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Die Erkenntnislehre William Hamiltons [2/4]
2. Abschnitt Das Erkennen und sein Gegenstand [Fortsetzung] 2. Kapitel Das Bewußtsein als Quelle der Erkenntnis I. Das Bewußtsein als Grundbedingung des Erkennens Wenn wir den treibenden Motiven nachgehen, die in der Entwicklung der Problemstellung des Kritizismus wirksam gewesen sind, so ist an erster Stelle die Ratlosigkeit des Denkens angesichts der sich vielfach widersprechenden Lehren der Metaphysik zu nennen. Die kritische Philosophie gelangt zu dem Ergebnis, daß der Dogmatismus in seinem theoretischen Bereicht sich um Scheinprobleme bemüht hat, die nur durch den Mangel einer das philosophische Denken vorbereitenden und klärenden Erkenntniskritik enstehen konnte. Auch HAMILTONs Denken zeigt sich von jenem Motiv beeinflußt: doch erringt es bei ihm nicht den grundsätzlichen Wert, den es für KANT in der Gestaltung einer kritischen Philosophie hat. Das Kennzeichen für HAMILTONs Denken wird vielmehr am Anfang der philosophischen Selbstbestimmung sogleich offenbar, indem seine Philosophie bei einem eklektischen Ausgleichversuchs stehen bleibt. Die Tatsache, daß es mehrere philosophische Systeme gibt, die zueinander in einem offenbaren Gegensatz stehen, erklärt HAMILTON dadurch, daß "die Philosophen selten oder niemals die Tatsachen des Bewußtseins, die vollen Tatsachen und nichts als die Tatsachen des Bewußtseins" zur Grundlage ihrer Lehren genommen haben. Jedes philosophische System ist insofern wahr und vollständig, als es die Tatsachen des Bewußtseins in ihrem eindeutigen Sinn entwickelt. HAMILTON vergleich das Bewußtsein mit der Bibel, welche die einzelnen Sekten in dem Sinn ausdeuten, der ein ihr Lehrsystem paßt. So haben auch die Philosophen, "statt ihre Lehren aus dem Bewußtsein entwickelt, sich auf dieses nur berufen, wenn sie eine Autorität zur Bestätigung ihrer vorgefaßten Meinungen anführen konnten". Der Begriff des Bewußtseins hat demnach für HAMILTONs Philosophie eine grundlegende Bedeutung, die sich uns noch mehr aufdrängt, wenn wir erwägen, daß die Phänomenologie des Geistes die Voraussetzung seiner Erkenntnislehre und seiner Philosophie überhaupt ist. Was im Bewußtsein ist, kann nicht logisch definiert, wohl aber philosophisch analysiert werden. Wenn wir auf das Bewußtsein die philosophische Methode anwenden, so ergibt sich uns sein Begriff durch die Beobachtung und Vergleichung der Tatsachen des Geistes, indem wir aus dem Vergleich die allgemeinen Bedingungen entwickeln, unter denen allein ein Bewußtseinsakt möglich ist.
Der Bewußtseinsakt ist die Bedingung allen Wissens. Ich erkenne, ich wünsche, ich fühle. Obwohl mein Erkennen, Wünschen und Fühlen nicht dasselbe bedeuten, so stimmen sie doch alle in einer Grundbedingung überein.
"Das Erkennen, das Fühlen, das Wollen sind nur unter der Bedingung möglich, daß sie gewußt und zwar von mir gewußt werden." Im Bewußtsein ist demnach ein Verhältnis des Ichs zu seinen Zuständen gegeben. Das Bewußtsein schließt demnach in seinem einfachsten Akt drei Dinge ein:
2. eine erkannte Modifikation und 3. eine Erkenntnis derselben durch das Subjekt.
