p-4HeydebreckWindelbandVolkeltHartmann    
 
THEODOR LIPPS
Der Begriff des Unbewußten
in der Psychologie


"Wenn Ichbewußtsein und Bewußtsein der Konstanz eines Empfindungskomplexes ein und dasselbe ist, muß mir dann nicht alles, in dem Maß wie es konstant ist, als Ich erscheinen. Ich frage, macht das einen Sinn? - Mein Körper hat in jedem Augenblick eine andere sichtbare Form, die Veränderung der Lage der Glieder ergibt zugleich immer wieder andere Lage- und Bewegungsempfindungen. Mein Körper ist bald kalt, bald warm, bald hungrig, bald gesättigt, bald frisch, bald ermüdet, bald gesund, bald krank; jetzt werden diese, dann wieder jene Druck- oder Schmerzempfindungen in ihm lokalisiert etc. Nennt man dies Konstanz? Und angenommen, ich säße Jahre und Jahrzehnte lang in ein und derselben Gefängniszelle, wäre ich dann schließlich in Gefahr die Gefängniszelle, um ihrer zweifellosen und erschrecklichen Konstanz willen, mit mir zu verwechseln; meine Gedanken und Empfindungen, Gefühle und Wünsche ihr zuzuschreiben?"

"Die reale Welt ist um nichts realer als das reale Ich. das Dasein  beider  für uns und der Gegensatz der beiden beruth einzig auf dem Gegensatz des unmittelbaren Aktivitäts- und Passivitätsgefühls, also mit einem Wort auf einem Willensgefühl. Ohne dieses Willensgefühl fehlte für die Ausbildung des Gedankens der realen Welt, ebenso wie für die Ausbildung des Gedankens des realen Ich, jeder denkbare Anlaß. Beide Gedanken verlören ihren Sinn. Umgekehrt ergeben sich beide aus dem, was wir wollend unmittelbar erleben,  mit gleicher Notwendigkeit." 


Die Frage, mit der es dieser Vortrag zu tun hat, ist weniger eine psychologische Frage, als  die  Frage der Psychologie. Man kann vom Begriff des Unbewußten in der Psychologie nicht handeln, ohne die allgemeinste psychologische Frage, nämlich die nach dem Wesen und der Aufgabe dieser Wissenschaft wenigstens zu streifen. So lenkt dieser Schlußvortrag des Kongresses mit Absicht in prinzipielle Bahnen ein. Kein Wunder, wenn ich darin war vielleicht dieses oder jenes, das Einigen unter den Hörern fremdartig klingt, vorbringe, aber doch nichts eigentlich Neues sage, wenn ich im Grunde nur, was ich sonst, da und dort, (1) gesagt und eindringlich zu machen versucht habe, in bestimmter Formulierung zusammenfasse.

Die Psychologie bedürfte gar keines Begriffes eines Unbewußten, wenn die Psychologie einzig die Aufgabe sich stellte, Bewußtseinserlebnisse zu  beschreiben.  Eine solche Psychologie wäre aber ein Unding. Die Psychologie, die konsequent dabei bliebe, nur zu beschreiben, die also nicht doch wiederum da und dort über das bloße Beschreiben hinausginge, könnte nichts sein, als Erzählung oder Bericht von meinen eigenen individuellen Bewußtseinsvorgängen. Es gäbe für eine solche Psychologie kein Warum oder Wozu; keine Frage nach der Herkunft der Bewußtseinserlebnisse oder ihrer Bedeutung für den Zusammenhang des psychischen Lebens. Niemals könnte gesagt werden, daß dasjenige, was unter diesen bestimmten Umständen erlebt wurde, unter den gleichen Umständen wieder erlebt werden müsse; es fehlte den Tatsachen jene Allgemeinheit und Notwendigkeit.

Selbst unsere gewöhnlichsten psychologischen Allgemeinbegriffe verlören ihre Geltung; psychische Tatsachen, die gleichartige Herkunft und gleichartige Bedeutung für das psychische Leben besitzen, und darum schon im gewöhnlichen Leben als gleichartig betrachtet und mit den gleichen Namen bezeichnet werden, wären für eine solche nur auf die unmittelbaren Bewußtseinserlebnisse achtende Psychologie zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Individuen etwas total Verschiedenes.

