p-4E. FränkelH. EngW. MackensenG. StörringH. Spitzer    
 
BENNO ERDMANN
Methodologische Konsequenzen
aus der Theorie der Abstraktion

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"Es ist eine noch verbreitete Annahme, die Worte seien dadurch allgemein, daß ihre Bedeutungsinhalte durch abstrakt allgemeine Vorstellungen gebildet werden. Aber wir haben zwischen den Worten, die wir hören, sprechen, sehen oder schreiben und den Bedeutungsinhalten, die durch sie zusammgengefaßt werden, streng zu scheiden."

Es ist eine alte Lehrmeinung, daß unser intellektuelles Leben von demjenigen der Tiere auch aus dem Grund verschieden ist, weil nur der Mensch abstrakte Allgemeinvorstellungen bilden kann. Vielfach ist sie auch auf das Vorurteil gestützt worden, daß alle abstrakten Vorstellungen formuliert,, also an die artikulierte Sprache gebunden sind. Aber sie trifft nicht die schematisch abstrakten Allgemeinvorstellungen, die durch eine intuitive sachliche direkte Abstraktion entstehen. Denn für diese, bei uns am frühesten einsetzende Abstraktion sind die zureichenden Bedingungen lediglich durch die Gedächtniswirkungen wiederholter Wahrnehmungen von ähnlichen Gegenständen gegeben. Die intuitiv abstrakten Allgemeinvorstellungen reichen also, auch in die Tierreihe so weit zurück, wie wir Grund haben, den Tieren Sinneswahrnehmungen und Gedächtnis zuzuschreiben."

Die logische Lehre von der Abstraktion hat ihre Wurzeln in der sokratischen Idee des begrifflichen Wissens und der metaphysisch-logischen Ausgestaltung dieser Idee durch die platonisch-aristotelische Philosophie.

Das Sokratische dialegontas kata gene pragmata [durch echte Auswahl der Dinge - wp] geht auf die Frage nach den begrifflichen oder Wesensbestimmungen der Gegenstände der Unterredung. In der ursprünglichen Fassung der platonischen Ideenlehre wird den ideai, den später sogenannten Gattungsbegriffen, d. h. dem wesentlich Allgemeinen jeder Art, wahrhaftes Sein für sich zuerkannt; in der auf sie gegründeten aristotelischen Formenlehre erhalten die eide ein selbständiges Sein in den Dingen. Aus der von SOKRATES geübten Methode der Begriffsbildung, den epaktikoi logoi aristotelischer Bezeichnung, wird bei PLATON das durch die anamnesis geleitete skopein ex hypotheseos, der dialektische Aufstieg zum Allgemeinen, und sein Gegenstück, das Einteilen, das temnein arora. Aus diesem Vorbild eines abstrahere ab aliqua re [absehen von allem Zufälligen - wp] im Sinne einer rationalen Prägung KANTs entsteht bei ARISTOTELES das abstrahere aliquid [absehen von einigem Zufälligen - wp], die empirisch fundierte epagore und der Abstieg vom Allgemeinen zum Besonderen durch das beweisende Denken.

Von diesen Grundlagen aus sind für die logische Überlieferung "abstrakt" und "allgemein" Wechselvorstellungen geworden. Alle abstrakten Vorstellungen sind ihr zufolge allgemeine und alle Allgemeinvorstellungen sind abstrakte.

Auch für die Psychologie der Abstraktion, die mit BERKELEY einsetzt, bleibt dieses Wechselverhältnis bestehen. Auch er und seine Nachfolger beachten, gleichviel ob sie die logische Überlieferung bestreiten oder psychologischer erklären, nur abstrakte Allgemeinvorstellungen.

Für die psychologische wie für die logische Überlieferung liegt demnach das Wesen des abstrahierenden Denkens in den Prozessen, durch die wir die gemeinsamen Merkmale verschiedener Gegenstände, von Dingen, Eigenschaften, Zuständen, Vorgängen und Beziehungen zusammenfassen. Die abstrakten Vorstellungen selbst werden so zu Inbegriffen gemeinsamer, nach aristotelischem Sprachgebrauch identischer Merkmale. Das Ganze möglichen Wissens ordnet sich dementsprechende in einem Inbegriff von Ähnlichkeitsreihen der Gegenstände des Denkens, die bis zur höchsten Gattung des Gegenstandes überhaupt aufsteigen und in einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit der niedersten Arten ihre unteren Grenzen finden. Die Ordnung dieses Inbegriffs bedingen die von KANT sogenannten Prinzipien der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität.

Es ist eine Fülle von Problemen, die diese logische Überlieferung offen läßt, und ein Zeichen der Energie des wiedererwachten philosophischen Bewußtseins unserer Tage, daß in intensiver geistiger Arbeit neue Wege zu ihrer Lösung beschritten werden.

Nicht ausgeglichen, vielleicht unausgleichbar, weil auf tiefverwurzelnde Gegensätze unserer Denkrichtungen zurückführend, ist der alte Streit des Rationalismus und Empirismus über den Ursprung der Begriffe, in denen sich unser abstrahierendes Denken vollzieht. Nicht nur KANT und seine rationalisierenden Nachfolger haben am apriorischen Ursprung der Kategorien und Ideen sowie der eben genannten methodologischen Prinzipien festgehalten; auch für die neuerstandene phänomenologische Bewußtseinslehre bildet diese Ausnahme ein Postulat. Selbst die seit Kurzem in Angriff genommene experimentelle Untersuchung des Denkens enthält in der Behauptung eines unanschaulichen Denkens und der verwandten Bestimmung der Bewußtheit Keime zu neuen rationalistishen Deutungen. Hören wir die Erklärungen der Anhänger dieser Richtungen, so sollten wir annehmen, daß das Schicksal des Empirismus, den die englische Philosophie seit LOCKE, BERKELEY und HUME neu fundiert, den HERBART, COMTE, JOHN STUART MILL und SPENCER, AVENARIUS, MACH und andere fortgebildet haben, endgültig erledigt ist. Ein solcher verkennt nicht allein den von aller Abstraktion unabhängigen Ursprung der apriorischen Begriffe, sondern das logische Wesen der Abstraktion überhaupt.

