cr-4 HobbesDescartesHumeJ. St. MillBerkeleyH. Ruin    
 
FRANZ NAUEN
Die Erkenntnislehre William Hamiltons
[1/4]

"Den Gegenstand der Psychologie machen die  Erscheinungen oder Modifikationen oder die Zustände des Geistes  als des Bewußtseinssubjekts  aus. Wir wissen von der Wirklichkeit nur, insofern sie uns  erscheint, d. h. insofern wir sie in unserem Bewußtsein vorfinden; von einer Wirklichkeit  ansich wissen wir nichts.

"Die relative Wirklichkeit, die wir erkennen, ist nur ein Teil der Wirklichkeit, die überhaupt erkannt werden könnte. Wir wissen nur von den  Seinsweisen (modes of existence), die in Beziehung zu unseren Vermögen stehen. Außer diesen Arten der Existenz wissen wir und können wir von keiner Wirklichkeit etwas wissen. Auch wenn wir ebenso viele Sinne hätten, als es mögliche Erscheinungsweisen gibt, so bliebe doch unsere Erkenntnis relativ. Denn wir wüßten selbst in diesem Fall nur von den  Erscheinungen der Dinge. In Bezug auf eine absolute Wirklichkeit wären wir ebenso unwissend, wie wir es heute sind.


Vorwort

WILLIAM HAMILTON ist uns Deutschen kein Fremder, wiewohl weder seine philosophischen Ansichten, noch seine Stellung, die er in der Entwicklung des englischen Denkens im vergangenen Jahrhundert einnimmt, im allgemeinen bei uns bekannt sein dürften. Man kennt ihn zumeist als den Vertreter der Denkweise, gegen die JOHN STUART MILL im Sinne eines konsequenten Empirismus seinen schärfsten Widerspruch erhoben hat, seine logischen Ansichten sind in neueren Werken öfters angeführt worden (1), man hat auch gelegentlich seine gründlichen philosophiegeschichtlichen Abhandlungen herangezogen (2), aber seine eigene Philosophie ist dadurch kaum bekannter geworden. Diese Philosophie ist allerdings im Grunde nichts anderes als ein künstlicher Eklektizismus, der aber die englische Bildung, ähnlich wie das eklektische System VICTOR COUSINs die französische, nachhaltig beeinflußt hat. Insbesondere ist das theologische Denken in England durch HAMILTONs Schüler MANSEL zu einer Auseinandersetzung mit modernen philosophischen Problemen im Sinne HAMILTONs gekommen und in SPENCERs Begriff des  Unknowable  setzt sich der Einfluß von HAMILTONs  Philosophie des Bedingten  durch. Die nachfolgende Untersuchung bietet die Hauptzüge der Metaphysik HAMILTONS, deren Hauptprobleme, wiewohl sie ihrem Gehalt nach durchaus psychologisch orientiert ist, die Bezeichnung  Erkenntnislehre  rechtfertigen.



1. Abschnitt
Allgemeiner Charakter der
Philosophie Hamiltons


I. Hamiltons Begriff der Philosophie

HAMILTONs Philosophie ist dadurch charakterisiert, daß sie eine Synthese der schottischen Philosophie des  common sense  und des kritischen Idealismus darstellt. In diese Synthese sind zugleich die verschiedenartigsten traditionellen Denkmotive insbesondere der aristotelisch-scholastischen Philosophie verwoben. Dieser harmonisierende Zug bedingt eine Abschwächung und teilweise eine Entwertung einzelner Gedankenbildungen im Interesse des Ganzen, dem sie sich einfügen. So können sich in dieser Philosophie in der mannigfachsten Weise die verschiedenen philosophischen Grundrichtungen der neueren Zeit verschlingen. Neben einem rationalistisch-dogmatischen Zug, der die Wirklichkeit ungebrochen im begrifflichen Erkennen zu erfassen glaubt, setzt sich ein kühler Positivismus durch, der die Erkenntnis auf die Beziehungsweise der Wirklichkeit einschränkt. Mit dem subjektiv-idealistischen Ausgang der Kartesianer verbinden sich empiristische Tendenzen der englischen Philosophie und des Schotten HUME. Diese wirken nach der Richtung, welche die englisch-schottische Philosophie der Zeit durchgehends angenommen hatte: ihr Hauptinteresse erscheint der Erforschung der tatsächlichen seelischen Begebenheiten zugewandt. Sie ist in erster Linie  empirische Psychologie - Philosophie des Geistes  (philosophy of mind). Dieser Zug färbt sich deutlich auf die dem kantischen Kritizismus entstammenden Elemente ab, die HAMILTON seinem Denken einfügt. Unmittelbar anregend hat dieser auf HAMILTON in zweifacher Hinsicht gewirkt. Erstens, insofern KANT in den apriorischen Formen unseres Erkennens die Bedingungen eines allgemeingültigen Wissens und zweitens in den Ideen die Postulate unseres sittlichen Bewußtseins sieht. Es ist kein Zweifel, daß HAMILTON der Common-Sense-Philosophie, die er bewußt fortzubilden meint, durch die Assimilation so verschiedener gedanklicher Motive eine breitere und gesichertere Grundlage gegeben hat, die dem Spott über die Philosophie des  gemeinen Menschenverstandes  wirksam begegnen konnte. Umso eindrucksvoller prägt sich die Gestaltung dieses Gedankenmaterials aus, als hinter ihr der ernste Pädagoge steht, der über den Zweck des Wissens um des Wissens willen hinaus der Philosophie die erhabene Aufgabe zuweist, die geistigen Kräfte zu einer unbedingten Tätigkeit zu entfalten und die theoretischen Ergebnisse mit einem Sinn des Lebens zu verknüpfen. Aber trotz dieser sympathischen Richtung seines Denkens, die vor allem in den Abhandlungen (Discussions) hervortritt, drängt sich in der formellen wie in der inhaltlichen Gestaltung dieser Philosophie ein unerquicklicher Zug hervor. Die einzelnen Momente, die sie zu einem Ganzen zusammenfügt, erscheinen innerhalb desselben fremdartig verschoben und haben Wendungen angenommen, die ihren Urhebern völlig fern lagen. Unter der Grundauffassung der schottischen Philosophie verwandelt sich der transzendentale Idealismus in eine psychologische Theorie, was auf ein völliges Mißverstehen des Apriorismus KANTs zurückzuführen ist. Durch die eklektizistische Richtung seines Geistes sieht sich HAMILTON immer wieder veranlaßt, bei den Philosophen der alten und neuen Zeit Belege für seine philosophischen Auffassungen zu sammeln, was der Darstellung - vor allem in den  Vorlesungen  - einen schwerfälligen Charakter verleiht, wodurch der lebendige persönliche Zug, der sich auch hier geltend macht, zuweilen stark zurücktritt. Nach all dem wird man es verstehen, daß diese Philosophie über sich selbst nicht zu einer reinlichen und eindeutigen Erfassung ihres Wesens zu gelangen vermochte. Und wenn die erste Aufgabe des Philosophen seit KANT darin besteht, den Begriff der Philosophie als einer Wissenschaft zu bestimmen, so kann HAMILTON keinen Anspruch auf eine fruchtbare Weiterbildung dieses Problems oder zumindest der Problemstellung erheben. Sein Versuch, das Wesen der Philosophie zu bestimmen, läuft auf eine Verschmelzung von Gedankengängen der kantischen und schottischen Philosophie hinaus, ohne diese zu einer inneren Einheit zu bringen.