Ein und dasselbe Urteil über ein und dieselbe Sache etwa kann, als bloßes Bewußtseinserlebnis betrachtet, einmal ein reines "Satzurteil" (2) sein, d. h. ein Bewußtsein der objektiven Notwendigkeit, bestimmte Worte in bestimmter Weise sich folgen zu lassen. Es kann ein andermal  zugleich  als ein Nebeneinander oder als eine Folge bald dieser bald jener Elemente oder Rudimente der den Worten zugehörigen Sach- oder Bedeutungsvorstellungen dem Bewußtsein sich darstellen. Es kann wiederum ein andermal im Wesentlichen als "Sinnurteil", d. h. als Bewußtsein der objektiven Notwendigkeit bestimmte Sachvorstellungen in bestimmter Weise einander zuzuordnen im Bewußtsein auftreten. Diese Tatbestände hätte die beschreibende Psychologie zu beschreiben. Daß das Urteil bei all dem dasselbe Urteil ist, ein und derselbe Teilvorgang in einem Zusammenhang menschlichen Denkens oder Erkennens, das käme für sie gar nicht in Frage. Für die beschreibende Psychologie beständen nur jene inhaltlich total verschiedenen Bewußtseinserlebnisse. Und das Gleiche gälte hinsichtlich anderer psychischer Vorgänge etwa hinsichtlich unserer ästhetischen Wertungen, oder unserer Weisen uns praktisch oder ethisch Objekten gegenüber zu verhalten. Es kann eben, was ein Verstandsurteil, eine ästhetische Wertung, eine praktische oder ethischen Stellungnahme zu einem Objekt psychologisch charakterisiert, oder zu dem macht, was sie im Zusammenhang des psychischen Lebens ist und bedeutet, bewußt sein, oder unbewußt bleiben, andererseits durch diese oder jene Elemente im Bewußtsein repräsentiert sein, also, als Bewußtseinserlebnis betrachtet, ein sehr verschiedenes Aussehen haben. Eine Psychologie, die sich mit diesen wechselnden Bewußtseinssymptomen des psychischen Geschehens begnügte, stände einer ärztlichen Wissenschaft, der die Krankheiten nichts wären als ein Zusammen von äußerlich sichtbaren Krankheits symptomen,  nicht nur gleich, sondern sie stände weit hinter ihr zurück; da Krankheitssymptome in viel geringerem Grad wechselnd und zufällig sind. - Endlich könnte die in vollem Ernst nur beschreibende Psychologie von Bewußtseinserlebnissen anderer gar nicht einmal reden, die ich ja selbst nur erschließen kann. Jedes Erschließen aber setzt eine Gesetzmäßigkeit oder einen Kausalzusammenhang, jedes Schließen auf ein Psychisches einen psychischen Kausalzusammenhang voraus.

Zum Glück hat es diese lediglich beschreibende Psychologie nie gegeben. Auch diejenigen, die bloß zu beschreiben meinten, sind die beim Beschreiben geblieben. Man bezeichnet es etwa noch als eine Beschreibung, wenn man von den Teiltönen spricht, die in einem Klang angeblich "enthalten" liegen. Der Bewußtseinsinhalt, "Klang" genannt, soll sich der "Aufmerksamkeit" als Mehrheit von Bewußtseinsinhalten, "Töne" genannt, darstellen. In Wahrheit ist diese angebliche Beschreibung des im Bewußtsein Gegebenen eine der Erfahrung, zumindest der meinigen, widersprechende  Theorie.  Ich finde bei der "Analyse" der Klangempfindung in meinem Bewußtsein erst einen Klang mit einer einzigen Tonhöhe, erst später höre ich Töne von verschiedener Höhe. Zwischendurch schieben sich etwa noch die reproduktiven Vorstellungen der Töne, und damit verbunden ein Gefühl, das ich als Aufmerksamkeitsgefühl bezeichne. Mit der Bezeichnung dieser Folge von Bewußtseinstatbeständen müßte die beschreibende Psychologie sich begnügen. Dieselbe verstänlich zu machen wäre ihr versagt.

