tb-1ra-2A. BolligerP. RéeH. MünsterbergJ. BahnsenS. WernerJ. Baumann    
 
PAUL NATORP
Grundlinien einer Theorie
der Willensbildung

[ 2 / 2 ]

"Als Korrelat der praktischen  Vernunft  bezeichnet Wahrheit die Sittlicheit der Person in so zentraler, folglich fundamentaler Weise wie keine andere, nämlich nach ihrem letzten Grund  im Bewußtsein.  Sittlichkeit ist zu allererst eine Bewußtseinssache, darum ist die Tugend des Bewußtseins die erste aller Tugenden."

"Schwerwiegende Urteile über öffentliche, d. h. in der Folgen weittragende Verhältnisse soll man gewiß nicht ohne die sorgfältigste Prüfung, zumal öffentlich, aussprechen. Ist man aber seiner Sache gewiß, glaubt man auch die Folgen, die es haben kann, als im Ganzen heilsame zu erkennen, handelt es sich zudem um Fragen von einschneidender, möglicherweise über Sein und Nichtsein entscheidender Bedeutung für das Gemeinwesen, so hat man nicht bloß das Recht, sondern die dringendste Pflicht, seine Überzeugung mit allem Nachdruck auszusprechen auf jede eigene oder fremde bloß persönliche Gefahr."

"Von dem, was als Pflicht der Menschlichkeit gegen Jedermann sonst im Namen der Liebe gefordert wurde, wird sachlich nicht das Geringste abgelassen, wenn man vorzieht es statt  Liebe Gerechtigkeit  zu nennen."


Zweites Stück

§ 7.
Das Sittliche in sozialer
und individueller Bedeutung

Der  Objektivitätscharakter  des Sittlichen, wie er zu Anfang aufgestellt wurde, hat sich durchweg bestätigt. Es zeigte sich, daß es eine Welt des Willens gibt, von gleich objektiver Begründung wie die Welt der Erfahrung, von gleicher Ausdehnung mit ihr, überhaupt nicht außer und neben sondern mitten in ihr. Erfahrung, alle Erfahrung, wirkliche und mögliche, liefert den Stoff, dem der Wille seine eigentümliche Form aufdrückt und damit das Objekt der Erfahrung gleichsam umprägt zum Willensobjekt. Sinn und Grund dieser Umprägung wurde (in § 3) erörtert.

Ist nun das Sittliche in diesem Sinn ein Objektives, so ist es damit zugleich  überindividuell.  Das Gute, schlechthin und ohne Einschränkung verstanden, kann nicht Aufgabe für das einzelne empirische Subjekt sein. Selbst für eine noch so weit verstandene empirische Gemeinschaft, wäre es auch die Menschheit, ist die Aufgabe zu groß, denn sie ist unendlich. Sie besteht allerdings für die Individuen, aber, sofern als unteilbares Ganzes gedacht, nur für alle insgesamt; sofern spezifiziert für die Einzelnen, nur gemäß dem Anteil, der an der gemeinschaftlichen Aufgabe jedem in seiner Besonderheit zufällt. Was  in concreto  das Sittliche für den Einzelnen ist, hängt davon ab, was es für alle, was für die Person überhaupt, davon, was es ansich, sachlich, objektiv ist. Das "Ich soll" hat, wenn nach dem Inhalt des Sollens die Frage ist, zur Grundlage das "Es soll", das Gute der Person das Gute der Sache, nicht umgekehrt.

Die Behauptung, Sittlichkeit sei etwas rein Individuelles (1), hat den berechtigten Sinn, daß das Gute vom Individuum frei gewollt sein muß. Dies haben wir von Anfang an zugrunde gelegt und auch den Grund dieser Freiheit erklärt. Daß ich oder mein Tun gut ist, hängt rein von mir, von der Beschaffenheit meines Wollens ab und ist ganz davon unabhängig, ob der Andere es dafür erkennt oder nicht; dagegen, ob mein Tun dem Andern lieb ist, hängt von ihm, ob es recht ist im Sinne eines positiven Gesetzes, vom Gesetzgeber und Richter ab, der darüber vielleicht morgen anders befindet als heute, hier anders als jenseits der Grenzpfähle. Der sittliche Wille unterwirft sich nur "dem Gesetz, das er sich selbst gibt." (2) Aber hier fragt es sich nach dem Inhalt des Gesetzes, nicht nach dem Gesetzgeber. Die Gesetzesform selbst aber gibt dem Inhalt einen objektiven und damit überindividuellen Charakter. Der Glaube an eine "Sache" wurde oben (§ 5) als Merkmal sogar des (echten) Willens überhaupt, nicht bloß des sittlichen erkannt. Und mag einer den Gegenstand seines besonderen, wenn nur in sich festen Wollens mit Grund "seine" Sache nennen, so ist doch der Wille solange nicht sittlich, wie man bloß seine Sache gegen die des Andern stellt, sondern erst, wenn erkannt ist: meine Sache darf keine andere sein als die auch jedes Andern Sache sein sollte und der Wahrheit nach ist.

Daraus folgt, was ohnehin das Ergebnis der ganzen bisherigen Untersuchung war: daß das Sittliche von Haus aus  Gemeinschaftssache  und in keiner Weise Privatsache ist. Das sagt noch etwas mehr als bloß, daß es für alle ein und dasselbe ist; es liegt auch darin, daß es als gemeinschaftliche Sache bewußt und im Hinblick auf die Gemeinschaft gewollt sein muß. Sittliche Gemeinschaft, Willensgemeinschaft ist nur dadurch möglich, damit allein aber auch schon gegeben, daß das Sittliche erstens ein und dasselbe für alle, zweitens als ein und dasselbe bewußt und mit diesem Bewußtsein gewollt ist. Dieses Bewußtsein ist aber vom sittlichen Bewußtsein überhaupt untrennbar; also ist sittliches Bewußtsein wesentlich Gemeinschaftsbewußtsein.

Nach all dem läge es nun nahe, das konkret Sittliche zuerst in seiner sozialen Gestalt aufzusuchen, um dann auf das Individuum bloß die Anwendung zu machen. Dieser Weg ist auch allein sachentsprechend, wenn man darauf ausgeht, die sittlichen Aufgaben im Besonderen für den Einzelnen (oder eine einzelne Klasse) zu bestimmen: was aber schon jenseits unserer Aufgabe liegt.

Von einem anderen Gesichtspunkt zeigt es sich dagegen richtiger, vom Individuum auszugehen. Das  Verhältnis des konkret Sittlichen,  das ansich zwar Gemeinschaftssache ist,  zur Individualität überhaupt  gehört notwendig zu unserer Aufgabe. Dieses Verhältnis läßt eine genauere, in gewisser Weise erschöpfende Bestimmung aufgrund des bis dahin Gewonnenen zu und verlangt sie. Und zwar ist damit nach der deduktiven Anlage dieser Untersuchung zu beginnen, weil diese Betrachtung im Vergleich zur Ableitung des Sittlichen in seiner sozialen Gestalt eine  höhere Stufe der Abstraktion  darstellt. Individualität überhaupt ist früher, allgemeiner als die Gemeinschaft der Individuen; während allerdings die besondere sittliche Aufgabe für die Einzelnen konkreter als die sittliche Aufgabe für die Gemeinschaft und von dieser erst abzuleiten ist.

Zugleich gewinnen wir auf diesem Weg etwas Wesentliches für die Ableitung des Sittlichen in seiner sozialen Gestalt. PLATON hat erkannt, daß die Sittlichkeit oder Tugend des Gemeinschaftslebens ein vergrößertes Abbild der Sittlichkeit oder Tugend des Individuums sein muß, der gelungene Nachweis der einen für die Ableitung der anderen also den sicheren Leitfaden abgibt. Auch ist es ein bloßer Schein, daß er die Tugend des Individuums von der der Gemeinschaft ableitet. Den Menschen als Staat im Kleinen behandeln kann er doch nur, nachdem er zuvor den Staat als Menschen im Großen dargestellt hat, nämlich bei der Aufstellung der Grundfunktionen des Gemeinschaftslebens die entsprechenden Begriffe seiner Individualpsychologie zugrunde gelegt hat. Wie sollten sie auch, sagt er selbst (im "Staat", Seite 435), in die Gemeinschaft anders hineingekommen sein als durch die Individuen.

Auch darin können wir uns dem Voranschreiten PLATONs nur anschließen, daß wir die besonderen Gestaltungen des Sittlichen oder die  Tugenden  des Individual- wie des Gemeinschaftslebens  systematisch, aus einem Prinzip  abzuleiten versuchen, nicht sie nach irgendeiner äußeren, dem Kern der Sache fremden Rücksicht bloß aufzureihen uns begnügen können.

Von PLATONs Psychologie der "Seelenteile" können wir dabei allerdings keinen Gebrauch machen. Unsere Ableitung wird überhaupt keine eigentlich psychologische sein, so wenig wie die Unterscheidung der drei Aktivitätsstufen, auf die sie sich stützt. Schon PLATONs eigene tiefgründigen Erörterungen über das Verhältnis der vielen Tugenden zu der einen, in sich unteilbaren Tugend führen über die Vorstellung der "Seelenteile" weit hinaus, zu der einer untrennbaren Einheit bloß begrifflich auseinanderzuhaltender Seiten oder Richtungen der Aktivität, deren normales, d. h. nach dem sittlichen Grundgesetz bestimmtes Verhältnis zueinander die seelische Tüchtigkeit oder Tugend darstellt. Diese muß sich danach in ebensoviele, auch voneinander sachlich untrennbare Seiten oder Richtungen in bloßer Abstraktion auseinanderlegen lassen.

Selbst in der heutigen Psychologie ist die Vorstellung getrennter Tätigkeiten oder Funktionen nicht so gründlich überwunden, wie sie es sein sollte. Aber es scheint doch allmählich die Anschauung durchzudringen, daß es gerade in der Psychologie auf die Einsicht in die ursprüngliche Verbindung oder vielmehr Einheit (Individuität) der  in abstracto  scheidbaren Funktionen ankommt; daß dem seelischen Leben die Komplexion wesentlich, die Zerlegung in Einzelakte zum Verständnis der Komplexion zwar unerläßlich ist, aber ein höheres Recht als das einer Abstraktion nicht beanspruchen kann. Für die Objektivierung des seelischen Inhalts ist die Scheidung allerdings grundlegend, denn alle Objektivierung beruth auf Abstraktion; ist es hingegen die Aufgabe, den seelischen Inhalt möglichst in seiner subjektiven Unmittelbarkeit - das heißt aber: psychologisch - zu erfassen, so muß die Scheidung in Gedanken wieder aufgehoben, die Verbindung allseitig wieder hergestellt werden. (3)

Wenn trotz des tiefgehenden Unterschieds der psychologischen Grundauffassung unser System der Tugenden dem platonischen ziemlich nahe kommt, so liegt es daran, daß seine Ableitung der Tugenden von der Psychologie weniger abhängt, als es den Anschein hat: so war es möglich, daß er, von richtigen ethischen Anschauungen schon bei seinen psychologischen Aufstellungen geleitet, zu ungefähr richtigen Resultaten gelangte. Die Unterscheidung der Aktivitätsstufen war überhaupt kaum zu verfehlen; in ihr findet das von jeher angenommene Zusammenwirken eines "sinnlichen" (stofflichen) und eines "vernünftigen" (formalen) Faktors auf praktischem analog wie auf theoretischem Gebiet seinen berichtigten Ausdruck; zugleich ergibt sich allerdings, daß das Verhältnis zwischen beiden enger als bei PLATON (auch KANT), nicht nur gegensätzlich, sondern zugleich und vornehmlich positiv zu fassen ist. Aber auch wenn PLATON zwischen diese beiden äußersten Enden noch ein Mittelglied einschiebt, ist er nicht ganz auf falscher Fährte, obgleich das Vermittelnde durch seinen  thymos [Bedürfnis nach Anerkennung - wp] sicher unzutreffend bestimmt ist. Uns ergab sich als Mittleres zwischen "Trieb" und "Vernunft" der "Wille" schlechthin oder die Entschließung als solche. Diese erklärt die platonische Tugend der Tapferkeit oder Mannhaftigkeit (als sittliche  Entschlossenheit)  ersichtlich besser als sein  thymos,  von dem er sie anderswo von einem richtigen Gefühl wieder scheidet. Am wenigsten richtig ist die Gerechtigkeit, als eine der Kardinaltugenden, durch das normale Verhältnis der drei psychischen Grundfunktionen definiert. So würde sie nur ein anderer Name für den Inbegriff der Tugenden, für  die  Tugend in ihrer Integrität sein. Die Gerechtigkeit ist jedoch darum aus der Reihe der individuellen Tugenden nicht etwa zu streichen; sie bezeichnet einfach die der Gemeinschaft zugekehrte Seite der individuellen Tugend: den Sozialcharakter des Sittlichen, sofern er doch einen Grund in der Individualität haben muß. Sie macht zugleich den Übergang zur sozialen Tugend im eigentlichen Sinn, der Tugend des Gemeinschaftslebens. Diese hatte PLATON beim Namen "Gerechtigkeit" vorzugsweise im Sinn, und der Doppelsinn der Gerechtigkeit als einerseits individualer, andererseits sozialer Tugend war es offenbar, der ihn auf das Wechselverhältnis der individualen und sozialen Tugenden überhaupt geführt hat. So lassen sich auch hier, bei aller Unzulänglichkeit der einzelnen Bestimmungen, richtige Motive nirgends verkennen.


