ra-2ra-1NovalisE. KircherA. RossA. Tumarkin    
 
MARIE JOACHIMI
Die Weltanschauung der
deutschen Romantik


"Die Romantik ist ein Protest gegen kleinliche Interessen, eine kümmerliche Moral, spießbürgerliche Ideale, sentimentale Lebensauffassungen; sie ist ein Kampf gegen alle diejenigen, die eng in Vorurteilen gebunden bleiben und sich dabei mit hochtrabenden Redensarten und erborgten Idealen wichtig machen. Die Romantiker wollen die Deutschen tiefer sehen, größer denken, wahrer fühlen lehren und deshalb möchten sie die Gründlichkeit der deutschen Wissenschaft durch den fortwährenden Hinweis auf das Unendliche und Unfaßbare im Natur- und Geistesleben, auf die Philosophie, vor Kleinkrämerei und Verknöcherung bewahren."

"Der spekulativ-gerichtete Mensch, der sich von der rein-praktischen seiner Mitmenschen dadurch unterscheidet, daß er die Welt nicht als gegebene Tatsache hinnehmen kann, den es vielmehr quält, sie auch als Idee, als Weltanschauung, als Einheit zu begreifen, hat ja eigentlich nur zwei Wege offen: Entweder er will und muß auf alle Fälle Klarheit, Ordnung, Logik haben, dann verzichtet er auf Buntheit, Glanz und Schimmer und auf die ganze sinnverwirrende Mannigfaltigkeit der Erscheinungen. - Oder aber er kann und will nicht verzichten, die Schönheit, der Glanz erscheinen ihm wirklicher als der Begriff und das System, die Fülle wünschenswerter als die Ordnung, das Geheimnis tiefer, reizvoller und wirklicher als die Klarheit."


Vorwort

In diesem Buch handelt es sich darum, das Weltbild, welches den mehr oder weniger bekannten Ideen der Romantik zugrunde liegt, herauszuheben, um so den Einzellehren und -ideen zu einem tieferen Verständnis zu verhelfen. Ich habe dabei nicht die Absicht, eine erschöpfende historisch-kritische Gesamtdarstellung früh- und spätromantischer Anschauungen zu bieten. Ich möchte nur - gleichsam im Querschnitt - den eigentlichen Kern und die Hauptstruktur des romantischen Geisteslebens darstellen.

Ich lege meiner Darstellung hauptsächlich FRIEDRICH SCHLEGELs Schriften zugrunde, zunächst, weil mir erst aus ihnen die Einheitlichkeit und Logik der romantischen Weltanschauung klar wurde: vieles, was mir in WILHELM SCHLEGELs und besonders in TIECKs Schriften dualistisch und widerspruchsvoll erschienen war, löste sich zu meinem eigenen Erstaunen bei FRIEDRICH SCHLEGEL in einer Grundanschauung auf. Ein weiterer Grund ist der, daß FRIEDRICH SCHLEGEL, wie ja längst anerkannt ist, der eigentliche Philosoph, Anreger und Programmatiker seines Kreises war; das meiste was später geistiges Gemeingut der Romantiker wurde, war ursprünglich FRIEDRICH SCHLEGELs Spekulation.

Ich habe mich bemüht, soviel wie möglich die Romantiker für sich selbst sprechen zu lassen und nicht aus der Rolle des unpersönlichen Interpreten herauszufallen. Nur im Falle FRIEDRICH SCHLEGELs konnte ich mir ab und an einen Hinweis auf seine Vorzüge nicht versagen. Es ist soviel an ihm herumgetadelt worden, daß dieser Hinweis mir fast unwillkürlich als Pflicht erschien. Da es aber der Mühe wert war, ihn zu tadeln, so lohnt sich wohl auch der Versuch, ihn zu verstehen. Dasselbe gilt für die ganze Romantik: Ich versuchte sie zu verstehen und überlasse es einer berufeneren Feder, sie zu kritisieren. Meine Frage war: Was ist Romantik, und was wollen die Romantiker? Die Antwort, die ich in diesem Buch niederlegte, in ein paar Worten ausgedrückt, würde ungefähr lauten: Die Romantik ist ein Protest gegen kleinliche Interessen, eine kümmerliche Moral, spießbürgerliche Ideale, sentimentale Lebensauffassungen; sie ist ein Kampf gegen alle diejenigen, die eng in Vorurteilen gebunden bleiben und sich dabei mit hochtrabenden Redensarten und erborgten Idealen wichtig machen. Die Romantiker wollen die Deutschen tiefer sehen, größer denken, wahrer fühlen lehren. Deshalb suchen sie alles Leben in Poesie zu tauchen; und deshalb möchten sie die Gründlichkeit der deutschen Wissenschaft durch den fortwährenden Hinweis auf das Unendliche und Unfaßbare im Natur- und Geistesleben, auf die Philosophie, vor Kleinkrämerei und Verknöcherung bewahren.

Daß die ersten Romantiker mehr große Worte und Theorien machten, als fertige Werke der Kunst lieferten, ist ihnen oft zum Vorwurf gemacht worden. Doch Worte sind auch Taten! Und ein Versehen ist es ja wohl nicht, große Worte auszusprechen, besonders wenn diese großen Taten den Weg bereiten. Ich beschäftige mich in diesem Buch mit den Worten und nicht mit den Werken der Romantiker.

Ich habe mich bei meiner Darstellung der wissenschaftlichen Methode bedient und habe, soweit dies unbeschadet der Übersichtlichkeit des Gesamtbildes geschehen konnte, die historischen Anknüpfungspunkte berücksichtigt. Ich tat es in dem Wunsch, der Literaturgeschichte oder Philosophie eine Vorarbeit oder einen Beitrag zur Romantikforschung zu bieten.



Einleitung

Die literaturgeschichtliche Stellung
der Romantik

Die Überbrückung des großen Gegensatzes zwischen nationaler und antiker Literatur, die in anderen Nationen gewaltige lebensfrohe Renaissance-Literaturen am Ausgang des Mittelalters hervorgerufen hatte, war in Deutschland bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts nicht geglückt. Dann hatten OPITZs Bemühungen um die Versöhnung des Gegensatzes diesen erst recht deutlich gemacht, ohne eine tiefer greifende Einigung erzielen zu können; und seit der Zeit mühte sich die deutsche Literatur vergeblich, dieses sie aufreibenden Zwiespaltes in sich Herr zu werden.

Erst im 18. Jahrhundert, wo SHAKESPEARE als Vertreter der nationalen Tendenzen gewonnen wird, entsteht aus dem qualvollen inneren Widerspruch ein lebendiger, äußerer Kampf. Erst als  Regelfrage,  dann als  nationale Bühnenfrage,  dann als  Geniefrage  bewegt er die Gemüter. Vom Streit um die sogenannte shakespearische Unregelmäßigkeit geht er aus, wird dann um die nationale Eigentümlichkeit der Bühne und schließlich um alle nationalen und individuellen Eigentümlichkeiten des Genies und der deutschen Literatur überhaupt geführt. Damit wird die engbrüstige, französische Klassizität durch SHAKESPEARE erfolgreich aus dem Feld geschlagen. Mit einer neuen, echten Antike, die jetzt von WINCKELMANN, LESSING, HERDER gepredigt wird, scheint sich das echt Nationale, Ursprünglich-Volkstümliche leichter versöhnen und verschmelzen zu wollen. Dazu sind im Kampf beide Seiten, die national-deutsche und die griechisch-klassische, erstarkt. Sie haben an Selbsterkenntnis und Selbstbewußtsein gewonnen; das Bedeutende und Berechtigte in beiden ist immer schärfer hervorgetreten. Fast gleichzeitig wird daher aus drei verschiedenen Heerlagern, von drei verschiedenen Standpunkten aus der große Kampf theoretisch geschlichtet: Die drei großen ästhetischen Abhandlungen: SCHILLERs "Naive und sentimentalische Dichtung", die siebente und achte Sammlung von HERDERs "Humanitätsbriefen" und FRIEDRICH SCHLEGELs "Studium der griechischen Poesie" stellen die Lösung der brennenden Frage  antik oder modern,  und damit das ästhetische Resumé des 18. Jahrhunderts dar. Sie konstatieren - jede von ihrem Standpunkt - die prinzipielle Gleichberechtigung beider Richtungen. Sie betonen, daß nur eine oberflächliche und gedankenlose Ästhetik  einer  der Richtungen auf Kosten der anderen die Alleinherrschaft einräumen würde.