Eingeflochten in diesen genetischen Gegensatz ist ein zweiter, objektiver, den wir mit scholastischer Namensgebung als den zwischen realistischem und nominalistischem Denken zu bezeichnen gewohnt sind, d. h. der Gegensatz in den Antworten auf die Frage, ob den Gegenständen der Allgemeinvorstellungen objektive, von unserem Denken unabhängige, oder nur subjektive Wirklichkeit zuzuschreiben sei. Er schied auch die Denker des 17. Jahrhunderts. So DESCARTES, SPINOZA und LEIBNIZ von HOBBES und LOCKE. Ein intelligibler Realismus beherrscht KANTs Lehre von den Gegenständen der reinen Kategorien und der Ideen. In der Ideenlehre SCHELLINGs und SCHOPENHAUERs ist er weitergebildet, in HEGELs Lehre von der Selbstbewegung des Begriffs bis zum Extrem ausgestaltet. Jüngste Triebe bieten neuerdings vielberufende Spekulationen der französischen sowie der phänomenologischen deutschen Philosophie. Ausgesprochene Formen des Nominalismus dagegen finden sich in all den obengenannten Arten des empiristisch orientierten Denkens.

Spezielle Fassungen dieser objektiven Antinomie sind in den Einzelwissenschaften zutage getreten: in der Frage nach der Realität der organischen Spezies, die durch die entwicklungsgeschichtlichen Hypothesen nur vertieft, nicht gelöst ist, sowie in der Frage nach der Realität der kollektiven Substanzen, insbesondere der Kulturgemeinschaften jeder Art.

Nicht weniger getrennt sind entsprechend diesen Grundlagen die Geister in der Antwort auf die Frage nachdem tatsächlichen Bewußtseinsbestand der abstrakt allgemeinen Vorstellungen, also in der psychologischen Theorie der Abstraktion. Schien es lange Zeit hindurch, daß die Lehren BERKELEYs und HUMEs für die Lösung dieser schwierigen Frage ein ausreichendes Fundament geschaffen hätten, so ist auch dieses durch die rationalisierenden Strömungen der Gegenwart anscheinend zu einer instabilis tellus, innabilis unda [die Erde war nicht fest, das Wasser nicht befahrbar - wp] geworden.

Auf keines der eben genannten Probleme möchte ich hier eingehen. Die nachstehende Erörterung soll lediglich einen Teil der überlieferten Annahme prüfen, daß alles Abstrakte allgemein und alles Allgemeine abstrakt ist. Die zweite dieser Behauptungen darf in dem Sinne als erledigt gelten, daß es auch für die rein logische Betrachtung noch andere als abstrakte Allgemeinvorstellungen gibt. Lediglich die erste, daß alles Abstrakte allgemein ist, kommt demnach für unsere Untersuchung in Betracht.

Die Prüfung dieser Überlieferung fordert, daß wir die verschiedenen Arten des abstrahierenden Denkens einer Durchsicht unterziehen. Sie wird als erstes Resultat ergeben, daß das Gebiet der abstrakten Allgemeinvorstellungen, mit denen sich die Logik herkömmlicherweise befaßt, beträchtlich erweitert werden muß.

Seit alters ist man in der Logik gewöhnt, die Formelemente des Denkens überhaupt in den begrifflich bestimmten Allgemeinvorstellungen des formulierten, an die Sprache gebundenen Denkens zu suchen, d. h. in den Allgemeinvorstellungen des wissenschaftliche Denkens, die durch Worte bezeichnet, nach ihrem Inhalt durch Definitionen oder definitorische, einzelne Wesensmerkmale heraushebende Urteile und nach ihrem Umfang durch systematisch gegliederte Einteilungen bestimmt sind.

In dieser Einschränkung des abstrakt Allgemeinen auf die "Begriffe" des wissenschaftlichen Denkens liegt nicht lediglich eine Nachwirkung des Ursprungs der Logik aus der Forderung des begrifflichen Wissens, der von PLATON sogenannten episteme. Sie entspricht, zumindest scheinbar, auch der Aufgabe der Logik, die Formen und Gesetze des gültigen Denkens abzuleiten. Sie schient späterhin überdies durch den Aufbau der logischen Formen des Denkens nahegelegt, solange dieser nach aristotelischem Vorbild auf den Boden des beweisenden Denkens eingeengt blieb. Den Schlußweisen, in denen das deduktive Denken sich vollzieht, schienen die als Prämissen des Syllogismus gefaßten Urteile, und diesen die Begriffe als der Sache nach ursprüngliche Bestandteile zugrunde zu liegen. Erst neuerdings und noch nicht vollständig hat sich der Gedanke durchgesetzt, daß die Formelemente des Denkens die entsprechend weit gefaßten, also nicht auf Behauptungen beschränkten Urteile sind, daß die Begriffe somit nur als unselbständige Glieder der Urteilsinbegriffe, wie die Worte nur als Bestandteile des Satzes in Betracht kommen. So ähnlich hatte die Psychologie sich gewöhnt, von den Sinnesempfindungen zu den Inbegriffen von Empfindungen in den Sinneswahrnehmungen, und von diesen zu den abgeleiteten Vorstellungen und deren Verknüpfungen aufzuzeigen, ohne dabei der Tatsache ausreichend Rechnung zu tragen, daß die Empfindungen niemals für sich, sondern nur als Glieder von Wahrnehmungsinbegriffen gegeben sind, diese Inbegriffe also den Ausgangspunkt der psychologischen Analyse bilden müssen.

Die logisch naheliegende Einschränkung des abstrakt Allgemeinen auf die "Begriffe" läßt sich jedoch nicht aufrechterhalten. Fürs Erste ist das formulierte wissenschaftliche Denken mit dem praktischen, das den Bedürfnissen des täglichen Lebens entstammt und auf deren nächstliegende Befriedigung abzielt, durch zahlreiche unzerreißbare Fäden verknüpft. Denn das wissenschaftliche Denken hat sich ursprünglich aus dem praktisch eingeschränkten entwickelt und bleibt in dieses überall da, wo es dessen unwillkürliche Vorarbeit nicht begrifflich weiterbildet, fest verstrickt. Zudem ist unser wissenschaftliches so wenig wie das praktisch gerichtete Denken an die Sprache gebunden. Dem formulierten Denken geht ein unformuliertes, intuitives voraus und bleibt allen Formen des formulierten Denkens eingebettet.