§ 8.
System der Kardinaltugenden:
1. Wahrheit

Es bedarf keiner weit hergeholten Begründung dafür, daß wir an die Spitze der Tugenden die Tugend der  Wahrheit  stellen. Sie ist die erste nicht bloß dem Rang nach, sondern als Voraussetzung aller übrigen. Als Korrelat der praktischen  Vernunft  bezeichnet sie die Sittlicheit der Person in so zentraler, folglich fundamentaler Weise wie keine andere, nämlich nach ihrem letzten Grund  im Bewußtsein.  Sittlichkeit ist zu allererst eine Bewußtseinssache, darum ist die Tugend des Bewußtseins die erste aller Tugenden.

Man mag andere Namen für sie suchen, wie  Gesinnung, Gewissen aber man empfindet sofort, daß diese nicht in gleich unzweideutiger Bestimmtheit das, worauf es ankommt, bezeichnen. "Gesinnung" besagt leicht etwas Schwächliches, das bloße persönliche Gutmeinen, das mit viel Irrtum und Bequemlichkeit des Irrens verträglich scheint. Und dann kommt darin gar nicht zum Ausdruck, welche praktische Sinnesrichtung, mit Ausschluß jeder andern, die rechte ist. Während in der Forderung: sei wahr! eine unerbittliche Grenzscheide des sittlich Rechten und Unrechten gesetzt ist. Von diesem Bedenken ist der Name "Gewissen" zwar frei; auch er bringt die Unnachgiebigkeit der sittlichen Forderung, die Notwendigkeit der unablässigen Selbstprüfung: bin ich auch auf dem rechten Weg? hinreichend zum Ausdruck. Und wenn dabei das Moment des Wissens, des Bewußtseins um das, was an tut, der  conscientia sui& [Selbstbewußtsein - wp] nur recht betont wird, so scheint dieser Name fast noch geeigneter als der der Wahrheit, die Tugend des reinen Bewußtseins zu bezeichnen. Indessen nach seinem herkömmlichen Gebrauch bedeutet das Wort zwar dies allenfalls auch, aber daneben noch manch Anderes. Es hat einen Beigeschmack von Heteronomie [Ungleichheit - wp], während bei dieser, wenn überhaupt bei irgendeiner Tugend, die Autonomie des Sittlichen auf das Strengste gewahrt bleiben muß. "Gewissen" besagt unleugbar etwas wie Autorität, wenn auch innere und nicht äußere. Diese kann auf knechtischer Furch, sie kann auf Liebe (des Kindes gegen die Eltern, oder in einer religiösen Wendung des Menschen gegen den göttlichen Vater) beruhen, in jedem Fall hat sie ihre Wurzel im Gefühl; Gefühl aber ist nicht die höchste Form des Bewußtseins, nicht reines Bewußtsein. In pädagogischer Hinsicht ist das Gewissen der Liebe sicher von unersetzlichem Wert und ist auch die niedere Stufe der Furcht nicht überhaupt abzulehnen. Die Furcht soll überwunden werden, aber sie darf auch für den Vollendetsten, solange er ein fehlbarer Mensch ist, nie ganz überwunden sein. Gerade die höchste Erhebung des sittlichen Gedankens zur Idee unendlicher Vollkommenheit kann das Moment der Furcht wegen unserer endlichen Schwachheit, kann das Gefühl der Demut niemals abstreifen. Es ist ein Vorzug, daß das Wort "Gewissen" dieses Moment deutlich mitbezeichnet. Aber doch bleibt bestehen, daß das Gewissen, seines überwiegenden Gefühlscharakters halber, sich nicht eignet, die Tugend des reinen Bewußtseins, die doch erst die höchste Tugend ist, auszudrücken. Sollte das Wort, mit dem Sprachgebrauch nicht ganz im Einklang, die ruhige Selbstgewißheit der sittlichen Einsicht bedeuten, so bedürfte es zumindest eines unterscheidenden Zusatzes, und dann ist ein Ausdruck wie "Wahrheit" doch nicht zu umgehen.

Den Alten hieß die fragliche Tugend  Besinnung (phronesis),  Weisheit (sophia),  Erkenntnis (episteme). Doch nicht selten wechselt damit der Ausdruck "Wahrheit", der besonders bei PLATON unter den zentralen Begriffen seiner Ethik bedeutsam hervortritt. Der sokratische Satz (4), daß für den Menschen alles Andere von der "Seele", d. h. vom Bewußtsein abhängt, alles Seelische aber von Besinnung oder praktischer Einsicht (phronesis), sofern es zum Guten anschlagen soll, ist zum Kernsatz der griechischen Ethik geworden und drückt recht eigentlich das aus, was wir ihr verdanken. Das war es, was an SOKRATES so imponierte: die sichere Herrschaft des Bewußtseins, die nach nichts fragt als nach der Wahrheit des Tuns, nach der Einstimmigkeit des Wollens mit sich selbst und seinem eigenen inneren  Gesetz.  Was PLATON dieser sokratischen Grundbestimmung der Sittlicheit als "Erkenntnis" hinzugefügt hat, ist wesentlich nur die vollendet deutliche Entwicklung des Begriffs des praktischen Gesetzes zur  "Idee" des Unbedingten,  nämlich des unbedingt Gesetzlichen (5). Auch dies übrigen war bereits in SOKRATES angelegt, da er die Tugend zwar dem Wissen gleichsetzte, aber zugleich behauptete, dieses Wissen stehe nicht dem Menschen zu, dessen Weisheit vielmehr darauf beschränkt ist, zu wissen, daß er nicht weiß.

Der Begriff der Tugend ist hiermit für den gegenwärtigen Zweck ausreichend bestimmt. Um ihren Gehalt noch konkreter zu erfassen, gehen wir vom zuletzt Berührten aus. Der  kritische  Sinn des Bewußtseins unserer  Grenze  ist von der Tugend der sittlichen Wahrheit allerdings untrennbar. Gegenüber der unendlichen Forderung des Sittengesetzes kann das Selbstbewußtsein unseres Wollens und Tuns nicht anders als demütigend sein. Und das umso mehr, je mehr es das Individuum ganz mit sich allein zu tun hat.

Doch verrät sich schon hier die Schranke einer einseitig individualistischen Auffassung des Sittlichen. Die sittliche Aufgabe in ihrer Unendlichkeit kann nicht mit Sinn als Aufgabe für das isolierte Individuum gedacht werden. So ratsam es ist, mit der sittlichen Besserung bei sich anzufangen, so unfruchtbar, so hinderlich sogar für den eigenen sittlichen Fortschritt ist die unablässige peinliche Beschäftigung mit sich und seinen individuellen Fehlern, die eine starke Erhebung der Seele, ein kraftvolles Aufraffen zur Tat schließlich kaum aufkommen läßt.

Desto stärker muß der echte, positive Sinn der Individualität des Sittlichen gerade hier betont werden: daß es gilt in selbsteigener Einsicht das Rechte für recht, das Verkehrte als verkehrt zu erkennen, unbeirrt nicht bloß durch den Zufall der eigenen individuellen Gefühlsneigung oder Denkgewöhnung, sondern überhaupt durch irgendeine empirische Zufälligkeit, die unser praktisches Urteil in einer bestimmten Richtung festzulegen, ihm den freien Aufblick zur ewigen Idee zu verlegen droht; von Sitte und äußerem Gesetz, von überlieferten Normen jeder Art, auch vom Druck der persönlichen Autorität überlegender Individuen. Das Bewußtsein demütigt zwar, aber es hat zugleich die Kraft uns auch wieder zu erheben: daß nur wir selbst uns dazu verhelfen können, das Gute zu erkennen und zu wollen; daß kein Anderer etwas mehr dazu tun kann, als daß er die in uns schlummernde Kraft eines selbsteigenen Erkennens und Wollens aufruft und in Tätigkeit setzt. Wie das geschieht, wie die Gemeinschaft erzieht, und wie sich doch eben darin die Individualität des Sittlichen in ihrer ganzen Tiefe offenbart, ist früher (§ 6) allgemein gezeigt worden und hier auf die im erläuterten Sinn individualste aller Tugenden, die Tugend der Wahrheit, nur anzuwenden.

Die wichtigste Folge, die sich hieraus ergibt, ist: daß die  innere  Wahrhaftigkeit, die Wahrheit "gegen sich selbst", die Aufrichtigkeit des "Herzens" der äußeren Aufrichtigkeit vorgeht. Das ist wohl die unbedingteste, unanfechtbarste Tugend, wie ihr Gegenteil, die Lüge gegen sich selbst, die unverzeihlichste Schlechtigkeit. Wer nicht zuallererst gegen sich lauter und aufrichtig ist, der ist es auch schwerlich gegen Andere. Zwar lernt es sich leichter im alltäglichen Verkehr, gegen Andere eine gewisse Aufrichtigkeit zu beobachten, weil sich eine gröbere Unwahrhaftigkeit gegen die Umgebung weit schneller und empfindlicher rächt als selbst die ärgste innere Unwahrheit, die sich wie eine schleichende Krankheit lange verstecken und scheinbar folgenlos bleiben kann. Aber auch die äußere Wahrhaftigkeit wird, auf ernste Proben gestellt, unrettbar scheitern, wenn sie nicht auf dem sicheren Grund ihrer Lauterkeit ruht.

Hieraus wird besonders klar, daß der  Grund  der Tugend der Wahrhaftigkeit unmöglich erst in den äußeren, gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Mensch und Mensch gesucht werden kann. Die Gesellschaft hat so gut wie kein Interesse an der inneren Wahrhaftigkeit, sie hat selbst nur ein begrenztes an der äußeren. Sie verträgt erfahrungsgemäß eine starke Dosis an Lug und Trug, ohne daran zugrunde zu gehen. Mehr äußere Wahrhaftigkeit würde zwar dazu mithelfen, die Menschen auch zu innerer Aufrichtigkeit zu erziehen, während, wo es mit jener schon schwach bestellt ist, wo gar die ganze äußere Lebensordnung, wo Gesetze und Rechte auf Lüge beruhen, die innere Wahrheit, die weit mehr fordert, vollends nicht gedeihen kann. Aber daraus folgt nichts weniger, als daß die innere Wahrheit nur ein Reflex der äußeren ist; daß man sich nur deshalb schämt sich selber zu belügen, weil man unter dem psychologischen Zwang stände, bei allem, auch dem Innerlichsten, das man erlebt, den äußeren Beurteiler hinzuzudenken, vor dem man sich, wenn er wüßte, was in uns vorgeht, verkriechen müßte. Solche innere Aufrichtigkeit wäre selbst eine so offenbare Lüge, daß schon eine starke theoretische Verirrtheit dazu gehört, auf die gesellschaftliche Begründung sogar dieser individuellsten Tugend zu verfallen. Und ebenso versagt hier jeder Versuch das Sittliche rein aus dem Gebiet der Lust und Unlust herzuleiten.