Bezüglich des Gedächtnisses zeigt HAMILTON, daß REIDs Auffassung desselben als eines unmittelbaren Wissens vom Vergangenen ein innerer Widerspruch ist. Wenn wir ein Objekt unmittelbar erkennen sollen, so muß es uns gegenwärtig sein; REIDs Irrtum hat seinen Grund darin, daß er den großen Unterschied der unmittelbaren und mittelbaren Erkenntnis übersehen hat. Der Unterschied zwischen REIDs und HAMILTONs Theorien des Bewußtseins tritt besonders in ihrer gegensätzlichen Stellung zum Vermögen der Wahrnehmung hervor, und HAMILTON hat diesen Gegensatz scharf hervorgehoben.
Alles Relative wird nur in seinem Zusammensein erkannt: "Relatives are known together: the science of opposites is one." Das ist der Fundamentalsatz, der den Sinn unseres Erkennens, seinen relativen Charakter offenbart.
"Jeder Begriff des Ichs schließt notwendigerweise einen Begriff des Nicht-Ichs ein: jede Wahrnehmung dessen, was von mir verschieden ist, enthält eine Erkennung (recognition des wahrnehmenden Subjekt im Gegensatz zum wahrgenommenen Objekt." "Die unmittelbare Erkenntnis, die Reid uns bezüglich der vom Geist verschiedenen Dinge zugesteht, und die unmittelbare Erkenntnis des Geistes selbst, können darum nicht in zwei verschiedene Akte getrennt werden. In der Wahrnehmung bezieht sich das Bewußtsein wie in den anderen Vermögen auf beide Glieder des Verhältnisses, das mit der Erkenntnis gesetzt ist."
REIDs Lehre schließt einen allgemeinen Widersinn ein. Denn nach ihm erkennen wir etwas, dessen wir uns als eines Erkannten nicht bewußt sind. Ebenso findet es HAMILTON sinnlos zu sagen, wir seien uns der Wahrnehmung, aber nicht ihres Gegenstandes bewußt. Der Gegenstand der Wahrnehmung darf nicht aus dem Bereich des Bewußtseins verwiesen werden, da wir eine unmittelbare Erkenntnis des Nicht-Ichs haben. Die innere Triebfeder dieser Auseinandersetzung mit REID bildet HAMILTONs Auffassung von der Dualität des Bewußtseins, die zugleich eine wichtige und notwendige Ergänzung seines Begriffes vom Bewußtsein darstellt. Wenn HAMILTON die Definition des Bewußtseins, wie sie REID gibt, angreift, so wird man nicht sagen können, daß seine eigene so eindeutig und eng begrenzt ist, um die REIDsche auszuschließen. Nach REID ("Intellectual Powers") ist das Bewußtsein eine Handlung des Verstandes, die ihm gleichartig ist; er glaubt ebenso wie HAMILTON, daß es nicht definiert werden kann.
des Bewußtseins Unser Bewußtsein ist durch gewisse Bedingungen (conditions) oder Begrenzungen (limitations) eingeschränkt, die ihm eigentümlich sind. HAMILTON zählt in den "Lectures on Metaphysics", Seite 202f, fünf solche besonderen Voraussetzungen (special conditions) auf, von denen er sagt, sie werden alle allgemein angenommen:
2. Das Bewußtsein ist eine unmittelbare, keine mittelbare Erkenntnis. Eine mittelbare Erkenntnis haben wir z. B. dann, wenn wir uns eines vergangenen Ereignisses erinnern; in diesem Fall sind wir uns nur der Repräsentation des von uns gemeinten Gegenstandes unmittelbar bewußt. 3. Das Bewußtsein setzt einen Gegensatz (contrast), eine Unterscheidung (discrimination) eines Gegenstandes von einem andern voraus. Hamilton hält drei solcher Gegensätze auseinander:
2. die Unterscheidung unserer Zustände oder Modifikationen voneinander und 3. der Teile und Qualitäten der Außenwelt. 4. Das Bewußtsein schließt ferner einen Urteilsakt (judgement) ein. Da jedes Urteil der geistige Akt (mental act) ist, durch den etwas bejaht oder von einem andern ausgeschlossesn wird, so ist diese Voraussetzung des Bewußtseins eine notwendige Folge der voraufgehenden. Denn es ist unmöglich zu unterscheiden ohne zu urteilen, da die Unterscheidung in der Tat nur die Ausschließung eines Dinges von einem andern ist. Aber das Bewußtsein ist kein Urteil der bloßen Wirklichkeit (of naked existence), sondern die Bejahung einer eigentümlich gestalteten und bestimmten Existenz. 5. Ein weiteres Korrelat zur dritten Bedingung ist das Gedächtnis als Voraussetzung des Bewußtseins. Denn ohne dieses würden unsere geistigen Zustände isoliert und ununterschieden nebeneinander verlaufen, so daß wir sie weder vergleichen, noch unterscheiden könnten. Diesen allgemein angenommenen Bedingungen fügt HAMILTON in den "Dissertations zu Reids Werken" (Note H) einige weitere hinzu. 6. Was wir wissen, wissen wir nur als ein hier und jetzt Existierendes, oder wie Hamilton sich ausdrückt, wir müssen den Gegenstand der Erkenntnis apprehendieren. Das Bewußtsein setzt demnach die Apprehension [gedankliches Begreifen einer Wahrnehmung - wp] als notwendige Bedingung voraus. 7. Die siebente Einschränkung des Bewußtseins besteht darin, daß wir alles, was wir auch immer denken mögen, unter dem Attribut der Existenz denken, da die Existenz ein Begriff a priori, ein dem Geist angeborener Begriff ist und der erste (primary) Bewußtseinsakt ein Existenzialurteil einschließt. Die Existenz ist keine "Idee, die dem Verstand durch jedes äußere Objekt und jede innere Wahrnehmung eingegeben wird", wie Locke gemeint hat. Denn jedes Objekt des Bewußtseins wird bereits unter diesem Attribut gedacht. Dächten wir es aber nicht unter ihm, so könnten wir es auch nicht aus ihm ableiten. 8. Endlich erfassen wir alles Erkennbare nur als Bedingtes und zwar, wie Hamilton gegen Fichte, Schelling, Hegel und Cousin betont, nicht als ein unbedingtes Bedingtes, sindern als ein bedingtes Bedingtes. Diese Einsicht, die den letzten Sinn unseres Erkennens nach Hamilton erschließt, findet ihren Ausdruck im Gesetz des Bedingten, von dem das Verhältnis der Erscheinungen zu einer unbekannten Substanz, das Gesetz der Kausalität nur Unterarten sind. Aus der Anerkennung dieser Fundamentalbegrenzung unseres Erkennens, die mit dem Bewußtsein gesetzt ist, folgt, daß die einzige mögliche Philosophie nur eine Philosophie des Bedingten sein kann. psychologischen Forschung Da das Bewußtsein die Quelle aller Erkenntnis ist, so setzt die Philosophie seine Autorität und Wahrhaftigkeit voraus. Die Wissenschaft müßte aufhören, wenn auch nur eine Bewußtseinstatsache als falsch erwiesen wäre. Aber der Zweifel am Bewußtsein widerlegt sich selber; denn gebe ich seine Aussprüche einmal dem Zweifel preis, so kann ich an allen Tatsachen, die es darbiett, zweifeln, also auch an der Tatsache meines Zweifels. Damit wäre die Möglichkeit der Philosophie verneint, und wir ständen vor einem ratlosen Skeptizismus. Doch ist zu einer solchen Befürchtung kein Anlaß gegeben; denn bis jetzt haben sich alle Philosophen auf das Zeugnis des Bewußtseins gestützt. Die Vielfältigkeit der philosophischen Systeme beruth auf ebenso vielen Verirrungen von der Einheit der Wahrheit. Im Bewußtsein erblicken wir aber nicht nur die einzige Quelle der Erkenntnis; in ihm muß auch der Maßstab gegeben sein, wonach wir die Tatsachen, die es darbietet, beurteilen. Dieser Maßstab wird aus den Regeln gewonnen, denen eine jegliche Deutung dessen, was für uns gegeben ist, unterliegen soll. Ein Fortschritt der Philosophie ist nur zu erhoffen, wenn wir nicht mit Vorurteilen an das Bewußtsein herantreten, sondern es nach den rechtmäßigen Regeln der psychologischen Forschung beurteilen, die in ihm selbst gegeben und darum von selbst einleuchtend (self-evident) sind. Die erste