HAMILTON hat nur einmal systematisch vom  Begriff der Philosophie  gehandelt. Er geht hier von LOCKEs Unterscheidung der äußeren und inneren Wahrnehmung als der beiden Erkenntnisquellen aus, die dem Geist zwei verschiedene Klassen von Erscheinungen vermitteln: die äußere oder körperliche Welt und die innere oder Gedankenwelt. Historische und empirische Kenntnis heißt das Wissen von dem, was ist: historisch, weil die Geschichte eigentlich nur die Erzählung einer konsekutiven [aufeinanderfolgenden - wp] Erscheinungsreihe in der Zeit (Weltgeschichte, civil history) oder die Beschreibung koexistierender Erscheinungsreihen im Raum ist (Naturgeschichte, natural history); empirisch, weil wir dieses Wissen auf dem Weg der Beobachtung oder des Experiments und nicht durch Vernunftschlüsse erlangen. Alle Erscheinungen, von denen wir wissen, stehen in einer durchgängigen Verknüpfung von Ursache und Wirkung. Das Aufsuchen der Ursachen der uns durch die innere und äußere Wahrnehmung gegebenen Dinge, ist das charakteristische Merkmal der Philosophie in ihrem weitesten Sinn. Als die Erkenntnis, warum etwas ist, ergänzt die Philosophie das Wissen, daß etwas ist. Von dieser weiten Fassung des Begriffs der Philosophie, der mit dem der Wissenschaft zusammenfällt, grenzt HAMILTON die Philosophie im strengen Wortsinn ab.

Die Philosophie in diesem engeren Sinn ist ihm durch zwei Momente wesentlich konstituiert, von denen das eine die Möglichkeit unseres Erkennens, das andere den Gegenstand der philosophischen Erkenntnis betrifft. Alles, von dem wir wissen, wissen wir nur, insofern wir ein Erkenntnisvermögen haben. Alles Erkennen ist nur unter den Bedingungen möglich, denen unsere Erkenntnisfähigkeit unterworfen ist. Das große und ursprüngliche (primary) Problem der Philosophie ist darum die Erforschung und Bestimmung der notwendigen Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit. Da die Philosophie als Wissenschaft eine Erkenntnis der Ursachen und der Geist die hauptsächliche und allgemeine mitwirkende Ursache in jedem Akt des Erkennens ist, so muß die Philosophie den Geist zu ihrem ersten und vornehmsten Betrachtungsgegenstand machen. An einer anderen Stelle geht HAMILTON davon aus, daß das Ziel der Philosophie die Wahrheit ist und daß sie darum das Material in der Quelle aller Erkenntnis, im Bewußtsein vorfindet. Danach bestimmt sich ihm die Philosopie "als die Entwicklung und Anwendung der konstitutiven und normalen Wahrheiten, die das Bewußtsein unmittelbar enthüllt". "Die Wissenschaft vom Geist ... konstituiert letztlich die Philosophie selbst". Nach einer gelegentlichen Bemerkung in den  Vorlesungen  können wir nun freilich die Natur und den Begriff der Philosophie nicht  genau verstehen;  damit verzichtet HAMILTON eigentlich auf eine endgültige Beantwortung der Frage nach dem Wesen der Philosophie. Im Fortgang unserer Darstellung wird sich zeigen, daß seine Auffassung der Philosophie wesentlich von einem psycho-genetischen Gesichtspunkt bestimmt ist, und daß der erkenntniskritische Zug, der auf die Erforschung der Möglichkeit des Erkennens zielt, durch jenen stark modifiziert wird.


