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HERMANN LÜBBE
Der Streit um Worte.
Sprache und Politik

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Soziale Marktwirtschaft, Abendland, der Westen, Gemeinschaft der freien Völker, Sozialstaat, Pluralismus, Gemeinsinn, Gemeinschaftsaufgabe - bei den Worten dieser Reihe ist die definitorische Präzision gering, und der Informationswert der aus ihnen gebildeten Aussagen unbefriedigend.

I.
Es gibt die Empfehlung, nicht um Worte zu streiten. Sie findet sich schon bei ARISTOTELES; in seiner Topik kann man sie nachlesen.

Es ist nun nicht meine Absicht, hier die linguistische Theorie des Streites um Worte zu liefern. Bescheidener möchte ich in erster Linie einiges zur Analyse des von ARISTOTELES nicht berücksichtigten Spezialfalles von Wortstreit beitragen, in welchem seine Regel, ihn zu vermeiden, nicht befolgt werden kann. Dieser Spezialfall ist der politische Fall des Streites um Worte. Er gehört zu den Formen verbalen politischen Handelns, für die sich in plausibler professioneller Deformation Blindheit gerade bei denjenigen erzeugt, deren Beruf die Wissenschaft ist.

Generell dienen Beispiele politischen Sprachgebrauchs seit langem bei den wissenschaftlich Gebildeten unter den Verächtern der Politik als bevorzugte Gründe ihrer Verachtung. Das bezeugen zahlreiche einschlägige Arbeiten aus dem Umkreis des sprachkritischen Positivismus. Hier feiert man zunächst den Fortschritt, der darin besteht, daß es in Teilbereichen wissenschaftlicher Erkenntnispraxis gelungen ist, das Kommunikationssystem dieser Praxis in einer Weise zu rationalisieren, die es allen kommunikationstechnischen Mängeln unserer vor- und außerwissenschaftlichen Sprache enthebt. Alsdann wird der präzisierte Spezial-Sprachgebrauch einiger Wissenschaften zur generellen Norm erhoben, um an dieser Norm geeignete Formen politischen Sprachgebrauchs zu messen. Was die Sprache der Politik an vernünftiger Substanz enthalten mag, wird dabei natürlich nicht sichtbar.

Reduktion der Sprachvernunft auf den Spezial-Sprachgebrauch hochentwickelter Wissenschaften wäre unbedenklich, wenn uns nichts hinderte, zu musizieren oder mystisch zu schweigen, wo es in der Präzisionssprache exakter Wissenschaften nichts mehr zu sagen gibt. Es war ja die Erwartung CARNAPs und des frühen WITTGENSTEIN, daß die positive, auch in ihrer Sprachform vollendete Wissenschaft nichts anderes mehr als Musik und Mystik außer sich lassen würde. Die Sprache der Politik ist aber weder mystisch noch musikalisch noch wissenschaftlich, und das macht sie zu einem Skandalon für ihre Kritiker. Durch seine Form der Sprachkritik setzt sich der Positivismus der Politik in einer Weise entgegen, die es ihm zugleich erschwert, politisch effektiv zu werden.

Aus dieser Struktur könnte man ein ideologiekritisches Argument gegen den Positivismus schmieden und sagen, daß gerade die praktische Folgenlosigkeit seiner Hyperkritik das Resultat ist, durch das er die Politik, wie sie nun einmal ist, vor wirksamerer Kritik abschirmen möchte. Das positivistische Sprachgebrauchsideal und die Sprache politischer Neomythen wären dann komplementäre Größen, Verbündete in der Mimikry der Entzweiung. Es ist übrigens genau diese Interpretation, die es intelligenten Marxisten, historisch und sachlich zu Unrecht, ermöglicht hat, den sprachanalytischen Positivismus und den ‘Mythos des 20. Jahrhunderts’ als zwei Rösser vor ein- und demselben politischen Wagen anzusehen.