dieser Regeln bezeichnet HAMILTON als Gesetz der Sparsamkeit (law of parcimony), das wir mit einem modernen Ausdruck Gesetz der Ökonomie des Denkens nennen können. Dieses erste Gesetz der psychologischen Forschung verlangt, daß als Tatsache des Bewußtseins nur das gelten darf, was in sich einfach ist und auf nichts anderes zurückgeführt werden kann. Was ist demnach eine Bewußtseinstatsache? Jede geistige Erscheinung (mental phenomenon) mag so genannt werden. Aber wie wir das Bewußtsein von den besonderen geistigen Fähigkeiten als deren gemeinsame Bedingung unterschieden haben, so unterscheiden wir die Tatsachen der besonderen geistigen Fähigkeiten, die besonderen und abgeleiteten Phänomene von den ursprünglichen und allgemeinen. Diese letzteren nennen wir vorzüglich Tatsachen des Bewußtseins (facts of consciousness). In einem Akt der Wahrnehmung unterscheide ich z. B. die Feder, die meine Hand hält, meine Hand selbst und micht, der beide wahrnimmt. Diese Unterscheidung ist eine besondere Tatsache, weil sie eine Tatsache einer besonderen Fähigkeit, nämlich der Wahrnehmung, ist. Aber ihr liegt eine allgemeine Tatsache zugrunde, "von der sie nur ein besonderer Fall ist": die Unterscheidung des Ich vom Nicht-Ich, die wir nicht weiter auf ein allgemeines Prinzip zurückführen können.
Diese treten ferner mit dem Charakter der Notwendigkeit auf. Wir können sie nicht anders denken als so, wie sie sich uns darbieten. Das zweite Mermal derselben ist somit ihre Denknotwendigkeit, die sie von jeder bloßen Verallgemeinerung durch die Erfahrung unterscheidet. Mit diesen beiden ist eine dritte Eigenheit dieser Bewußtseinstatsachen gegeben: der Glaube an ihre Realität. Sie sagen uns nur, daß sie sind, nicht, warum oder wie sie sind. Sie lassen sich als ursprüngliche Tatsachen nicht weiter zurückführen und müssen einfach auf Glauben hingenommen werden.
Ein wichtiger Unterschied besteht jedoch zwischen diesen unmittelbaren Tatsachen des Bewußtseins und der Wahrheit dessen, was sie bezeugen. Es handelt sich um denselben Unterschied, den wir bei der Vernehmung eines Zeugen zwischen der Wirklichkeit seiner Aussage und der Wahrheit derselben machen können. Zur Verdeutlichung desselben geht HAMILTON wiederum von einem Akt der Perzeption (Wahrnehmung) aus. In einem solchen ist uns ein Doppeltes gegeben: das wahrnehmende Ich und das wahrgenommene Nicht-Ich. Beruth die Realität bäder auf derselben unumstößlichen Gewißheit? Nein. Unumstößlich gewiß ist auch hier wie im angeführten Fall nur die Tatsächlichkeit des Zeugnisses: das Bewußtsein bezeugt uns eine Außenwelt, ein außer uns Existierendes. An der Bewußtseinstatsache, daß uns ein Ich und ein von ihm Unterschiedenes gegeben sind, zu zweifeln, wäre in sich widersprechend, da ein solcher Zweifel sich selbst aufhebt. Es ist aber ein Irrtum, wenn man, wie STEWART, behauptet, die Existenz der Außenwelt sei uns in demselben Grad gewiß wie die Tatsächlichkeit des uns im Bewußtsein Gegebenen oder die Tatsache anderer Bewußtseinssubjekte. Man könnte vielmehr ohne Widerspruch sagen: da das Bewußtsein nur eine Erscheinung ist, so mag der Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt nur scheinbar, nicht wirklich sein. Das als äußere Wirklichkeit gegebene Objekt mag nur eine geistige Vorstellung (mental presentation) sein, die der Geist nach einem unbekannten Gesetz hervorbringen und für etwas von ihm Verschiedenes halten muß. Aus der Betrachtung des ersten Gesetzes hat sich uns ein Doppeltes ergeben: der Begriff einer Bewußtseinstatsache und die Unterscheidung der Tatsächlichkeit und der Wahrheit ihres Zeugnisses.