II. Die Ursachen der Philosophie

Als die  notwendigen Ursachen  der Philosophie bezeichnet HAMILTON den Drang des Geistes, die Ursachen der gegebenen Wirklichkeit aufzusuchen und das Streben nach einer Vereinheitlichung unseres Wissens (love of unity). Beide, die Erforschung der Ursachen der Dinge und die  Liebe zur Einheit  sind im Grunde wohl dasselbe; denn die Wissenschaft kann nicht bei einer irgendwie bedingten Tatsächlichkeit stehen bleiben. Das Ziel aller Wissenschaft und Philosophie ist eine letzte Ursache, die der Urquell aller Wirklichkeit ist: die Gottheit, wenngleich diese niemals ein Gegenstand  unmittelbarer  Erkenntnis ist. Das sind die wesentlichen  intellektuellen Nötigungen,  die zum Philosophieren treiben. Daneben erwähnt HAMILTON das Erstaunen, die Verwunderung, welche die vorgefundene Wirklichkeit in uns erregt, und er zitiert PLATO und ARISTOTELES für diese Ansicht. Indem der menschliche Geist von dem  Wunder,  das ihm die äußere Wirklichkeit darbot, zu  dem  fortschritt, das sich ihm im eigenen Innern enthüllte, bereitete sich die entscheidenste Wendung vor, die in der Geschichte der Philosophie aufgetreten ist. Das  Erkenne dich selbst  ist der Leitstern aller Philosophie, deren Ziel und Aufgabe der Geist selber geworden ist. Der Geist ist sich selber das größte Wunder.


III. Die Methode der Philosophie

Die ernste Erforschung der Ursachen der Wirklichkeit darf sich nicht bei konventionellen Meinungen und ebensowenig mit den Entscheidungen der Autoritäten beruhigen. In diesem Sinn ist der philosophische Zweifel als methodisches Mittel mit Recht von den Philosophen an den Anfang des Philosophierens gestellt worden. Aber er darf nicht das Ende der Philosophie sein, denn die Philosophie forscht nach der Wahrheit, und sie geht von der Wahrheit der Bewußtseinstatsachen als von einer unerschütterlichen Grundlage aus. Der methodische Zweifel hat bei HAMILTON keinen anderen Sinn, als die Forderung, zunächst keine anderen Wahrheiten anzuerkennen als die, die das Bewußtsein bietet. Die Entwicklung der Philosophie aus den Tatsachen des Geistes bedeutet die Erfüllung dieser Forderung.

Welches ist nun aber die  wissenschaftliche Methode die die Forschung befolgen muß, um zu einem abgerundeten System zu gelangen, welches das Ziel der Philosophie ist? Es gibt nur eine mögliche philosophische Methode, und diese besteht in der Vereinigung einer auf genaue Beobachtung gestützten Analyse und einem synthetischen Zusammenfassen der Bewußtseinstatsachen. HAMILTON warnt einerseits vor einer unzureichenden Feststellung der Tatsachen und voreiligen Schlüssen aus derart unzulänglichem Material, andererseits tritt er aber entschieden für das Recht der Synthese ein, denn erst durch sie wird das bloße Anhäufen von Wissensstoff zur Wissenschaft. So können nur beide Wege den beiden Grundtendenzen unseres Geistes genügen: der  research of causes  [Erforschung der Gründe - wp] und der  love of unity  [Liebe zur Einheit - wp]. "Die Verirrungen der Philosophie sind alle ebenso viele Verletzungen der Gesetze dieser einen Methode gewesen. Die Philosophie hat geirrt, weil sie ihre Systeme auf eine unvollständige oder irrige Analyse auf gebaut hat; und sie kann sicher nur fortschreiten, wenn sie sich von einer genauen und erschöpfenden Beobachtung durch allmähliche Verallgemeinerung zu einem umfassenden System erhebt." Diese allgemeinen Bemerkungen gehen, wie man sieht, nicht über das hinaus, was längst in das allgemeine Bewußtsein, soweit es sich über die Methode der modernen empirischen Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaft, klar geworden ist, Eingang gefunden hat. Sie können darum keineswegs der eigentlichen philosophischen Methode gerecht werden.