Gilt dies vom Denken überhaupt, so ebenso vom abstrahierenden. Wir haben neben den begrifflichen auch, wie wir sagen wollen, schematisch allgemeine Abstrakta und neben den formulierten intuitive Allgemeinvorstellungen abstrakter Herkunft anzuerkennen. Die schematische Abstraktion allgemeiner Vorstellungen ist von der begrifflichen dadurch verschieden, daß sie unbeachtet und zumeist völlig willkürlich, also ohne eine auf die Bildung solcher Vorstellungen gerichtete Überlegung erfolgt, und zwar ursprünglich dadurch, daß sich un in wiederholten Sinneswahrnehmungen ähnliche Gegenstände darbieten, deren gemeinsame Merkmale oder Beziehungen sinnfällig hervortreten oder irgendwie praktische Bedeutung besitzen. Sie setzt beim Kind spätestens mit der vollendeten Entwicklung der nervösen Zentralorgane, also um das Ende des dritten Monats selbständigen Lebens ein, von Anfang an unter gelegentlicher Mitwirkung ebenso unwillkürlich sich entwickelnder Aufmerksamkeit. Die den ähnlichen Gegenständen gemeinsamen Merkmale prägen sich nach Maßgabe der eben genannten Voraussetzungen durch die wiederholte Wahrnehmung dem Gedächtnis ein, schließen sich in ihrem assoziativen Bestand kraft dieser Gewohnheitswirkungen enger zusammen und werden in dem so verdichteten Zusammenhang immer leichter reproduzierbar. Intuitive schematische Abstrakta, die wir im entwickelten Sprachbewußtsein durch Worte wie "Tisch, hell, warm, klein, oben, sitzen, gehen" zu formulieren gelernt haben, treten demnach lange vor Beginn des Sprachverständnisses sowie des gleichzeitig anhebenden stillen formulierten Denkens und der Anfänge artikulierter Lautäußerungen auf. Sie vollziehen auch von vornherein die noch zu besprechenden Funktionen für den Vorstellungsverlauf und für das wahrnehmende Erkennen. Unser abstrahierendes Denken beginnt demnach mit einer schematischen Abstraktion intuitiven Charakters.

Der Ursprung ursprünglich intuitiver Abstrakta ist jedoch nicht auf die Zeit vor dem Beginn des Sprachverständnisses und der herkömmlich sogenannten lauten und stillen Willkürsprache beschränkt. Der ansteigende Wortschatz führt allerdings dahin, daß viele dieser ursprünglichen landläufigen Abstrakta bald benannt, also formuliert werden. Dennoch sorgt die nie versiegende Quelle neuen Wahrnehmens und Erlebens dafür, daß die intuitive Abstraktion auch nach gesicherter Herrschaft über die Sprache nicht aufhört; ganz abgesehen davon, daß auch die reichst entwickelten Sprachen, selbst wenn ein Bedürfnis dafür vorläge, außerstande sein würden, all die intuitiven Abstrakta durch Namensgebung zu binden. Es ist zudem, wie hier nicht nochmals ausgeführt zu werden braucht, nur ein offenbares, wenn auch nicht völlig ausgerottetes Vorurteil, daß unser gereiftes, stilles Denken durchweg ein inneres Sprechen ode Hören (mit später hinzutretenden optischen Einschlägen) ist. Selbst der wissenschaftlich wenig Berührte kann, wenn er sich einigermaßen auf Selbstbeobachtung eingestellt hat, unschwer konstatieren, welcher Reichtum an intuitiven Abstrakta seinem formulierten Denken zugemischt bleibt. Schließlich eröffnet die fortschreitende geistige Entwicklung auch dem wesentlich praktisch orientierten Denken noch eine Nebenform der intuitiven Abstraktion, die symbolische, wie wir sie im Unterschied von der direkten nennen wollen, d. h. diejenige, die als Bildern, Zeichnungen oder Karten aller Art die in ihnen symbolisierten Gegenstände aufgrund wiederholter variierter Wahrnehmungen mit Hilfe der Phantasie in abstrakten Formen entstehen läßt.

Entsprechendes ist vom dauernden Einfluß begrifflicher Abstrakta intuitiver Art in unser theoretisches und technisches wissenschaftliches Denken, erst recht in das künstlerische, zu sagen. Wir haben es alle erfahren, daß in schöpferischer wissenschaftlicher Arbeit abstrakt allgemeine Vorstellungen, günstigenfalls aufgrund einer einzigen aufmerksamen Wahrnehmungsreihe, unabhängig von jeder Formulierung entstehen. Diejenigen Gedanken, die als leitende Ideen langsamer begrifflich formulierter Nacharbeit oder überlegter künstlerischer Gestaltung bedürfen, sind in statu nascendi [im Entstehen - wp] von jeher als Intuitionen anerkannt worden. Sie durchsetzen wie das philosophische Denken, so auch alle Verzweigungen wissenschaftlicher und technischer Spezialforschung; und oft ist es bekanntlich mühsam genug, nachträglich für diese inneren Gesichte, soweit sie überhaupt einer sprachlichen Formulierung zugänglich sind, die bezeichnenden Worte zu finden.

Der ununterbrochene Zufluß intuitiv allgemeiner Abstrakta in unser Denken wird auch dadurch nicht behindert, daß die bisher besprochene sachliche Abstraktion, wie wir sie nunmehr nennen dürfen, eine wesentliche Ergänzung durch eine sekundäre Art der Abstraktion erfährt, die ihrer Natur nach an die Sprache gebunden ist. Es ist die an das Sprachverständnis anknüpfende, kurz so zu nennende sprachliche Abstraktion. Damit ist die Bildung abstrakter Allgemeinvorstellungen gemeint, die abstrakte Bedeutungsinhalte von Worten aus laut- oder schriftsprachlicher Mitteilung gewinnen läßt, indem die verstandenen gehörten oder gelesenen Worte durch wechselseitige Determination [Bestimmung - wp] ihrer Bedeutungen allgemeine Bedeutungsinhalte ins Leben rufen. Nehmen wir die grundlegenden Fälle dieser sprachlichen Abstraktion, in denen die Mitteilung für den Verstehenden neue abstrakte Allgemeinvorstellungen erzeugt, so ist leicht ersichtlich, wie hier die prädikativ geleitete Phantasie eben die Funktion übernimmt, die bei der sachlichen Abstraktion von der Wahrnehmung ausgeübt wird. So erzeugt das im Binnenland aufwachsende Kind z. B. die schematische Vorstellung "Meer", das in der Ebene aufwachsende die Vorstellungen "Gebirge" oder "Vulkan". Bei der sachlichen Abstraktion sind demnach die Gegenstände, aus denen die abstrakt allgemeinen Vorstellungen abstrahiert werden, direkt oder symbolisch vorweg gegeben; bei der sprachlichen wird die abstrakte Vorstellung aus dem Bedeutungszusammenhang der verstandenen Worte gewonnen. Jene ist wesentlich analysierender Art; die Urteilsfassung ihrer Ergebnisse vollzieht sich dementsprechend durch analysierende Urteile. Diese ist wesentlich synthetischer Natur; ihre Urteilsprägung geschieht durch konstruierende Urteile. Jene ist genetisch primär, diese genetisch sekundär. Die sachliche Abstraktion ist ferner im allgemeinen bildhafter als die sprachliche; daher das Bedürfnis, diese, wo es angeht, insbesondere im Unterricht, durch die sachliche direkte oder zumindest eine symbolische zu ergänzen. Die sprachliche Abstraktion spielt demgemäß in unserem Denken eine bedeutsame Rolle. Sie gibt der sachlichen leitende prädikative Hilfen; sie schafft vor allem ein schnell sich erweiterndes Gebiet von vornherein formulierter Gedanken, das berufen ist, die zahlreichen Lücken und die engen Schranken individuellen Wahrnehmens und Erlebns zu ergänzen und zu erweitern.