Andererseits erstreckt sich das Gebiet dieser Tugend grenzenlos weit. Es gibt kein menschliches Tun, keine dem Einfluß des Willens unterliegende menschliche Regung überhaupt, auf die nicht die Forderung der Wahrheit Bezug hätte. Sie besagt im Grunde nichts Anderes als daß alles Menschliche am sittlichen Maß, und in jeder praktischen Rücksicht ausschließend so, zu bemessen ist; daß die Beleuchtung dieser "Sonne im überhimmlischen Reich", der "Idee" der Wahrheit, sich Licht und Schatten verteilend auf das All der praktischen Welt verbreiten muß.

Beweist sich die Tugend der Wahrheit zuerst in der kritischen Reflexion und Willenseinwirkung auf das eigene innere Leben, in der sittlichen Selbstbesinnung und Selbstbestimmung, so beweist sie sich nicht weniger in jeder auf das Objekt gerichteten Handlung, es sei bloße Erkenntnis oder ausübende Tat. Im Selbstbewußtsein wurzelt sie immer; aber auf das Selbst bezieht sich eben alles wollende Bewußtsein notwendig zurück. Auch die Erkenntnis ist eine Willenstat, untersteht also dem obersten Gesetz des Willens, dem Gesetz der Wahrheit. Und es ist ja auch kein Zweifel, daß im unbeirrten Wahrheitsstreben des Forschers, des seiner Denkkraft mächtigen Menschen überhaupt, in der Energie der Überwindung des Sinnentrugs, des Vorurteils, des versteckten Einflusses grober und feiner Interessen auf das Urteil, deren es in aller erkennenden Tätigkeit bedarf, sich eine hohe Sittlichkeit betätigen kann. Aber auch in der nach außen gerichteten Tat, in jeder, wie man recht sagt, "redlichen" Arbeit kann sich der Sinn der Wahrheit bekunden, als der Sinn, das Werk oder die Sache, an der oder für die man arbeitet, ihrem Gesetz gemäß zu gestalten, auch trotz jedes sich vordrängenden Anspruchs der eigenen Person oder falscher, nicht aus der Sache fließender persönlicher Rücksicht überhaupt. Ich möchte es die Tugend der Sachlichkeit nennen, die offenbar einer der kräftigsten Äste am Stamm unserer ersten Grundtugend, der Wahrheit ist. Sie kommt zur Anwendung in jedem menschlichen Werk, mag es sich um etwas Kleines oder um Großes, um eine Arbeit an Dingen oder an Menschen, um technische oder Handelsunternehmungen, Kriegspläne oder Gesetzentwürfe, oder um Werke der Dichtung oder Kunst. Auch diese gehören hierher; zwar unterliegen Schönheit und Genie als solche nicht sittlichen Begriffen, wohl aber die Arbeit des Künstlers, die Technik. Übrigens sind die größten Genies fast immer auch die redlichsten Arbeiter in ihrer Kunst gewesen.

So weit dehnt sich das Reich der Tugend aus, selbst wenn man von den Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Mensch als zur sozialen Tugend gehörig, absehen wollte. Für diese verdoppelt sich die Verantwortlichkeit, die das Gebot der Wahrheit auferlegt; denn jede Verletzung beleidigt zweimal den heiligen Geist der Wahrheit, in der Person des Handelnden und dessen, auf den sich die Handlung erstreckt. Der Grund dieser Tugend wird dadurch zwar nicht berührt; die Unsittlichkeit der Lüge, das Verdienst der Wahrhaftigkeit wird nicht größer dadurch, daß beides sich in den Folgen auf den Andern miterstreckt, nicht geringer dadurch, daß sie sich in den Tiefen des eigenen Bewußtseins verbirgt; doch kommt das neue Unrecht hinzu: die Schädigung der sittlichen Gemeinschaft, die mit Unwahrheit durchaus nicht bestehen kann. Genauer kommt dabei zweierlei in Frage: erstens die Aufrichtigkeit, die direkt die Beziehung zum Andern betrifft: Aufrichtigkeit in Freundschaft oder Liebe gegen die Nächststehenden, Menschlichkeit gegen Jedermann, sowie in öffentlichen oder gemeinmenschlichen Beziehungen; zweitens die Aufrichtigkeit jedweder Tätigkeit, sofern sie innerhalb solcher Wechselbeziehungen stattfindet und den Andern irgendwie in Mitleidenschaft zieht. Im ersteren Fall wird ganz direkt das Interesse der Gemeinschaft betroffen, er gehört daher eigentlich zu unserer vierten Tugen; im andern steht obenan die Forderung der Wahrheit selbst und kommt die Pflicht der Gemeinschaft nur außerdem auch ins Spiel.

Daß der schließliche Grund dieser Tugend immer im Selbstbewußtsein des Individuums, nicht ansich in äußeren, gesellschaftlichen Beziehungen zu suchen ist, bestätigt sich auch darin, daß innere Wahrhaftigkeit eine unbedingte, ausnahmslose Pflicht ist, während es - auch wenn man von der kasuistischen Frage der Erlaubtheit der Lüge ganz absieht - jedenfalls Rücksichten genug gibt, welche die Pflicht, die erkannte Wahrheit auf gegen Andere zu äußern, mannigfach einschränken. Gewiß ist Wahrheit das Heiligste, aber vielleicht begründet es eben ihre Heiligkeit, daß nicht jeder Mund und jedes Ohr rein genug ist sie auszusprechen und zu vernehmen, auch nicht jeder Ort und jede Stunde sich gleich gut für sie schicken will. Eine unbedingte und allgemeine Verpflichtung, sein Herz auf der Zunge zu tragen, besteht sicherlich nicht.

Um von den manchen hierher gehörenden Fragen zumindest eine auch im besonderen zu behandeln: wie weit reicht wohl die Verpflichtung an öffentlichen Zuständen öffentlich Kritik zu üben? Wer einen schweren Tadel gegen Zustände, die den Schutz der öffentlichen Mächte und Autoritäten genießen, unter eigener Gefahr wagt, hat im allgemeinen das Präjudiz [Vorurteil - wp] für sich, rein der Wahrheit zu dienen, zumindest einer ernsten, wohlgeprüften Überzeugung Ausdruck zu geben. Aber leider hat die Eitelkeit des Besserwissens, die kleinliche Freude eine Rolle zu spielen, ja die Lust am Streit daran oft so viel und mehr Anteil als der lautere Wahrheitssinn und die ernste Sorge um das gemeine Beste. Schwerwiegende Urteile über öffentliche, d. h. in der Folgen weittragende Verhältnisse soll man gewiß nicht ohne die sorgfältigste Prüfung, zumal öffentlich, aussprechen. Ist man aber seiner Sache gewiß, glaubt man auch die Folgen, die es haben kann, als im Ganzen heilsame zu erkennen, handelt es sich zudem um Fragen von einschneidender, möglicherweise über Sein und Nichtsein entscheidender Bedeutung für das Gemeinwesen, so hat man nicht bloß das Recht, sondern die dringendste Pflicht, seine Überzeugung mit allem Nachdruck auszusprechen auf jede eigene oder fremde bloß persönliche Gefahr. Sogar eine Gefahr fürs Vaterland selbst dürfte in einem solchen Fall nicht in Erwägung kommen. Soll uns das Vaterland "über alles in der Welt" gelten, so heißt das sicher nicht: auch über die Wahrheit; als ob ein Vaterland ohne Wahrheit bestehen könnte. Dem Vaterland gerade schulden wir über alles und vor allem Wahrheit.

Viel weitergehenden Einschränkungen unterliegt im persönlichen Verkehr die Verpflichtung, die Wahrheit nicht bloß zu denken, sondern auch zu sagen. Als allgemeines Gesetz läßt sich aufstellen: daß überall da, wo eine feste innere Gemeinschaft besteht und bestehen soll, nicht nur die gegenseitige Wahrhaftigkeit, sondern eine offene Aussprache Pflicht ist. Wer den Andern mit Unwahrheit behandelt, gesteht dadurch, daß er keine Gemeinschaft mit ihm haben will; aber auch, seine Herzensmeinung über Dinge, die den Andern gleichermaßen angehen, zurückzuhalten, bedeutet zumindest einen Ausschluß aus der innersten Gemeinschaft. Doch man ist ja nicht verpflichtet mit Jedem die innerste Gemeinschaft zu suchen; Pflicht der Menschlichkeit ist nur, sie nicht von Grund auf unmöglich zu machen; das geschieht durch Lüge, aber im allgemeinen nicht durch Zurückhaltung. -

Überblickt man so das weite Gebiet dieser Tugend, so kann es fast scheinen, als ob in ihr schon das Ganze der Sittlichkeit enthalten ist. In gewissem Sinn ist auch so und muß so sein nach dem, was über das allgemeine Verhältnis der sämtlichen Grundtugenden festgestellt wurde: jede von ihnen muß sich auf das Ganze des menschlichen Willensbereiches erstrecken, da sie sich nicht sowohl durch das Gebiet des Handelns, das sie regieren, als durch den Anteil unterscheiden sollen, der jedem der Grundbestandteile des Wollens an der Sittlichkeit überhaupt zufällt. Der beherrschende Faktor ist aber die Vernunft; daher versteht sich, daß man die Tugend der Vernunft, Besinnung oder Wahrheit, nicht etwa Tapferkeit oder Mäßigung als einzige, alle andern in sich begreifende Tugen hat aufstellen können, wie von SOKRATES und einigen seiner Schüler bekannt ist. Daß indessen die bloße Einsicht doch nicht das Ganze der Sittlichkeit ausmacht, wird klar, sobald man sich besinnt, daß zum Tun des Guten nächst der Einsicht mindestens noch eins: die Tatkraft gehört. Auf sie bezieht sich unsere zweite Tugend.


§ 9.
System der Kardinaltugenden:
2. Sittliche Stärke

Man wird es nicht für Pedanterie halten, wenn wir auch diese zweite Tugend zunächst um ihren Namen befragen. Das griechische  anthreia,  eigentlich Mannhaftigkeit, bezeichnet das, was wir suchen, in vieler Hinsicht zu eng; es beleidigt schon, gleich dem römischen  virtus,  das Geschlecht, das sich so oft als das stärkere erweist. Nur noch enger ist die gewöhnliche Übersetzung "Tapferkeit"; als ob es sich nur oder hauptsächlich um den Streit der Willen handeln würde, oder als ob die Behauptung im Streit allemal sittlich wäre.

Doch ist die leitende Meinung richtig, wenn man sie nur richtig versteht. "Sei ein Mann", das will einfach sagen: "Sei stark". Und zwar dem Willen wird Stärke zugemutet, und das in einem sittlichen Interesse. Wir werden also die fragliche Tugend richtig benennen als  sittliche Stärke  oder die Entschlossenheit, Tatkraft, Energie der Sittlichkeit. Sie bildet das genaue Gegenstück der ersten Tugend, der sittlichen Wahrheit oder Wahrheit der Sittlichkeit. Bezieht diese sich unmittelbar auf den letzten Quell der persönlichen Tugend  im Bewußtsein:  die sittliche Einsicht, so betrifft jene die Ausprägung der sittlichen Einsicht zur sittlichen  Tat oder den sittlichen Willen, sofern er nicht im bloßen Bewußtsein verbleibt, sondern sich am gegebenen Stoff gestaltungskräftig erweisen soll. Insofern der Stoff dem Willen einen Widerstand entgegensetzt, der erst überwunden sein will, kommt das Moment der Gegensätzlichkeit, des Kampfes, das im Begriff "Tapferkeit" vorwaltet, zu seinem Recht, und ist auch dieser Name unverwerflich, nämlich im Sinne einer Metapher. Man spricht doch von tapferer Arbeit, Tapferkeit im Ertragen von Leid und Widerwärtigkeit, ja tapferer Selbstüberwindung. Der Klarheit dienlicher ist es freilich ohne Metapher zu sprechen.