Einen Anlauf hierzu macht HAMILTON in einem Aufsatz:  Über das Studium der Mathematik,  der den besonderen Beifall SCHOPENHAUERs (3) gewonnen hat. Er findet, daß in der Mathematik die Prinzipien gegeben sind; der Philosophie dagegen ist es eigentümlich, daß sie die meisten ihrer Grundsätze zu suchen hat. Die Prinzipien der Mathematik sind sowohl material als auch formal, sowohl  principia essendi  als auch  principia cognoscendi.  In der Philosophie sind die gegebenen Prinzipien bloß formal, nur die logischen Bedingungen der abstrakten Möglichkeit der Erkenntnis. Die Mathematik ist nur die Entwicklung einer potentiellen Erkenntnis in eine aktuelle, und ihr Verfahren ist demgemäß bloß  erläutern  (explicative), um einen kantischen Ausdruck für diese durchaus unkantische Auffassung der Mathematik zu gebrauchen. HAMILTON verdeutlich sie in den  Vorlesungen  gelegentlich am Beispiel  7 + 9 = 16.  Wenn jemand in einem gegebenen Augenblick sich dieser Wahrheit nicht bewußt ist, so besitzt er doch eine  potentielle Erkenntnis  derselben; er ist fähig, sie sich jederzeit ins Bewußtsein zu rufen. Die Pinzipien der Philosophie, so heißt es an der erwähnten Stellen in den  Discussions,  sind im Gegensatz zu den mathematischen lediglich die Regeln für unser Verhalten im Aufsuchen, Beweisen und in der Anordnung der Erkenntnisse; die Philosophie schreitet vom Nichtwissen zur Wissenschaft fort: ihr Verfahren ist deshalb  erweiternd.  Die Mathematik geht von der Definition aus, die Philosophie ende gewöhnlich bei der Definition. Die Mathematik entfaltet nur,  daß etwas ist,  die Philosophie erforscht hauptsächlich das  Warum  der Dinge. Die Wahrheit der Mathematik ist die Übereinstimmung der Gedanken untereinander; die Wahrheit der Philosophie ist die Harmonie des Denkens und der Wirklichkeit. Aus all dem folgt, daß es ein törichtes Unterfangen ist, wenn man die mathematische Methode auf die Philosophie übertragen will.

Man wird auch von dieser Darlegung, so sehr sie gegenüber den ganz allgemein gehaltenen Bemerkungen in den  Vorlesungen  geeignet ist, ein helleres Licht auf die philosophische Methode HAMILTONs fallen zu lassen, nicht sagen dürfen, daß sie die Methode der Philosophie allseitig entwickelt, umso weniger, da es sich hier nur um eine Abgrenzung der Philosophie von der Mathematik handelt. Bemerkenswert ist allerdings, daß auch HAMILTON hier, wie die ganze englische Philosophie vor ihm, trotz der Einwirkungen KANTs eine methodologische Grundlegung der Mathematik für die Philosophie nicht zu verwerten weiß. Daraus erklärt es sich, daß es ihm auch hier nicht gelingt, den erkenntniskritischen Zug, den doch seine Auffassung der Philosophie aufweist, klar hervortreten zu lassen. So kommen wir über Ansätze zur Bestimmung der Methode der Philosophie nicht hinaus: die durchgängige Unstimmigkeit, die sich in seinem Begriff der Philosophie zeigt, steht einer reinen und deutlichen Erfassung ihrer Methode im Weg.


IV. Die Einteilung der Philosophie

HAMILTON verwirft die Einteilung in  theoretische  und  praktische  Philosophie; sie ist  ungesund  (unsound), wie er sich ausdrückt. Denn als Wissenschaft ist  alle  Philosophie rein theoretische, jedes Überschreiten des rein spekulativen Gebietes führt aus ihrem Bereich heraus (4). Zudem wäre das kein angemessener Unterschied, der ein Einteilungsprinzip abgäbe. Denn das Wissen darf nie Selbstzweck sein. Alle Erkenntnis hat nur Wert, insofern sie den Geist zur Selbstbetrachtung als der ihm eigenen Energie bestimmt. Dem Menschen ist es wesentlich eigen, nach der Wahrheit zu streben. Nicht der Wahrheitsbesitz, sondern das Forschen nach der Wahrheit gibt ihm inneren Wert. HAMILTON eignet sich das bekannte Wort LESSINGs an und weist auf PLATO, der im Trieb zur Wahrheit den eigentlichen Gehalt des Menschen gefunden hat: mit ihm definiert er den Menschen als einen  hunter of truth  [Jäger nach Wahrheit - wp]. So verstanden, ist jede Philosophie  praktisch.  Aus solchen Betrachtungen, die sich bei HAMILTON vielfach zerstreut und in verschiedenen Wendungen finden, spricht der vornehme Denker, der die Philosophie aus dem Getriebe der Lebensbedürfnisse heraushebt und ihr die Aufgabe vorbehält, den Wertgehalt des Daseins und des Lebens zu entwickeln.

Das System der Philosophie ist die Antwort auf die drei Fragen:
    1. Welches sind die  Tatsachen oder Phänomene, die der Geist darbietet?

    2. Welches sind die  Gesetze, die diese Tatsachen unter eine Regel bringen (regulate) oder unter denen diese Phänomene erscheinen?

    3. Welches sind die wirklichen nicht unmittelbar augenscheinlichen  Schlüsse, die uns diese Tatsachen oder Erscheinungen zu folgern berechtigen?

    Dementsprechend zerfällt das System der Philosophie in:
      1. Die  Phänomenologie des Geistes -  Empirische Psychologie oder  induktive Philosophie des Geistes -, welche seine verschiedenen Erscheinungen beobachtet und auf gewisse Fähigkeiten und Vermögen zurückführt (analyzing them into capacities or faculties).