Bewußtseinsinhalte und ihr Dasein verständlich zu machen, das ist aber eben die Aufgabe der Psychologie. Jede Wissenschaft vom Wirklichen will Tatsachen der unmittelbaren Erfahrung in einen Kausalzusammenhang einordnen oder in ihrer Gesetzmäßigkeit begreifen. Darin eben besteht das Verstehen. Auch die Psychologie muß eine solche Absicht haben. Keine Wissenschaft, das darf gleich hinzugefügt werden, findet den Zusammenhang, in den sie einordnet, in der unmittelbaren Erfahrung vor. Jede  schafft  erst diesen Zusammenhang. Menschliche Wirklichkeitserkenntnis, so habe ich an einer anderen Stelle (3) gesagt, ist der Aufbau einer gedanklichen Welt - nicht sowohl  aus  dem Gegebenen, als  für  dasselbe, oder zur Unterbringung desselben. Ich könnte mit Wiederholung eines vorhin gebrauchten Ausdruckes auch sagen: sie ist die Hinzufügung einer wirklichen oder als wirklich geglaubten Welt zu den in der unmittelbaren Erfahrung gegebenen gelegentlichen  "Symptomen"  einer solchen. Kein Wunder, wenn es sich auch mit der psychologischen Erkenntnis so verhält.

Welches nun sind die Tatsachen, welche die Psychologie sich zu verstehen bemüht? "Die Bewußtseinstatsachen", sagt man. Aber was heißt das? Oder: "Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken etc." Aber was meint man mit diesen Worten? - Es ist eine merkwürdige Tatsache -  auch  eine  psychologische  Tatsache, aber eine schwer verständliche -, daß manche Psychologen so wenig Gewicht auf die Beantwortung solcher Fragen, also auf die unzweideutige Bestimmung der  Gegenstände ihrer Wissenschaft  zu legen scheinen. Und doch hängt, wie so manche Frage, so auch die viel umstrittene Frage des Unbewußten durchaus davon ab.

Die Antwort auf die Frage, was Bewußtseinstatsachen seien, scheint einfach. Bewußtseinstatsache ist eben "das Bewußte". Die Psychologie, sagt man, hat es mit dem Bewußten zu tun. "Bewußt" und "psychisch", so hat man allen Ernstes gemeint, sind gleichbedeutende Begriffe. Ebenso "unbewußt" und "physisch". Natürlich bleibt dann das Unbewußt von der Psychologie ausgeschlossen. Die ganze Frage nach dem Unbewußten in der Psychologie ist in der denkbar einfachsten Weise gelöst.

In Wahrheit haben jene Identifikationen ganz und gar keinen Sinn. Bewußt oder Bewußtseinstatsache ist das Objekt des Bewußtseins, oder das, wovon jemand ein Bewußtsein hat. Meint man nun wirklich, die Physik habe es zu tun mit solchen Tatsachen, von denen niemand ein Bewußtsein hat, von denen, wie dem deutschen Lied zufolge von der heimlichen Liebe, "niemand nichts weiß". Das mag zu Zeiten vorkommen; die Regel ist es aber gewiß nicht.

Psychologie und Physik haben es teilweise  genau mit demselben  zu tun. Nicht alles Psychologische ist physische oder physikalisch. Aber alle Objekte der Physik sind, als Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken in einem menschlichen Geist, Gegenstände der Psychologie. Was den Unterschied macht, ist die Betrachtungsweise.

Man hat dies anerkannt, aber den Unterschied der Betrachtungsweise so bestimmt, daß man sagte, die Gegenstände der unmittelbaren Erfahrung kämen für den Physik nur als Zeichen in Betracht, die Psychologie dagegen nehme sie so, wie sie seien. Diese Zeichentheorie ist nicht stichhaltig. Farben und Töne mögen dem Physiker Zeichen sein für Bewegungen. Die Bewegungen aber, die er in seinen Gedanken an ihre Stelle setzt, und ebenso auch schon die von ihm unmittelbar wahrgenommenen Bewegungen sind dem Physiker die Sache selbst. In ihnen sieht er das Wirkliche, aus ihnen baut er seine physikalische Welt auf. Zugleich sind aber diese Bewegungen als Inhalte physikalischen Denkens psychologische Tatbestände. Andererseits sind dem Psychologen die Worte, Gebärden, Lebensäußerungen der fremden Persönlichkeit nur Zeichen, nämlich Zeichen eines zugrunde liegenden seelischen Lebens.

