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MURRAY EDELMAN
Politik als Ritual
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Politik als symb. Form
Metaphern u. Sprachformen
"Alles, was wir über Sprache wissen, deutet darauf hin, daß die Sprache selbst in der Konstruktion multipler Wirklichkeiten beteiligt ist. Was immer eine Gruppe von Menschen als wirklich betrachtet, ist in seinen politischen Konsequenzen wirklich, unabhängig davon, wie absurd, phantastisch oder schockierend dies auf andere Menschen in einer anderen Situation oder einer anderen Zeit wirken mag."

Diese Arbeit geht der Frage nach, wie unterschiedliche, einander widersprechende Bedeutungen vermittels politischer Sprache und anderer Handlungen erzeugt werden. Er wendet den "linguistic turn", der Philosophie, Literaturwissenschaft und viele andere Disziplinen im 20. Jahrhundert stimuliert hat, auf die Politik an. Heute ist dieser semiotische Ansatz in der Politikwissenschaft weitaus akzeptierter als zu dem Zeitpunkt, da diese Arbeit zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Der Schwerpunkt liegt auf den Bedingungen, unter denen sich die Bedeutungen von Sprache und Handlungen ändern; daneben werden folgende Themen behandelt: die Erfahrungen und Sichtweisen derjenigen Menschen, die sich eher von politischen Strategien berühren lassen als sich mit den Interessen von Beamten und Eliten zu befassen; der Gebrauch von Doppeldeutigkeiten in der Politik; die Sprache als Form politischen Handelns und weniger als Form der Beschreibung; und schließlich die Ungleichheiten, die politische Institutionen widerspiegeln und reproduzieren.

Wie politische Spektakel konstruiert sind
Der Ansatz dieser Studie legt einige weitergehende Ideen nahe, die ich in neueren Arbeiten verfolgt habe und hier kurz ansprechen möchte.

Darstellungen politischer Handlungen und Sprache sind auf mehreren Sinnebenen wirksam. Sie bestärken und sie verunsichern. Sie rufen Unterstützung von und Opposition gegen Regierungen hervor. Politiker, Beamte und Interessengruppen werden immer geschickter darin, politische Nachrichten so zu orchstrieren, daß die öffentliche Unterstützung für welche ihrer 'Handlungsabsichten auch immer die größtmögliche wird. Mit der Verbreitung von Druckmedien und elektronischen Medien können fast alle Teile der Bevölkerung erreicht und die Nachrichten publiziert werden, die ihre Urheber, insbesondere die Politiker, die Öffentlichkeit glauben lassen wollen. Politische Nachrichten liefern nicht nur Informationen, die die Menschen zum wirkungsvollen Sachwalter ihrer eigenen Interessen machen, sondern auch eine Form von Unterwerfung, von der diejenigen profitieren, die am besten beeinflußen können, was und wie berichtet wird.

Daraus folgt für den politischen Analytiker notwendigerweise eine kritische Einstellung gegenüber jeder politischen Handlung und Sprache, die zur Entstehung von Überzeugungen beiträgt: ob sie nun Politiker, gesellschaftliche Probleme oder politische Gegner betreffen, also all diejenigen Aspekte, die im Zentrum von Politik als Spektakel stehen, Aufmerksamkeit auf sich ziehen und entscheidend für Gewinn und Verlust politischer Unterstützung sind.

Probleme, politische Führer und Gegner sind gesellschaftliche Konstruktionen, keine Tatsachen. Sie werden fortwährend auf verschiedenste Weise hervorgebracht und interpretiert, um Meinungen zu beeinflussen. Manche politische Themen, die man einstmals als gesellschaftliche Probleme betrachtet hat, etwa Frauen als Hexen oder japanischstämmige Amerikaner als Verräter im Zweiten Weltkrieg, hält man später für Halluzinationen. Einige Lebensumstände, die man - wie etwa Armut - heute als Probleme ansieht, verstand man lange Zeit als Teil der natürlichen Ordnung, nicht als zu lösende Probleme.