      2. Die  Nomologie des Geistes, welche auf die Erforschung der Regeln gerichtet ist, die unsere Vermögen beherrschen. Sie zerfällt in in die Wissenschaften von den Gesetzen unseres Verstandes-, Gefühls- und Willenslebens.
        a) das Ziel der  Logik ist die Lehre von der Wahrheit, wozu auch die  Universal- oder Philosophische Grammatik (5) als die Wissenschaft gehört, die von den Gesetzen der Sprache als dem Instrument des Denkens handelt.
        b) der Grundbegriff, auf den die  Ästhetik sich aufbaut, ist das Angenehme.
        c)  Ethik und  Politik betrachten die Gesetzmäßigkeiten unseres Willenslebens (will and desire) im Hinblick auf den Begriff des Guten. Diese beiden Teile der Nomologie können auch praktische Philosophie heißen. Das ist aber nicht in dem Sinne zu verstehen, daß sie nicht ebenso theoretisch wären wie die übrigen, sondern es bezieht sich nur auf ihr eigentümliches Objekt, die  powers, die sie betrachten und die auf die Praxis oder das äußere Tun (overt action) zielen.

      3. Die  Ontologie oder eigentliche  Metaphysik, die Hamilton auch  schließende Psychologie (Inferential Psychology) nennt. Die Phänomenologie des Geistes entwickelt die Tatsachen, die unser Bewußtsein unmittelbar darbietet. Aber außerdem finden wir in uns Gründe vor, die uns auf eine Wirklichkeit schließen lassen, die über die psychische hinausgeht. Als Wirkungen von einem bestimmten Charakter können wir aus den psychischen Tatsachen ihre unbekannten Ursachen auf dem Weg der Analogie erschließen. Als Erscheinungen geben sie uns einen Hinweis auf die unbekannte Substanz, welche sie manifestieren. So sind uns die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele zwar nicht als Gegenstände einer unmittelbaren Erkenntnis gegeben. Wenn aber die unmittelbar gegebenen Bewußtseinstatsachen zu ihrer vernünftigen Erklärung, der Hypothesen der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit bedürfen, so sind wir berechtigt (assuredly entitled), von der Existenz der ersteren auf die Realität dieser zu schließen. Die Ontologie ist die Wissenschaft aller solcher Schlüsse auf ein unbekanntes Sein von seinen erkannten Manifestationen.

V. Die Phänomenologie des Geistes
als Grundlegung der Philosophie

Da die Philosophie von den Tatsachen des Bewußtseins auszugehen hat, so ist die Phänomenologie des Geistes oder die empirische Psychologie die notwendige Grundlage, auf der sich die philosophische Erkenntnis aufbaut. Den  Gegenstand der Psychologie  machen nun die  Erscheinungen  oder  Modifikationen  oder  die Zustände des Geistes als des Bewußtseinssubjekts  aus. Wir wissen von der Wirklichkeit nur, insofern sie uns erscheint, d. h. insofern wir sie in unserem Bewußtsein vorfinden; von einer Wirklichkeit  ansich  wissen wir nichts. Die nähere Begründung dieses Satzes weist in den inneren Zusammenhang der Lehre von der Relativität unseres Erkennens, die wir als grundlegenden Teil der Erkenntnislehre HAMILTONs noch zu betrachten haben.

Die Phänomenologie des Geistes hat die Aufgabe, die Tatsachen des Bewußtseins zu analysieren und ihre Wurzeln in den Vermögen des Geistes aufzudecken. HAMILTON übernimmt bei der  Einteilung der Vermögen,  wie wir gesehen haben, jene, die vor allem KANT in der Psychologie eingebürgert hat. Er unterscheidet  Verstand, Gefühle und Strebungen  (will and desire). Über die letzteren hat er nirgends systematisch gehandelt; in den  Vorlesungen,  die ein System der Phänomenologie geben wollen, werden nur der Verstand und das Gefühl berücksichtigt. Für uns kommt nur die Analyse der Verstandesfunktionen in Betracht. Der Ausdruck  Verstand  ist hierbei freilich in einem sehr weiten Umfang zu verstehen, von em sich ein besonderer Gebrauch abgrenzen wird. Er faßt alles zusammen, was uns als Erkenntnisbesitz gegeben ist, und was den Ursprung wie auch die Entwicklung des Erkennens betrifft. Unsere Erkenntnis vollzieht sich nach HAMILTON in einem Stufengang, der in den eigentümlichen Fähigkeiten unseres Geistes angelegt ist. Die  presentative faculty  ist das Vermögen in uns, durch das die Wirklichkeit für uns gegeben ist: insofern sie die  Objekte  der äußeren Wahrnehmung liefert, heißt sie  perception,  als Quelle der  innere n Wahrnehmung Selbstbewußtsein (selfconsciousness). Das  Gedächtnis  als die zweite Stufe des Erkenntnisvorgangs ist das Vermögen in uns, den einmal empfangenen Wissensstoff zu einem dauernden Besitz zu machen. Das von den Gesetzen der Assoziation geleitete Vermögen der  Reproduktion  setzt uns in den Stand, den erworbenen Erkenntnisbesitz aus der Unbewußtheit in das Bewußtsein zu rufen. Die  repräsentative Funktion  oder  Einbildungskraft  stellt dem Geist das empfangene, behaltene und reproduzierte Wissen vor. Während alle diese Vermögen nur Hilfsmittel sind, die dem Geist das Erkenntnismaterial zuführen, verarbeitet der  Verstand  (the elaborative faculty  oder  comparison) das Gegebene, indem er mittels des Urteilens und Schließens die einzelnen Gegebenheiten vergleicht. Die Vergleichung ist somit seine vornehmste Tätigkeit; die Regeln, nach denen er hierbei verfährt, hat die Wissenschaft der Logik zu untersuchen und darzustellen.