Glänzender noch und tiefergehend war die praktische Lösung:  Eine deutsche Renaissance und eine nationale Romantik sind die Früchte  und großartige Folge eines schwer errungenen, aber dafür desto tiefer greifenden, praktischen Sieges der deutschen Literatur über das sie bis ins Innerste erschütternde und zersetzende Problem.

Im Allgemeinen zeigt sich uns das Bild der Literaturgeschichte um 1800 als ein Ganzes, in dem die universalistisch-shakespearesierende, germanisierende Romantik mit der aristokratisch-stilisierenden, graecisierenden Klassizität sich mehr oder weniger harmonisch ergänzt und sich mit ihr verschmelzen möchte.

Die Romantik und der Klassizismus eines GOETHE und SCHILLER sind deshalb  nicht als Gegenteile, sondern als zwei sich ergänzende Seiten  zu verstehen. Eigentlich begreift sogar das Programm der Romantik die Klassizität mit in sich. Und obgleich die großen Klassiker sich einer gewissen Reserve befleißigen, die sich oft zu einer direkten Ablehnung und zum Spott steigert, so kann auch von ihrer Seite von einem direkten und prinzipiellen Gegensatz zur Romantik als Ganzes nicht die Rede sein. (1) - Haben wir auf der einen Seite auch eine starke Vorliebe für die lichte Formschönheit der Antike, auf der anderen Seite für die Formenfülle und Farbenpracht einer shakespearischen Germanität und Individualität, so war man sich doch auf beiden Seiten bewußt, daß keine unüberbrückbare Kluft Romantik und Klassizismus trennte, daß man im Grunde einig war. Die Vorliebe selbst war ja bei beiden aus der Reakton gegen die überschwengliche Jugendbegeisterung für die andere Seite hervorgegangen: GOETHE, dem SHAKESPEARE in seiner Jugend alles war, geht im Mannesalter zu den Griechen. FRIEDRICH SCHLEGEL, der noch in seinem "Studium der griechischen Poesie" in SHAKESPEARE nur den großen Manieristen sieht und in den Jugendbriefen selbst im  Hamlet  einen Mangel an "antikem Geist" schmerzlich empfindet, rächt sich für seine "Objektivitätswut" und Griechenbegeisterung, indem er zu SHAKESPEARE als den "Mittelpunkt" aller wahren Poesie und zur Naivität des germanischen Mittelalters flüchtet. - So konnte man wohl gegenseitig über den Geschmack streiten, aber man mußte sich im letzten Grund verstehen, und - ob man wollte oder nicht - man beeinflußte sich gegenseitig. Daß sich jede der beiden Seiten für die vollkommenere hielt, ist selbstverständlich und unwesentlich. Das Wesentliche ist, daß bei beiden der Kampf zwischen antik und modern, oder naiv und sentimental als unhistorisch und unphilosophisch aufgegeben ist, und daß ein neues Ideal der  "Kunst",  in welchem das "Wesentlich-Moderne" mit dem "Wesentlich-Antiken" verschmolzen ist, vertreten wird. Mit diesem neuen Ideal tritt man in einen bewußten Gegensatz zum 18. Jahrhundert, zum Sturm und Drang und zum Rationalismus.

Erst später entwickeln sich zwei prinzipielle Gegensätze zwischen Romantik und Klassizismus:
    1. In der Schauspielkunst der Kampf zwischen Weimaraner und Hamburger Schule; die Frage: Stilisierung oder Natürlichkeit?

    2. In der Technik des Dramas die Frage: Bietet der reife  Goethe  oder  Shakespeare  uns die Musterform für ein nationales Drama?
Gemeinsam kämpfen die Romantiker und Klassiker gegen die Theorien des rousseauschen Sturm und Drang und gegen die Aufklärungs- und Korrektheitsprinzipien. Die Polemik ist bei den Romantikern am gründlichsten. Gegen den Sturm und Drang stellen sie einen neuen Geniebegriff auf. Gegen die Korrekten wird aufgrund einer tiefgehenden philosophischen Spekulation eine neue Definition vom Wesen der Poesie und der wahren Korrektheit in der Kunstform gegeben.


Die Stellung der Romantik
in der Philosophie

Diese ist so eigenartig, daß sie schwer zu umschreiben ist, und nur in einem großen Werk im einzelnen nachzuweisen wäre.

Noch immer ist die wohl von HETTNER und GERVINUS stammende Ansicht, daß die Romantiker "unfertige Nachzügler" des Sturm und Drang, besonders rousseaugefärbter Gefühlsphilosophen sind, die populärste. Man wirft ihnen eine "einseitige Überhebung des Gefühlslebens, besonders der Phantasie" vor, bezichtigt sie der "Phantomjagd" und dgl.; dabei stützt man sich auf einzelne Aussprüche FRIEDRICH SCHLEGELs und NOVALIS, die man aus jedem Zusammenhang gerissen hat. Das ist ein Standpunkt, der ein Verständnis der romantischen Grundsätze von vornherein unmöglich macht. Denn geht man hiervon aus, so bleibt einem nichts weiter übrig, als verwundert den Kopf zu schütteln, daß so gescheite Leute wie die Romantiker und ein so feiner Denker wie FRIEDRICH SCHLEGEL im Grunde so dumm, so unlogisch sein konnten; und schließlich, um wenigstens etwas zu retten, einen scharfen Dualismus in der romantischen Ästhetik und Weltanschauung zu konstatieren. - Wie weit die Romantik von einer reinen Gefühlsphilosophie entfernt ist, soll im Folgenden klar werden. Hier ein Wort über das Gemeinsame zwischen ROUSSEAU und der Romantik, das oft so stark überschätzt wird: Was die Romantiker mit ROUSSEAU gemeinsam haben, das heben sie mit all denen gemeinsam, die seit dem Anbegrinn menschlicher Spekulation der Ansicht gewesen sind, daß das Höchste und Letzte namenlos ist und vielleicht bleiben wird; daß das Absolute besser gefühlt als umschrieben werden kann, daß die Macht der Schönheit, der Geist, die Welt, das Leben nicht aus dem Ich oder dem Selbstbewußtsein oder aus  irgendeinem  der Begriffe  allein  zu erklären ist, daß - wie es DILTHEY ausdrückt - das Erkennen nie das Leben selbst erreicht, und die Erkenntnis schlechthin unergründlich und mehrseitig ist. "Man kann überall ins Unendliche immer tiefer graben" sagt FRIEDRICH SCHLEGEL:

Der spekulativ-gerichtete Mensch, der sich von der rein-praktischen oder der rein-gläubigen Hälfte seiner Mitmenschen dadurch unterscheidet, daß er die Welt nicht als gegebene Tatsache hinnehmen kann, den es vielmehr quält, sie auch als Idee, als Weltanschauung, als Einheit zu begreifen, hat ja eigentlich nur zwei Wege offen: Entweder er will und muß auf alle Fälle Klarheit, Ordnung, Logik haben, dann verzichtet er auf Buntheit, Glanz und Schimmer und auf die ganze sinnverwirrende Mannigfaltigkeit der Erscheinungen. Er denkt sich rückwärts leer von aller Erfahrung bis zu einem obersten, besser gesagt: untersten Begriff; und nachdem er in diesem Begriff gewissermaßen das leere Gefäß erhalten hat, denkt er den Weg wieder vorwärts, immer vorsichtig seine Erfahrungen einfüllend, bis zum System. Wir haben den rein philosophischen Typus vor uns. - Oder aber (dies ist der zweite Weg) er kann und will nicht verzichten, die Schönheit, der Glanz erscheinen ihm wirklicher als der Begriff und das System, die Fülle wünschenswerter als die Ordnung, das Geheimnis tiefer, reizvoller und wirklicher als die Klarheit, - dann denkt er sich mit der ganzen Last seiner Erfahrungen und Empfindungen, seines Ahnens und Sehnens beschwert, hindurch zu einer allervollkommensten, alle Lebensfülle in sich schließenden Wesenheit, zu eine All-Einheit, vor deren "Macht und Herrlichkeit" die Bürde niedersinkt und meist mit ihr der Denker, in der die unzähligen kleinen, quälenden Rätsel zusammenfließen zu  einem  großen, unendlichen, strahlenden, beglückenden. - Wir haben den religiös-philosophischen Typus vor uns.