Gesellschaftliche Probleme werden selten gelöst, zum Teil deswegen, weil jede Gegebenheit, die als Problem betrachtet wird, gleichzeitig auch einen Nutzen für - typischerweise recht mächtige - Gruppen darstellt. Arbeitslosigkeit beispielsweise hilft Arbeitgebern die Kosten der Arbeitskraft zu verringern und eine fügsamere Belegschaft zu erhalten. Probleme werden in einem fort konstruiert, dekonstruiert und interpretiert - dies alles dient politischen Zwecken. Wer eine bestimmte politische Entscheidung anstrebt, versucht beispielsweise oft, diese mit einem weithin gefürchteten Problem in Verbindung zu bringen, um zusätzliche Unterstützung zu Erlangen. Konservative, die durchweg höhere Militärausgaben und eine enge Definition von Bürgerrechten befürworten, behaupten, daß gerade diese Maßnahmen eine notwendige Antwort auf das Drogenproblem seien; und auch Liberale und Radikale benutzen diese Frage, um ihre politischen Pläne voranzutreiben.

Ganz ähnlich werden politische Führer und politische Gegner konstruiert und interpretiert - mit gegensätzlichen Bedeutungen und auf unterschiedliche Arten, die jeweils die entsprechenden Ideologien und moralischen Haltungen reflektieren und fördern.

Politische Nachrichten gebrauchen dann "Tatsachen", um Wirklichkeiten zu konstruieren, die mit anderen, auf anderen Tatsachen oder anderen Interpretationen basierenden Wirklichkeiten zusammenprallen. Jede dieser miteinander konkurrierenden Wirklichkeiten wird aber als objektiver Bericht dargestellt.

Dieses Resultat ist ganz eng mit der Mißachtung der Geschichte als der Schöpferin des Bewußtseins verbunden, sowohl im marxistischen Sinn wie auch im Sinne 'PROUSTs, daß wir nämlich nur im Erinnern Wirklichkeiten konstruieren. Unbelebte Materie vergeht im Lauf der Zeit; für den Geist hingegen stellt Zeit kein Auflösungsprinzip dar, sondern das Medium, in dem wir durch die Rekonstruktion der Vergangenheit und die Antizipation der Zukunft die Gegenwart hervorbringen. Alle Versionen der gegenwärtigen Welt hängen von Interpretationen der Geschichte ab. Eine bestimmte Version als objektiv gültig zu akzeptieren heißt, den Status quo entweder als einzig möglichen oder als moralisch gerechtfertigten zu betrachten - und damit darauf zu verzichten, diese Schlußfolgerungen als herrschende Ideologie zu erkennen.

Mit der Behauptung, daß politisches Handeln rationale Entscheidungen widerspiegele, maskiert die politische Alltagssprache die Banalität und den ritualhaften Charakter, die den Großteil politischer Äußerungen und Handlungen kennzeichnen. Weil die jeweilige Situation das Publikum bestimmt und dessen Erwartungen beeinflußt, ist politische Kommunikation normalerweise stark voraussagbar. Staatsoberhäupter beispielsweise, deren Truppen in ein anderes Land eindringen, geben Rechtfertigungen ab, weil Menschen im eigenen Land und in anderen Ländern dieses Handeln als chauvinistisch, imperialistisch oder repressiv gegenüber einem schwächeren Staat verstehen. Darum werden Invasionen erstaunlicherweise immer gleich begründet, ob es sich nun um einen 'HITLER, BRESCHNEW oder BUSH handelt, der diesen Akt rationalisiert: Schutz der Bürger des einmarschierenden Landes; Bedrohung von Recht, Ordnung oder Demokratie, die wider in Geltung gesetzt werden müssen; Gefahr, daß das betreffende Land ein Ansteckungsherd für irgendeine schlimme Ideologie oder Untat zu werden drohe; Bitten der Bevölkerung oder der Regierung um Beistand der Invasoren.

Eine stilisierte Sprache ist dementsprechen typisch für die Phasen und Themen des politischen Prozesses und die korrelierenden öffentlichen Äußerungen: die Bezeichnung von gewalttätigen Demonstranten als Werkzeuge ausländischer Agitatoren; die Unterstützung von Erhöhungen im Verteidigungshaushalt; die Befürwortung von staatlichen Handlungsweisen, die bestehende Bürgerrechte infrage stellen und den Versuch unternehmen, diese außer Kraft zu setzen. Jede dieser vorhersehbaren Handlungen und Rechtfertigungen ruft eine ähnlich stilisierte Antwort in der Öffentlichkeit seitens des jeweiligen Opponenten hervor. In politischen Auseinandersetzungen ist Rationalität (ebenso wie Kreativität) eine nachträgliche Konstruktion des Beobachters.