Als letztes und höchstes Vermögen schließt sich an die erwähnten die  Vernunft  (reason, the regulative or legislative faculty) an, wobei das Wort  Vernunft  in dem Sinn zu nehmen ist, den KANT damit verbindet, wie HAMILTON ausdrücklich bemerkt. Außerdem soll es  fast gleichbedeutend  (nearly convertible) mit dem  common sense  REIDs, wie ihn HAMILTON versteht, und ganz sicher mit diesem Begriff bei STEWART sein. HAMILTON selbst nennt ihn die  regulative or legislative faculty, reason, intellect or intelligence proper  oder auch  common sense.  Wären wir nur auf die bisher betrachteten Vermögen angewiesen, so wäre unser ganzes Wissen und Erkennen zufällig, denn es bestände aus lauter Verallgemeinerungen der Erfahrung. "Aber es gibt Erkenntnisse im Geist, die nicht zufällig, die notwendig sind, die wir denken müssen, die das Denken als seine Grundbedingung voraussetzt." Da sie nicht aus der Erfahrung stammen, müssen sie dem Geist eingeboren sein, wenn wir nicht mit PLATO, AUGUSTINUS, COUSIN annehmen wollen, daß wir ihrer in einem göttlichen Geist bewußt sind. Die Vernunft bedeutet danach den vollen Bestand der Grundprinzipien oder Gesetze des Denkens. Man kann sie darum nicht eigentlich eine  faculty  nennen, insofern hiermit ein aktives Vermögen gemeint ist. Schon deshalb fällt sie aus dem psychologischen Schema, das eine von Stufe zu Stufe fortschreitende Entwicklung und Weiterbildung des Erkenntnismaterials dargestellt hat, heraus. Dies wird noch deutlicher, wenn HAMILTON gemäß dem Vorgang KANTs unsere Erkenntnisse in  apriorische  und  aposteriorische  scheidet.  Aposteriorische Erkenntnis ist zufällige Erfahrungserkenntnis,  sie ist also  das Produkt der aktiven Vermögen,  die in einem stetigen Fortschritt von der bloßen Empfänglichkeit der  presentative faculty  bis zur Umformung des Erkenntnismaterials durch die  elaborative faculty  den Erkenntnisprozeß vollziehen.  Apriorische, eingeborene  (native),  reine oder transzendentale Erkenntnis  ist  denknotwendige Erkenntnis,  die als Grundbedingung allem Erkennen überhaupt, also den aposteriorischen Erkenntnissen zugrunde liegt. Wenn sich in der Terminologie und in der Hauptsache auch in der sachlichen Scheidung des  a priori  und  a posteriori  der Einfluß KANTs geltend macht, so setzt sich derselbe besonders durch, wenn HAMILTON davor warnt, das  a priori  in einem zeitlichen Sinn zu nehmen. (6) Unsere apriorischen Erkenntnisse gehen chronologisch den aposteriorischen nicht vorher; "denn die inneren Bedingungen der Erfahrung können nur wirksam sein (operate), wenn ein Gegenstand der Erfahrung gegeben ist." Wenngleich unser Wissen mit der Erfahrung beginnt, so müssen doch die Prinzipien des Erkennens im Geist vor aller Erfahrung angelegt sein; diese Einsicht scheint dem Ausdruck  eingeboren  das Bedenkliche zu nehmen, das man oft gegen ihn geltend gemacht hat. Vom transzendentalpsychologischen Standpunkt zumindest erscheint er in dem Sinne, wie ihn HAMILTON eingeführt hat, berechtigt; die eigenartige Ausprägung der Transzendentalpsychologie Hamiltons wird sich uns bei der näheren Betrachtung des Apriorismus in seiner Erkenntnislehre herausstellen. Ebenso kann erst dort der sachliche Wert, welcher der phänomenologischen Grundlegung seiner Philosophie zukommt, gewürdigt werden. Wenn wir uns jetzt zur Ausführung seiner Erkenntnislehre wenden, so wird diese zunächst den spezifischen Charakter des Erkennens nach HAMILTON, das Bewußtsein als Erkenntnisquelle, die beiden Erkenntnisweisen (mittelbare und unmittelbare Erkenntnis) darzustellen haben, um dann zu den Kardinalpunkten von HAMILTONs Philosophie, dem Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung und dem Gegenstand der Erkenntnis überhaupt, überzugehen.


2. Abschnitt
Das Erkennen und sein Gegenstand

1. Kapitel
Die Relativität unseres Erkennens

HAMILTONs Lehre von der  Relativität des Erkennens  ist den Zeitgenossen dieses Denkers vor allem als ein charakteristischer Bestand seiner Philosophie erschienen. Er hat sie zuerst in einem Aufsatz in der  Edinburgh Review  (Oktober 1829) Anschluß an eine Kritik der Philosophie COUSINs, KANTs und des  nachkantischen Idealismus  dargelegt. Hier erscheint sie in den innersten Zusammenhang seiner philosophischen Gesamtauffassung gerückt, und sie hat in der Fassung, in welcher sie in dieser Abhandlung erscheint, nicht nur die Aufmerksamkeit der englischen, sondern auch der festländischen, der deutschen und der französischen Philosophie, auf ihren Urheber gelenkt.