Wir kommen der Wahrheit näher, wenn wir, mit einem schon gebrauchten Ausdruck, sagen, die Psychologie habe zu Gegenständen ihrer Betrachtung die Bewußtseins erlebnisse.  Hierin liegt die Beziehung zu einem, der erlebt, oder für den die Bewußtseinstatsachen da sind. Dasselbe liegt auch schon in der Erklärung, Objekte der Psychologie seien die Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken etc. im Unterschied vom Empfundenen, Vorgestellten, Gedachten oder anders gesagt, psychisch seien die  "Akte"  des Empfindens, Vorstellens, Denkens. Hier wäre alles ohne weiteres klar, wenn wir außer dem Dasein des Empfundenen, Vorgestellten, Gedachten, auch noch das Empfinden, Vorstellen, Denken oder kurz die psychischen "Akte" unmittelbar erlebten. Aber solche Akte gibt es in Wahrheit in unserer unmittelbaren Erfahrung nicht. Wenn überhaupt irgendetwas, dann gehört der Akt oder Vorgang des Vorstellens, die Art, wie es gemacht wird, daß ein Vorgestelltes für mich da ist, in das Reich des Unbewußten.

Nur daß etwas  "für mich"  da ist, davon freilich habe ich ein unmittelbares Bewußtsein. Das Wahrnehmen, Vorstellen, Denken, ist das Dasein des Wahrgenommenen, Vorgestellten, Gedachten für mich, oder: die Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken sind das Wahrgenommene, Vorgestellte, Gedachte, sofern es ein mir oder dem Subjekt Zugehöriges, ein  subjektiv Wirkliches  ist. Dasselbe Wahrgenommene, Vorgestellte, Gedachte ist ein Physisches, wenn und sofern es vom Subjekt unabhängig oder ein  objektiv Wirkliches  ist. Diese entgegengesetzte Beziehung zum Subjekt oder Ich, und sie allein, scheidet das Psychische und Physische.

Jetzt kommt alles an auf die sichere Bestimmung dieser verschiedenen Beziehung zum Subjekt. Diese wiederum setzt die Beantwortung der Frage, worin denn das Ich oder das Subjekt besteht, von dem hier die Rede ist, selbstverständlich voraus.

Natürlich darf nicht gesagt werden, das Ich oder Subjekt sei der Zusammenhang der Vorstellungen oder der psychischen Tatsachen. Dies hieße sich im Kreis drehen und mit dem Fragenden sein Spiel treiben. Was eine "Vorstellung" oder ein "psychischer" Tatbestand sein soll, das ist ja eben die Frage, um die es sich handelt. Es geht nicht an, das Psychische als das dem Subjekt oder "mir" Zugehörige, und dann wiederum das Subjekt als den Zusammenhang des Psychischen oder "mir" Zugehörigen zu definieren.

Nichts ist so nichtssagend,, aber umso unglücklicher ist die immer und immer wieder gehörte Meinung, es sei, wenn nicht das Ich überhaupt, so doch das ursprüngliche Ich, der Kern oder die Basis des Selbstbewußtseins gegeben durch meinen Körper oder den konstanten Komplex von Empfindungen, den ich als meinen Körper bezeichne. Ich gestehe, daß ich in dieser Meinung nie etwas anderes habe sehen können, als eine völlig unglaubliche wissenschaftliche Verirrung. Es ist wahr, ich rechne meinen Körper zu mir. Aber wie komme ich dazu diesen Körper "mein" zu nennen. Es ist ebenso wahr, dieser Körper verfolgt mich überall hin. Aber wer ist dieser "Ich", der so überall hin verfolgt wird? Der Körper soll ein besonders  konstanter  Empfindungskomplex sein. Ich meinesteils finde, es gibt kaum etwas weniger konstantes, als diesen meinen Körper. Und wenn, wie es demnach scheinen muß, Ichbewußtsein und Bewußtsein der Konstanz eines Empfindungskomplexes ein und dasselbe ist, muß mir dann nicht alles, in dem Maß wie es konstant ist, als Ich erscheinen. Ich frage, macht das einen Sinn? Oder ist dieses Sinnlose wirklich? - Mein Körper hat in jedem Augenblick eine andere sichtbare Form, die Veränderung der Lage der Glieder ergibt zugleich immer wieder andere Lage- und Bewegungsempfindungen. Mein Körper ist bald kalt, bald warm, bald hungrig, bald gesättigt, bald frisch, bald ermüdet, bald gesund, bald krank; jetzt werden diese, dann wieder jene Druck- oder Schmerzempfindungen in ihm lokalisiert etc. Nennt man dies Konstanz? Und angenommen, ich säße Jahre und Jahrzehnte lang in ein und derselben Gefängniszelle, wäre ich dann schließlich in Gefahr die Gefängniszelle, um ihrer zweifellosen und erschrecklichen Konstanz willen, mit mir zu verwechseln; meine Gedanken und Empfindungen, Gefühle und Wünsche ihr zuzuschreiben?