ROUSSEAU und die Romantiker gehören zu diesem zweiten Typus (zu dem übrigens auch fast alle  großen  Philosophen gehören), und wie dies viele Philosophen und alle Religionen tun, nennen sie dieses große, letzte Rätsel der All-Einheit mit Vorliebe "Gottheit". Doch bringen die Romantiker eine viel größere Last des Wissens und der Erfahrung, ein viel tieferes Erkenntnisstreben als ROUSSEAU  ihrer  Gottheit dar.

Und damit hört auch die Übereinstimmung schon auf, und der Unterschied macht sich gelten. Ist das Rätsel lösbar? Wollen wir es zu lösen versuchen? Können wir uns ihm zumindest mit unserem Verstand nähern? - Das ist die Frage! ROUSSEAU antwortet: Nein! Das Rätsel ist eine absolute Grenze, wir tun unser Bestes, indem wir es fühlen, ahnen, daran glauben. - Die Romantiker fühlen sich aber keineswegs nur zum Glauben berufen; sie wollen vor allem tiefsinnig schauen, sie fühlen sich  eins  mit dem unbekannten Gott. Sie sind sich selbst "ein Teil", "ein Funke" des großen Rätsels, und deshalb keineswegs zu äußerer Religionsübung verpflichtet, sondern zu einem inneren und äußeren Erkenntnisstreben, zu freier, allseitiger Entfaltung berufen. Die Romantiker nehmen an, daß das Rätsel, das sich der Phantasie immer schon teilweise erschloß, das in der Poesie und Kunst und den verschiedenen Religionen immer schon mehr oder weniger gedeutet wurde, auch dem Verstand stückweise, besonders in der Philosophie und in der Poesie, erschlossen wird. Sie sind deshalb Optimisten und Gläubige in Bezug auf den ewigen Fortschritt des menschlichen Geistes. Bildung und Religion sind ihnen fast identisch. Streben heißt Gott dienen. Sich entwickeln ist heilige Pflicht. Denken ist der Beruf der Menschheit, Gott erkennen  wollen,  ist Heiliger Geist. - Die Philosophie ist ihnen deshalb auch eine heilige Gabe der Menschheit, ein Unterpfand mit Poesie und Religion, daß die Menschheit zur Gottheit berufen ist. Nicht in den Staub sinken sie vor ihrer Gottheit - sie fallen ihr in die Arme. Als Kinder Gottes möchten sie die Welt und ihr Leben wie Götter von oben betrachten, möchten sie mit heiterer Ruhe  alles  übersehen,  alles  verstehen,  alles  genießen. Danach geht ihr Streben. Deshalb peitschen sie ihre Zeit nach vorwärts, nach aufwärts, und deshalb blicken sie zurück mit unsagbarer Genugtuung auf den schon errungenen Weg der Entwicklung und genießen voller Entzücken die Aussicht auf die Höhen und Tiefen, wo ihr göttliches, herrliches Geschlecht vor ihnen gegangen ist. Sie fühlen sie als lachende Erben der Vergangenheit und pflichtbeladene Apostel der Zukunft. Sie wollen der Gegenwart Licht und Liebe bringen, Kunst und Wissenschaft in neuer Schönheit von einem höheren Standpunkt aus zeigen. Sie sind Historiker und Philosophen. Sie möchten auch Dichter und Propheten sein.

Darin liegt der schneidende Unterschied zwischen ROUSSEAU und der Romantik. Hier haben wir auch einmal einen Beweis, daß die menschliche Spekulation fortschreitet, wenn nicht zu tieferen Einsichten in die letzten Probleme, so doch zu einer klareren Antwort auf die näherliegenden Fragen und vor allem zu einer besseren Logik. Für die Romantiker, die durch den Kritizismus eines KANT und den Idealismus eines FICHTE hindurchgegangen sind, denen der Makrokosmos SCHELLINGs eine große, einheitliche Entwicklung vordemonstrierte, ist die "einseitige Überhebung des Gefühlslebens", wie wir sie am Ausgang des 18. Jahrhunderts haben, die "Phantomjagd" eines ROUSSEAU nach kultur- und bildungsfeindlichen Arkadien der reinen Natürlichkeit eine Denkunmöglichkeit. (2)

Es wäre aber gleichfalls ein Irrtum, FRIEDRICH SCHLEGELs Spekulation in FICHTE oder gar in irgendeinem der anderen Philosophen aufgehen zu lassen. FICHTEs Philosophie, der konsequent durchgeführte Idealismus ist allerdings das Hauptmoment der äußeren Einflüsse. Im Grunde ist aber für FRIEDRICH SCHLEGEL auch diese Philosophie nur eine "großartige Tendenz", d. h. ein neuer letzter und deshalb höchststehender Beweis, "daß die Menschheit aus allen Kräften ringt, ihr Zentrum zu finden". Für die romantische Ästhetik ist FICHTE von ungeheurer Wichtigkeit, aber trotzdem war FRIEDRICH SCHLEGEL kein Fichteaner, wie er auch nie ein Schellingianer, Platoniker, Spinozist, Leibnizianer - und wie sie alle heißen - gewesen ist. Er glaubte an  die Philosophie,  er glaubte auch an die Systeme der Philosophen bis zu einem bestimmten Grad. Ihre Gültigkeit aber war für ihn immer noch provisorisch: Man muß ein System haben, denn in uns ist ein Bedürfnis nach einer einheitlichen, klaren, systematischen Übersicht; aber unsere Vernunft ist viel zu rastlos, viel zu weit, und "zyklisch", viel zu "progressiv" und "göttlich", um sich bei  einem  System zu beruhigen. Solange wir fortschreitende, uns entwickelnde Menschen sind, ist es "tödlich", ein feststehendes, unbewegliches System zu haben: "Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben und keins zu haben, er wird sich wohl entschließen müssen, beides zu verbinden." (3) Systeme sind gut und nützlich wie Wegweiser und Wege; erschöpfen können sie das lebendige, geheimnisvolle All niemals. Oder, wie er an seine Frau DOROTHEA schreibt:
    "Vielleicht tätest du gut, von der Philosophie selbst auch nicht mehr zu erwarten, als eine Stimme, Sprache und Grammatik für den Instinkt der Göttlichkeit, der ihr Keim und, wenn man auf das Wesentliche sieht, sie selbst ist." (4)
Als Philosoph war SCHLEGEL am meisten ein überzeugter Idealist; aber diese Vorliebe beruth darauf, daß sein Naturell, einig mit dem Zeitgeist, dazu von vornherein die Tendenz hatte; daß er selbst schon als ganz junger Mensch Ideen zu einer rein idealistischen Philosophie in sich trug. Schon im Jahre 1793 schreibt er an seinen Bruder WILHELM:
    "Was wir in Werken, Handlungen und Kunstwerken  Seele  heißen (im Gedicht nenne ichs gern Herz), im Menschen Geist und sittliche Würde, in der Schöpfung Gott - lebendigster Zusammenhang - das ist in Begriffen  System.  Es gibt nur ein wirkliches System - die große Verborgene, die ewige Natur, oder die Wahrheit. Aber denke dir alle menschlichen Gedanken als ein Ganzes, so leuchtet ein,  daß die Wahrheit, die vollendete Einheit  das notwendige, obgleich nie erreichbare Ziel allen Denkens ist ... und laß michs hinzusetzen, daß der Geist des Systems, der etwas ganz anderes ist als ein System, allein zur Vielseitigkeit führt, - welches paradox scheinen kann, aber sehr unleugbar ist. Die Quelle des Ideals ist der heiße Durst nach Ewigkeit, die Sehnsucht nach Gott, also das edelste unserer Natur. Einige, die es verkennen, wähnen, es streite mit der Natur,  die doch nur in Eintracht mit dem Geist  das wahrhaft Große erzeugt. Die Begeisterung ist die Mutter des Ideals und der Begriff sein Vater. Was ist denn unsere Würde etwas anderes als die Kraft und der Entschluß, Gott ähnlich zu werden, die Unendlichkeit immer vor Augen zu haben." (5)
Der ganze spätere FRIEDRICH SCHLEGEL scheint shcon in diesen Worten des Zwanzigjährigen zu keimen: Sein rastloses Einheitsbedürfnis und sein nimmersatter Universalismus, seine Sehnsucht nach einer alles verbindenden Gottheit, sein Glaube an die Allmacht des begeisterten Denkens, mit dem er - trotz KANT - selbst die Grenze der Unendlichkeit bezwingen möchte. Alles, was er später über eine Philosophie der Philosophie, über den Mittelpunkt, über die ursprüngliche und endgültige Einheit alles Geistigen und Natürlichen, aller Philosophie und Poesie sagt, die "Ideen" und das "Gespräch über die Poesie" sind hierauf eingestimmt. - Auch SCHELLINGs Philosophie geht nach dieser Melodie.