Worauf nun die Tatkraft des Willens überhaupt ruht, wie sie sich auf die vorhandenen Triebe einerseits, auf das Einheitsgesetz der Vernunft andererseits bezieht und beide miteinander in Verbindung setzt, wird hier überall vorausgesetzt. Eines Wortes bedarf aber noch der Unterschied der sittlichen Energie von der Willensenergie überhaupt. Wie die Einsicht, kann auch die Tatkraft ebensowohl dem Schlechten dienen wie dem Guten, beide sind ansich indifferent, ohne eine Tendenz in guter oder schlechter Richtung. Aber das gilt nur von  der  Einsicht, die bloß zum gegebenen Zweck die tauglichen Mittel findet. Handelt es sich dagegen um die Zwecksetzung selbst, so kommt man, wenn der gesetzte Zweck nicht immer wieder nur Mittel zu einem ferneren Zweck sein soll (und so  in infinitum),  notwendig auf den unbedingten Endzweck des Sittlichen. So verhält es sich auch mit der Tatkraft des Willens: sofern sie bloß für einen beliebigen schon vorausgesetzten Zweck die bereit liegenden Kräfte des Willens ins Spiel setzt, kann sie ebensowohl böse wie gut sein: als die eigentümliche Kraft hingegen, die auf  ein  unverrückbares Ziel den Willen konzentriert und so seine ganze Energie zur Einheit zusammennimmt, tendiert sie notwendig zum Sittlichen.

Dadurch bestimmt sich der Begriff der sittlichen Tapferkeit: allein der  unbedingte  Einsatz aller Kräfte für das  unbedingt  Gute ist echte Tapferkeit oder sittliche Stärke. Von ihr gilt wirklich, was man dem SOKRATES nicht hat glauben wollen: daß die sittliche Einsicht an und für sich stark genug ist jeden Widerstand von Seiten des Trieblebens zu brechen. Sie hat diese Kraft freilich nicht als bloße Einsicht, sondern sofern die  Einheit  des erkannten Zieles zugleich dem  Willen  Einheit und damit konzentrierteste Kraft gibt. Die  zusammengenommene  Energie des Wollens vereint seine Kräfte zu einer Wirkung, die begreiflich jeder Gegenwirkung  vereinzelter  Triebe überlegen ist.

In ganzer Schärfe hat wiederum PLATON dieses Unterscheidungsmerkmal der echten Tapferkeit erkannt. Was man gemeinhin so nennt, der Einsatz der Person für ein beliebiges, bedingtes, empirisches Gut, wenn nicht gar für etwas in Wahrheit Schlechtes, sei eigentlich Tapferkeit aus Furcht: man setzt seine Person ein für irgendein Nichtiges, das man zu verlieren fürchtet, während in Wahrheit, nach sittlichem Urteil, sein Verlust gar nicht zu fürchten ist wie Reichtum, Macht, äußere Ehre. Als Tapferkeit im echten, sittlichen Sinn läßt er nur den unbedingten Einsatz der Person für das unbedingt Gute, das allein dieses höchsten Einsatzes wert ist, gelten, das, wie er sagt, die einzige Münze ist, gegen die man alles eintauschen sollte.

Es ist somit nicht ohne Grund, wenn man die Probe der Tapferkeit darin sieht, jeder Gefahr, jedem Schmerz, namentlich aber dem Tod fest ins Auge zu sehen. Zwar kann auch die Festigkeit gegen die Todesfurcht unsittliche Gründe haben; der elendeste Verbrecher dürfte in dieser vermeintlichen Tugend mit dem edelsten Helden wetteifern. Je nichtiger ein Mensch ist, desto kleiner ist auch der Heldenmut, dieses sein Nichts wegzuwerfen, oft sozusagen für ein Butterbrot. Ein Edler wird weniger rasch damit bei der Hand sein, sein Leben zu wagen; ist er darum weniger tapfer? Dennoch ist die Jedem so natürliche Meinung, die in der Todesbereitschaft die Probe der Tapferkeit sieht, nicht im Unrecht; sie läßt nur die wesentliche Bedingung unausgesprochen: daß es ein Edler ist, der sich opfert, und für eine edle Sache. Das schließt ferner ein, daß das Selbstopfer mit Besinnung, in voller Klarheit des Bewußtseins gebracht wird. Dies alles vorausgesetzt ist gewiß die Fähigkeit, seine ganze empirische Existenz dranzugeben allein für sittlichen Gewinn, die Probe höchster Sittlichkeit, und allein begreiflich aus dem sicheren Bewußtsein, daß alles Empirische von bloß bedingtem, das Gute der Idee allein von unbedingtem Wert ist.

Diese Möglichkeit der Selbstopferung aus einem rein sittlichen Motiv, die Möglichkeit, sich eine solche Selbstopferung auch nur zu denken, verdient in der Ethik eine besondere Beachtung als einer der stärksten Gegengründe gegen eine bloß empirische Begründung der Moral. Man versucht sie zu stützen auf eine Berechnung der Gewinn- und Verlustchancen: verliere ich mehr, wenn ich mein ganzes übriges Leben drangebe, oder wenn ich mein Leben z. B. mit Schande oder sonstiger schwerer äußerer oder innerer Strafe oder Schädigung erkaufe, oder auch nur mit dem Verzicht auf ein Gut, das mir höher gilt als was das Leben mir sonst bieten kann? So wie Sokrates willig sein Leben drangab, wenn man ihm das, was allein es ihm lebenswert machte, seinem Forscherberuf, nahm. Allein es widerstrebt schon ansich dem unbefangenen Gefühl, selbst aus der Tapferkeit eine Berechnung zu machen. Besonders aber, wenn einmal zugelassen wird, daß auch der sittliche Schaden sein empirisches Maß und die Tugend ihren Preis hat, um den sie verkäuflich ist, so wird es alsbald zweifelhaft, ob die Berechnung immer im Sinn der sittlich rechten Wahl ausfallen wird; ob nicht, an seinem solchen Maß gemessen, der kühne Verbrecher zum sittlichen Heros werden würde.

Ebenso scheitert hier die gesellschaftliche Moralbegründung. So stark die meist instinktive Rücksicht auf gesellschaftliche Ehre und Schande, der in dunklen aber mächtigen Gefühlen uns beherrschende Einfluß des sozialen Lebens überhaupt auch sein mag, doch ist es eine widerstrebende Vorstellung, daß auch der Sittlichste einen standhaltenderen Grund der Tapferkeit als diesen nicht haben sollte. Ohne Zweifel hält der sittliche Mensch es für ehrlos, im gegebenen Fall sein Leben nicht zu wagen. Aber warum hält er es dafür? Weil andere es dafür halten? Welche Anderen? Wahrscheinlich denkt die kleinste Zahl darüber so streng, wie man im sittlichen Interesse denken muß. Die Ehrvorstellungen sind so himmelweit verschieden, daß es vor allem dafür eines Kriteriums bedarf. Welche Ehre ist für das sittliche Urteil maßgebend? Natürlich nur die sittliche. Aber dann stützt man Ehre auf Sittlichkeit, nicht Sittlichkeit auf Ehre; wie es auch allein zulässig ist. Desgleichen, worin und wie weit darf der gesellschaftliche Instinkt, der wie jeder bloße Instinkt ansich ebenso gut zum Verkehrten leiten kann wie zum Rechten, uns beherrschen? Auch das ist nur nach sittlichen Normen zu bestimmen.

Es verhält sich mit diesem abgeleiteteren Begriffen gar nicht anders wie mit den allgemeinen von Lust, Glückseligkeit, Nützlichkeit überhaupt. Immer wird man sich fragen: welche Lust, welche Glückseligkeit, welcher Nutzen entscheidet? Bestimmt die an irgendeinem anderweitigen, außersittlichen Maß gemessene Lust, Glückseligkeit oder Nützlichkeit, was sittlich ist, oder bestimmt vielmehr Sittlichkeit, was wahre Lust, Glückseligkeit, Nützlichkeit ist? Jede Handlung oder Willensrichtung ohne Ausnahme steht unter dem allgemeinen Gesetz der Lust und Unlust: der Edle findet am Edlen, der Unedle am Unedlen seine Lust. Aber eben darum bedarf es einer anderen Norm für unser Wollen und Handeln als der Lust. Sobald ein Unterschied der Wahrheit einer Lust, eines Nutzens von dem Anderen anerkannt wird, ist damit schon die selbständige Begründung des Sittlichen zugegeben. Desgleichen läßt sich ein Vorrang des Nützlichen vor dem bloß Angenehmen ohne ein von der Lust verschiedenes Prinzip nicht begründen. Er ist darin begründet, daß der Mensch kein Augenblicksgeschöpf ist; aber eben diese Erwägung führt, in ihrer vollen Tragweite verstanden, über jede bloß empirische Begründung hinaus. Die sittliche Tugend der Tapferkeit, sofern sie die Fähigkeit einschließt, seine ganze empirische Existenz für ein bloß ideelles Gut zu opfern, macht das nur besonders deutlich. Es ist nur einer der manchen Punkte, wo die empiristische Moralbegründung entweder sittlich oder logisch unverständlich wird: sittlich, wenn sie die Konsequenzen des einmal gewählten Prinzips zieht, logisch, wenn sie sie zu ziehen unterläßt.

So wichtig übrigens für Theorie und Praxis der Sittlichkeit die negative Seite unserer Tugend, die Fähigkeit der Selbstaufopferung ist, ansich muß wohl diese Tugend, wenn irgendeine,nicht bloß negativ und passiv, sondern positiv und aktiv verstanden werden. Der Einsatz aller Kräfte für das erkannte Gute zieht als Konsequenz nach sich, daß man, wenn nötig, auch das Leben dafür einsetzt; ansich aber fordert es wohl größere Tapferkeit für das Gute zu leben als dafür zu sterben. Das Letztere ist für den sittlich klaren Menschen etwas Selbstverständliches, und es ist meist Sache einer einzigen, raschen Entschließung. Die Festigkeit des sittlichen Willens in seiner positiven Betätigung dagegen hat sich unter zahllosen lähmenden Einflüssen von außen und von innen stündlich neu zu bewähren. PLATON bemerkt irgendwo (Laches 191), Tapferkeit habe sich zu beweisen nicht nur gegen Schmerz und Furcht, sondern auch gegen Lust und Begierde, und nicht nur im Standhalten, sondern auch im Fliehen. Er hätte hinzufügen sollen, daß es nicht allein eine Tapferkeit gegen sondern auch für etwas gibt, für das Gute und alles was zum Guten dienlich ist. Übrigens kommt die aktive Natur dieser Tugend in anderer Weise bei PLATON zur Geltung, in ihrer Beziehung auf die aktive Energie des Trieblebens, auf den  thymos.  Er beschreibt darin nicht unrichtig die Wirkung der sittlichen Erhebung auf das Triebleben selbst, und zwar als aktiven Zustand, als edle Aufwallung für das Gute. Untriftig wäre es freilich, dieser Tugend geradezu ihren Sitz in einer so ganz dem Triebleben zugehörigen Gemütskraft anzuweisen; PLATON selbst führt sie sonst, mit fast sokratischer Schroffheit, auf die Einsicht zurück. Sie gehört aber ebensowenig der bloßen Einsicht wie der bloßen Triebkraft, sondern dem Willen an, durch dessen Vermittlung sich der Einfluß der sittlichen Erkenntnis bis auf das Triebleben erstreckt. Denn dieses bietet überhaupt den Stoff, den der Wille, von der Vernunft geleitet, sittlich zu gestalten hat. So allein wird die eigenartige Stellung der Tapferkeit im System der sittlichen Tugenden völlig klar, während sie bei PLATON bald nach der  phronesis,  bald (so auch in der angeführten Stelle) nach der  sophrosyne  hinüberschwankt. Richtig bleibt dennoch das Motiv, daß diese Tugend eine höchst positive und konkrete Beziehung auf die Aktivität auch in der unmittelbaren Form des Triebes gewinnt, daß sie den Trieb selbst unmittelbar in den Dienst des sittlichen Willens stellt.

Diese Erwägung begründet zugleich, was übrigens nur einer kurzen Ausführung bedarf: daß auch diese Tugend sich, gleich der der Wahrheit, auf das Ganze der menschlichen Tätigkeit erstrecken muß. Zur Erforschung der Wahrheit, selbst wenn sie im bloßen Erkennen ihr Ziel fände, gehört sicher ein tapferer nicht weniger als streng wahrhafter Sinn. Und wenn auf jede unmittelbar an den Stoff gewendete Arbeit die Tugend der "Sachlichkeit" Anwendung findet, so gehört dazu nicht minder wesentlich eine entschlossene, rein für die Sache sich einsetzende Tatkraft. Treu ausharrender, selbstverleugnender Fleiß ist gewiß keiner Tugend verwandter als unserer zweiten. So erstreckt sich diese Tugend ebenfalls auf die Wechselbeziehungen unter den Menschen. Untreue gegen gemeinschaftliche Pflichten aus persönlicher Schwäche, Mattheit in sittlich begründeten Gemeinschaftsbeziehungen, in Liebe und Freundschaft, Untreue gegen das Vaterland, ist schlecht, nicht allein oder hauptsächlich wegen der sich auf den Andern miterstreckenden Folgen, sondern an und für sich als Schädigung des sittlichen Charakters der Gemeinschaft.