Lassen wir diese Fragen. Es steht fest, daß ich die Bewegung, die Farbe, den Ton, die ich jetzt vorstelle, unmittelbar als meine Vorstellung oder als mir zugehörig erkenne. Das heißt jedoch nicht, daß ich sie unmittelbar als meinem Körper zugehörig erkenne. Oder: ich verfolge einen Gedankengang und habe dabei das Bewußtsein, daß  ich  in der Folge der Gedanken stecke, daß ich darin tätig bin. Je mehr ich mich aber diesem Gedanken hingebe und demgemäß das Gefühl meiner Tätigkeit habe, umso weniger ist gleichzeitig mein Körper für mein Bewußtsein überhaupt  vorhanden. 

Jeder Begriff, der nicht ein leeres Wort ist, oder einen lediglich fingierten Inhalt besitzt, muß schließlich seinem Inhalt nach auf ein unmittelbar Erlebbares zurückgeführt werden können. Wäre diese wichtige Regel des DAVID HUME immer so betätigt worden, wie dieser große Psychologe sie zu betätigen begonnen hat, so wäre der Psychologie und all den mit einem besonderen Namen benannten psychologischen Disziplinen, der Logik der Erkenntnislehre, der Ästhetik, der Ethik, eine unendliche Verwirrung erspart geblieben.

Ein unmittelbar Erlebbares nun, auf das ich in der Analyse des Ichbegriffs oder des Begriffs meiner selbst, schließlich unweigerlich hingeführt werde, ist das von mir unmittelbar erlebte Wollen. Hierin habe ich, sei es ganz, sei es teilweise, den Kern meines Ichbewußtseins oder den Gegenstand meines primitiven Selbstgefühls. Indem ich ein Wollen fühle, fühle ich mich selbst. Dieses Wollen oder Willensgefühl ist ein absolut Originales, nicht weiter Zurückführbares, am allerwenigsten zurückführbar auf die Muskel-, Sehnen- und Gelenkempfindungen, die jetzt von einigen als Allheilmittel für allerlei psychologische Nöte dargeboten werden.

Zu diesem Willensgefühl nun stehen die sonstigen Objekte meines Bewußtseins in einer gleichfalls unmittelbar erlebbaren doppelten Beziehung. Ich erlebe es das eine Mal, daß sich mein Wollen im Dasein, Kommen, Gehen, Bleiben, sich Verändern von Objekten unmittelbar befriedigt, ich habe angesichts der Objekte ein Gefühl freier Aktivität. Ich erlebe es ein anderes Mal, daß Objekte meines Bewußtseins sind was sie sind, gleichgültig, wie ich mich wollend dazu verhalte; ich fühle mich in ihrem Dasein passiv. Jenes Gefühl freier Aktivität ist das unmittelbar erlebbare oder rein empirische Bewußtsein der Zugehörigkeit zu mir oder der Subjektivität; dieses Passivitätsgefühl ist das ursprüngliche oder elementare Objektivitätsbewußtsein (4). Auch mein Körper ist nur meiner, sofern zwar nicht sein Dasein, wohl aber gewisse Veränderungen an ihm von jenem Gefühl freier Aktivität begleitet sind.