Diese marxistische Theorie der politisch bedingten Komplementarität von Positivismus und politischer Neomythologie hat übrigens auch außerhalb des marxistischen Zusammenhangs Freunde gefunden. Der Grund dafür ist, daß auch die anti-marxistischen Gegner des Positivismus ein marxistisches Argument nicht scheuen, sofern es geeignet ist, den Positivismus durch seine vermeintlichen Folgen zu belasten. Demgegenüber muß man gerechtigkeitshalber an die Tatsache erinnern, daß der Positivismus, sofern er Politik-Kritik ist, zwar bislang nirgends vermocht hat, in seinem Sinne die Politik zur Räson zu bringen, daß er aber überall im Herrschaftsbereich totalitärer politischer Mächte seine eigene politische Verfolgung provoziert hat. Schon aus diesem Grund kann die politisch interessierte These von der politisch bedingten Komplementarität von Positivismus und politischen Neomythen nicht überzeugen.

Wenn man daher der sich selbst zu praktischer Folgenlosigkeit verurteilenden Hyperkritik des Positivismus im Verhältnis zum politischen Sprachgebrauch einen ideologischen Sinn unterstellen will, so könnte dieser Sinn allenfalls darin gefunden werden, daß man die positivistischen Leerheits- und Sinnlosigkeitserklärungen gegenüber dem politischen Sprachgebrauch als Reflexe der politischen Ohnmachtserfahrung einer wissenschaftlichen Intelligenz versteht, die sich die Wirkungen wissenschaftlicher Einsicht aufs politische Handeln direkter, unmittelbarer wünscht, als sie nun einmal tatsächlich sind oder auch nur möglich sind.

Man verkennt also die Pragmatik und in diesem pragmatischen Sinn die Vernünftigkeit des politischen Sprachgebrauchs, wenn man seinen Blick am Spezial-Sprachgebrauch der Wissenschaft fixiert hält. Tatsächlich hat sich nun auch die sprachanalytische Philosophie vor allem in England aus dieser Fixierung inzwischen gelöst, und man ist dabei, auf die Frage, ‘how to make things with words’ nicht a priori kritisch-entlarvend, sondern zunächst einmal analytisch- aufklärend zu antworten, und zwar auch in politisch relevanten Zusammenhängen. Dasselbe gilt, mutatis mutandis, seit längerer Zeit für die einschlägigen Bemühungen in den USA in der Nachfolge der schon in den dreißiger Jahren blühenden sogenannten General Semantics.

Also: Wahrnehmungen zu notieren, Beobachtungen zu protokollieren oder Erfahrungen zu formulieren - das sind sehr spezielle Tätigkeiten, und nur in wenigen Fällen sind selbst Wissenschaftler, wenn sie reden, damit beschäftigt, Sachverhalte in Aussagen abzubilden. Desgleichen sind die handlungstheoretischen Zwecke, zu denen wissenschaftliche Aussagen gemacht oder niedergeschrieben werden, meistens Zwecke von extremer Spezialität. Solche speziellen Zwecke sind z. B. die der generellen Information, die keine unmittelbaren, und seien es auch nur forschungspraktische, Konsequenzen hat, oder die der Registratur, durch die Aussagen im Hinblick auf potentielle Informationszwecke, etwa in Bibliotheken, gespeichert werden.

Selbstverständlich werden nun auch im politischen Zusammenhang Aussagen registriert, und über Tatsachen wird informiert. Ein Zeichen dafür ist, daß die Instanzen, die für Parteien, Regierungen zu sprechen autorisiert sind, heute zumeist  Informationsämter heißen, und man kann nicht a priori unterstellen, die Ersetzung des Wortes  Propaganda durch das Wort  Information sei propagandistisch gemeint. Es handelt sich hier um eine sprachpolitische Entwicklung, die derjenigen genau analog ist, die inzwischen überall in der Welt aus Kriegsministerien Verteidigungsministerien gemacht hat.

Man könnte sagen, daß Propaganda zwangsläufig sublimer, raffinierter wird, wenn sie  Information zu sein verbal verpflichtet wird. Es folgt auch, daß die verbal verdrängte Realität sich nun inner-sprachlich an anderer Stelle Aus-druck verschaffen muß. Die Konjunktur im Gebrauch des Wortes  sogenannt, die übliche Entlarvung des eigentlichen Sinns gewisser Worte, sofern sie der Feind gebraucht, durch Applikation von Anführungszeichen belegen das. Jederzeit ist es, wenn angebracht, möglich, das Wort  Information als propagandistischen Euphemismus für  Propaganda zu hören.