Auch in anderer Hinsicht fordert die Sprache eine Erweiterung der überlieferten Lehre von der Abstraktion. Es ist eine noch verbreitete Annahme, die Worte seien dadurch allgemein, daß ihre Bedeutungsinhalte durch abstrakt allgemeine Vorstellungen gebildet werden. Aber wir haben zwischen den Worten, die wir hören, sprechen, sehen oder schreiben und den Bedeutungsinhalten, die durch sie zusammgengefaßt werden, streng zu scheiden. Die Worte, die wir hören, sind für sich, also losgelöst von ihren Bedeutungen genommen, akustische, diejenigen, die wir sprechen, Inbegriffe von akustischen und motosensorischen, diejenigen schließlich, die wir lesen, optische Wahrnehmungen, in den Buchstabenschriften optische Lautmalereien. Den wiederholten Wahrnehmungen dieser spezifischen Worte, wie wir sie nennen wollen, der voces [Stimme - wp] oder flatus [Wind - wp] älterer Bezeichnung, entsprechen modal verschiedene akustische, motosensorische und optische Worterinnerungen. Aufgrund eben dieser Wiederholungen bilden sich aber auch schematisch abstrakte Vorstellungen der genannten Gruppen spezifischer Worte. Denn auch die akustischen und motosensorischen Wortwahrnehmungen variieren von Individuum zu Individuum und bei jedem Individuum fast von Fall zu Fall des Sprechens; ähnlich so die gedruckten, noch mehr die geschriebenen optischen Worte. Dennoch bleiben die Grundformen dieser Wahrnehmungsworte in jeder Gruppe konstant. Es sind demnach durch die sich wiederholenden Sprachwahrnehmungen alle Bedingungen für abstrakte Vorstellungen der spezifischen Worte gegeben. So entsteht für uns von früh an eine Unterart der direkten sachlichen Abstraktion, die zweckmäßig als verbale bezeichnet wird. Ihre Produkte sind die schematisch allgemeinen Wortvorstellungen, in denen sich unser stilles sprachliches Denken vollzieht, falls es nicht ausnahmsweise in reinen Worterinnerungen verläuft. Daß Analoges von den verkürzenden und präzisierenden Ideogrammen des mathematischen Denkens und verwandten Symbolen gilt, braucht kaum erwähnt zu werden.

Es ist die Aufgabe der Lautlehre, der Phonetik und der in ihren Grundlagen durchaus berechtigten Graphologie, die schematischen Typen dieser verbalen Abstraktion zu verbalen Allgemeinbegriffen zu erheben. Zu ihnen treten die begrifflich abstrakt allgemeinen grammatischen Typen der Wortarten und ihrer Sprachformen sowie der Sätze, ihrer syntaktischen Formen und Beziehungen, wie sie im tatsächlichen Bestand und den verschiedenen Entwicklungsperioden der Sprachen gegeben sind. Sie bieten, da in ihnen nicht lediglich der Lautbestand, sondern auch der Bedeutungsinhalt in Betracht komt, allerdings Mischformen der sprachlichen und verbalen Abstraktion und nähern sich zugleich der symbolischen, wenn es angemessen scheint, die Beziehung von Wort- und Bedeutungsvorstellung dem weiten Begriff der Symbolik unterzuordnen.

Wir haben bisher alle Denkprozesse, die zur Bildung allgemeiner Vorstellungen durch eine Aussonderung der gemeinsamen Bestandteile von Gegenständen ursprünglicher Wahrnehmung führen, als Abstraktionsprozesse aufgefaßt. Halten wir diesen weiten Sinn des Wortes fest, so stoßen wir noch auf eine andere, bisher kaum beachtete und dennoch reichlich fließende Quelle für den Ursprung schematisch abstrakter Allgemeinvorstellungen. Der Vorstellungsbestand der Erinnerungen und der aus ihrem Material abgeleiteten Phantasievorstellungen bedarf trotz aller darauf verwendeten Arbeit selbst in seinen Grundlagen, den Erinnerungen an Empfindungen, noch in reichem Maß der Untersuchung. So viel aber steht fest, daß unser Sinnengedächtnis die Wahrnehmungen in der Erinnerung vielfach nur abgeblaßt und durchgängig so lückenhaft reproduziert, daß die Meinung möglich geworden ist, die zentral ausgelösten Reproduktionen böten Vorstellungen besonderen, von den Wahrnehmungen verschiedenen seelischen Gepräges. Sicher ist ferner, daß der Ausfall und allmählich auch das Verblassen in erster Reihe diejenigen ursprünglichen Inhalte trifft, die von Fall zu Fall der Wahrnehmung variieren oder sonst unwesenstlich sind. Besonders leicht läßt sich diese abnehmende Deutlichkeit an den verbalen Abstrakta, speziell den motosensorischen, konstatieren, deren Bildung und wiederholte Reproduktion der Regel nach unbeachtet erfolgt. Weniger deutlich als bei der sachlichen zeigt sie sich bei der sprachlichen Abstraktion; aber nur deshalb, weil bei dieser schon die ursprüngliche Bildung der Regel nach nicht durch in der Wahrnehmung gegebenes Beispiel des abstrakten Bedeutungsinhaltes lebendig gemacht ist. Immer aber enthalten sich demnach in der Repräsentation der Erinnerung vorzugsweise diejenigen Bestandteile der ursprünglichen Wahrnehmungen, die für diese Wahrnehmungen durchgängig bedeutsam sind, diejenigen also, die ihnen allen gemeinsam bleiben. Demnach werden die Erinnerungen im Verlaufe wiederholter zentraler Reproduktion durch einen Ausfall der variierenden Bestimmungen ohne unser Zutun, man kann sagen, durch unwillkürliche Abschleifung, durchwegs abstrakt allgemein. Dem gleichen Schicksal verfallen auch die Phantasievorstellungen: einmal deshalb, weil ihre Materialien zumeist aus solchen abstrakt allgemein gewordenen Erinnerungen bestehen; sodann darum, weil sie durchgängig, unbeschadet ihres Ursprungsattestes als Einbildungsvorstellungen, durch wiederholte selbständige Erinnerung in Erinnerungen übergehen.