Indessen bei diesem unmittelbaren Subjektivitätsbewußtsein bleibt es nicht. Es bleibt gleichzeitig auch nicht beim unmittelbaren Objektivitätsbewußtsein. Es bleibt nicht dabei, d. h. wir bleiben nicht dabei und können nicht dabei bleiben; so wenig wie wir irgendwo in unserer Erkenntnis beim unmittelbar Gegebenen bleiben und bleiben können. Daß wir  tatsächlich  nicht beim unmittelbaren Subjektivitätsbewußtsein bleiben, zeigt z. B. unsere Beurteilung der äußeren Vorgänge, die wir im Traum erleben. Ihnen gegenüber haben wir durchaus nicht jenes unmittelbare Subjektivitätsbewußtsein. Dennoch bezeichnen wir sie als völlig subjektiv, sie sind uns nichts Physisches, sondern ein lediglich Psychisches. Hier verstehen wir also unter dem Subjekt und der Zugehörigkeit zu ihm etwas anderes, wir meinen mit dem Subjekt oder Ich nicht das unmittelbar erlebte, sondern ein darüber hinaus liegendes, oder "transzendentes", nicht das einzig und allein im unmittelbaren Erleben gegebene, sondern ein davon unabhängig bestehendes, also objektiv reales Subjekt oder Ich. Und wir meinen mit der Zugehörigkeit zum Subjekt oder der Subjektivität, oder meinen mit dem Wort "psychisch", die gedachte oder erkannte Zugehörigkeit zu diesem realen Ich. Oder, wenn wir dies nicht meinen, was wollen wir mit der Behauptung, Traumgebilde seien subjektiv oder seien lediglich psychisch, sagen, welchen anderen Gedanken glaubt man mit dieser Behauptung verbinden zu können?

Zu diesem realen Ich gelangen wir, getrieben durch die unvermeidliche Notwendigkeit des kausalen Denkens, die, wie nebenbei gesagt werden mag, gar nichts ist als die Tatsache der Gesetzmäßigkeit des denkenden Geistes überhaupt (5). Das reale Ich ist das ansich unbekannte Etwas, das wir dem unmittelbar erlebten Ich, und allen Objekten des Bewußtseins, die, und soweit sie Gegenstände jenes Gefühls freier Aktivität oder jenes unmittelbaren Subjektivitätsbewußtseins sind, denkend zugrunde legen und unweigerlich zugrunde legen müssen. Weiteres Nachdenken zwingt uns dann dazu, dasselbe unbekannte Etwas auch anderen Objekten des Bewußtseins, z. B. den Traumgebilden, zugrunde zu legen.

Gleichzeitig mit dem Begriff des realen Ich entsteht uns der Begriff der diesem realen Ich gegenüberstehenden realen Welt. Diese reale Welt ist nichts als das im letzten Grund ebenso unbekannte Etwas, das wir den Objekten des Bewußtseins, sofern sie Gegenstände jenes  Passivitätsgefühls  oder des unmittelbaren Objektivitätsbewußtseins sind, denkend zugrunde zu legen und aufgrund der Erfahrung und des Denkgesetzes zugrunde legen müssen. Diese reale Welt gilt uns allen als real. Sie ist aber um nichts realer als das reale Ich. Das Dasein  beider  für uns und der Gegensatz der beiden beruth einzig auf dem Gegensatz des unmittelbaren Aktivitäts- und Passivitätsgefühls, also mit einem Wort auf einem Willensgefühl. Ohne dieses Willensgefühl fehlte für die Ausbildung des Gedankens der realen Welt, ebenso wie für die Ausbildung des Gedankens des realen Ich, jeder denkbare Anlaß. Beide Gedanken verlören ihren Sinn. Umgekehrt ergeben sich beide aus dem, was wir wollend unmittelbar erleben,  mit gleicher Notwendigkeit. 

Mit dem Begriff dieses realen Ich gewinnt nun, wie schon gesagt, erst das Wort  psychisch  und damit zugleich das Wort  physisch  seinen Sinn. Psychisch - nicht für unser unmittelbares Bewußtsein oder Gefühl, sondern für unsere Erkenntnis, ist dasjenige, das und soweit es im realen Ich den Grund seines Daseins hat. Oder allgemeiner gesagt, psychisch ist der Zusammenhang und jedes Element des Zusammenhangs, in welchen wir die Bewußtseinsobjekte, die, und sofern sie Gegenstände des unmittelbaren Subjektivitätsbewußtseins sein, denkend einzuordnen genötigt sind. Dieser Zusammenhang besteht aber eben nicht ohne das reale Ich als sein Fundament. Das reale Ich ist nicht nur psychisch, sondern es ist  die Psyche. 