2. die, welche das Bewußtsein nicht zugleich gibt, deren Realität es bloß bezeugt (the reality of which it only bears evidence). Als zweites Gesetz der psychologischen Forschung führt HAMILTON das Gesetz der Integrität (law of integrity) an. Dieses besagt: Die ganzen Tatsachen des Bewußtseins müssen ohne Rückhalt angenommen werden, ob sie uns als konstituierende oder regulative Daten gegeben werden. Das dritte Gesetz bezeichnet HAMILTON als Gesetz der Harmonie (law of harmony). Nach diesem
HAMILTONs Lehre läßt sich als Idealismus bezeichnen, insofern sie das Erkennen auf die Erscheinungswelt einschränkt. In bewußtem Gegensatz zu den verschiedenen Systemen des Idealismus macht sich jedoch ein ausgeprägter realistischer Grundzug in seiner philosophischen Gesamtauffassung in der Lehre von der Dualität des Bewußtseins geltend. Er wird nicht müde, immer wieder hervorzuheben, daß in der Stellungnahme zum Problem der Realität der Erscheinungswelt das eigentliche Kennzeichen eines philosophischen Systems gegeben ist. Demgemäß glaubt er hierin das hauptsächlichste Einteilungsprinzip gefunden zu haben, dem sich alle großen Systeme unterordnen lassen. Auf diese Einteilung werden wir näher im vierten Kapitel dieses Abschnitts eingehen. Es ist nach HAMILTON das große Verdienst REIDs, daß er diese Grundtatsache des Bewußtseins den herrschenden philosophischen Auffassungen zum Trotz zur Voraussetzung seines Philosophierens gemacht und an der Wahrheit desselben als eines ursprünglichen Gefühls (belief) festgehalten hat. Deshalb nimmt die Erörterung, ob REID ein Realist gewesen ist, in den Darlegungen seiner Vorlesungen und Abhandlungen einen nicht unbeträchtlichen Raum ein So unbezweifelbar dies für HAMILTON feststeht, so hebt er doch des öfteren hervor, daß sein großer Vorgänger selbst Anlaß zur Bezweiflung seiner realistischen Auffassung, vor allem durch die bereits erwähnte Auffassung der Wahrnehmung als eines besonderen Vermögens neben dem Bewußtsein und durch den Mangel einer Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Erkenntnis gegeben hat. Dadurch sei es ihm auch nicht möglich gewesen, seine eigene Lehre deutlich gegen die einzelnen idealistischen Systeme abzugrenzen und diese untereinander genau zu scheiden. Die ganze Lehre von der Dualität des Bewußtseins hat HAMILTON zuerst in der "Philosophy of Perception", einer Abhandlung, die er ein Jahr nach dem Aufsatz über COUSINs Lehre vom Unbedingten in der Edinburgh Review veröffentlicht hat, dargelegt. Sie ist der eigentliche Kern seiner philosophischen Darlegungen, denn aus der Anerkennung und Deutung dieser Grundtatsache entwickelt sich folgerichtig seine Lehre über die Wahrnehmung und ihren Gegenstand, die sowohl in den Vorlesungen, wie auch in den Dissertations zu REIDs Werken das Interesse unseres Philosophen am stärksten beansprucht. Wir haben bereits mehrfach Gelegenheit gehabt, auf die Dualität des Bewußtseins hinzuweisen, da sie in der Erörterung über die ursprünglichen Tatsachen des Bewußtseins immer wieder als klassisches Beispiel von HAMILTON verwandelt wird. Er selbst kommt auf keinen Gegenstand so oft und eindringlich wie auf diesen Kardinalpunkt seiner Philosophie zurück. In den "Discussions" formuliert er die Lehre so:
"Beide, Subjekt und Objekt, werden in der Synthesis der Erkenntnis als vereinigt, aber als entgegengesetzt in der Antithesis der Existenz gegeben." "Das Bewußtsein gibt uns nicht nur eine Dualität, sondern es gibt seine Elemente in demselben Gleichgewicht und in derselben Unabhängigkeit. Das Ich und das Nicht-Ich, Geist und Materie, werden nicht nur zusammen, sondern in absoluter Gleichheit gegeben." " Das ist die Tatsache der Wahrnehmung, die das Bewußtsein enthüllt, und wie sie die Menschheit in ihrer übereinstimmenden Versicherung der Wirklichkeit einer Außenwelt und ihrer eigenen Existenz bestimmt. Das Bewußtsein erklärt unser Wissen von körperlichen Qualitäten als ein intuitives Wissen." Kann die Wahrheit dieser Bewußtseinstatsache bezweifelt werden? Als subjektives Erlebnis ist sie, wie wir gesehen haben, über allen Zweifel erhaben: wir finden in uns das Zeugnis eines außerhalb von uns existierenden Etwas vor. Es kann nur ein Streit darüber entstehen, ob dieses Zeugnis wahr ist. Man könnte einwenden, das, was das Bewußtsein bezeugt, sei nur eine Repräsentation des Nicht-Ichs. In diesem Fall
Demgegenüber macht HAMILTON geltend:
2. Die Dualität des Bewußtseins gehört zu den primary beliefs, die überhaupt nicht bewiesen werden können, denn ein jeder Beweis schlösse ein höheres Bewußtsein ein. Sie könnten nur dann abgelehnt werden, wenn der Nachweis erbracht würde:
2. daß aus die ihnen notwendigerweise gezogenen Konsequenzen zueinander in Widerspruch stehen. Mit diesen Ausführungen ist zugleich der Bewußtseinsbegriff HAMILTONs vollständig umschrieben. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die unmittelbare Erkenntnis der Außenwelt nicht in jener ersten Auffassung des Bewußtseins mitgedacht werden kann, wonach es nur das Wissen von den Zuständen und Affektionen des eigenen Ichs ist. Wir haben vielmehr ebenso ein unmittelbares Bewußtsein vom Nicht-Ich. Diese Dualität des Bewußtseins ist bereits in jener Bedingung desselben enthalten, die HAMILTON als discrimination eingeführt hat. Sein Argument gegen den "Repräsentationismus", der nur geistige Repräsentionen der äußeren Wirklichkeit im Ich zulassen will, ergibt sich als selbstverständliche Konsequenz aus diesem Begriff vom Bewußtsein. Wir können nicht verstehen, wie diese Darlegungen in ermüdender Breite von HAMILTON in allen möglichen Wendungen wiederholt werden, da sie doch nur darauf hinauslaufen, das als wahr zu bestätigen, was von vornherein als wahr, weil im Bewußtsein enthalten, vorausgesetzt ist. Was ist aber damit bewiesen? Bewiesen wäre im günstigsten Fall nur die Denknotwendigkeit der Existenz einer Außenwelt, oder um diesen Ausdruck sinngemäßer zu beschränken: eines Nicht-Ichs. Durch die Scheidung des Bewußtseinszeugnisses und der Wahrheit dieses Zeugnisses hat sich HAMILTON in einen eigentümlichen Gegensatz zum subjektiven Idealismus gestellt, auf dessen Grundvoraussetzung allein eine solche Unterscheidung erst möglich werden konnte. Es erscheint freilich schon jetzt zweifelhaft, ob es sich bei dieser Polemik noch um ein wirkliches und nicht vielmehr ein künstlich geschaffenes Problem handelt, das aus dem unausgeglichenen Nebeneinander des subjektiv-idealistischen und des objektiv-realistischen Zuges seiner Philosophie erwachsen mußte. In der erwähnten Abhandlung über die "Philosophie der Wahrnehmung" macht HAMILTON zwei wichtige Einschränkungen, um den Sinn seiner Lehre vor jedem Mißverständnis zu schützen. Er führt aus, daß die Realität der Außenwelt von ihm nicht in dem Sinn behauptet wird, als würden wir die