Dies alles setzt uns in den Stand, noch eine letzte Verallgemeinerung mit Sicherheit zu vollziehen. Es ist eine alte Lehrmeinung, daß unser intellektuelles Leben von demjenigen der Tiere auch aus dem Grund verschieden ist, weil nur der Mensch abstrakte Allgemeinvorstellungen bilden kann. Vielfach ist sie auch auf das Vorurteil gestützt worden, daß alle abstrakten Vorstellungen formuliert,, also an die artikulierte Sprache gebunden sind.

Diese Lehrmeinung besteht offenbar zu Recht, soweit es sich um begrifflich bestimmte Abstrakta handelt, gleichviel ob sie formuliert oder unformuliert sind. Sie gilte bens für alle formulierten Abstrakta schematischer Art, wenn wir die Formulierung an die artikulierte Sprache gebunden sein lassen, unter der gleichen Voraussetzung endlich nicht weniger für alle Arten sprachlicher Abstraktion. Aber sie trifft fürs Erste offenbar nicht die schematisch abstrakten Allgemeinvorstellungen, die durch eine intuitive sachliche direkte Abstraktion entstehen. Denn für diese, bei uns am frühesten einsetzende Abstraktion sind die zureichenden Bedingungen lediglich durch die Gedächtniswirkungen wiederholter Wahrnehmungen von ähnlichen Gegenständen gegeben. Die intuitiv abstrakten Allgemeinvorstellungen reichen also, wie hiernach ohne weiteres ersichtlich ist, auch in die Tierreihe so weit zurück, wie wir Grund haben, den Tieren Sinneswahrnehmungen und Gedächtnis zuzuschreiben. Sie erstrecken sich also sicher so weit in die Reihe der Tiere hinein, als diese einer künstlichen Zuch unterworfen werden können, welche die natürlichen Instinkte variiert oder hemmt. Wahrscheinlich gehen sie sogar so weit durch die Tierreihe hindurch und so tief in sie hinunter, wie wir begründeten Anlaß finden, aus reagierenden Bewegungen auf Wirkungen einer vom Sinnengedächtnis abhängigen, individuell erworbenen Gewöhnung an veränderte Lebensbedingungen zu schließen. Selbst Vorstufen der Verbalabstraktion dürfen wir nicht völlig ausschließen, soweit wir auf akustische, unartikulierte, motosensorische, olkfatorische oder ähnliche Verständigungsmittel stoßen. Denn fürs Erste sind auch diese Verständigungsmittel einer individuellen Variation zugänglich, zeigen also neben solchen variierenden auch gemeinsame Merkmale. Wir können demnach nicht umhin, in diesen Fällen schematisch abstrakte Allgemeinvorstellungen eben dieser Mitteilungswahrnehmungen, d. h. eben Vorstufen verbaler Abstraktion vorauszusetzen. Allgemein müssen wir ferner sagen, daß, soweit wir Wirkungen eines individuellen Gedächtnisses beobachten können, auch bei den Tieren die Erinnerung allmählich durch Abschleifung in schematisch allgemeine Vorstellungen übergehen. Dahingestellt bleibt dabei, ob wenigstens den uns näherstehenden Wirbeltieren die Anfänge einer symbolischen Abstraktion zugesprochen werden dürfen.

Das nachstehende Schema soll den Zusammenhang zwischen den bisher besprochenen Typen der Abstraktion verdeutlichen:


Die gesperrt gedruckten Wörter sollen diejenigen Arten der Abstraktion bezeichnen, die wir Grund fanden, bis in die Tierreihe hinein zu verfolgen. Die oben gelegentlich angedeuteten Misch- und Zwischenformen lassen sich aus dieser optischen Konstruktion der Hauptformen der Abstraktion leicht ableiten.

Nur nebenbei war im Vorstehenden auf die Funktionen der Aufmerksamkeit hinzuweisen. Die Aufmerksamkeit ist, wie sich andeutungsweise ergab, eine wesentliche Bedingung nur für die Bewußtseinsrepräsentation der begrifflichen, nicht aber für den Ursprung und Bestand der abstrakt allgemeinen Vorstellungen überhaupt.

Darin liegt der Grund, daß hier von einer Art des Denkens "abzusehen" war, die seit langem dem abstrahierenden Denken zugeordnet wird, auch in der ersten psychologischen Theorie der Abstraktion bei BERKELEY, und seitdem fast durchgängig als selbstverständlich der Abstraktion zugehörig vorausgesetzt worden ist.

Ohne Zweifel liegt, dem Wortsinn des Abstrahierens entsprechend, gleichfalls ein "etwas und von etwas abstrahieren" noch in anderen Fällen vor als da, wo es sich um eine Verdichtung gleicher Merkmale handelt. Wir können bei jeder Wahrnehmung, überhaupt bei jedem gegenständlichen oder emotionalen zusammengesetzten Bewußtseinsinhalt unsere Aufmerksamkeit nur einem Teil desselben zuwenden. Wir können bei der Raum- und Zeitvorstellung von ihrer Erfüllung durch Empfindungsinhalte oder von der Art ihrer Begrenzung, bei einer Mannigfaltigkeit überhaupt von der Ordnung ihrer Glieder, bei einer optischen Wahrnehmung von einem Eigenschaftscharakter der Farben, bei einem Wort von seinem Bedeutungsinhalt "absehen", bei einem Gemälde nur auf die Zeichnung, bei der Erinnerung an eine Person nur auf ihren Gesichtsausdruck achten, bei einer Empfindung nur ihre Intensität in Betracht ziehen, von allem andern also wiederum "abstrahieren".