Was wir hier "Psyche" nennen, ist ein obwohl nicht Unveränderliches, so doch Dauerndes, ein "ruhendes Sein", in dem Sinne, in dem überhaupt von einem solchen geredet werden darf. Es darf Substanz heißen in prinzipiell demselben Sinn und mit prinzipiell völlig gleichem Recht, wie die materielle Substanz. Nennen wir Aktualitätstheorie die Theorie, die den Begriff des realen Ich oder die "Psyche" aus der Psychologie ausschließt, so gibt es nach dem Gesagten für die Aktualitätstheorie keinen Begriff des Psychischen, also auch keine mögliche Definition der Psychologie. Glücklicherweise besteht die Aktualitätstheorie, da wo sie proklamiert wird, immer nur als Theorie, niemals als leitendes Prinzip des psychologischen Erkennens.

Wichtiger aber als die Substanzialität des realen Ich ist uns hier dies, daß wir in ihm ein erstes psychisches Unbewußtes haben. Das reale Ich ist, auch wenn es für mein Bewußtsein nicht besteht; und besteht es für mein Bewußtsein, so ist es doch für dasselbe, genauso wie die materielle Substanz, nur ein ansich unbestimmter, lediglich durch das unmittelbar Gegebene bestimmbarer Begriff. Sofern ohne dasselbe kein Begriff des Psychischen und keine Definition der Psychologie möglich ist, können wir sagen: Es gibt keinen Begriff des Psychischen und keine mögliche Definition der Psychologie, ohne das unbewußt Psychische.

Dieser bis jetzt gewonnene Begriff des Unbewußten genügt aber für die Psychologie nicht. Es gibt nicht nur ein "ruhendes psychisches Sein", sondern auch "unbewußte Vorstellungen". Was sind diese?

Darauf gebe ich zunächst die allgemeine Antwort: Sie sind der zweckmäßige und wohlberechtigte Ausdruck für eine feststehende Tatsache. Die gemeinte Tatsache ist die, daß jedes gegenwärtige psychische Geschehen mehr oder weniger bedingt zu sein pflegt durch vergangene Bewußtseinserlebnisse, und daß dies der Fall sein kann, ohne daß doch diese ehemaligen Bewußtseinserlebnisse im gegenwärtigen Augenblick für mein Bewußtsein zu bestehen brauchen.

Hiermit könnte ich mich völlig begnügen. Ich will aber noch etwas genauer reden.

Ich höre eiinen Satz aussprechen. Der Satz bezieht sich auf eine wichtige wissenschaftliche, ästhetische, ethische, soziale, politische Tatsache oder Frage. Indem ich den Satz aussprechen höre, verhalte ich mich zu ihm sofort innerlich in bestimmter Weise. Ich stimme zu oder lehne ab; beides leidenschaftlicher oder weniger leidenschaftlich. Nehmen wir an, ich verhalte mich ablehnend. Frage ich mich nun nachträglich, was diese Ablehnung oder Verneinung samt ihrem besonderen affektiven oder Stimmungscharakter bedingte, so finde ich: das Bedingende war nicht ein einzelner Gedanke, der meinem Bewußtsein im Augenblick der Ablehnung vorgeschwebt hätte, sondern eine unabsehbare Fülle von Erfahrungen und Erlebnissen, von belehrenden und erzieherischen Einflüssen; kurz ein Tausenderlei von Vorstellungen, die mir im Laufe meines Lebens zuteil geworden sind. Stattdessen kann ich auch sagen: das Bedingende war eine allgemeine Überzeugung, Denkrichtung, Gesinnung, oder noch allgemeiner: eine bestimmte psychische Disposition. Aber diese Disposition ist, ebenso wie die Denkrichtung, Gesinnung etc. nur ein Begriff oder besser ein Wort. Das einzige in der Erfahrung Aufzeigbare sind jene vergangenen Vorstellungen oder Bewußtseinserlebnisse. Will ich mir die vorliegende Tatsache aus Tatsachen verständlich machen, so muß ich also zu den vergangenen Vorstellungen zurückgreifen. Diese Vorstellungen waren aber im Augenblick der Verneinung für mein Bewußtsein nicht da.