äußere Wirklichkeit in sich erkennen, sondern daß alle Erkenntnis derselben nur relativ ist. Nachdem er den Satz von der Dualität des Bewußtseins ausgesprochen hat, fügt er bei, diese Lehre könne nur unter der Voraussetzung von primären, sekundär-primären und sekundären Qualitäten der Materie behauptet werden. So wird sich erst bei der Betrachtung über seine Qualitätenlehre, auf die wir bereits bei der Würdigung seiner Lehre von der Relativität des Erkennens verwiesen haben, herausstellen, welchen Sinn die von ihm behauptete Realität der Außenwelt haben kann. Die Lehre über die Qualitäten kann aber nur im Zusammenhang mit der Lehre über den Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung entwickelt werden. Bevor wir zu dieser übergehen, haben wir noch einen Punkt klarzulegen, der in der Polemik gegen REID eine große Rolle spielt: den Unterschied zwischen unmittelbarer und mittelbarer Erkenntnis. Die weiteren Grundtatsachen des Bewußtseins, die HAMILTON der Dualität des Bewußtseins anreiht, haben ein bloß psychologisches, kein erkenntnistheoretisches Interesse (10). Es könnte uns verwunderlich erscheinen, wie beide Gesichtspunkte bei ihm so wirr durcheinander gehen; doch ist eine reinliche Scheidung derselben auch in der modernen Logik nur ein Postulat, das sich zudem keineswegs allgemeine Anerkennung verschafft hat. So wirkt bei HAMILTON deutlich die Überlieferung des englischen Empirismus in seiner Erkenntnislehre nach, die sich bei LOCKE aus den psychologischen Reflexionen über den Ursprung der Ideen entwickelt hat. Für unseren Zweck haben diese rein psychologischen Darlegungen keinerlei Bedeutung. Von Interesse hingegen erscheinen die drei principal facts, die gewissermaßen die Schlußsteine der Lehre über das Bewußtsein bilden: die Selbst-Existenz, die geistige Einheit (mental unity), die gegen HUME und KANT behauptet wird und die geistige Identität (mental identity), die er gegen KANTs Kritik verteidigt. Alle drei sind ihm gleicherweise als Tatsachen des Bewußtseins verbürgt; jeder Zweifel daran verstößt also gegen das Gesetz der Integrität. HAMILTON deutet auch hier nur aus dem Bewußtseins heraus was er bereits hineingelegt hat. Doch setzt er sich in seinen Ausführungen gegen HUME und KANT insofern mit sich selbst in Widerspruch, als er doch selber lehrt, die Substanz sei für uns nur ein unbekanntes Etwas, das wir als die den Erscheinungen zugrunde liegende Basis denken müssen. Unmittelbare und mittelbare Erkenntnis Über den Unterschied zwischen unmittelbarer und mittelbarer Erkenntnis handelt HAMILTON in den "Dissertations" zu REIDs Werken ausführlich und außerdem in den "Vorlesungen", wo er das Wesentlich darüber in kürzerer Form zusammenfaßt. Als Beispiel führt er hier das Phantasiebild einer Kirche an. Unmittelbar erkenne ich in diesem Fall das Bild der Kirche als geistige Repräsentation in mir; mittelbar erkenne ich durch diese den wirklichen Gegenstand. HAMILTON betrachtet beide Erkenntnisarten nach fünf Gesichtspunkten:
2. Bezüglich ihrer Objekte: In einem Akt der unmittelbaren Erkenntnis fallen das Objekt als Inhalt des Bewußtseins und das Objekt als existierend zusammen. In einem Akt unmittelbarer Erkenntnis unterscheide ich das bewußte Objekt von dem mir bloß repräsentierten, aber unbekannten Gegenstand. "Das unmittelbare Objekt oder das in diesem Akt erkannte Objekt, sollte das subjektive Objekt oder Subjekt-Objekt zur Unterscheidung vom mittelbaren oder unbekannten Objekt, das als Objekt-Objekt im Gegensatz zu jenem bezeichnet werden könnte, heißen." 3. Als Urteile: als Bewußtseinsakte schließen beide Erkenntnisarten ein Urteil ein und zwar die unmittelbare Erkenntnis ein assertorisches [gewiß-sicheres - wp], die mittelbare Erkenntnis ein problematisches Urteil, da in diesem Fall die Realität des repräsentierten Objekts nur als Möglichkeit gegeben ist. 4. Bezüglich der Sphäre, auf die sich beide erstrecken: die repräsentative (mittelbare) Erkenntnis ist ausschließlich subjektiv, da ihr unmittelbarer Gegenstand eine bloße Modifikation des Bewußtseins ist. Die intuitive (unmittelbare) Erkenntnis ist entweder subjektiv oder objektiv, denn ihr einziger Gegenstand kann entweder eine Erscheinung des Ichs oder des Nicht-Ichs, entweder ein Geistiges oder Materielles sein. 5. Bezüglich der Vollkommenheit des Erkennens: Eine intuitive Erkenntnis ist vollständig und absolut, eine repräsentative ist als Akt unvollständig, da sie sich auf eine Existenz jenseits des Bewußtseins bezieht und sie vertritt. Ebenso ist das Objekt der ersteren vollständig, da es zugleich erkannt wird und real ist, wogegen das gewußte Objekt der zweiten ideal und das nicht gewußte real ist. In ihren Beziehungen zueinander betrachtet, ist die unmittelbare Erkenntnis sich selbst genügend, die mittelbare Erkenntnis hängt dagegen, um verwirklicht zu werden, von jener ab. Hamilton erwähnt die Scholastiker, die im Gegensatz zu den meisten anderen Philosophen, die Unterscheidung zwischen unmittelbarer (cognitio intuitiva) und mittelbarer Erkenntnis (cognitio abstractiva) streng durchgeführt hatten. REID hat den Unterschied beider Erkenntnisweisen völlig außer Acht gelassen. Dadurch hat er die beiden Hauptformen des Repräsentationismus nicht voneinander geschieden und so konnte ihn BROWN selber für einen Vertreter des Idealismus in dem Sinne halten, daß dieser unser unmittelbares Wissen auf die Zustände des Ichs beschränkt. Ebenso hängt seine Lehre vom Gedächtnis als eines unmittelbaren Wissens vom Vergangenen mit diesem Irrtum zusammen. Die ungenaue Auffassung REIDs bezüglich des eigentlichen Objekts der Wahrnehmung hat ebenfalls hier ihre Quelle, da er fälschlich annimmt, wir könnten unmittelbar irgendein von uns entferntes Objekt erkennen.
9) THOMAS REID, Intellectual Powers, Works, Seite 442 10) Die erste dieser allgemeinen Erscheinungen (general phaenomena), wie er sie auch nennt, betrifft die Frage: ob wir immer bewußt tätig sind? Mit Heranziehung psychologischer Beobachtungen (Schlaf, Somnambulismus) glaubt HAMILTON diese Frage bejahen zu können. Gegen LOCKE zeigt er, daß Bewußtsein und Erinnerung an einmal Bewußtes nicht gleichbedeutend sind (Lectures XVIII). Mit einem noch größeren Aufwand von längeren Zitaten aus zeitgenössischen Psychologen entscheidet er in der folgenden Vorlesung die Frage, ob der Geist jemals unbewußt modifiziert wird? Diese Frage bejaht er mit Berufung auf CARDAILLAC, DAMIRON und insbesondere auf LEIBNIZ. Im Anschluß an die Dualität des Bewußtseins behandelt HAMILTON die Lehre vom Verhältnis von Leib und Seele. Er weist alle darauf bezüglichen Hypothesen zurück, da sie alle über das Feld der Beobachtung hinausgehen. Er verzichtet ausdrücklich auf eine Erkenntnis desselben, da eine "zufriedene Unwissenheit weiser ist als eine eingebildete Erkenntnis". |