Tatsache ist, daß politische und behördliche Instanzen aus Gründen genereller, technischer und sozialer Entwicklungen wie nie zuvor unter dem Druck der Erwartung stehen, Informationen zu geben. Das Wort  Information besagt über seine propagandistische Komponente hinaus auch das, und es war zweifel-los als eine Kundgabe des ernsthaften und erfolgreich gebliebenen Willens gemeint, dem Anspruch dieses Namens entsprochen zu haben, wenn der Direktor eines gewissen Informationsamtes gelegentlich seinem Interviewer versicherte, er habe noch niemals in seinem Amte die ganze Unwahrheit gesagt.

Es drückt sich in dieser Formulierung die alte, auf Machiavelli zurückzuführende Wahrheit aus, daß im politischen Zusammenhang die Informationspraxis sich nach Zwecken bemißt, die von denen der Nachrichtenverbreitung selbst verschieden sind, so daß es zu einer Frage der Zweckmäßigkeit wird, ob man die Wahrheit sage, d. h. nicht verschweige, und auch die Wahrheit sage, d. h. nicht lüge. Auch in der politischen Öffentlichkeit haben Lügen häufig kurze Beine, und in England haben sie sogar den Sturz eines Ministers verursacht.

Im Unterschied dazu ist in der Sonder-Öffentlichkeit der Gelehrtenrepublik die Informationspraxis im allgemeinen nicht an Zwecken orientiert, die vom Informationszweck selbst verschieden sind. Die Information selbst ist, idealtypisch gedacht, der unmittelbare, primäre Zweck. Faktisch kann er freilich nur insoweit bestimmend sein, als erstens die Öffentlichkeit der professionellen Wissenschaftler in mindestens relativer Isolation von der politischen Öffentlichkeit besteht, und als zweitens die wissenschaftliche Information ihrem Inhalte nach nicht unmittelbar politische Folgen hat.

Um es noch einmal anders zu sagen: Einzig, weil in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, ideal-typisch gedacht, jegliche Information forschungspraktisch auf den Zweck der Gewinnung zusätzlicher Informationen zurückbezogen ist, bleibt die Informationspraxis selbst von zusätzlichen Rücksichten frei. In der politischen Öffentlichkeit dagegen endet der Handlungskreis nicht bei der Information, sondern stets bei angestrebten Anderungen der politischen Lage, und es ist unvermeidlich, daß die Praxis der Information sich an diesem Ziel ausrichtet. Daher wird dann zwangsläufig die Information dosiert; man schwächt sie ab oder verstärkt sie, man gibt sie je nachdem in großen oder kleinen Pressekonferenzen heraus und wählt vor allem den günstigsten Zeitpunkt.

Es ist evident, daß totale politische Herrschaft in der modernen Gesellschaft, die nachrichtentechnisch total integriert ist, das totale Nachrichtenmonopol voraussetzt. Und jede Notstandsgesetzgebung, die die besondere Effektivität der politischen Gewalt im Ausnahmezustand sichern soll, sieht entsprechend Ausnahmekompetenzen zur Einschränkung der Informationsfreiheit vor.

Man sieht übrigens leicht, daß die Handlungsmöglichkeit der jeweils politisch Schwächeren mit dem Grade der Vollständigkeit der politischen Informationen anwächst, die ihnen zugänglich ist. Daher kann man, wie KALLIKLES von der Gerechtigkeit, von der Informationsfreiheit sagen, daß sie politisch aus dem Interesse der Schwächeren existiere.

Die Sätze politischer Sprache oder besser: Rede haben also nicht erst als performative, sondern schon als behauptende Sätze Aktionscharakter. Für ihr Verständnis reicht es niemals aus, sie als Texte im Kontext von Texten zu lesen. Sie haben ihren Ort zugleich im Kontext von Handlungen. Sie haben stets ihren Bezug auf politische Lagen, in die durch ihre bloße Verlautbarung bereits eingegriffen wird, und nach solchen Wirkungen bemessen sie sich: Handlungsprädispositionen sollen stabilisiert, geändert oder zersetzt, Handlungen oder Unterlassungen bewirkt, Zustimmungsbereitschaften erzeugt werden.