Der Doppelsinn des Sprachgebrauchs gibt jedoch kein Recht, diesen Denkprozeß der Abstraktion einzuordnen. Für diese ist die notwendige und hinreichende Bedingung die wiederholte Wahrnehmung, die Aufmerksamkeit dagegen nur ein unter besonderen Voraussetzungen hinzutretendes Moment, ein wesentliches nur für die deutliche Bewußtseinspräsentation der begrifflichen Abstrakta, ein geradezu hemmendes für die Abstraktion durch Abschleifung. Jener Prozeß ist dagegen ein Akt der analysierenden Aufmerksamkeit. Diese kann bei jedem komplexen Bewußtseinsinhalt einsetzen, wenn es gilt, irgendwelche seiner Bestandteile von den übrigen zu trennen. Ist ferner der zu analysierende Gegenstand ein singulärer, so bleibt sowohl das Beachtete, wie das Unbeachtete in seiner Singularität unberührt. So können wir an einem Schädel einen für das Beobachtungsziel gleichgültigen pathologischen Befund, an einem Manuskript irgendeine unwesentliche Besonderheit unbeachtet lassen. Nicht einmal darin darf ein Beweisgrund für die Gleichartigkeit beider Denkprozesse gesucht werden, daß hier wie dort der assoziative Zusammenhang nur gelockert, nicht zerrissen wird. Denn fürs Erste ist diese Analogie keine durchgreifende. Bei flüchtiger schematischer Abstraktion und mehr noch bei der Abstraktion durch Abschleifung lösen sich variierende Merkmale tatsächlich dadurch ab, daß sie der Vergessenheit anheimfallen. Soweit ferner jene Lockerung gleicherweise eintritt, hat sie verschiedene Ursachen. Bei der Abstraktion kann sie stets dadurch erfolgen, daß die Wiederholung die ungleichen Merkmale abblaßt: bei der analysierenden Aufmerksamkeit ist sie dagegen stets eine Aufmerksamkeitswirkung, ein Hinunterdrängen des Unbeachteten in das Unterbewußtsein. Ist schließlich jenes Abblassen, wie bei der begrifflichen Abstraktion, durch hemmende Aufmerksamkeitswirkungen mitbedingt, so treten eben auch hier solche Wirkungen ergänzend ein.

Das analysierende Unbeachtetlassen darf also in der Tat trotz einem verwischenden Sprachgebrauch mit dem Abstrahieren nicht zusammengeworfen werden. In dieser Hinsicht haben wir somit die Überlieferung einzuschränken. Es ist das Zeichen eines bewundernswerten psychologischen Takts, der alle Untersuchungen BERKELEYs auszeichnet, daß er bei seiner vernichtenden Polemik gegen die logische Überlieferung, die den abstrakten Allgemeinvorstellungen eine seelische Sonderexistenz zuschrieb, die analysierende Aufmerksamkeit als die allein gültige Art der Abstraktion anerkannte. Er fehlte mit dieser Überlieferung nur darin, daß er jene Art der Aufmerksamkeit der Abstraktion einordnete.

Als notwendige und hinreichende Bedingungen für den Ursprung abstrakter Vorstellungen bleiben demnach nur zwei: erstens, daß unserem Wahrnehmen Gegenstände gegeben werden, die neben wechselnden, also von Fall zu Fall verschiedenen, auch gleichbleibende Bestimmungen aufweisen; zweitens, daß diese wiederholten Wahrnehmungen Residuen [Überbleibsel - wp] hinterlassen, die sich durch jede Art von Erneuerung ihres assoziativen Bestandes dem Gedächtnis fester einprägen und dadurch Dispositionen zu immer leichterer, schnellerer, sichererer und, bei hinzutretender Aufmerksamkeit, auch deutlicherer Reproduktion der ihnen entsprechenden Vorstellungsinhalte werden.

Trifft dies aber zu, so sind wir gezwungen, nicht nur die logisch überlieferten, sondern alle im Vorstehenden erörterten Arten abstrakter Vorstellungen über ihre unteren Grenzen, die niedersten Arten, hinaus durch ein zweites, kaum weniger weites Gebiet abstrakter Gebilde, durch das abstrakter Einzelvorstellungen, zu ergänzen.

Um die Funktionen dieser, wie ich glaube, bedeutsamsten Erweiterung der überlieferten Lehren verständlich zu machen, bedarf es vorerst eines kurzen Blicks auf die hier bisher nur angedeuteten intellektuellen Funktionen der abstrakt allgemeinen Vorstellungen. Gelegentlich haben wir bis jetzt der Rolle gedacht, welche die allgemeinen Abstrakta als selbständige Glieder unseres Vorstellungsverlaufs spielen. Da dasjenige, was an dieser Funktion durch die phänomenologischen Wesensbestimmungen wieder strittig geworden ist, für das Nachstehende nicht in Betracht kommt, fordern jene Andeutungen hier keine Ergänzung. Wohl aber haben wir kurz auf die bei anderen Gelegenheiten erörterten Wirkungen zurückzukommen, welche die Gedächtniserregungen dieser Vorstellungen auf unser wahrnehmendes Erkennen ausüben. Das wahrnehmende Erkennen ist, wird der Erkenntnisvorgang logisch formuliert, die Subsumtion eines wahrgenommenen Gegenstandes unter eine abstrakte Vorstellung. Diese logische Fassung darf jedoch nicht als eine Beschreibung des tatsächlichen Verlaufs der Erkenntnis gedeutet werden. Denn wo immer Gegenstände der Wahrnehmung unmittelbar erkannt werden, sind die abstrakten Vorstellungen, die bei einer logischen Deutung als subsumierende fungieren, nicht als selbständige Glieder unseres Erkenntnisbestandes anzutreffen. Dennoch müssen ihre Gedächtnisresiduen als reproduktion erregt angenommen werden, da sonst die Tatsache jenes Erkennens, das wir nicht umhin können, logisch als Subsumtion zu fassen, unbegreiflich wäre. Sie müssen deshalb im tatsächlichen Erkenntnisbestand mit den Wirkungen der gegenwärtigen Sinnesreize ineins gegeben sein, also ein psychologisches Seitenstück zu den metaphysischen universalia in rebus [das Ideale ist im Realen enthalten - wp] bilden. Die so erregten Residuen müssen, anders ausgedrückt, Glied für Glied mit den entsprechenden Reizwirkungen verschmolzen sein. Da der Ausdruck "Verschmelzung" im psychologischen Sprachgebrauch seit HERBART in sehr verschiedenem Sinn genommen wird, habe ich vorgeschlagen, diese Art der Verschmelzung, speziell im Unterschied zu den mannigfachen Formen einer assoziativen Verschmelzung von Empfindungen, z. B. der Partialtöne in einem unanalysiert wahrgenommenen Klang, als apperzeptive Verschmelzung zu bezeichnen. Sind jene Gedächtnisresiduen demnach unter den angegebenen Bedingungen im Erkenntnisbestand der Wahrnehmung nur apperzeptive verschmolzen gegeben, sind sie, wie wir auch sagen können, nur unselbständig reproduziert, so müssen sie, für sich genommen, ebenso als unbewußt erregt vorausgesetzt werden, wie die für sich genommenen Wirkungen der Reize, die jene Erregung unmittelbar auslösen. Sie sind, wie wir kurz sagen können, als Residualkomponente des wahrnehmenden Erkennens mit dessen Reizkomponente zusammengeflossen. Diese residualen Reproduktionen der abstrakt allgemeinen Vorstellungen bedingen demnach den Erkenntnischarakter der Sinneswahrnehmung in erster Linie, nicht bloß ei uns, sondern ebenso auch bei den Tieren. Sie sind ferner die wesentlichen Bindeglieder dafür, daß die einzelnen Wahrnehmungen zu geschlossenen Inbegriffen werden, machen also ein wesentliches Moment der wenig glücklich sogenannten, neuerdings viel erörterten "Gestaltqualitäten" aus. Sie bilden zudem eine notwendige, wenn auch nicht die hinreichende Bedingung für das in seiner Qualität noch umstrittene "Bekanntheitsbewußtsein". Ihre intellektuellen Funktionen reichen sogar über den unmittelbaren Erkenntnisbestand der Wahrnehmung weit hinaus. Nicht der vorliegende Wahrnehmungsbestand selbst, sondern die in ihn eingeschmolzenen residualen Erregungen liefern die Bedingungen für die selbständige Reproduktion der mit ihnen assoziativ verknüpften Glieder früherer Wahrnehmungen. für die in der neu vorliegenden entsprechenden Reize fehlen. Sie sind es, die z. B. bei einer nur durch optische Reize vermittelten Wahrnehmung die im allgemeinen abstrakten Vorstellungen früherer Tast- und Temperaturwahrnehmungen erstehen lassen, oder bei ausschließlich akustischen Reizen die ergänzenden Repräsente früherer Gesichtswahrnehmungen, z. B. eines tönenden Instruments oder eines vorüberrollenden Wagens, möglich machen. Sie vermitteln auf diese Weise demnach den Zusammenschluß der einzelnen aufeinander folgenden Wahrnehmungen zur Erfahrung. Sie gestalten schließlich auf der gleichen assoziativen Grundlage, indem sie die den erkannten Gegenstand bezeichnenden Worte in einem prädikativen Zusammenhang reproduzierbar machen, das für sich genommen intuitive Erkennen zu einem formulierten, bedingen also die urteilsmäßige Prägung der Wahrnehmung und ordnen diese so dem Zusammenhang des formulierten Denkens ein. Sie lösen somit all jene Prozesse aus, die HELMHOLTZ glaubte als unbewußte Schlüsse charakterisieren zu dürfen.