Endlich ergibt sich aus allem Gesagten die genaue Wechselbeziehung zwischen unseren beiden ersten Tugenden. Wahr zu sein in der umfassenden Bedeutung des Wortes, die wir kennenlernten, fordert ebenso gewiß Tapferkeit, wie umgekehrt tapfer in einem sittlichen Sinn Keiner ist, es sei denn in unbeugsamer Treue gegen die Wahrheit. Dieses schon einige Male gebrauchte Wort "Treue" drückt überhaupt unübertrefflich die Einheit der beiden Grundtugenden aus; es besagt: Wahrhaftigkeit, die sich in einem standhaften Ausharren bewährt, Standhaftigkeit, die aus dem Sinn der Wahrheit fließt.

Schon die Analogie führt aber darauf, neben den Tugenden der  Vernunft  und des  Willens  noch eine solche anzunehmen, die sich unmittelbar auf den dritten Faktor der Aktivität, das  Triebleben  bezieht. Auch das klassische System der Kardinaltugenden, dessen tiefe Anlage sich bis dahin bewährte, weist eine solche auf, die  sophrosyne.  Wir nennen sie Reinheit oder sittliche Ordnung des Trieblebens.


§ 10.
System der Kardinaltugenden
3. Reinheit, sittliche Ordnung
des Trieblebens.

Es ist ein empfindlicher Mangel unserer ethischen Kunstsprache, daß ihr ein Wort fehlt, das dem griechischen  sophrosyne  entspricht. Die besonders seit SCHLEIERMACHER gebräuchliche Übersetzung "Besonnenheit" trifft nur  eine,  bei PLATON vorzüglich wichtige Seite dieser Tugend, rückt sie jedoch der  phronesis (die wir mit "Besinnung" wiedergaben) viel zu nahe. Im Griechischen ist das Unterscheidende im ersten Bestandteil des Wortes, welcher "heil, gesund" heißt, wenigstens angedeutet; bestimmter gibt es sich kund in Synonymen wie  kosmion.  Das besagt nicht nur das äußerlich Anständige; der Grundbegriff ist vielmehr der der inneren Ordnung, der geregelten, harmonischen Verfassung der Seele: den Gegensatz bildet die Maß- und Gesetzlosigkeit der Triebe  hybris.  Auf denselben Begriff führt die oft gebrauchte, im Wort  sophrosyne  anklingende Vergleichung mit der leiblichen Gesundheit. Den Punkt der Vergleichung bildet das normale Verhältnis der Funktionen, in dem sie sich gegenseitig nicht stören, sondern unterstützen oder zumindest frei lassen. Wiederum denselben Grund hat die Vergleichung mit dem ästhetisch Schönen, besonders dem Musikalischen, der Harmonie in der eigentlichen Bedeutung oder Symphonie, auch wohl der Eurythmie [Gleich- und Ebenmaß in der Bewegung | wp]. Im Sinne dieser Tugend vornehmlich gilt dem Griechen das Sittliche als das Schöne  (kalon)  der Seele. Das haben die Römer verständnislos durch ihr  honestum  wiedergegeben: als ob die äußere Rücksicht auf den ehrlichen Namen, auf das  decorum  beim Sittlichen die Hauptsache sein soll. Auch unser "sittlich" unterliegt ja diesem Tadel, doch kann es nach unserem Sprachgefühl immerhin die innere Wohlordnung mitbezeichnen.

Stets wird diese Tugend von den Griechen auf das Triebleben bezogen, das, sich selbst überlassen, ohne Gesetz und Ordnung, ohne innere Zustimmung bleiben würde. Daß das Ordnende die Vernunft, der vernünftige Wille ist, daß "Besonnenheit" oder das ordnende Walten der Vernunft über das Triebleben der eigentliche Grund dieser Tugend ist, aber auch die Energie des sittlichen Willens, die "Tapferkeit" der Selbstbezwingung dazu gehört, ist die wesentliche Errungenschaft der Philosophie, vorzugsweise der sokratisch-platonischen. Damit ist in der Tat das notwendige Zusammenwirken der drei Faktoren der Aktivität in dieser Tugend richtig erkannt; die Beziehung auf das Triebleben aber bleibt vorwaltend.

Demnach läßt sich diese Tugend zutreffend als  sittliche Ordnung des Trieblebens  bezeichnen. Will man  ein  Wort dafür, so finde ich kein passenderes als Reinheit; wobei man nur weniger an das Negative: die Freiheit von Sündenschmutz oder Befleckung, als an das Positive: die ungetrübte Klarheit der inneren Gesetzesordnung denke. Wir reden von reiner Harmonie, reinen Farben, einer Reinheit der künstlerischen Form, der Sprache, auch des wissenschaftlichen Verfahrens, desgleichen gemütlicher und sonstiger Verhältnisse unter Menschen. Das Gemeinsame in all dem ist doch wohl die gesetzmäßig übereinstimmende und durch einen solchen Einklang befriedigende Verfassung, und zwar nicht als bloß gedacht oder angestrebt, sondern unmittelbar im Stoff verwirklicht; das ist genau der Begriff, den wir brauchen.

Somit stellt diese Tugend, auf der Grundlage der beiden andern, die Vollendung der persönlichen Sittlichkeit dar. Sie ist die konkreteste der drei Tugenden; es ist darin das Ideal gedacht, daß die Triebe selbst dem Befehl der Vernunft so völlig gehorchen, vielmehr von Anfang an einerlei Richtung mit ihr nehmen, daß eine gefahrdrohende Anwandlung von Schlechtigkeit nicht mehr möglich ist.

Auch bei dieser Tugend drängt sich die negative oder kritische Bedeutung - Abwehr der  hybris - zunächst auf; aber auch bei ihr ist vor einer einseitig negativen Auffassung zu warnen. Die  egkrateia  der Griechen, die Selbstbeherrschung, die Eigenschaft sich in der Gewalt zu haben, d. h. seiner Triebe Herr zu sein, sie mäßigen oder zügeln zu können, erschöpft nicht den Inhalt dieser Tugend. Vollends Enthaltsamkeit, Entäußerung oder möglichste Schwächung der Triebe kann ansich nicht Tugend sein; ihre gesunde Befriedigung ist vielmehr ebenso sittlich, so "rein" oder "heilig" wie die Enthaltung von ungesunder Befriedigung.

Durch diese Unterscheidung berichtigt sich der Irrtum der Asketik. Sie wirft auch ein erwünschtes Licht auf die schwierige Tugend der  Keuschheit.  Die Menschen denken darüber wohl überwiegend lateinisch: man hat weit mehr das  honestum  im Sinn, die Rücksicht auf das Schickliche, das gesellschaftlich Anständige oder wozu man sich ungescheut bekennen darf, als den wahren inneren Grund des  kalon.  Daher läßt man in den vier Wänden des Brautgemachs diese Tugend erlöschen: "Zum Zittern wird nun ihre Strenge, denn deine Kühnheit wird zur Pflicht"; eine Auffassung, die mir nicht sonderlich keusch zu sein scheint. Oder, wenn man denn einen ernsteren Sinn hinter dieser Tugend sucht, verfällt man ins Asketische und gerät dahin selbst jeden Gedanken an die natürliche Bestimmung der Geschlechter, jeden Wunsch ihrer Erfüllung für Unkeuschheit zu halten. Da käme diese angebliche Tugend wohl in eine schwierige Kollision mit der allerursprünglichsten, unverletzlichen Tugend der Wahrheit. Es könnte dann am Ende wahrhafter erscheinen, sie ganz und gar als törichte Menschensatzung über Bord zu werfen und das Naturgebot der Begierde zum unumschränkten Gesetz des Handelns und Denkens zu erheben. Noch seltsamer ist eine in der Theorie wohl nie ernsthaft vertretene, in der Praxis aber sehr häufig anzutreffende Auffassung, welche die Keuschheit als Tugend des Weibes kennt und preist, als Tugend des Mannes dagegen nicht gelten läßt. Man versteht dann unter Keuschheit sogenannte Unschuld, d. h. Unwissenheit über das Natürliche, wenigstens Ahnungslosigkeit über die furchtbare Gewalt des Naturtriebes, mit eigener Begehrungslosigkeit, kurz das Stehenbleiben auf der Stufe des Kindes, bis zur Ehe und wohl gar in ihr. Das hält man für etwas Schönes am Weib, während man so viel begriffen hat, daß für den Mann, eine solche Unschuld sich zu bewahren weder möglich noch erlaubt ist, denn er soll den Wirklichkeiten des Menschendaseins ins Auge sehen lernen. Dem Weib gesteht man also einen solchen Mut der Wahrheit nicht zu. Das heißt aber das Weib mit einer sehr zweifelhaften Tugend schmücken, um ihm zwei so zweifellose, unerläßliche Tugenden wie Wahrheit und Tapferkeit des sittlichen Willens zu nehmen. Es ist eine unbedingt höhere Auffassung der weiblichen wie der männlichen Tugend, welche diese Unterscheidung und damit den ganzen Begriff der Keuschheit als "Unschuld" verwirft. Wahre Unschuld ist doch nur die, die das Schuldlose auch als schuldlos nimmt, umso sicherer, je weniger sie die wahre Schuld der Unkeuschheit kennt.

Was ist denn nun der echte Sinn dieser Tugend? Er ist so einfach wie alle Tugend, und dem sittlich Gesunden fast selbstverständlich. Sie besagt erstens, als Vorbedingung: eine sichere Herrschaft über den Naturtrieb; sodann aber: Gebrauch des Triebes nach seiner wirklichen, natürlichen wie sittlichen Bestimmung, nicht außerhalb dieser Bestimmung. Bei der sittlichen Bestimmung kommt wesentlich das gegenseitige Verhältnis der Beteiligten in Betracht; dieses darf sittlicherweise kein bloß sinnliches, es muß zugleich ein  seelisches  sein. Das Wechselverhältnis von Seele und Seele muß rein erhalten werden; der Eine muß dem Andern eine Seele zutrauen, in ihm wie in sich selber die sittliche und nicht bloß die sinnliche Person, und diese als unverletzliches Heiligtum anerkennen, um auf dieses Heiligste, wie sein ganzes Sein und Leben, so auch alles, was er gegen uns ist und tut, uns gibt oder von uns empfängt, zuletzt zurückzubeziehen. Das ist freilich sinnlos, wenn man das Ziel des Naturtriebs im Genuß des Augenblicks sieht; aber es erhält einen klaren Sinn, wenn man sich besinnt, daß es dem Menschen verliehen ist "dem Augenblick Dauer zu verleihen", ja in eine Ewigkeit hinauszublicken. Diese stellt sich ihm menschlich und irdisch dar in der Folge der Geschlechter, wodurch der Einzelne sein beschränktes Dasein an das Leben der ganzen Menschheit kettet. Die Überlieferung des Menschentums von Geschlecht zu Geschlecht ist demnach das wahre, sittliche Ziel der Fortpflanzung. So hat selbst PLATON, der sonst einigermaßen zur Asketik neigt, die leibliche Fortpflanzung darstellen können als die Art wie das Sterbliche an der Unsterblichkeit, an der Ewigkeit teil hat. Wie könnte auch das Verhältnis zwischen Mutter und Kind uns etwas Reines und Heiliges sein ohne diese sittliche Bedeutung der Fortpflanzung? Besteht sie aber, so muß sie die Ursache so gut heiligen wie die Folge, die ohne diese Ursache doch nicht da wäre. Ein Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Keuschheit besteht nach dieser Auffassung nicht; der Mann, der nicht in diesem hohen Sinn keusch ist, ist gemein oder bestenfalls ein gesundes unwissendes Tier. Dem Weib aber wird nicht mehr der Widersinn zugemutet, das Naturgebot, dem es doch Gehorsam schuldet, weder deutlich kennen noch sittlich anerkennen zu dürfen. Unwissenheit (aus mangelnder Erfahrung) oder gar Dummheit (die selbst durch Erfahrung unbelehrt bleibt) kann nun und nimmer Tugend sein, es ist nur die Karikatur der Tugend. So ist auch Scham über das Natürliche keine Bedingung oder ein Kennzeichen echter Unschuld. Es ist reiner die Scham in Liebe untersinken zu lassen, als sie festhalten zu wollen. Keusche Liebe hat sich nie ber sich selbst zu schämen, sondern allein über Unkeuschheit. Es ist begreiflich, daß gegenüber dem gewaltigsten aller Triebe der negative Sinn der  sophrosyne  sich besonders aufdrängt, im letzten Grund aber erschöpft sie sich auch hier nicht im Unterlassen oder pasiven Geschehenlassen, sie entfaltet ihre ganze Tiefe vielmehr erst in der Position, in der Energie des Tuns. Sie verneint nicht das Triebleben, bringt es im Gegenteil erst zu seiner gesunden und damit kraftvollen Entfaltung. Die Fortpflanzung der Menschheit in leiblicher und seelischer Gesundheit ist der keuschen, nicht der unkeuschen Liebe anvertraut. Auch diese Tugend ist eine der mächtigsten Beweise der Lebensenergie der Menschheit.

