßige Nebeneinander der räumlichen Dinge in eine abgestufte oder perspektivische Ordnung um den Kopf des Anschauenden herum überführt (1). Jetzt gibt es eine als solche akzentuierte Nähe und Ferne, Deutlichkeit und Undeutlichkeit, Verschiebungen und Sprünge, Überschneidungen und Leerheiten, wozu in einem subjektfreien Dasein der Dinge gar keine Analogie besteht, ebenso wird die Stetigkeit der Materie (natürlich in dem Sinn, der vom atomistischen Problem nicht berührt wird) von unserem praktischen Sehen durchbrochen, so daß man fast sagen könnte: dieses Sehen bestünde geradezu in einem eingrenzenden Herausschneiden bestimmter "Dinge" aus der Kontinuität des Daseins; wir "sehen" sie, indem wir sie als irgendwie geschlossene Einheiten aus jener objektiven Kontinuität heraus- oder richtiger, in sie hineinformen; und damit ist schließlich auch der heraklitische Fluß der Wirklichkeit in ihrem objektiven zeitlichen Werden durch unseren Blick gestaut: unsere Art zu sehen, schafft sich wirklich beharrende Gestalten, und die platonische Vorstellung, die Sinnenwelt zeige nur eine ewige Unruhe und Veränderung, während allein der abstrakte Gedanken die Wahrheit, d. h. das unveränderte So-Sein der Dinge erfaßt, ist, wenn nicht in einem absoluten, so doch im nächsten und empirischen Sinn, ungefähr das Gegenteil des wirklichen Verhaltens.
LITERATUR: Georg Simmel Vorformen der Idee, Logos, Bd. 6, Tübingen 1916
    Anmerkungen
    1) Ich entnehme einige dieser Formulierungen meiner Studie "Der Fragmentcharakter des Lebens", Logos VI, 1.