Der Schematismus öffentlicher Prozesse wirft ein bezeichnendes Licht auf die Funktion des politischen Spektakulums. In der Wirkung, wenn auch nicht unbedingt beabsichtigt, handelt es sich um Dramaturgie: Konstruktionen, die einem Publikum präsentiert werden.

Gleichzeitig bleiben diejenigen politischen Entscheidungsprozesse, die die Lebensumstände der Menschen direkt beeinflußen, größtenteils der Öffentlichkeit verborgen. Diese Entscheidungen sind oft technischer Natur oder werden geheimgehalten: Kauf und Verkauf von Sicherheiten oder Devisen durch Zentralbanken, um den Zinssatz zu beeinflußen; Entscheidungen von Staatsanwaltschaften, welche kriminellen Handlungen akribisch verfolgt und welche ignoriert werden; Änderungen in der Gewährung von direkten und indirekten Subventionen an Unternehmen. Nachrichten in den Schlagzeilen hingegen, etwa Wahlergebnisse, Gesetzgebungskontroversen, Entscheidungen hoher Gerichte und Äußerungen hoher Beamter, ändern das Einkommen, die Freiheit, den Status oder die Einschränkungen von Menschen solange nicht, bis nachgeordnete Organe entscheiden, ob und wie diese umgesetzt werden sollen; sie führen aber zu entscheidenden Unterschieden in der Phänomenologie der Welten, in denen die Menschen leben.

Banalität und Inszenierungen politischer Szenarios tragen dazu bei, Proteste und Anstöße zu einem Wandel unwirksam zu machen. Zum Teil gelingt dies deswegen, weil sie pluralistische und dynamische Politik als problemtisch darstellen. Zum Teil, weil sie die geistigen Fähigkeiten einlullen, wie GEORGE ORWELL in seinem berühmten Essay über "Politics and the English Language" geschrieben hat. Die Öffentlichkeit konstruiert ihre eigenen Spektakel, unterstützt von Schauspielern, die ihre Rollen beherrschen; und auf diese Weise errichtet sie einen Käfig, der sowohl die Entfaltung von Geist wie von politischem Handeln unterbindet.

Wie das Spektakel zu Konfusion und Hegemonie beiträgt
Auch auf andere Weise vereitelt die Art und Weise, wie Politiker, Verwaltungen und Massenmedien mit Nachrichten und Information umgehen, eher die Demokratie, als daß sie Partizipation und Einflußnahme breiter Bevölkerungsschichten stärkt.

Ein häufig angewandte Taktik ist die Hervorhebung eines beruhigenden Aspekts, um Handlungen, die für Regierungen sonst abträglich wären, zu rationalisieren: Wahlen in Ländern der Dritten Welt, in denen ein repressives Regime und Menschenrechtsverletzungen andauern, als Symbole der Demokratie; militärische Operationen als Demonstration von Mut und Entscheidungskraft und nicht als gewaltsame Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes oder als die Verhängung von Tod und Zerstörung über unschuldige Menschen; die Darstellung der steuerlichen Bevorzugung der Reichen als "Steuerreform". Wie diese Beispiele zeigen, konstruieren Slogans und Fernsehbilder auf subtile, doch einflußreiche Weise Bedeutungen, die andere Darstellungen desselben Themas in Frage stellen oder als falsch erscheinen lassen.

Ein anderer Mißbrauch politischer Kommunikation ist die Konstruktion von vielbeachteten Pseudokonflikten, die die Aufmerksamkeit von unpopulären oder peinlichen Handlungen und Interessenkonflikten ablenken. Der Kalte Krieg mit der Sowjetunion erfüllte diese Funktion fast ein halbes Jahrhundert lang aufs trefflichste. In den Berichten der Journalisten von einem Wiener Treffen der militärischen Spitzen von Ost und West im Januar 1990 hieß es, die "Gegner" behandelten einander nun mit Respekt und Herzlichkeit. Wenngleich sie formell Gegner waren, so sind sie doch immer Alliierte in einem viel entscheidenderen Sinn gewesen. Die Dramaturgie des Ost-West-Konflikts kurbelte sowohl Unterstützung als auch Ausgaben für den Militärapparat und die Rüstungslieferanten auf beiden Seiten an, während dieselbe Dramaturgie zwischenstaatlicher Feindschaft einige andere Konflikte mit wirklichen Auswirkungen verdeckte: vor allem den Wettbewerb um Gelder für militärische oder soziale Zwecke in allen beteiligten Ländern; die Gegensätze zwischen Offizieren und Wehrpflichtigen; und die Auswirkungen kalter und heißer Kriege auf die Armen in allen Ländern, die oft ihr Heim, ihren Lebensunterhalt und ihr Leben verloren, während Generäle und Admirale Ruhm und Beförderung gewannen, Politiker Popularität und Waffenproduzenten Reichtum.