Es ist natürlich billig, daraufhin zu sagen, FRIEDRICH SCHLEGEL war kein systematischer Philosoph, weil er keiner sein wollte; es ist richtiger zu sagen, er war kein systematischer Philosoph, weil er keiner sein konnte. Er war zu religiös und zu vielseitig dazu, auch wohl zu faul, wie das immer betont wird. Vor allem aber kannte er dazu die Grenzen der menschlichen Erkenntnis zu genau, ohne in ihnen die absolute und ewige Grenze allen Seins oder auch nur aller Erkenntnismöglichkeit sehen zu können und sehen zu wollen. Ganz im Gegenteil! Er meint, diese Grenzen vor dem Geist des Menschen in einem ewigen Zurückweichen zu erblicken. Aus demselben Grund ist er nie im eigentlichen Sinn des Wortes "Schüler" gewesen. In der Darstellung seiner Theorien werden wir oft genug Anklänge an dieses oder jenes System, an diese oder jene Weltauffassung finden. Wir werden eine ungeheure Aufnahmefähigkeit für jede neue Idee und Entdeckung bemerken, aber wir werden dabei immer hauptsächlich das Bestreben gewahren, diese alten und neuen Wahrheiten nur  als  Stimmen in einem großen Universalkonzert absoluter, ewiger Zukunftswahrheit zu erkennen' (6). FRIEDRICH SCHLEGEL war früher als NOVALIS in seiner Tendenz Mystiker (7). Aber er war es infolge einer Denkkraft von so ungeheurer Intensität, daß sie sich fortwährend an den letzten Mauern der Erkenntnis brach, - und infolge eines fast unmännlich-weichen Liebesbedürfnisses.

Am anschaulichsten wird uns vielleicht deshalb das Ziel und Agens der romantischen Lehre, wenn wir die Persönlichkeit dieses ihres eigentlichen Vertreters, ins Auge fassen:

FRIEDRICH SCHLEGEL war eine von den Naturen, die NIETZSCHE neuerdings als "Erlöser" bezeichnet hat. Er hatte ein glühendes Herz und einen kalten Kopf, er war eine Mischung aus Philosoph und Dichter. Er gehört in eine Klasse mit SCHILLER und NIETZSCHE, obgleich ihm die eigentliche Kunst der Dichtung versagt war. Solche Menschen scheinen in der Tat das von den Erlösern zu haben, daß sie sich bald aufreiben und so oder so früh aus dem  praktischen  Leben scheiden; daß sie auf das, was ihnen das Liebste ist, schließlich verzichten: NIETZSCHE auf die Gottheit, FRIEDRICH SCHLEGEL auf die Welt; daß sie mit ihren Werken und Wertungen eine Aufregung in der Menschheit hervorrufen und Parteien gründen. Sie sind die berufenen Revolutionäre des Geistes. Sie lieben die Welt, mit der sie unzufrieden sind, und sie verachten die Menschheit, für die sie sich opfern.

FRIEDRICH SCHLEGEL war eine sehr reiche Natur, und keineswegs ein einseitiger Ästhetiker. Er war aber vor allem - und das ist der erste wichtige Punkt für seine Ästhetik und Lehre - eine Natur, die den Skeptizismus wie den Tod fürchtete. Dabei aber trieb ihn die Größe und Schärfe seiner Verstandestätigkeit fortwährend - wie dies bei  Hamlet  der Fall ist (8) - an die Grenzen der menschlichen Erkenntnis, wo vor dem großen Nichts so leicht alles eitel erscheint, und die Lebensfreude bedeutete, zu Eis erstarrt. Davor bebte aber nicht nur seine Denkfreudigkeit, sondern auch sein warmes Dichternaturell zurück, vor allem aber auch seine Genußsucht und Genußfreude, für die noch kein NIETZSCHE das erlösende Wort gesprochen hatte (9). - Der zweite Punkt ist sein maßloses Liebensbedürfnis bei seiner scharf ausgeprägten Individualität. Liebend möchte er das All in den Einklang der eigenen Persönlichkeit zwingen, liebend und sehnend möchte er in der großen Harmonie des Alls auf- und untergehen, seinen Wohlklang und seinen Frieden finden (10). Liebend möchte er sich für die Zukunft der Menschheit opfern - möchte er ihr aber dabei König, Prophet, Lehrer, Führer sein. Daß FRIEDRICH SCHLEGEL hierin ein Kind seiner Zeit ist, ist klar. Das 18. Jahrhundert suchte den Lebensgenuß fast ausschließlich in der Hingabe, der Liebe und der Freundschaft, wie ihn heute die Jugend so gern durch eine starke Selbstbetonung erzwingen möchte.

Aus diesem unersättlichen und intensiven Erkenntnisstreben einer Natur, die über ihre Grenzen hinaus eine absolute Einheit ahnt und fühlt; aus diesem universalen Liebesbedürfnis einer Natur, die doch nie aus sich herauskam, entsteht  die romantische Theorie  mit ihrem Bestreben, einerseits alle Grenzen zu überwinden, und andererseits alle Gegensätze in sich aufzulösen und zu verschmelzen; als da sind: Individualismus und Universalität, Begeisterung und Ironie, Ideal und Wirklichkeit, Natur und Kunst, Naturpoesie und Kunstpoesie, Allegorie und Realismus, einheitliche Kunstform und "Arabeske", Welt und Chaos, Kunst und Wissenschaft, Religion und Philosophie.

Die erste Periode in Friedrich Schlegels Leben:  Diesem Streben nach überzeugter Lebensbejahung und inniger, liebender Verbindung mit Welt und Menschheit, nach einer inneren und äußeren Harmonie, kam zunächst PLATOs poetischer, lichtvoller Makrokosmos, seine Weltseele und oberste Idee des Guten und Schönen wunderbar entgegen; dann aber auch der mystischere, farbensattere Neuplatonismus, wie ihn HEMSTERHUIS modernisierte und in seine Lehre aufnahm. HEMSTERHUIS, dessen Einfluß sich bis in die letzten Jahre von FRIEDRICH SCHLEGELs Leben verfolgen läßt, ist in dieser Periode am bedeutsamsten. - Der junge FRIEDRICH SCHLEGEL sieht mit PLATO und HEMSTERHUIS besonders im All, im rhythmischen Kosmos, im Objektiven den Grundgedanken seines Lebens, die ewige, große Harmonie alles Seienden verwirklicht. Und so macht er den Versuch, sein Ich selbstlos in diesem Objektiven, im harmonischen Universum, auf- und untergehen zu lassen. - Die Griechen sind dafür sein Ideal. Er steckt deshalb das Objektive, "das Griechentum", auch der Kunst als höchstes Ziel auf. Dies ist die Zeit der "Objektivitätswut", wie er sie selbst bezeichnete.

Die zweite Periode:  Dann erhält die andere Seite in FRIEDRICH SCHLEGEL, die Ich-Behauptung, sein Individualismus ihre Erlösung durch FICHTE. Mit FICHTE findet der reifere SCHLEGEL im Subjekt, im geistigen Ich die große Offenbarung der Welteinheit. Er findet und begreift die Welt  in sich.  Und da er jetzt weiß, daß er als geistiges Ich die Unendlichkeit und Vollendung im Keim in sich trägt, so paart sich nun die Begeisterung für die Göttlichkeit seiner sich immer höher entwickelnden Persönlichkeit (für "den unendlichen Trieb", wie er sagt), mit einem Gefühl der  "Ironie"  für alles, was zeitlich und klein ist, was  keine  angeborene Ewigkeit in sich trägt und sich doch so gern als Ganzes gibt. Dazu gehören auch die eigenen Werke. Dies ist die Zeit, in der die romantische Theorie entsteht.