Und so ist allgemein das Wesen unserer dritten Tugend die  Reinigung,  oder in einem Ausdruck, der seiner religiösen Herkunft halber dem Ethiker nicht verdächtig zu sein braucht, die  Heiligung  des Trieblebens. Sie will überhaupt den Trieb nicht ausrotten oder entkräften oder bloß bändigen, sondern möglichst unversehrt in den Dienst unserer sittlichen Bestimmung stellen, die, nach ihrer wesentlichen, inneren Beziehung zur Natur, nicht auf einen vergeblichen Krieg mit dieser, sondern nur auf ihre gesunde und reine, d. h. ihrem inneren Gesetz gemäße Entfaltung im Menschen zielen kann.

So tritt dann durch diese Tugend die menschliche Sittlichkeit in die unmittelbarste überhaupt zulässige Beziehung zur Natur. Sie vertritt, in einem konkreteren Sinn als eine der vorigen Tugenden, die Erhebung alles Natürlichen, soweit es irgendwie dessen fähig ist, zu sittlicher Bedeutung. Ihr Bereich deckt sich mit dem des menschlichen Trieblebens überhaupt.  Alles  menschliche Tun und Streben hat aber eine der Sinnlichkeit zugekehrte Seite, es beruth nicht auf Vernunft und Willen allein, sondern hat noch einen Naturgrund, den wir allgemein mit "Trieb" bezeichnet haben; auf diesen, und zwar in jeder seiner Gestaltungen, bezieht sich unsere dritte Tugend. So hat alles Kunstschaffen, als Darstellung der Idee im empirischen Stoff, eine sinnliche Seite. Auch darin ist die Sinnlichkeit selbst zu reinigen, zu adeln, ist die Tugend des künstlerischen Schaffens, an der nicht die Höhe des Kunstwerks, wohl aber des Künstlers zu messen ist. Vollends gehört hierher alle eigentlich so benannte, unmittelbar auf den Stoff gerichtete, auf Sinnes- und Muskelkraft beruhende Arbeit. Der große Satz, der mit steigender Kultur zu immer höherer Bedeutung gelangt, von der  Heiligkeit der Arbeit ordnet sich ganz unserer dritten Kardinaltugend unter und ist einer ihrer positivsten Ausdrücke; darin zeigt sich wieder besonders, daß die Tugend der "Reinheit" nicht in dem allein besteht, was man läßt, sondern in dem,  was  man tut und  wie  man es tut. Es soll LUTHER unvergessen bleiben, daß er diesen Begriff der "Heiligkeit der Arbeit" und damit des "weltlichen" Berufs, ebenso wie den der Reinheit der Ehe bekräftigt hat und so das Verständnis dieser hohen Tugend unserer Nation besonders tief eingeprägt hat. Die mächtige  sozial-ethische  Bedeutung, die darin liegt und die sich mit der Verschärfung der sozialen "Frage" nur erhöhen kann, leuchtet ein; fast die ganze Ethisierung der sozialen Frage hängt daran.

Überhaupt drängt sich in fast allen Betätigungen dieser Tugend ihre zugleich soziale Bedeutung besonders stark auf. Begreiflich, denn je näher wir den realen Bedingungen des menschlichen Daseins kommen, je konkreter wir seine Tugend zu erfassen suchen, umso weniger läßt sich von den sozialen Beziehungen überhaupt absehen, umso dringlicher zeigt es sich, auch und vor allem diese durch und durch sittlich zu gestalten. Das darf nun wiederum nicht verleiten, den Grund und Wert dieser Tugend etwa ausschließlich in ihrer sozialen Bedeutung zu suchen. Sie ist an sich selbst gefordert, auch mit gänzlicher Abstrakktion von dem, was sie Anderen zu leisten vermag. Daß freilich das Gebot der Reinheit, wie jedes sittliche Gebot, aus gleichem Grund wie für den Einzelnen, für Alle besteht und durch die gleichzeitige Beziehung auf die Gemeinschaft noch einen vertieften Sinn erhält; daß überhaupt nicht davon die Rede sein könnte, den Adel der Menschheit in der eigenen Person zu erhalten, wenn es keine Menschheit gäbe, bedarf nach allem, was im gleichen Sinne zu den beiden ersten Tugenden bemerkt worden ist, keiner eingehenderen Erörterung; ebensowenig das Andere, daß auch diese Tugend sich auf den bloßen Naturtrieb zur Glückseligkeit, mit der Umgehung eines Vernunftgrundes, nicht stützen läßt.

Und so bestätigt sich auch wieder der unauflösliche Zusammenhang sämtlicher Grundtugenden, demzufolge keine ohne die anderen bestehen kann, jede, je nachdem man es ansieht, jede der andern zur Voraussetzung hat. Die sittliche Ordnung des Trieblebens, wie sie sich uns darstellte, ist offenbar nicht zu erreichen ohne eine große Klarheit der sittlichen Einsicht, ohne voll entwickelte Kraft und Festigkeit des sittlichen Willens. Umgekehrt ist eine Regellosigkeit und Ungesundheit des Trieblebens das Haupthindernis, zu fester sittlicher Energie und sicherer Einsicht und Wahrhaftigkeit zu gelangen. Die Erziehung beginnt naturgemäß von unten auf, bei der Disziplinierung des Trieblebens; höhere Forderungen an die sittliche Energie und Erkenntnis lassen sich erst stellen, nachdem der Hauptwiderstand gebrochen ist, der sich von dorther gegen beide erhebt. An der Versittlichung des Trieblebens erstarkt die Kraft des sittlichen Wollens und der sittlichen Einsicht, die dann wieder zu jener mächtig mitwirken. So helfen sich alle Tugenden und fördert jede die andere, indem sie zugleich aus jeder selbst neue Kraft zieht. Aber nicht minder helfen sich in einem verhängnisvollen Bund alle Untugenden: Lüge und sittliche Schwäche der Unordnung des Trieblebens und umgekehrt. Der wilde, regellose Trieb ist der gefährlichste Sophist und erbärmlichste Schwächling; umso gefährlicher und erbärmlicher, je mehr er sich in das Gewand der rechten Wahrheit und rechten Forschheit zu kleiden liebt.

Eine fernere, rein auf das Individuum bezügliche Tugend ist auf der hier gewählten Grundlage nicht zu gewinnen; auch wird man nicht leicht eine nennen können, die in diesen dreien nicht enthalten oder aus ihnen herzuleiten wäre. Dagegen bleibt noch das Ganze der sozialen Beziehungen übrig, dem eine eigene und zwar individuelle Tugend insofern entsprechen muß, als das Individuum an diesen Beziehungen beteiligt ist und sie zu seiner Individualität selbst zu rechnen befugt ist; denn das Individuum besteht gar nicht außerhalb dieser Beziehungen, es ist eine bloße Abstraktion, wenn man vom Individuum wie von einem Ding für sich redet. Nun gab zwar schon die Behandlung der drei in einem engeren Sinn individuellen Tugenden fortwährend Anlaß, zugleich ihrer Beziehung auf die Gemeinschaft zu gedenken, aber doch ist es noch etwas Eigenes und sehr Wichtiges an der Tugend, daß sie das  Bewußtsein  der Beziehung des Individuums auf die Gemeinschaft wesentlich einschließt. Durch diese Beziehung nimmt jede Tugend für sich und sie alle in der nachgewiesenen engen Verbindung untereinander einen eigenen Charakter an, den man Grund hat durch einen eigenen Ausdruck kenntlich zu machen. Es ist daher keine bloße Imitation des platonischen Systems, wenn wir den drei im engsten Sinne individuellen Tugenden als vierte die eigentliche Tugend der Gemeinschaftsbeziehungen, die "Gerechtigkeit" anreihen. Auch leuchtet jetzt schon ein, daß die befolgte Ordnung eine zwingende Notwendigkeit hat, indem wir von abstrakteren zu immer konreteren Gestaltungen des Sittlichen, wie bisher, so auch jetzt wieder fortschreiten.


§ 11.
System der Kardinaltugenden:
4. Gerechtigkeit

Das allgemeine Verhältnis dieser vierten zu den drei schon behandelten Kardinaltugenden ist mit dem zuletzt Gesagten bereits bestimmt. Danach wird jede der andern, sobald die Gemeinschaftsbeziehung in Frage kommt, etwas vom Charakter der Gerechtigkeit annehmen. So zeigt es sich in der Tat: sofern die Regelung des Trieblebens in Arbeit und Genuß im Interesse der Gemeinschaft gefordert ist, wird sie zu einer der hauptsächlichsten Forderungen der Gerechtigkeit; ebenso Tapferkeit, sofern sie der Gemeinschaft dient, sofern sie besagt, daß jeder an seinem Posten, in seiner um der Gemeinschaft willen nötigen Betätigung aushalten und seine Sache nicht im Stich lassen soll, ist eine Pflicht der Gerechtigkeit; endlich Wahrhaftigkeit im Verhalten zum Andern, Ehrlichkeit, Redlichkeit, wechselseitige Treue hat man von jeher zur Gerechtigkeit gerechnet; ihre Verletzung ist nicht nur ein persönliches, sondern ein soziales Unrecht.

Und zwar ist das Wesen dieser Tugen darin schon vollständig enthalten, daß alles, was ansich sittlich gefordert ist, gleichsam noch einmal in der Tat in einem neuen, vertieften Sinn gefordert wird im Interesse der Gemeinschaft. Eine eigene Materie hat diese Tugend nicht aufzuweisen. Besagt sie z. B., nach alter Formel, daß "Jedem das Seine", was ihm zukommt oder gebührt, zuteil werden soll, sein Recht und seine Pflicht, so läßt sich dieses Gebührende nicht anders als im Hinblick auf drei Grundelemente der Aktivität, mithin gemäß den drei ersten Tugenden bestimmen. Die Erhebung der Gemeinschaftsbeziehung der sittlichen Forderung ins ausdrückliche Bewußtsein unseres Tuns ist das einzige Eigentümliche dieser Tugend.

Soll man sie darum etwa überhaupt nicht zur Tugend des Individuums rechnen? - Wir schieden individuelle und soziale Tugend einfach nach dem Subjekt, von dem sie ausgesagt wird; individuell heißt sie, sofern sie das Individuum, sozial, sofern sie die Gemeinschaft zum Subjekt hat. Die sittliche Ordnung des Individuallebens ist im ersteren Fall, die des sozialen Lebens im letzteren ihr Ziel. Beides ist zwar untrennbar; aber die Beziehung ist darum doch eine zweifache. Zur sittlichen Ordnung des Individuallebens gehört auch die Ordnung der Beziehungen des Individuums zur Gemeinschaft,  soweit  sie von den Eigenschaften und Willenshandlungen des Individuums abhängt. Daß das einen Unterschied macht, tritt darin klar zutage, daß ein gerechtes Verhalten vom Individuum auch dann gefordert wird, wenn die Gemeinschaft, der es zugehört, einer gerechten Regelung entbehrt und vielleicht dem Einzelnen auch kein Mittel übrig gelassen ist, auf eine gerechtere Gesellschaftsordnung hinzuwirken.