Man könne, bemerkt hier HAMILTON, sich nicht genug darüber wundern, wie es jemals bezweifelt werden konnte, daß unser Denken sich nur auf das Bedingte (conditioned) bezieht. "Das Denken kann das Bewußtsein nicht überschreiten; das Bewußtsein ist nur unter der Antithesis eines Subjekts und Objekts des Denkens möglich, die beide allein in gegenseitigem Aufeinanderbezogensein und in gegenseitiger Begrenzung erkannt werden." Was wir von Subjekt oder Objekt, von Geist oder Materie wissen, betrifft nur ihre Erscheinungsweise. "Wir gestehen, daß die Folge dieser Lehre ist: daß Philosophie, wenn sie mehr als eine Wissenschaft des Bedingten sein soll, unmöglich ist" ... "Unser Wissen, ob es auf den Geist oder die Materie geht, kann nichts als eine Erkenntnis der relativen Offenbarungen einer Wirklichkeit sein; und es ist unsere höchste Weisheit zu erkennen, daß diese Wirklichkeit jenseits des Bereichs der philosophischen Forschung liegt." In diesem Sinne ist  die höchste Erkenntnis  ein  Bewußtsein des Nicht-wissens

Die Motive, die zur Auffassung der Relativität des Erkennens führen, lassen sich hiernach so zusammenfassen: ALles, von dem wir wissen, steht in notwendiger Beziehung zu unserem Bewußtsein. Wir sind uns aber eines Objekts nur in Beziehung auf ein Subjekt, eines Subjekts nur in Beziehung auf ein Objekt bewußt. Vom Subjekt und Objekt wissen wir nur, insofern wir Erkenntnisfähigkeiten besitzen, zu denen gewisse Qualitäten der inneren oder Außenwelt in Beziehung stehen. Die Seinsarten, die "in Analogie zu unseren Erkenntnisfähigkeiten" sind, nennen wir  "Qualitäten, Phänomene, Eigenschaften  etc. Wenn wor aber doch von einem absoluten Wissen sprechen, so meinen wir damit bloß, daß die Erscheinungsweisen in direkter und unmittelbarer Beziehung zum Bewußtsein stehen.

In ihrer  allgemeinsten Fassung  finden wir die Lehre von der Relativität unseres Erkennens in den  Lectures on Metaphysics,  Bd. I, Seite 61 ausgesprochen. HAMILTON meint hier, wir könnten von einer Erkenntnis der Welt in uns und um uns nur sprechen, insofern wir eine Erkenntnisfähigkeit besitzen. Darum gilt der Satz: der Mensch ist das Maß aller Dinge. - Wenn sich die Lehre HAMILTONs auf diesen weitesten Sinn zurückführen ließe, der die stillschweigende Voraussetzung allen Nachdenkens über uns und die Welt bildet, so wäre sie in der Tat nur ein Gemeinplatz (7), und es wäre der "tiefsten Verwunderung würdig", wie sie so großes Aufsehen erregen konnte. Es ist nun nicht zu leugnen, daß HAMILTON diesen sehr weiten Sinn des öfteren im Auge hat, wenn er vom relativen Charakter des Erkennens spricht. Doch sondert sich hiervor ein besonderer Sinn, den die Lehre hat und den man in den  Vorlesungen  weiter ausgeführt findet. (8)

Relativ, sagt er hier, ist das Gegenteil von absolut. Wir wissen von nichts, das absolut, d. h. in und für sich und ohne Beziehung zu uns und unseren Fähigkeiten existiert. Unsere Erkenntnis ist entweder eine Erkenntnis der Materie oder des Geistes. Was ist aber nun die  Materie?  Nichts anderes als ein allgemeiner Name für eine Mannigfaltigkeit koexistierender Erscheinungen, die wir unter ihm begreifen.  Materie  ist das Etwas, das uns unter den Formen der Ausdehnung, Festigkeit, Teilbarkeit, Gestalt, Bewegung, Härte, weichheit, Farbe, Hitze, Kälte etc. erscheint. Da uns diese Erscheinungen nie einzeln und für sich allein gegeben sind, so sind wir durch die Konstitution unserer Natur gezwungen, sie in einem Etwas und durch ein Etwas verbunden zu denken. Das sie Erscheinungen sind, so können wir sie nur als die Qualitäten eines Etwas denken, das sich in ihnen kundgibt, das für uns aber gleich Null ist. Dieses Etwas heißen wir ihr Subjekt, ihre Substanz oder ihr Substratum. Was von der Materie oder materiellen Substanz gilt, gilt ebenso in Bezug auf den Geist. Die psychischen Erscheinungen (Denken, Fühlen, Wollen) inhärieren ebenso einem uns unbekannten Träger, den wir Substanz oder Subjekt nennen. HAMILTON glaubt, daß diese Lehre von allen Philosophen geteilt wird. Diese Meinung kann er nur haben, weil er ihr, ohne sich dessen bewußt zu sein, jene allgemeinste Auffassung unterlegt, die nichts weiter als eine  identische Proposition  ist, wie MILL bemerkt. Durch solche Harmonisierungsversuche, die den eigentlichen Sinn der Lehre abschwächen, hat er selbst Anlaß gegeben, ihre Bedeutung in das Banale zu verflüchtigen.