Die Wendung zu FICHTE ist in ihren Folgen ganz klar. HAYM hat sie uns auf das Trefflichste entwickelt. Nicht der Zwang einer objektiven Selbstentäußerung erscheint jetzt groß und wichtig für die Menschheit, sondern die Freiheit, ihr angeborenes, grenzenloses, geistiges Vermögen zu benutzen, ihre inneren Schätze und Reichtümer zu erkennen und zu verwerten, d. h.  die Freiheit ihrer allseitigen Entwicklung.  Anstelle eines äußeren, feststehenden Ideals, welches es zu erreichen gilt, tritt somit die für jeden Menschen verschiedene, innere, freie Entwicklung. Anstelle des verlorenen und wiederzufindenden Paradieses des objektiven "Griechentums" tritt somit die lebendige, denkende, emporstrebende Gegenwart; anstelle der  klassischen  Reinheit der Kunst die organische Fülle und Geistigkeit der  romantischen  Poesie. SOPHOKLES, dessen Dramen FRIEDRICH SCHLEGEL im "Studium der griechischen Poesie" als "natürliche Bildungen" oder "technische Welten" bezeichnete, macht SHAKESPEARE Platz, dessen Werke als "höhere Organismen" (Wilhelm Schlegel) oder wie FRIEDRICH SCHLEGEL es ausdrückt "Individuen" gefaßt werden müssen.

Dementsprechend betont die erste Phase mehr die Einheitlichkeit und Harmonie alles Seienden, die zweite mehr die "Heiligkeit der Fülle"; die erste die notwendige Selbstentsagung, d. h. Objektivität; die zweite die göttliche Unendlichkeit der Menschheit. In der ersten ist "Totalität" wie bei den Klassikern, besonders bei SCHILLER, das Stichwort, in der zweiten wird für die romantische Ästhetik das Wort der "progressiven Universalität" geprägt.

Die dritte Periode:  Doch bei der  progressiven  Universalität bleibt der nach allumfassender, einheitlicher Erkenntnis dürstende FRIEDRICH SCHLEGEL nicht stehen. Schon im Jahr 1799 bringt er die  Zentrumslehre,  die allerdings immer als Tendenz in seinen Jugendwerken  sous-entendue  [sich ankündigend - wp] ist, aber die doch erst in den "Ideen", und im "Gespräch über die Posie" ausdrücklich vorliegt. In dieser Zentrumslehre verschmilzt die Totalität mit der progressiven Universalität zu einer höchsten  All-Einheit.  In ihr wird ausdrücklich Stellung zum Welträtsel genommen und das Programm durchgeführt, welches HEMSTERHUIS aufgestellt hatte: man muß die Welt durch Gott erklären. Diese Zentrumslehre beruth auf FICHTE und auf SCHELLINGs Naturphilosophie; aber sie geht darüber hinaus.

Daß FRIEDRICH SCHLEGEL die "schöne Erde", so wie dies FICHTE tat, nie im Ich aufgehen lassen konnte, ist klar. Zuerst bewahrte ihn seine Griechen- und Weltfreude und dann seine Sehnsucht nach Menschen, sein Liebesbedürfnis und sein ästhetischer Drang davor; vor allem aber auch das leuchtende Beispiel GOETHEs, in dessen Dichtungen SCHLEGEL die schönste und echteste Verkörperung einer freien, poetischen Menschlichkeit sah, wie er sie für sich erträumte. Immer hielt der Goetheanismus dem zur Askese, Verinnerlichung und Weltfremdheit neigenden Idealismus die Waage. Eine ähnliche, systematisierte Verschmelzung von Goetheanismus und Fichteanismus, wie sie SCHLEGEL anstrebte, liegt in SCHELLINGs Naturphilosophie vor.

Wenn SCHELLING die Welt als  ein  großes geistiges Lebewesen auffaßt, als einen sich entwickelnden Organismus, in dem das Erwachen der Menschheit zum Selbstbewußtsein gewissermaßen die Blüte, ihr Erwachen zur Kunst den Ansatz zur Reife bedeutet, so kam er damit SCHLEGELs Grundgedanken und Grundrichtung wunderbar entgegen. Wir denken an die zitierte Stelle aus den Jugendbriefen FRIEDRICH SCHLEGELs. Dadurch, daß SCHELLING so Natur und Geist, Welt und Menschheit als lebendige Einheit demonstrierte, war das Programm SCHLEGELs gleichsam verwirklicht: "Die große Verborgene, die ewige Natur" war "als eins mit dem Geist" dargestellt. Es war gezeigt, wie "beide in Eintracht das Große erzeugen". "Die ewige Natur oder die Wahrheit", hatte SCHLEGEL an seinen Bruder geschrieben; hier in der Naturphilosophie war diese Zusammenstellung in ein System gebracht; und es war auch der philosophische Ausdruck für jenen "lebendigen Zusammenhang", den SCHLEGEL je nachdem als "Seele", "Herz", "Geist", "Gott" bezeichnete, durch das Wort "organische Einheit" veranschaulicht. Vor dieser Philosophie des sich ins Unendliche entwickelnden Organismus behielt der junge SCHLEGEL ebensosehr recht als vor FICHTEs Philosophie, wenn er es als die Würde und Kraft der Menschheit bezeichnete "die Unendlichkeit immer vor Augen zu haben."

Doch auch in seinen Jugendwerken nimmt SCHLEGEL SCHELLINGs Ideen vorweg.

Schon im "Studium" heißt es:
    "Der entscheidende Punkt ist erreicht, ... wenn die Freiheit im Kampf mit dem Schicksal durch die Bildung endlich ein entschiedenes Übergewicht über die Natur bekommt. Dies geschieht in dem wichtigen Moment, wenn auch im bewegenden Prinzip, in der Kraft der Masse die Selbsttätigkeit herrschend wird: denn das lenkende Prinzip der künstlichen Bildung ist ohnehin selbsttätig."
Wir haben hier den Grundgedanken von SCHELLINGs Philosophie in FRIEDRICH SCHLEGELs ausgesucht ungeschickter Sprache.

1794 aber hieß es schon in den "Schulen der griechischen Poesie": "Die Kunst ist die Krone des Lebens, denn sie vereinigt Freiheit und Schicksal." Wie ein Kommentar dazu lauten SCHELLINGs Ausführungen in der Transzendentalphilosophie von 1800: Die Kunst ist das höhere Dritte, worin bewußte und unbewußte Tätigkeit, Freiheit und Notwendigkeit, genialer Drang und besonnene Überlegung vereinigt ist.

Von der Transzendentalphilosophie SCHELLINGs hat SCHLEGEL im Grunde nichts gelernt, dagegen kann man FRIEDRICH SCHLEGEL als Anreger und Vorarbeiter der Transzendentalphilosophie in Anspruch nehmen, wie aus dem Folgenden hervorgeht; denn alles, was im vorliegenden Buch von den Lehren SCHLEGELs berücksichtigt ist, wurde vor oder um 1800, also vor und mit der Transzendentalphilosophie veröffentlicht.

Doch abgesehen von der chronologischen Untersuchung bringt uns schon die psychologische Betrachtung und Vergleichung eines SCHELLING und eines FRIEDRICH SCHLEGEL leicht dazu, in FRIEDRICH SCHLEGEL den für die ästhetische Spekulation prädestinierteren Geist zu erblicken. FRIEDRICH SCHLEGEL ist der gefesselte Titan, der seine Kraft vergeuden muß, indem er seine Ketten bricht. Er brauchte die Kunst. Sie war ihm der Engel mit dem Labetrunkt auf dieser harten Erde, die er als Kerker zu empfinden sich nicht entschließen konnte. In seiner vorherrschenden Tendenz zur Ästhetik, von der sein Denken ausgeht, und zu der es zurückkehrt, haben wir den Ausdruck seines sich rastlos mühenden Geistes nach Ruhe, Harmonie, Schönheit und wahrer Lebensfreude. Der Wunsch wird ihm Vater des Gedankens, bis schließlich sein Denken im Wünschen untergeht. - SCHELLING dagegen steht stolz und frei auf dem Boden seiner Mutter Erde. Sein Blick geht zunächst neugierig ins Weite, sein Trieb zielt auf Klarheit, Orientierung, Wissen. Er steht GOETHE nahe in einem doppelten Sinn. Die Kunst ist ihm eins von den Gütern der Erde. Das höchste! Doch gäbe es keine Schönheit und Kunst, so wäre er schlecht und recht auch wohl ohne sie fertig geworden. Aber - was wäre FRIEDRICH SCHLEGEL ohne die Kunst, ohne seine Liebe zum Schönen, ohne seine Furcht vor der Trivialität?