Auch läßt sich nicht behaupten, daß die Tugend der Gerechtigkeit ihr Ziel schlechthin nur im Gemeinschaftsleben hätte, daß man gerecht sein sollte bloß um der Gemeinschaft, nicht auch um seiner selbst willen. Zwar für den, der durch irgendein Verhängnis von aller menschlichen Gemeinschaft für immer abgeschnitten wäre, würde diese Tugend ihre unmittelbare Anwendbarkeit verlieren. Aber schon in jedem Gedanken an die übrige Menschheit würde sie ihre Bedeutung behalten; es wäre für einen solchen Menschen nicht gleichgültig, ob er sie auch da wegwirft oder nicht. Aber auch wer in menschlicher Gemeinschaft lebt, muß Gerechtigkeit üben nicht nur im sittlichen Interesse der Gesamtheit, sondern ebenso sehr im höchsten eigenen sittlichen Interesse. Es hat also einen guten Grund, wenn PLATON die Gerechtigkeit als ebensowohl individuelle wie soziale Tugend behandelt; nur tritt in seiner Ableitung der Gerechtigkeit als individueller Tugend die unerläßliche Beziehung auf die Gemeinschaft allzu sehr zurück. Beides vereint sich ohne Schwierigkeit, sobald man sich besinnt, daß die Gemeinschaftsbeziehungen wesentlich zum Individualleben gehören und an seiner Gestaltung in jeder Hinsicht beteiligt sind.

Versuchen wir nun in den  Grund  dieser Tugend etwas tiefer einzudringen. "Gerechtigkeit" sagt eigentlich die  Gleichachtung  des Andern vor dem sittlichen Gesetz. Diese aber ist unmittelbar darin begründet, daß in Jedem, sofern er des Sittlichen überhaupt und ansich fähig ist, nicht bloß die natürliche, sondern die sittliche Person, und diese  unbedingt,  zu achten ist. So erklärt sich das im Begriff der Gerechtigkeit unzweifelhaft liegende Moment der "Gleichheit". Von Natur sind die Menschen nicht gleich und werden es nicht sein, auch wenn man sich die weitestgehenden Forderungen an Gleichheit der äußeren Lebensbedingungen und vorzüglich der Bedingungen geistiger Entwicklung erfüllt denkt. Der tatsächlichen Beschaffenheit der Menschen gegenüber ist die Gleichheit eine Fiktion, allenfalls ein Wunsch. Als sittliche Forderung aber hat sie den klaren Sinn: daß jeder, auch wer tatsächlich auf der niedrigsten Stufe der Menschheit steht, des Sittlichen doch fähig ist oder befähigt werden kann, allermindestens hätte befähigt werden können. Auch noch dem unheilbar Schlechten gegenüber bedeutet die Gerechtigkeit, die wir ihm schulden: daß er für seine Schlechtigkeit nicht durchaus als Einzelner verantwortlich zu machen ist; daß auch jeder, der sich besser glaubt, sich seiner Mitschuld an aller in der Gemeinschaft, der er zugehört, vorhandenen Schlechtigkeit bewußt wird. Auch der entartete Mensch darf im Sinne sittlicher Gerechtigkeit nicht der Bestie gleichgeachtet werden, auch der reinste sich nicht vor sittlichem Schaden sicher wähnen.

Ungleich verbreiteter ist allerdings ein davon weit abstrehender Begriff von Gerechtigkeit, nämlich der, daß jedem zuteil werden soll,  was er wert ist,  dem Besseren Besseres, dem Schlechteren Schlechteres. Das hält man vielleicht für die von PLATON empfohlene "geometrische", d. h.  proportionale  Gleichheit. Es gibt aber eine seltsame Proportion, wenn  gut  und  schlecht  dabei ganz Verschiedenes bedeuten: das eine Mal das Maß der persönlichen Tüchtigkeit, das andere Mal das Maß des Anteils an äußeren Gütern und Vorteilen, an Macht, Ansehen, Reichtum und allem was von dieser Ordnung ist. Das hat ja auch einen guten Sinn, daß dem Tüchtigeren die größere Aufgabe zufällt, weil er eben zu größerer Leistung befähigt ist; also nicht des persönlichen Vorteils wegen, sondern damit das Werk möglichst gut vollführt wird. Wem größere Kräfte verliehen sind, von dem wir mehr  verlangt.  Aber das ist ungefähr das Gegenteil davon, daß ihm mehr  gegeben  würde. Genau das ist aber PLATONs Anschauung: der Tüchtige soll allerdings befehligen, aber er darf sittlicherweise nur den Vorteil derer, die er befehligt, nicht den eigenen im Auge haben. Er hat den Befehl nur, sofern er die Sache besser versteht; aber die Sache ist gemeinsam. Eine Sache, welche es auch immer ist, ausschließlich sein eigen nennen, ist ihm der Inbegriff des sozialen Unrechts, ein auf diesen Begriff des  Eigentums  gebauter Staat ist das Gegenteil des sittlich geforderten. Die Herrschaft der Besten besagt ihm genau nur, daß der Tüchtige, als der Sachkundigere, befehligen, der Untüchtigere gehorchen soll; beides aber, Befehl wie Gehorsam, ist ihm nur Dienst der Gemeinschaft. Ansich hat keiner mehr Recht als der andere, denn überhaupt hat keiner an und für sich ein Recht gegen den Anderen, sondern allein als Glied der Gemeinschaft, nach den ihr dienlichen Normen. Das Individuum wird dabei aber auch nicht geopfert. Mit der höchsten "Tugend" des Individuums, die eins ist mit der Entfaltung seiner höchsten Kraft und Tüchtigkeit, folglich auch mit seiner wahren "Glückseligkeit", ist in der Tat nur diese Haltung gegen die Gemeinschaft, welche Gerechtigkeit heißt, vereinbar. Nur die Schlechtigkeit des Individuums wird geopfert, alles Gute an ihr kommt bei der (im angegebenen Sinn) gerechten Ordnung des Gemeinschaftslebens vielmehr erst zu freier Entfaltung. Auch bedarf es, um das festhalten zu dürfen, keiner gewagten Annahme von prästabilierter [vorgefertigter - wp] Harmonie zwischen Individual- und Gemeinschaftsleben, sondern es ergibt sich mit Notwendigkeit so aus der Einsicht, die wir vornehmlich PLATON verdanken: daß die Gestaltung des Individuallebens, gerade in sittlicher Hinsicht, von der des Gemeinschaftslebens ganz so streng abhängt wie umgekehrt; daß nur das eine mit dem andern, keines für sich allein einer rein sittlichen Gestaltung fähig ist. In diesem Sinne steht auch für PLATON der Begriff jener  Gleichheit,  welche die  Gerechtigkeit  bedeutet, in genauer Beziehung zum Begriff der  Gemeinschaft  (6). Die Idee der sittlichen Gleichheit ist mit dem entschiedenen Willen sittlicher Gemeinschaft untrennbar verbunden. Sie kann nicht auftauchen, wo nicht eine gewisse Gemeinschaft schon besteht. Mit deren bloßem Bestand ist aber auch ihre sittliche Gestaltung gefordert; und das schließt in sich, die sittliche Gleichheit, die zuerst nur eine Idee ist, so viel wie möglich zur Wirklichkeit zu machen; denn die höchste, d. h. eben die sittliche Gemeinschaft kann nur auf dem Grund der sittlichen Gleichheit bestehen.

Gerechtigkeit ist, dieser Deduktion zufolge,  vom Einzelnen  gefordert im Interesse der sittlichen Gestaltung  seines individuellen Lebens,  nämlich hinsichtlich seiner (tatsächlich von ihm unabtrennbaren)  Beziehung zur Gemeinschaft.  Der Einzelne erreicht die Höhe  seiner  menschlich-sittlichen Bestimmung nicht ohne die menschlich-sittliche Gestaltung seiner Beziehungen zur Gemeinschaft.

Es folgt ebenfalls aus unserer Ableitung, daß diese Beziehungen alle Seiten der menschlichen Aktivität: Trieb, Wille und Vernunft, zugleich umspannen müssen.

Aus der praktischen Vernunft, die die unbedingte Allgemeinverbindlichkeit des sittlichen Gesetzes besagt, ist unsere Tugend direkt abgeleitet, der Vernunftwille regiert also auch sie. Insofern rückt sie der Tugend der "Wahrheit" sehr nahe; sie ist die Wahrheit des Gemeinschaftslebens. In Ausdrücken wie  Ehrlichkeit, Redlichkeit, Treue  (gegen den Anderen) kommt dieses Moment deutlich zur Geltung. Ungerechtigkeit ist immer etwas wie Lüge, wie Verrat; umgekehrt, Lüge hebt die sittliche Gleichheit und folglich die Gemeinschaft auf; der gleiche Boden, auf dem man sich gegenüberstehen soll, ist der der Wahrheit.

Deshalb ist die erste Lebensbedingung der Gerechtigkeit die sittliche Einsicht. Neigung zu Gewalttat oder Überlistung, zum Vordrängen blinder selbstischer Interessen auch in jeder verfeinerten Gestalt ist immer ein Zeichen sittlicher Verworrenheit. Wo irgendein blinder Instinkt (z. B. Rasseninstinkt) die klaren Forderungen der Gerechtigkeit vergewaltigen oder in Vergessenheit bringen kann, geschieht  jeder  Ungerechtigkeit und damit der Zerstörung der Gemeinschaft Abbruch, auch in Dingen, die mit diesem besonderen Instinkt nicht zusammenhängen; denn jeder beliebige andere (persönliche oder Klassen-)Instinkt fordert dann mit gleichem "Recht", in dem Grad wie er (im Einzelnen oder einer Klasse) mächtig ist, sich durchzusetzen.  Gerechtigkeit, Gleichheit  werden zu leeren Namen, wo nicht mehr Anerkennung findet, daß in keinem Fall blinde Sympathien und Antipathien, oder allgemein die Stärke nun einmal vorhandener Strebungen und Gegenstrebungen, sondern allein die klaren Gründe des Rechts und der Sittlichkeit das gegenseitige Verhalten bestimmen dürfen.

So genau hängt die Tugend der Gerechtigkeit mit der Klarheit der sittlichen Einsicht, also mit der Tugend der Wahrheit zusammen. Daß sie nicht weniger die Energie des sittlichen Willens, d. h. Tapferkeit fordert, folgt schon aus dem eben Gesagten, nämlich daß sich die Idee des sittlich Rechten nur in einem fortwährenden Kampf mit der Gewalt natürlicher Strebungen und Gegenstrebungen, Sympathien und Antipathien zu behaupten vermag. Sympathie und Antipathie ist nicht Sache des Willens; ich fühle sie oder fühle sie nicht und kann nichts dafür oder dagegen. Aber Gerechtigkeit unverletzt zu behaupten auch gegen unwillkürliche Sympathien und Antipathien ist in den Willen des Menschen gestellt. Aus der Unwillkürlichkeit und Unwiderstehlichkeit triebartiger Strebungen und Gegenstrebungen einen Rechtsgrund und gar einen sittlichen Grund des Verhaltens gegen den Andern machen zu wollen, bedeutet die Preisgebung der ersten Grundlage des sittlichen Urteilens, es bedeutet nicht minder die Gefangengebung des Willens an den außersittlichen Trieb. Das gilt in Bezug auf den Einzelnen, es gilt in verstärktem Maß gegenüber gesellschaftlich mächtigen Sympathien und Antipathien, gegen die die Sache der Gerechtigkeit zu behaupten eine umso gestähltere Energie des sittliichen Wollens erfordert, je mehr das gesellschaftlich Mächtige die Tendenz hat, sich geradezu an die Stelle des Sittlichen zu setzen und für die wahre, konkrete Sittlichkeit auszugeben.