Wichtige Mittel der Beschreibung solchen Handelns sprachlicher Art stehen seit alters zur Verfügung. Sie entstammen der Tradition klassischer Rhetorik von der Sophistik an. Und die Elemente dieser Rhetorik sind unverändert ein wichtiges Instrument zur Entschlüsselung politischer Texte. Dabei wäre es falsch gesehen, würde man das rhetorische Element der Rede als nachträgliche Applikation zu jenen sprachlichen Elementen verstehen, die keine andere Funktion als die der verbalen Abbildung von Sachverhalten zu erfüllen vermögen. Vielmehr liegen die Dinge umgekehrt so, daß der Abbau der Rhetorik, der Verzicht auf die normalerweise nur scheinbar redundanten rhetorischen Elemente einen Grenzfall darstellt.

Dieser Grenzfall kann nur eintreten, wenn spezielle Bedingungen erfüllt sind, wenn nämlich in Sonderbereichen wissenschaftlicher Aussage-Bildung mit der Abbildungs-Funktion der Aussagen ihre Mitteilungs-Funktion eo ipso [selbstverständlich - wp] erfüllt ist, was seinerseits nur möglich ist, wenn in der Sondergruppe der Wissenschaftler die sozial wirksam gewordene Unterstellung gilt, alle seien im Verhältnis zueinander reine sprachliche Apperzeption sozusagen von Kopf bis Fuß aufs Zuhören eingestellt.

Sofern also gilt, daß auch schon das bloße Mitteilen ein Bewirken ist, hat die rhetorische Kultur dieser Seite unseres Sprachverhaltens substantiellen Charakter. Der Vorwurf, die Rhetorik verschleiere die nackte Wahrheit, ist ein Vorwurf aus der Perspektive gewisser Leute, nämlich von Wissenschaftlern, deren Intimität mit der Wahrheit berufsbedingt ist, indem von ihnen in Permanenz die Erzeugung neuer Wahrheiten erwartet wird. Von diesem Sonderfall abgesehen, trifft es aber nicht zu, daß die Rhetorik verhülle, was doch unverhüllt bleiben müßte. Auch im unmetaphorischen Sinn des Wortes  Schleier ist dieser nicht selten eher ein Mittel der Schonung als der Verstellung.

Wahrheiten sind eben oft von der Art, daß man nur, wenn sie einem schonend beigebracht wurden, noch in der Lage ist, die ihnen angemessene Haltung bewahren oder gewinnen zu können. Aus der Perspektive dessen, den erfreuen mußte, was anderen schonend beigebracht werden sollte, gibt dafür VIKTOR KLEMPERER ein schönes Beispiel. Bei KLEMPERER, der als jüdischer Mann einer damals sogenannten arischen Frau das Dritte Reich überlebt und die politische Sprache dieses Reiches notiert hat, erscheint an einem Tage des Jahres 1941 der Freund, seit langem zum erstenmal zuversichtlich. "Es geht ihnen in Afrika miserabel", sagt er und zitiert zum Beweis den Wehrmachtsbericht In diesem ist von "unseren heldenhaft kämpfenden Truppen" die Rede.  Heldenhaft, so interpretiert der Freund, - das klingt wie ein Nachruf.

II.
Ein Arsenal von sprachlichen Mitteln, oder besser: ein Arsenal von Begriff en zur Analyse sprachlicher Mittel, die Wirkung der Rede zu beherrschen, besitzen wir also in der klassischen Rhetorik. Aber diese Rhetorik gibt selbstverständlich keine Auskunft über die Gründe, aus denen im Zusammenhang der modernen Gesellschaft Politik in Wachsendern Maße Handeln durch sprachliche Mittel geworden ist.