Ich persönlich halte FRIEDRICH SCHLEGEL für den Anreger SCHELLINGs überall da, wo SCHELLING in romantisch-ästhetischer Richtung über FICHTE hinausgeht, und wiederum SCHELLINGs Naturphilosophie für den philosophischen Rückhalt von SCHLEGELs Zentrumslehre und für seinen ästhetischen  Absolutismus  überhaupt. SCHELLING konnte, was SCHLEGEL wollte; aber er konnte nicht alles; SCHLEGEL wollte aber auch das Unmögliche: Das Ideal aller Philosophie, Religion, Kunst und Wissenschaft in der Gegenwart anschaulich darstellen.

Doch eins ist und bleibt eben für SCHELLINGs Einfluß auf das Geistesleben der Romantiker ausschlaggebend: seine Naturphilosophie. Erst durch sie wird die konsequente Anwendung des  Organismusgedankens  auf alles geistige und natürliche Sein und Leben möglich. Dadurch wird zu Identität von Leib und Seele, die FICHTEs Philosophie nur abstrakt gepredigt hatte, das Bild, die Anschauung, gegeben. Dadurch erhält die romantische Theorie ihre Einheit und ihren philosophischen Mittelpunkt:  Die  Welt ist ein geistiges Ganzes, sie ist ein lebendes Ganzes, sie ist ein Organismus. Sie ist aber nicht nur ein Organismus, der mit einem wachsenden Baum zu vergleichen wäre, sondern sie gleicht besser einem höheren Organismus, einem Individuum. Das All wird für die Romantik zur Person. - Und nun die Konsequenzen: In diesem lebendigen Organismus kann nichts an der unrechten Stelle stehen, muß alles seine Bedeutung haben, muß alles einem letzten, höchsten, gemeinsamen Zweck dienen, muß alles innigst miteinander verbunden sein, alles zusammengehören und aufeinander angewiesen sein:
    "Alles muß ineinander greifen,
    Eins durch das andere gedeihn und reifen;
    Jedes in allen dar sich stellt,
    Indem es sich mit ihnen vermischt,
    Und gierig in ihre Tiefen fällt,
    Sein eigentümliches Wesen erfrischt
    Und tausend neue Gedanken erhält." (11)
Deshalb müssen alle dualistischen Weltauffassungen falsch sein:  Man muß alles aus einem gemeinsamen Mittelpunkt heraus erklären.  In  einem  Mittelpunkt muß alles zusammenstimmen. Wer diesen Mittelpunkt erkannt hätte, hätte mit einem Schlag das Welträtsel gelöst: Er wüßte das Wesen der kleinsten Blumen und der höchsten Wissenschaft, der nacktesten Menschlichkeit und tiefsten Geistigkeit auf einmal. Von hier geht die Zentrumslehre aus: Nur aus dem Wesen des Keimes, des Mittelpunkts erklärt sich die organische Welt. Was sichtbar erscheint, muß unsichtbar-gewaltig schon im Keim der Welt, dem Zentrum und seiner Kraft, gelegen haben. Somit ist für die Romantiker feststehend: Der Mittelpunkt ist eine organische, lebendige Wesenheit, sein Leben ist organisch-lebendiges Leben und Weben, was auch immer aus ihm geboren wird, muß deshalb organischer Natur sein. Das All ist ein lebender Organismus, aber auch alles, was in ihm geboren wird und entsteht, ist Organismus oder Teil oder Funktion eines Organismus. Und jeder Einzelorganismus trägt in bewußter oder unbewußter Form sämtliche Merkmale des Weltorganismus in sich. "Alles in allem dar sich stellt." Völker, Projekte, Wissenschaften, alles Natürliche und Geistige ist organisch, ist "Individualität". Und wie sich alles zu einem einheitlichen organischen Weltall verbindet, so kann es auch nur einen einheitlichen Mittelpunkt, eine Urkraft geben, die dieser Welt ihre unendliche organische Kraft und Bestimmung leiht. Der Mittelpunkt des All ist der absolute Mittelpunkt, alle anderen Einheiten sind nur Spiegel dieser höchsten All-Einheit. Ziemlich mystisch drückt dies NOVALIS aus:
    "Das Weltall zerfällt in unendliche, immer von größeren Welten wieder befaßte Welten. Alle Sinne sind am Ende ein Sinn. Ein Sinn führt wie eine Welt allmählich zu allen Welten. Aber alles hat seine Zeit und seine Weise. Nur die  Person des Weltalls  vermag das Verhältnis unserer Welt einzusehen." (12)
Es war eine Epoche in der Geistesgeschichte der Menschheit, wo der Pantheismus durch den Organismusbegriff der Naturphilosophie von einer philosophischen Spekulation zu einer naturwissenschaftlichen Grundanschauung wurde, und wo fast gleichzeitig der Galvanismus, den RITTER entdeckte, der "Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensprozeß im Tierreich begleitet", "zu einem vermittelnden Glied zwischen der Philosophie und der Naturwissenschaft wurde." (13) Es lag etwas Berauschendes in diesem Gedanken einer lebendigen, geistigen All-Einheit, einer organisch-einheitlichen, geistig und körperlich zusammengehörigen Welt, mit ihrem geheimnisvollen Mittelpunkt und seinen unzähligen, so verschiedenen Spiegelungen in allen Einzelorganismen. Der menschlichen Vernunft und Phantasie wurden mit einem Mal die Tore weit geöffnet. Die Schönheit der Entwicklung, die Harmonie alles Seienden, die Gewißheit des  ewigen  Seins und Lebens, einer göttlich-geistigen Einheit und Omnipotenz hinter allem Einzelnen schien den Menschen naturwissenschaftlich-philosophisch verbürgt werden zu sollen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; Tatsächlichkeit und Ideal; Körper und Geist schossen zusammen zu  einer  großen Wirklichkeit und zu einer wunderbaren, geheimnisvollen Bestimmung. Alles menschliche Streben und Werden erhielt einen göttlichen Anhauch, alles Natürliche wurde eine Quelle religiöser Versenkung. Diese unendliche, geistige All-Einheit schien ein Postulat, das nur einer ebenso unendlichen Geistigkeit und Geisteskraft der Menschheit seine Existenz verdanken konnte. Das Leben wurde der Güter höchstes, ein schlechthin absolutes Gut von unsagbaren Möglichkeiten: es war eine herrliche Tatsache, mitzuleben in dieser wundervollen, lebendigen Einheit, mitzufühlen, mitzuschauen, - vor allem aber mitzudenken.

Denn da der Geist als das Ursprünglichste und allem Erscheinenden zugrunde Liegende, als das Absolute angenommen wurde, als das schlechthin Unendliche und Omnipotente, so wird auch dem menschlichen Geist nichts widerstehen. Wir müssen immer wieder versuchen, diese Unendlichkeit außer uns mit der geistigen Unendlichkeit in uns zu fassen und, wo das Fassungsvermögen noch versagt, ahnend anbeten, das ist ein romantischer Überzeugungssatz. In dieser starken Lebensbejahung sind sich Klassiker und Romantiker einig; und hier sehen auch beide die Grenze; wo sie ihre Spekulation niederlegen. Denn, daß das eigentliche Wesen dieses Makrokosmos, dieser lebendigen organischen Welt von ihnen nicht schon begriffen ist, darüber täuschen sich die Romantiker ebensowenig wie GOETHE. Den Mittelpunkt sehen sie, fühlen sie, postulieren sie, aber sie begreifen ihn nicht. Es steht für sie fest, daß es einen absoluten Weltmittelpunkt gibt, daß nur durch ein einheitliches Urprinzip die harmonische, organische Allheit erklärt werden kann, aber, indem sie dies konstatieren, bilden sie sich keineswegs ein, diese Urkraft schon verstanden zu haben. Sie bilden sich nicht ein, das Rätsel des organischen Lebens gelöst zu haben. "Gott erblicken wir nicht." "Das Verhältnis dieser Welten" kennt nur "die Person des Weltalls".