Und wieder aus dem gleichen Zusammenhang der Begriffe versteht sich das Verhältnis der Gerechtigkeit zu unserer dritten Tugend. Sympathie und Antipathie gehört unverkennbar zum Gebiet des Trieblebens; also, nach den Anschauungen aller bis zur Höhe sittlicher Reflexion entwickelten Völker, zum Gebiet dessen, was der Herrschaft sittlicher Vernunft und sittlichen Willens unterworfen werden muß, nicht sie bestimmen darf. Sympathie und Antipathie ist, so unüberwindlich vielleicht im Moment, doch ansich wandelbar, also lenkbar. Man kann vielleicht nicht umhin, sie zu haben oder nicht zu haben, aber wohl haben Einsicht und Willen Einfluß darauf sie zu behalten oder sich davon frei zu machen, sie zu stärken oder zu mäßigen, sie zum Guten zu lenken und nicht zum Bösen. Jeder Naturtrieb hat zuletzt irgendetwas Gutes oder zumindest Unschuldiges zum Ziel: ein guter Mensch in seinem dunklen Drang ist sich des rechten Weges wohl bewußt; allein solange  nur  der dunkle Drang zu Wort kommt, kann man nicht wissen, ob er eines guten Menschen ist oder nicht, ob er also instinktiv auf den rechten Weg leiten wird oder auf den verkehrten. Er bedarf also jedenfalls der Regelung, der Ordnung, der Reinigung. Gerechtigkeit zielt auf die Reinheit unseres Verhältnisses der Sympathie und Antipathie zum Andern. Leidenschaftlicher, überhaupt blinder Haß, nicht minder blinde Liebe verfällt unrettbar in Ungerechtigkeit; und dasselbe gilt von jedem nicht oder verkehrt geregelten Zustand des Trieblebens.

Hierher gehört auch die ethisch interessante Frage nach dem Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und  Liebe Wir sprachen von blinder Liebe; gibt es auch eine sehende, so wird sie damit, denke ich, schon zur Gerechtigkeit. LEIBNIZ nannte die Gerechtigkeit die Liebe des Weisen; er dürfte Recht behalten. Ein unversöhnlicher Streit zweier so hoher Tugenden ist nicht wohl denkbar; die höchste Gerechtigkeit wird immer auch Liebe, die höchste Liebe auch Gerechtigkeit sein. Der Grundbegriff der Liebe ist doch wohl: Wille der Gemeinschaft; die höchste also die, welche die Gemeinschaft im höchsten, d. h. in einem sittlichen Sinn will; die sittliche Tugend der Gemeinschaft aber ist die Gerechtigkeit.

Was der völligen Gleichsetzung beider Begriffe widerstrebt, ist das Einzige, daß dem Begriff "Liebe" ein starker Beisatz von Gefühl anhaftet, während Gerechtigkeit kühl, parteilos urteilend erscheint. Allein das ist ein ebenso beschränkter Begriff von Gerechtigkeit wie von Liebe. Liebe muß sich zur Höhe sittlicher Klarheit erheben, Gerechtigkeit sich bis auf das Gefühlsleben herab erstrecken, es reinigen, aber nicht ersticken. Beruth sie, im Ideal gedacht, auf einer völligen Einheit von Vernunft, Wille und Trieb, daß auch der letztere durch Einsicht und Willenskraft mit dem Guten, das auch  sein  höchstes Gesetz ist, in Einklang erhalten wird, so nimmt sie eben damit an der Wärme und Energie des Gefühls notwendig Teil. Nur weil der Sinn der Gerechtigkeit in uns leider meist schwach, das Triebleben dagegen in Sympathie und Antipathie mächtig ist, neigen wir dazu, Gerechtigkeit für ein matteres, kälteres Ding zu halten als Liebe. Umgekehrt ist der Liebe doch nicht ansich die Parteilichkeit wesentlich. Höchste Liebe ist doch nur, die im Andern das Höchste liebt, was in ihm ist: und das ist allein das Gute. Es ist nicht anzunehmen, daß, wer die Liebe als das Höchste hinstellt, eine andere als diese Liebe im Sinn gehabt hat. Die Forderung z. B., nicht bloß den Feind, sondern den Sünder zu lieben, kann verständlich nur besagen, daß man auch in ihm die sittliche Person anerkennen, daß man um des noch so verkümmerten Keimes des Guten willen, der in ihm schlummert, ihn nie ganz verloren geben, und, selbst wenn er verloren wäre, bedenken soll, daß es ein Mensch ist, der verloren ist, d. h. ein Wesen, das ansich des Guten fähig war und unter anderen Bedingungen hätte gerettet werden können, also auch sollen. Das ist aber genau, was sich oben als unabweisbare Forderung der Gerechtigkeit ergab. Desgleichen die vergebende Liebe kann nicht in einem absoluten Gegensatz zur Gerechtigkeit gedacht sein, sonst wäre sie unsittlich gedacht. Sie hört nicht auf  das  Schlechte zu verwerfen (sonst wäre ja nichts zu vergeben), sondern nur  den  Schlechten; nämlich nicht, sofern er schlecht, sondern sofern er ansich des Guten fähig ist. In einem solchen Sinn ist aber die Vergebung ebensosehr eine Forderung der Gerechtigkeit wie der Liebe.

Bei allem wäre es doch ungeeignet, die Tugend der Gemeinschaft, statt Gerechtigkeit, Liebe zu nennen. Denn das ist freilich gewiß, daß "Liebe" äußerst verschieden, und überwiegend nicht in einem rein sittlichen Sinn verstanden wird, den wir hier brauchen. So kann die erbarmende, die vergebende Liebe einen Beigeschmack entweder von sittlicher Schwäche oder von selbstgerechter Herablassung annehmen, der der Gerechtigkeit nicht weniger als der wahren Liebe entgegen ist. Kurz, der Begriff "Liebe" bedarf erst sehr der Klärung, ehe er verwendet werden kann das rein sittliche Verhalten zum Anderen unmißverständlich zu bezeichnen, während der Name  Gerechtigkeit  nicht im gleichen Maß dem Mißverstand ausgesetzt ist. Doch hat das recht verstandene Wort "Liebe"  den  Wert, klarer zu machen, daß das sittliche Verhalten gegen den Andern sich bis auf das Triebleben erstreckt; daß es nicht ausschließlich Sache kühler Besinnung und unbeugsamer Willenskraft, sondern auch eines lebenswarmen Gefühls sein kann und soll, "gerecht", d. h.  menschlich  zu sein gegen Jedermann. Der allzu billige Einwand gegen die Forderung "allgemeiner Menschenliebe", daß die Kraft der gewöhnlichen  Sympathie  gleich der physikalischen Attraktionskraft mit der Entfernung abnimmt, oder wie sich irgendein Stoff mit der Ausbreitung verdünnt, rührt nicht von weitem an den Sinn, in dem diese sittliche Pflicht von irgendwem behauptet wird; auch wird von dem, was als Pflicht der Menschlichkeit gegen Jedermann sonst im Namen der Liebe gefordert wurde, sachlich nicht das Geringste abgelassen, wenn man vorzieht es statt "Liebe" "Gerechtigkeit" zu nennen.

Es gibt übrigens noch einen vom christlichen weit verschiedenen Sinn der "Liebe", der vielleicht auch hierher gehört. Die christliche  agape  erscheint - obgleich die besten Christen diesen Schein nicht anerkennen wollen - leicht passiv, bloß duldend, ja asketisch. Sehr anders der platonische  eros,  der vielmehr ganz und gar aktiv, schöpferisch, lebensvoll und mit Notwendigkeit Leben zeugend gedacht ist. In jenem schon einmal zitierten großartigen Vergleich mit dem Fortpflanzungstrieb, der das leibliche Leben nicht für sich behalten mag, sondern weitergeben muß, um das eigene Leben zum Leben der Menschheit zu erweitern und so zu  verewigen,  wird der geistige Eros dargestellt als nur mächtigerer und edlerer Trieb, das geistige Leben weiterzugeben, es von einer bloß individuellen zu einer gemeinschaftlichen, zuletzt menschheitlichen Bedeutung zu erhöhen und  so  fortpflanzend zu verewigen. Dieser Trieb erstreckt sich nach PLATONs Darstellung zwar keineswegs unterschiedslos auf alle, er sucht im Gegenteil die edelsten Naturen auf; aber er kann, in seiner höchsten Energie gedacht, nicht nur nicht auf den Einzelnen, sondern auch nicht auf Wenige beschränkt bleiben, wenn er doch zur Höhe der Menschheit hinstrebt. Das Ziel ist doch, nach PLATONs tiefsinniger Ausführung, "das" Gute selbst und ansich, nicht die einzelne, noch so edle Person; die bloß persönliche Liebe soll zuletzt ganz aufgehen in die stärkste, ewigste Liebe, die nur das ansich Schöne, das Schöne der sittlichen Idee in uns zu entzünden fähig und würdig ist. Dieser platonische Eros ist, wie wir sehen, nichts Anderes, als der Trieb der Gemeinschaft in allen Gestalten, bis zur höchsten, der rein sittlichen Gemeinschaft. Er bedeutet ein Streben des Einswerdens mit dem Andern, zuletzt auf dem Grund des Guten, das in der Tat den stärksten, den allein unerschütterlichen Grund der inneren Einigkeit gibt. Genau dies fanden wir als den höchsten Begriff der Gerechtigkeit; aber in unnachahmlicher Weise drückt der platonische Eros das aus, was hier besonders zu zeigen war: daß die Tugend der Gerechtigkeit sich wesentlich auf das Triebleben, nicht auf den Willen und die Vernunft allein erstreckt.

Und so werden wir zusammenfassend sagen: daß diese vierte Tugend die drei andern in sich begreift, nur ihnen die besondere Beziehung auf die Gemeinschaft gibt. Sie bedeutet zugleich  Wahrheit, Kraft  und  Reinheit  der Sittlichkeit  im Verhalten zur Gemeinschaft. 

Zugleich ergibt sich, daß auch auf diese Tugend Anwendung findet, was von den drei andern in ihrem wechselseitigen Verhältnis gezeigt wurde: daß jede mit jeder andern nicht bloß harmoniert, sondern derart eins ist, daß keine sich ohne die andere vollenden kann, während doch der begriffliche Unterschied fest bleibt. Das ist der platonische Satz von der Einheit der Tugenden, der eben dies besagt, daß sie alle in der letzten Wurzel eins und derart organisch untereinander verbunden sind, daß jede der andern hilft und selbst ohne sie nicht sein kann, doch aber jede von der andern dem Begriff nach verschieden bleibt. Aus dem Verhältnis der drei Stufen der Aktivität und wiederum dem unauflöslichen Zusammenhang von Individuum und Gemeinschaft erklärt sich dieses Verhältnis einfacher und zwingender, als PLATON es zu begründen vermocht hat.

In der Reihenfolge unserer vier Tugenden aber ließ sich ein stetiger Fortgang von mehr abstrakten zu immer konkreteren Gestaltungen des Sittlichen beobachten. Wir tun den letzten Schritt in dieser Richtung, indem wir nun von der bloß individuellen zur "Tugend" oder sittlichen Ordnung des Soziallebens fortschreiten.
LITERATUR - Paul Natorp, Grundlinien einer Theorie der Willensbildung, Archiv für systematische Philosophie, Bd. 1, Berlin 1895
    Anmerkungen
    1) In "Pestalozzis Ideen über Arbeiterbildung und soziale Frage" (Heilbronn, 1894) zitierte ich das Wort PESTALOZZis: "Die Sittlichkeit ist ganz individuell, sie besteht nicht unter zweien"; nämlich im Unterschied vom "gesellschaftlichen Recht", welches nach seiner (ROUSSEAUschen) Auffassung auf "Vertrag", d. h. auf gegenseitiger Verpflichtung beruth. Wie sehr dagegen das Sittliche seinem Inhalt nach von PESTALOZZI sozial verstanden wird, ist ebendort nachgewiesen. Das Gleiche gilt von KANT.
    2) So (ganz nach KANT) PESTALOZZI, a. a. O., Seite 15.
    3) Ich finde mich hier namentlich mit DILTHEY (Ideen über beschreibende und zergliedernde Psychologie, Sitzungsberichte der Berliner Akademie, Bd. 53, 1894, besonders Kapitel 7) im wesentlichen einig. Auch Seite 52 berührt sich nahe mit der Grundanschauung meiner "Einleitung".
    4) Menon 88; mit zahlreichen Parallelstellen.
    5) Über diesen Sinn der "Idee des Guten" vgl. "Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik" (Brauns Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Bd. V, Seite 149)
    6) Durch diese Erörterungen klärt sich vielleicht, was in meiner Schrift "Religion innerhalb der Grenzen der Humanität" (Seite 4) bei der Kürze der Darlegung nicht sogleich einleuchten mochte.