Nunmehr sind wir in der Lage, die oben angezeigte letzte Erweiterung des Begriffs der Abstraktion vorzunehmen.

Bisher haben wir im Anschluß an die Überlieferung vorausgesetzt, daß abstrakte Vorstellungen entstehen, wo immer sich aufgrund wiederholter Wahrnehmungen ein Anlaß bietet, gemeinsame Bestimmungen verschiedener Gegenstände zu einem engeren assoziativen Verband zu vereinigen. Diese Voraussetzung ist jedoch ohne Zweifel zu eng. Eine solche Vereinigung kommt offenbar stets zustande, wenn uns in wiederholten Wahrnehmungen gleiche Bestimmungen entgegentreten. Die Bedingungen zur Abstraktion sind demnach auch dann gegeben, wenn ein und derselbe Gegenstand in wiederholten Wahrnehmungen neben verschiedenen auch gleiche Bestimmungen darbietet. Die so bedingte Ähnlichkeit wiederholter Wahrnehmungen ein und desselben Gegenstandes kann sowohl dann eintreten, wenn er selbst sich verändert, wie auch dann, wenn die subjektiven Bedingungen früherer Wahrnehmungen im Wiederholungsfall andere geworden sind. Es sind nur Unterschiede der Formulierung, nicht des formulierten Sachverhaltes, wenn wir die gleichen Bestimmungen von Wahrnehmungsinhalten, die verschiedenen Gegenständen angehören, gemeinsame, dagegen konstante nennen, wenn sie ein und demselben veränderlichen oder unter veränderten Bedingungen wahrgenommenen Gegenstand zukommen. Es gibt somit neben abstrakt allgemeinen auch abstrakte Vorstellungen einzelner Gegenstände, kurz abstrakte Einzelvorstellungen. Die Bildung solcher Einzelabstrakta schematischer Herkunft erfolgt sogar in jedem Fall wiederholten Wahrnehmens eines Gegenstandes. Denn da hier meist die gleichen Merkmale überwiegen, so bedarf es der Bedingungen einer unwillkürlichen Auswahl, die beim Ursprung abstrakter Allgemeinvorstellungen mitwirken, nur selten.

Leicht ersichtlich ist, daß alle Arten der Abstraktion, die wir oben unterschieden haben, sowie alle ihre Zwischen- und Mischformen auch für die abstrakten Einzelvorstellungen gültig sind. Sie werden demnach auch wie jene zu Begriffen, wenn ihr Inhalt und ihre wesentlichen Determinationen allgemeingültig bestimmt sind. Ebenso unmittelbar folgt, daß die analysierende Aufmerksamkeit hier lediglich dieselbe akzessorische Funktion ausübt, wie beim Ursprung und für den Bewußtseinsbestand der abstrakten Allgemeinvorstellungen.

Die logischen Beziehungen beider Arten von abstrakten Vorstellungen können wir in einer ersten Annäherung schon jetzt festlegen. Die obere Grenze der Einzelabstrakta bilden die niedersten Arten der abstrakten Allgemeinvorstellungen, ihre unteren Grenzfälle die einzelnen konkreten Wahrnehmungen. Wir können uns die im Grunde allerdings unanschaulich verwickelten, jeder räumlichen Symbolik spottenden Beziehungen der Ähnlichkeits- oder Ordnungsreihen abstrakter Allgemeinvorstellungen unter dem Bild eines Kegels veranschaulichen, dessen Spitze die höchste Gattung des Gegenstandes überhaupt, dessen Basis die Mannigfaltigkeit der untersten Arten ist. Dann haben wir dieser Basis nunmehr einen Kegelstumpf für die Reihen der abstrakten Einzelvorstellungen anzufügen, dessen Grundfläche eine unendlich größere Mächtigkeit besitzt, als dem Umkreis der niedersten Arten zukommt. Innerhalb des so umgrenzten Gebietes der abstrakten Einzelvorstellungen treffen wir dementsprechend auch die Umfangsbeziehungen ansteigender Abstraktion und absteigender Determination mit all den Konsequenzen, welche die Ähnlichkeitsgliederung der abstrakten Allgemeinvorstellungen in Gattungen und Arten mit sich führen. Allerdings fehlen der Überlieferung mit der Anerkennung dieser Sachlage auch die Worte für die Reihenglieder der Einzelabstrakta. Es verstößt jedoch angesichts der fest gewordenen Bedeutungsinhalte von "Gattung" und "Art" gegen unser Sprachgefühl, von den Einzelgegenständen überhaupt als Gattungen zu den Arten der aus ihnen durch eine synthetische Determination ableitbaren spezielleren Vorstellungen zu reden. Ich habe deshalb vorgeschlagen, sie durch die Termini "Gesamt- und Spezialvorstellung" zu ersetzen. Nur der Ausdruck "Umfang" läßt sich zur Not, unbedenklich sogar das Wort "Begriff" auch hier anwenden.