Die Relativität des Erkennens schließt nach HAMILTON zwei wichtige Sätze ein:
    1. Die relative Wirklichkeit, die wir erkennen, ist nur ein Teil der Wirklichkeit, die überhaupt erkannt werden könnte. Wir wissen nur von den  Seinsweisen (modes of existence), die in Beziehung zu unseren Vermögen stehen, oder - wie es mit einem mißverständlichen und von MILL mit Recht beanstandeten Ausdruck heißt - ihnen analog sind. Außer diesen Arten der Existenz wissen wir und können wir von keiner Wirklichkeit etwas wissen. Auch wenn wir ebenso viele Sinne hätten, als es mögliche Erscheinungsweisen gibt, so bliebe doch unsere Erkenntnis relativ. Denn wir wüßten selbst in diesem Fall nur von den  Erscheinungen der Dinge. In Bezug auf eine absolute Wirklichkeit wären wir ebenso unwissend, wie wir es heute sind.

    2. Die  Eigentümlichkeiten der Existenz werden nicht in ihrer ursprünglichen Reinheit erkannt. Jede Erkenntnis ist eine Summe einzelner Elemente. Es ist das große Geschäft der Philosophie, diese Elemente zu analysieren und zu unterscheiden, zu bestimmen, woher die einzelnen Beiträge der Erkenntnis stammen. In einem Akt der Wahrnehmung z. B. soll das volle oder adäquate Objekt, das erkannt wird, gleich  zwölf sein. Bezeichnet nun die Zahl  4 den Bestandteil, der vom Gegenstan - etwa einem Buch - herrührt, der Beitrag des Mediums soll ebenfalls  4 betragen, so würde in diesem Fall das lebende Organ ein Drittel zur Erkenntnis des ganzen Objekts beitragen.
HAMILTON faßt die  Gründe, weshalb unsere Erkenntnis relativ ist,  so zusammen:
    1. "weil die Wirklichkeit nicht absolut und in sich selbst, sondern nur besondere Existenzweisen erkannt werden",

    2. "weil diese Existenzweisen nur erkannt werden können, wenn sie in einer gewissen Beziehung zu unseren Fähigkeiten stehen",

    3. "weil die so zu unseren Fähigkeiten in Beziehung stehenden Seinsarten dem Geist vorgestellt und von ihm erkannt werden nur unter Modifikationen, die durch diese Fähigkeiten selbst bestimmt sind".
Der Nachdruck ist demnach darauf zu legen, daß KANTs Lehre: wir erkennen nur Erscheinungen, nicht Dinge-ansich von HAMILTON übernommen wird. Bei KANT ist diese Lehre im apriorischen Charakter der reinen Anschauungsformen und der reinen Verstandesbegriffe begründet. Ob HAMILTON mit KANT wirklich, wie er meint, übereinstimmt, wird sich demnach erst herausstellen, wenn wir HAMILTONs Auffassung des Raums und der Zeit kennen gelernt haben. Daß wir nach ihm die  Substanz  der Dinge nicht erkennen können, haben wir hervorgehoben. In diesem Punkt ist er mit KANT der Meinung, daß der Substanzbegriff nur einer Nötigung unserer Vernunft entspricht. Nach MILL hat HAMILTON den besonderen Sinn der Lehre von der Relativität unseres Erkennens, den auch MILL in den  Discussions  klar ausgedrückt findet, später durch die Unterscheidung der Qualitäten in primäre, sekundo-primäre und sekundäre, wie sie in den  Dissertations  zu REIDs Werken vorgetragen wird, aufgegeben. Damit reduziert sich dann das  große Axiom  darauf, daß die Dinge-ansich "nicht erkannt werden können, wenn es nicht jemanden gibt, der sie zu erkennen vermag". Inwiefern diese Kritik zu Recht besteht, wird das Kapitel über HAMILTONs Lehre von den Qualitäten darlegen.
LITERATUR: Franz Nauen, Die Erkenntnislehre William Hamiltons, Straßburg 1911
Anmerkungen
1) So zum Beispiel bei ERDMANN und HUSSERL.
2) So zum Beispiel VAIHINGER in seiner Abhandlung über KANTs Widerlegung des Idealismus (Straßburger Abhandlungen zur Philosophie, 1884).
3) SCHOPENHAUER, Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, Seite 152 (Ausgabe GRISEBACH). SCHOPENHAUER zitiert hier HAMILTON für seine Anschauung vom Wert der Mathematik. Er stimmt dem Ergebnis, zu dem HAMILTON in diesr  sehr gründlichen und kenntnisreichen Abhandlung  gelangt, daß nämlich der Wert der Mathematik nur ein mittelbarer ist, daß sie aber ansich der Ausbildung des Geistes keineswegs förderlich, ja sogar entschieden hinderlich ist, durchaus bei.
4) Insofern dieser Satz gegen den Gebrauch des Terminus  praktisch  bei KANT gerichtet sein sollte, beruth er natürlich auf einem Mißverständnis.
5) Den Zusammenhang einer Phänomenologie des Denkens als Vorbereitung einer reinen Logik mit der Grammatik betont auch HUSSERL, Logische Untersuchungen, Bd. 2.
6) Vgl. Kr. d. r. V., zweite Auflage, Seite 1: "Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an."
7) Vgl. JOHN STUART MILL, Examination of Sir William Hamiltons Philosophy, Seite 41 in der deutschen Übersetzung von HILMAR WILLMANNs, 1908.
8) HAMILTON, Lectures on Metaphysics, Edinburg and London 1870 Seite 136 spricht HAMILTON von dem "großen Axiom, daß alle menschliche Erkenntnis, folglich alle menschliche Philosophie nur vom Relativen, dem Phänomenalen handelt."