Die Hervorhebung einer Konfliktform, um unangenehmere Seiten der Auseinandersetzung zu verdecken, ist auch in anderen Feldern der Politik eine übliche Taktik. Gebietsstreitigkeiten können Angriffe auf eine religiöse oder ethnische Gruppe kaschieren, wie es oft im Nahen Osten der Fall gewesen ist. Die Betonung von Konflikten zwischen Nationen und Ideologien hat oft die Unterdrückung der Armen und Besitzlosen verdeckt, wie in den letzten Jahren in El Salvador.

Regierungen profitieren auch davon, daß sie widersprüchliche politische Ziele verfolgen oder ihre Versprechungen und Taten auseinanderklaffen. Die Regierung Reagans hat wiederholt und nachdrücklich einen Verfassungszusatz gefordert, um einen ausgeglichenen Haushalt zu bekommen, während sie gleichzeitig ein höheres Haushaltsdefizit als alle früheren Defizite zusammengenommen produzierte; auf diese Weise profitierte sie gleichermaßen von der konservativen Sichtweise, daß ein ausgeglichener Haushalt vernünftig sei, und von hohen (meist Rüstungs-) Ausgaben, hinter denen mächtige Interessen standen. Die Regierung BUSHs rechtfertigte die Invasion Panamas auch mit dem Schutz amerikanischer Bürger, obwohl sie gleichzeitig die rechtlich kaum begründete Verfolgung ihrer Bürger durch ihr Klientenregime in El Salvador unterstützte.

Während solche Formen des Symbolismus in der Geschichte als Täuschung und Irreführung betrachtet und darum verurteilt werden, akzeptiert man sie in der gegenwärtigen Politik oft als Ausdruck besonderen politischen Geschicks. In zunehmendem Maß verschleiern Regierungen, Kandidaten und Interessengruppen die Konstruktion von Spektakeln zum eigenen Nutzen nicht mehr, sondern prahlen damit; sie preisen ihre Fähigkeit als "Schadensbegrenzung", "Krisenmanagement" und anderes, um sich vor Vergeltung für ihre gescheiterte Politik oder ihre katastrophalen Handlungen zu schützen. Die Möglichkeit, den größeren Teil der Öffentlichkeit über die Massenmedien zu erreichen, hat Politik zu einer Form von Unterhaltung oder Kunst gemacht, die daran gemessen wird, welche Unterstützung ihre Akteure erhalten - unabhängig davon, wer von ihrer Politik profitiert oder benachteiligt wird, welchen Schaden sie anrichten oder welchen Beitrag zum allgemeinen Wohlergehen sie leisten. Diese Entwicklung ist ein niederschmetternder Indikator für die Entfremdung der Öffentlichkeit, weil sie vor Augen führt, daß ein entscheidender Teil der Bürger kaum mehr erwartet, daß ihre Interessen vom Staat wirklich vertreten werden, sondern Regierungen danach beurteilt, wie überzeugend die von ihnen inszenierten Spektakel sind.

Die Allgegenwärtigkeit der Konstruktion sozialer und politischer Welten ist nicht leicht zu erkennen, da die Menschen mit ihren Alltagshandeln beschäftigt sind. Darüber hinaus glauben wir in der Regel, daß Ereignisse für alle Beobachter gleich sind. Bei der Betrachtung gegenwärtiger oder vergangener Erscheinungen muß man sich immer wieder vor Augen halten, daß keine von ihnen einfach so geschehen ist oder eine objektiv festzumachende Bedeutung hat. Ihre Bedeutungen sind Konstruktionen unserer Sprache und Situationen, und sie und wir werden fortwährend auf dieselbe Weise rekonstruiert.
LITERATUR - Murray Edelman, Politik als Ritual, Frankfurt/NY 1990