Der Organismus läßt sich beschreiben, aber nicht erklären: Er ist ein lebendiges Ganzes, dessen Entwicklungs- und Fortpflanzungsmöglichkeiten ins Unendliche weisen. Er hat seine allgemeine, immer vom gleichen Prinzip getriebene Entwicklungsgeschichte, die doch stets, in jedem einzelnen Fall, ein besonderes Streben nach einer ganz besonderen, individuellen Entfaltung und Vollendung zu dokumentieren scheint. Seine enge Einheit und Zeitlichkeit scheint die ganze Welt zu spiegeln. Sein kurzes Leben scheint dadurch, daß es mit dem Erbteil der ganzen Vergangenheit und den Keimen der weiten Zukunft belastet ist, eine sichtbare, zeitliche Ewigkeit darzustellen. In seinem begrenzten Körper scheint er einen sich über alle Grenzen erhebenden Geist einzuschließen. Dieses eigentliche, geheimnisvolle Wesen organischer Existenz, das auch von SCHELLING nur beschrieben, aber nicht erklärt wurde, ist für die Romantik der Punkt, wo ihre Spekulation  bewußtermaßen  Religion wird. Es ist das letzte Geheimnis, in dem alle anderen zusammenfließen, - die Frage, wie erklärt sich die Existenz einer einheitlich-unendlichen organischen Welt, oder, wie erklärt sich die Existenz des allergeringsten, lebenden Organismus? Wie wird aus irgendeiner Kraft oder Substanz ein einheitlicher Organismus, ein einheitliches Gebilde, das seinen Zweck in sich selbst zu tragen scheint? Dieses Problem, welches durch KANT in voller Klarheit aufgeworfen wurde, war damals wie heute ungelöst. Es wurde damals eine Quelle für eine idealistisch-mystische Philosophie und Religion, es wird heute eine Quelle für Skeptizismus und einen Durst nach physischem Lebensgenuß. Man erhob das Rätsel damals zur Gottheit, man läßt es heute gedanklich zusammenschrumpfen und beruhigt sich bei Worten wie "Urquelle" und "Urzeugung".

Die Romantiker sind sich also des Rätselhaften, das in allem Leben liegt, bewußt. Sie haben darüber hinaus eine klare Vorstellung,  wo  die Grenzen der menschlichen Vernunft liegen. Das, was bei KANT als "Ding ansich" für das oberste Prinzip und Welträtsel steht, was bei FICHTE als unbewußte Urtat des Ich zum Weltenanstoß wurde, das heißt bei FRIEDRICH SCHLEGEL  Zentrum  oder  Gottheit.  Diesen Mittelpunkt, dieses höchste "Faktum", das die Welt im Innersten zusammenhält, kennen wir nicht. Aber was wir kennen - die Welt, die Menschheit, wir selbst - sind seine Teile oder Erscheinungen. Dies führt von FICHTE und SCHELLING zu SPINOZA. Ganz wie bei SPINOZA ist für die Romantiker  sub specie aeternitatis  [im Licht der Ewigkeit - wp] alles Gott. Bei einem organisch-vitalistischen Neospinozismus bleibt aber FRIEDRICH SCHLEGEL nicht stehen. Er geht in mystisch-religiöser Wendung darüber hinaus. SPINOZA hatte für die Gottheit nur Denken und Ausdehnung als Attribute angenommen, allerdings auch eine unendliche Menge Eigenschaften, die sich dem Geistesblick der Menschen aber entziehen, für möglich und wahrscheinlich erklärt. FRIEDRICH SCHLEGEL, der von FICHTE und SCHELLING gelernt hat, nimmt einen Geist von schlechthin unendlichem Vermögen und zugleich von organischer, unendlicher Mannigfaltigkeit und Lebendigkeit als erstes Prinzip an. Seine Gottheit ist nach Vermögen und Wesenheit organisch unendlich. Daß eine solche Wesenheit existieren muß, scheint ihm ohne weiteres klar, denn es existiert überhaupt nichts, was nicht den Stempel der Unendlichkeit und Unergründlichkeit und Unerschöpflichkeit in organischer Einheitlichkeit trägt (14). Das große Geheimnis ist nicht so sehr die Tatsache eines alles bedingenden und tragenden Mittelpunkts, einer Gottheit, sondern die Tatsache der endlichen Verkörperung dieses unendlichen Geistes, nicht so sehr die Frage: Gibt es eine Gottheit, eine Unendlichkeit? sondern die: Warum wird die unendliche geistige Gottheit zur endlichen Welt und Menschheit? Warum wird der Geist Körper? Das ist für die Romantiker das große  Geheimnis.  Um es zu deuten, setzt die Romantik mit dem ein, was uns in das Innerste, Tiefste und Eigentümlichste ihrer Welt- und Lebensauffassung führt: mit ihrem Begriff  der Liebe FRIEDRICH SCHLEGEL meint, daß der Urzeugung wohl eine  Urliebe  vorausgegangen sein wird. Das Geheimnis wird wohl ein Geheimnis göttlicher Liebe sein. Damit betritt SCHLEGEL die Bahn des romantischen Mystizismus und Katholizismus, auf der sein Freund NOVALIS sein bester Schüler und Interpret ist.

HEMSTERHUIS, dem die Auffassung der physischen und geistigen Welt als einer  organischen Einheit  fernlag, hatte auf das gleiche Endresultat bei seiner Spekulation abgezielt: Auch er wollte über und unter der sichtbaren Welt eine höchste Einheit, eine Gottheit, demonstrieren. Aber er geht von der entgegengesetzten Grundanschauung aus und kommt deshalb zu einer verschiedenen Lösung. - Auch für ihn ist die Erscheinung der Liebe eine aufschlußgebende Tatsache. Aber er fängt damit an (15): Er findet, daß, weil überall in der Welt die Liebe fortwährend ein selbständiges Ding mit dem anderen "auf das vollkommenste und innigste zu vereinigen sucht", "und die freie Seele immer das sein will, wonach sie begehrt",
    "das ganze sinnliche Universum sich jetzt in einem erzwungenen Zustand befindet, in welchem es ewig nach Vereinigung strebt, und doch immer aus vielen, isolierten Einheiten beharrt ... Und findet sich das Ganze in einem erzwungenen Zustand: so folgt natürlich,  daß es ein wirkendes Wesen gibt, das dieses Streben nach Einigung und Einheit verursacht,  oder, daß durch seine Kraft und Natur es so in Einzelheiten verteilt hat. Strebt alles, mittels seiner Natur zur Einheit: so muß eine  fremde  Kraft die Einheit des Ganzen in Einzelheiten verteilt haben.  Diese Kraft ist Gott.  Bis zum Wesen dieses Unbegreiflichen hindringen zu wollen, wäre der ausschweifendste Wahnsinn."
Ganz anders die Romantiker! Sie wissen nichts von einem "erzwungenen Zustand" der Welt, sondern nur von einem Zustand göttlicher Offenbarung und Entfaltung. Nicht eine  fremde  Kraft verbindet von außen das Isolierte und gewissermaßen auf ewig sich unglücklich Liebend, sondern weil eine große Weltenliebe von innen heraus, aus dem Zentrum heraus, alles organisch verbindet, erhält, trägt und in allem lebt, deshalb strebt alles liebend zueinander, deshalb
    "Muß alles ineinander greifen,
    Eins durch das andere gedeihen und reifen."
Damit ist der Höhepunkt für die Romantik, besonders für FRIEDRICH SCHLEGEL erreicht. Auf dieser Anschauung wird 1799 die eigentlich romantische Zentrumslehre aufgebaut, das ist die Lehre von "Höchsten", wie FRIEDRICH SCHLEGEL sagt.

Von da ab will er, daß es mit der "Chiffresprache" und dem mutwilligen Versteckspielen und dem sich mit kleinen Einfällen Wichtigmachen, wie dies noch in den Athenäumfragmenten der Fall ist, ein Ende haben soll. "Zuerst vom Höchsten redet man durchaus freimütig, völlig sorglos, aber gerade zum Ziel", so schließt er seine "Ideen", die "alle aufs Zentrum deuten". Er ist jetzt in der Tat durch und durch ernsthaft, er denkt sich bei allem etwas und sagt nichts mehr nur aus Freude an der Mystifikation seines Publikums.
    "Ich habe einige Ideen ausgesprochen, die aufs Zentrum deuten, ich habe die Morgenröte begrüßt nach meiner Ansicht, aus meinem Standpunkt. Wer den Weg kennt, tue desgleichen nach seiner Ansicht, aus seinem Standpunkt." (16)
Er schreibt jetzt das Genialste, was er vielleicht überhaupt geschrieben hat: Sein Gespräch über die Poesie, - und doch mutet er uns in dieser Epoche unklarer und dunkler an, als vorher.