Das, was ich soeben ‘moderne Gesellschaft’ genannt habe, ist in dem uns hier allein interessierenden Aspekt ein System anwachsender mittelbarer Interdependenzen bei rückläufiger sozialer Relevanz der unmittelbaren Abhängigkeiten der Menschen voneinander, die dabei ihrerseits einen Zuwachs an Intimität erfahren.

Problem ist, wie eine so äußerst grob charakterisierte Gesellschaft politisch integriert werden kann, d. h. wie in einem solchen sozialen System ein hand-lungsfähiger politischer Wille sich bilden kann, der bei den Gliedern dieses Systems anerkannt ist und sich ihnen gegenüber als der Ihrige erfolgreich behaupten kann. Dieses Problem stellt sich deswegen, weil das sogenannte ‘Ganze’, in dessen Namen jeweils politisch gehandelt wird, bei den individuellen oder gruppenmäßigen Gliedern dieses Ganzen kaum ein Gegenstand praktisch vermittelter Erfahrung und insofern vertraute Realität sein kann.

Die moderne Gesellschaft bliebe politisch amorph, wenn es nicht gelänge, die unübersehbar komplizierten indirekten Beziehungsverhältnisse durch ein Medium zu überlagern, in welchem sich unmittelbar allen präsentiert, wer sie politisch sind, was sie wollen oder wollen sollen. Es sind nun die sogenannten  Ideologien diese Medien, die diese politische Integration der Gesellschaft und ihrer Gruppen leisten, so daß im Namen dieser Gruppen oder auch im Namen der Gesamtgesellschaft gehandelt werden kann, also ein relativer politischer Gesamtwille überhaupt existent wird. Dabei kommt es in unserem Zusammenhang nicht darauf an, in welchem Grade der Anspruch nicht weniger Ideologien zu Recht besteht, Theorien zu sein, deren Elemente Sätze sind, für die in einem wissenschaftlichen oder auch in einem sonstigen Sinne der Wahrheitsbeweis sich antreten läßt. Es ist ja nicht zweifelhaft, daß die Wirksamkeit ideologischer Integration von der Lieferung von Wahrheitsbeweisen nicht unmittelbar abhängt, dagegen möglicherweise wohl von der erfolgreich durchgehaltenen Prätention, daß diese Wahrheitsbeweise jederzeit gegeben werden könnten.

Das bedeutet: Die politische Integrationskraft von Ideologien läßt sich nicht verstehen, wenn man sie lediglich innerhalb jenes Begründungszusammenhanges versteht, in welchem sie Texte im Kontext von Texten sind. Die Integrationsleistung der Ideologien bezieht sich auf Handlungsprädispositionen; sie verfügen diese unter eindeutige Zwecke, sie bestätigen Vorurteile, sie bannen Zweifel, sie imponieren oder sie schüchtern ein; sie befreien von Ressentiments oder nähren sie; sie erfüllen mit Selbstgefühl, mit Gewißheit und Zuversicht. Eine Funktion von zunehmender Wichtigkeit, die in der modernen Gesellschaft erfüllt werden muß, ist auch die der politisch möglicherweise zunächst ungerichteten Meinungsbildung.

Die Sache ist die, daß wir in anwachsendem Maße mit Informationen aller Art überschüttet werden, die zu erfahrungsvermittelten, sozusagen aktiven Meinungen zusammenzufügen, unsere Möglichkeiten schlechterdings überschreitet. Wer von uns hätte, wenn er nicht gerade Spezialist ist, eine aktive, erfahrungsgesättigte oder wissenschaftlich begründbare Meinung über die Auswirkungen der EWG-Zollpolitik auf die deutsche Landwirtschaft oder über die wohnungsbaupolitischen Konsequenzen der Mietfreigabe oder zur Notstandsgesetzgebung oder zum Problem der Volksschullehrerbildung. Aber täglich werden wir mit publizistischen Äußerungen zu diesen Themen konfrontiert; wir stehen sozusagen unter einem Meinungszwang, ohne doch zu aktiven Meinungen fähig zu sein.
LITERATUR - Hermann Lübbe in Hans-Georg Gadamer (Hrsg), Das Problem Sprache, Achter Deutscher Kongress für Philosophie, München 1967