Die abstrakten Einzelvorstellungen unterscheiden sich demnach von den allgemeinen dadurch, daß sie nicht wie diese die Anzahl der ihnen untergeordneten Exemplare unbestimmt lassen. Aber dieser Unterschied berührt nicht die Gleichartigkeit des Abstraktionsbestandes und Abstraktionsursprungs beider Vorstellungsgruppen. Er ist in dieser Hinsicht fürs Erste logisch unwesentlich. Denn im entwickelten Denken können auch abstrakte Allgemeinvorstellungen entstehen, die nur durch einen einzigen Gegenstand, etwa ein aufgefundendes Exemplar einer ausgestorbenen Spezies, repräsentiert sind. Überdies ist die Anzahl der Exemplare für den Umfang der Gattung überhaupt gleichgültig. Nur ein nachlässiger Sprachgebrauch läßt von ihm als der Summe der Arten oder gar der Exemplare reden. Er ist in keinem Fall durch die numerische Menge, sondern stets lediglich durch den qualitativen Inbegriff der Arten bestimmt. Auch psychologisch ist der Unterschied kein durchgreifender. Die Bewußtseinsrepräsentation der abstrakten Einzelvorstellungen ist allerdings zumeist bildhafter, anschaulicher als der Regel nach die Bewußtseinsbestimmtheit der allgemeinen Abstrakta, weil die einzelnen fundierenden Wahrnehmungen hier fast durchgängig einander ähnlicher sind als dort. Aber auch die abstrakten Allgemeinvorstellungen zeigen verschiedene Grade der Bildhaftigkeit. Die durch symbolische Abstraktion gewonnenen sind im allgemeinen weniger anschaulich als diejenigen, die der direkten sachlichen Abstraktion entstammen. Und fast durchgängig sind die allgemeinen Abstrakta, die aus sprachlicher Überlieferung abfließen, weniger bildhaft als diejenigen, die selbst nur andeutenden Symbolen entnommen sind. Überdies können die abstrakten Allgemeinvorstellungen jeder Herkunft, auch wenn sie weiten Umfangs sind, in ihrem Vorstellungsbestand durch ein einziges Exemplar anschaulich repräsentiert werden, d. h. einen statischen Hintergrund des Bewußtseins darbieten. Andererseits kann bei stark veränderlichen Einzelgegenständen ein Durchlaufen verschiedener Bilder wesentlich werden, der Bewußtseinsbestand also auch bei ihnen ein abgeblaßter dynamischer sein. Endlich kann sich bei beiden Arten von Vorstellungen, wenn sie uns völlig vertraut geworden sind, im Verlauf des selbständigen formulierten Denkens sowie des Sprachverständnisses die Bildhaftigkeit auf ein Minimum reduzieren, der Bedeutungsinhalt der sie bezeichnenden Worte sogar lediglich unbewußt erregt sein. Es kann also hier wie dort der noch verschieden gedeutete Fall von ausschließlicher Bewußtseinsrepräsentation durch das bezeichnende Wort eintreten, der neuerdings als "unanschauliches Denken", oder auch als "Bewußtheit" bezeichnet worden ist. Die einzige feste Differenz zwischen den abstrakten Allgemein- und Einzelvorstellungen besteht demnach darin, daß bei diesen die Bestimmungen, welche die Singularität sichern, im allgemeinen also raumzeitliche, bei deutlicher Repräsentation mitgedacht werden müssen. Nur scheinbar widerspricht der logischen Gleichartigkeit beider Vorstellungsgruppen, daß die Spezialvorstellungen eines individuellen Gegenstandes, z. B. einer Persönlichkeit, nur irgendwelche ihrer Betätigungsweisen oder Entwicklungsphasen umfassen, die Vorstellung also, die diese alle in sich schließt, sowohl inhalts- wie umfangreicher ist als jede jener Spezialvorstellungen. Die offensichtliche Antinomie dieses Gedankens löst sich leicht. Die Vorstellung eines Gegenstandes in der (endlichen) Totalität seiner möglichen Bestimmungen, d. h. die als repräsentativer Typus gefaßte Idee desselben, gibt nicht dessen abstrakte Gesamtvorstellung. Wir können auch jeden allgemeinen Gegenstand, z. B. das Wirbeltier oder den Staat, in einer solchen typischen Repräsentation erfassen. Nur eignen sich die individuellen Einzelgegenstände dazu leichter und besser als die kollektiven und diese ähnlich so eher als die allgemeinen. Denn die Einzelvorstellungen individueller Gegenstände sind fester geschlossen, als intuitiv lebendiger als jene anderen; ihre Variationen fallen weniger weit auseinander. Anzuerkennen ist demnach nur, daß die repräsentativen Ideen da, wo sie auftreten, insbesondere also bei individuellen Gegenständen, ein weiteres Moment für die Anschaulichkeit abgeben.

Wenige, einem bestimmten Gebiet der Tatsachenwissenschaften entnommene Beispiele, deren Aufzählung zugleich den für die Einzelabstrakta bedeutsamen Unterschied individueller und kollektiver Gegenstände charakterisieren mag, werden vorerst genügen.

Kollektive Gesamtvorstellungen bietet die Geschichte unseres Geschlechts überhaupt, die Geschichte der Religion, der Sprache, der Wirtschaft, der Kunst, der Technik, der Wissenschaft. Von ihnen aus gelangen wir durch Determinationen zu den Spezialvorstellungen der sogenannten alten, mittleren und neueren Geschichte und ihrer zahllosen weiteren Spezialisierungen bis hin etwa zur Geschichte einer einzelnen Schlacht oder eines bestimmten Dialekts.

Die Belege für abstrakte Einzelvorstellungen individueller Gegenstände sind auf diesem Gebiet nicht weniger naheliegend. Die biographische Forschung gewinnt die abstrakte Gesamtvorstellung einer Persönlichkeit aus deren Spezialvorstellungen, den einzelnen Entwicklungsperioden und Betätigungsweisen. So ähnlich gliedert sich die Untersuchung einer literarischen Quelle oder eines Kunstwerks nach mannigfaltigen Einteilungsgründen, wo notwendig bis hinunter zu strengster Detailsforschung.
LITERATUR - Benno Erdmann, Methodologische Konsequenzen aus der Theorie der Abstraktion, Sitzungsberichte der königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften, Jahrgang 1916, Berlin