Die Gründe für FRIEDRICH SCHLEGELs Unklarheit und Dunkelheit sind jedoch nicht schwer zu finden. Zunächst beruhen sie auf der Schwerfälligkeit, mit der er überhaupt denkt, dann aber auch auf der Lässigkeit und Selbstbewunderung, mit der er sich scheut, die aus der untersten Tiefe kommenden Gedanken ihrer Schlacken zu entledigen - aus Furcht, ihnen etwas von ihrer Kostbarkeit und Originalität zu rauben. Wie sie emporkommen, oft zu Bündeln vereinigt, oft nur halb klar, oft direkt zweideutig (und deshalb auf den ersten Blick widerspruchsvoll), werden sie auf das Papier gearbeitet und gedruckt. SCHLEGEL schreibt im wahrsten Sinne des Wortes einen schweren Stil. "Das sicherste Mittel, unverständlich oder vielmehr mißverständlich zu sein, ist, wenn man die Worte in ihrem ursprünglichen Sinn gebraucht", sagt er einmal; und auch von diesem Mittel hat er ausgiebig Gebrauch gemacht. Vor allem aber ist sein Gegenstand ein schwerer. Er betrifft die letzten Probleme der Menschheit, er versucht ein Verhältnis zum Welträtsel zu gewinnen. Und so betrifft er eigentlich das, was über die Sprache hinausgeht, und wovon sich überhaupt schwer in klaren Sätzen reden läßt. Da es aber gerade FRIEDRICH SCHLEGELs Absicht ist, das Bewußtsein für die Existenz einer gedanklich noch nicht erreichten Göttlichkeit, einer höchsten unaussprechlichen All-Einheit in uns zu wecken, und unseren Sinn für die geheimnisvolle, überschwengliche Größe dieser unserer Welt und unseres Daseins und vor allem seines geheimnisvollen Urgrundes zu wecken und zu schärfen, so tut er nichts, um dem dunklen, mystischen Anstrich, den seine Gedanken haben, einen helleren Lichtton von prägnanter und konsequenter Logik zu geben, obgleich er nie ohne Logik vorgeht. - Und dann ist FRIEDRICH SCHLEGEL doch auch wieder ein zu guter Philosoph und Gelehrter, um sich nicht klar zu sein, daß diese letzten Wahrheiten und Probleme immer nur in einer beschränkten Anzahl Fassungen und Antworten ausgedrückt werden können, und daß sie schon längst, so oder so, von diesem oder jenem Standpunkt, in dieser oder jener Form, von den Philosophen aller Zeiten oder den Poeten oder den Religionsstiftern ausgesprochen sind; daß man durch ein neues persönliches Ringen sie eigentlich nur in einer neuen Form für sich gewinnt.
    "Alle höchsten Wahrheiten jeder Art sind durchaus trivial, und eben darum ist nichts notwendiger, als sie immer neu und womöglich paradoxer auszudrücken, damit es nicht vergessen wird, daß sie noch da sein, und daß sie eigentlich nie ganz ausgesprochen werden können." (17)
Die Paradoxie, mit der FRIEDRICH SCHLEGEL sich auszudrücken beliebte, hat ihm und seinem Ruhm vielleicht am meisten geschadet.

Doch das eigentliche Moment für die Dunkelheit romantischer Sätze besteht vielleicht darin, daß sich die Romantiker untereinander fortwährend aussprachen, daß sie sich über die Grundbegriffe und Grundfragen absolut einig waren, daß gewisse Schlagworte nur ihnen im ganzen Umfang der Bedeutung klar waren. Man schrieb nicht für ein Publikum, sondern für einen Kreis Eingeweihter. Recht bezeichnend ist es, wenn FRIEDRICH SCHLEGEL seine Ideen NOVALIS widmet:
    "Dein Geist stand mir am nächsten bei diesen  Bildern der unbegriffenen Wahrheit.  Was du gedacht hast, denke ich, was ich gedacht, wirst du denken oder hast du schon gedacht. Es gibt Mißverständnisse, die das höchste Einverständnis nur bestätigen."
Es sind "Bilder einer unbegriffenen Wahrheit", auf dies es der Romantik im letzten Grund ankommt. Sie will durch diese Bilder der Menschheit die ganze Tiefe und Höhe, Größe und Schönheit ihres Daseins ahnen lassen. Sie will ihr den Sinn des letzten und höchsten Problems, das zugleich die erste und nächste Tatsache ist, den Sinn des Lebens und Liebens, in der harmonischen All-Einheit finden lehren. Aber es soll über den unbegriffenen Wahrheiten keine der begriffenen, und über dem unendlichen Streben nicht der endliche Genuß vernachlässigt werden.
LITERATUR Marie Joachimi, Die Weltanschauung der deutschen Romantik, Jena und Leipzig 1905
    Anmerkungen
    1) Wenn Goethe gegen die Sternbaldisierung und Wackenroderei und Klosterbruderei arbeitet, so trifft er damit nicht den Kern, sondern einen Seitentrieb der Frühromantik. Daß die Kunst griechisch war, ist von Friedrich Schlegel stets behauptet worden. Goethe hat wohl die Shakespearomanie, niemals Shakespeare selbst abgelehnt.
    2) Das heißt Tieck ausgenommen! Tieck, dem es ja außerordentlich schwer fällt, eine Meinung zu haben, gehört beiden Parteien an. "Kritische Schriften", Bd. 1, Seite 104f ist ein romantischer Standpunkt. Bd. 2 (ebd) Seite 263 schwankt zwischen beiden Ansichten und neigt sich zu Rousseau. Wenn "die Seele" als "Krankheit des Körpers" gefaßt wird, so wird Rousseau eigentlich übertrumpft.
    3) Friedrich Schlegel. Athenäums Fragmente 53
    4) Jakob Minor, Friedrich Schlegels Jugendschriften, Bd. II, Seite 318
    5) Oskar F. Walzel, Schlegelbriefe 111
    6) Vgl. "Gespräch über die Philosophie", Minor II, Seite 316 und Athen.-Fragm. 345, 346, 356, 384.
    7) Ich fasse das Wort  Mystiker  natürlich in einem philosophischen Sinn, wie Friedrich Schlegel das Wort erst später gebraucht und nicht wie er es um 1796 (Minor II, Seite 98) faßt, als synonym zu Schwärmer und Träumer. 1800 spricht Schlegel schon von seinem  alten  Hang zum Mystizismus (Minor II, Seite 387 und 44).
    8) "Unglücklich, wer ihn versteht" ruft er aus (Schlegelbriefe 95)
    9) Bezeichnend dafür Schlegelbriefe 95 (Minor II, Seite 393).
    10) siehe vorläufig Schlegelbriefe 94
    11) Novalis, "Heinrich von Ofterdingen". Die Auffassung der Welt als eines lebendigen, durchgeistigten Organismus ist vielleicht die fruchtbarste Anschauung gewesen, die in Friedrich Schlegels Seele gefallen ist. Allerdings war diese Anschaung nicht absolut neu. Der Mikro-Makrokosmosgedanke der alten Griechen hatte ihn schon in die Philosophie eingeführt; im 18. Jahrhundert liegt er gewissermaßen überall in der Luft. Leibniz' Monadenlehre kommt ihm außerordentlich nahe und übertrifft Schelling in der Hypothese für die Einzelexemplare. Herder und der junge Goethe wie der Sturm und Drang überhaupt legten mit Vorliebe ihrer ästhetischen Wertung eines Kunstwerks den Organismusbegriff zugrunde. - Dennoch mußte die in der Naturphilosophie so konsequente Durchführung und Zusammenfassung alles Seienden zur organisch-geistigen Einheit, die durch Ritters Entdeckung des Galvanismus gleichsam bestätigt wurde, Friedrich Schlegels Streben nach harmonischer Einheit und Freiheit eine ganz neue Genugtuung leihen und eine neue Wendung geben.
    12) Novalis, "Schriften", Bd. 3, Berlin 1837, Seite 233
    13) Rudolf Haym, Die romantische Schule, Berlin 1870, Seite 613
    14) Das Urprinzip der Romantik ist also kein analytisch abstrahiertes, sondern ein spekulativ konstruiertes Absolutes. Athen.-Fragm. 84: "Subjektiv betrachtet fängt die Philosophie in der Mitte an."
    15) Vermischte philosophische Schriften, Bd. I, Leipzig 1762, Seite 75f
    16) "Ideen" Nr. 155 in Athenaeum, Bd. 3, 1800, Seite 4-33
    17) Minor, a. a. O., Bd. II, Seite 389 und 35.