Vergangene Vorstellungen wirken also jetzt in mir, ohne daß sie mir jetzt als bewußte oder aktuelle Vorstellungen gegenwärtig wären. Dies setzt zunächst eine Anschauung voraus, die jedermann anerkennt. Was ich bewußt erlebt habe, so nehmen wir an, ist, nachdem es dem Bewußtsein entschwunden ist, nicht in jedem Sinne dahin. Es ist nicht, als wäre es nie gewesen. Vielmehr, es bleibt in mir von diesen entschwundenen Bewußtseinserlebnissen etwas seinem Wesen nach Unbekanntes zurück. Auf dem Dasein dieses unbekannten Etwas beruth es, daß das ehemalige Bewußtseinserlebnis als Bewußtseinserlebnis, oder, wenn man lieber will, daß ein Analogon desselben für mein Bewußtsein wiederkehren kann. Dieses Etwas oder diese "Gedächtnisspur" schließt also die Möglichkeit einer gleichartigen aktuellen Vorstellung in sich. Die "Gedächtnisspur" ist eine Vorstellungspotenz oder eine potenzielle Vorstellung. Man könnte sie auch nach Analogie der latenten Wärme, die ja auch nicht wirkliche Wärme ist, eine latente Vorstellung nennen.

Aber die potenziellen Vorstellungen, von denen  hier  die Rede ist, sind, obgleich sie nicht in aktuelle Vorstellungen übergehen, nicht  bloße potentielle  Vorstellungen. Sie sind nicht ruhende Möglichkeiten, sondern sie wirken. Sie wirken in unserem Fall das Gefühl der Ablehnung oder Verneinung. Sofern sie wirken, sind sie in gewisser Weise reaktiviert, belebt, "rege" gemacht. Das meine ich, wenn ich zunächst von unbewußten psychischen  Erregungen  spreche. Ich will damit sagen, daß ein unbewußtes Psychisches nicht nur da ist, sondern daß ein Wirken desselben stattfindet. Die unbewußte Erregung ist dieses Wirken, die  einzelne  unbewußte Erregung ist der Anteil der einzelnen potentiellen Vorstellung an diesem Wirken.

Zugleich sind diese unbewußten Erregungen nicht lebendig oder rege gewordene Potenzen irgendwelcher Art, sondern lebendig oder rege gewordene potentielle  Vorstellungen;  d. h. die volle Reaktivierung derselben schließt das erneute Dasein der entsprechenden aktuellen Vorstellungen in sich. Die unbewußten Erregungen sind nicht diese volle Reaktivierung, aber sie sind eine niedrigere Stufe derselben. Je mehr ich mich besinne, oder allgemeiner gesagt, je günstiger die Bedingungen sind für die Reaktivierung der Vorstellungen, die die Verneinung des Satzes bedingen, umso sicherer kann die bewußte Erinnerung an dieselben zustande kommen.

Und wichtiger noch als dieser Umstand, ist der andere, daß die unbewußten Erregungen, von denen wir hier reden, unter gleichartigen Bedingungen entstehen und, wenn nicht dem Grad, so doch der Art nach in gleicher Weise wirken, wie die ihnen entsprechenden bewußten Vorstellungen. Der Satz, den ich aussprechen höre, läßt die damit in erfahrungsgemäßer Beziehung stehenden Vorstellungen sich unbewußt "regen" vermöge eben  dieser erfahrungsgemäßen Beziehungen,  und die unbewußten Erregungen bewirken nicht irgendetwas, sondern das Gefühl der Verneinung, das genau der logischen Beziehung entspricht, die zwischen dem Satz und jenen Vorstellungen obwaltet.

Damit hat der Begriff der unbewußten Vorstellungen seinen Inhalt gewonnen. Sie sind Momente in einem psychischen Erregungsprozeß, dessen Endziel die bewußten Vorstellungen darstellen; und sie sind, was ihre Stellung und Bedeutung im Zusammenhang des psychischen Lebens betrifft, den bewußten oder aktuellen Vorstellungen gleichwertig. Sie sind Vorstellungen ihrem Wert nach, oder soweit etwas Vorstellung sein kann, ohne die Bewußtseinstatsache zu sein, die man sonst als Vorstellung bezeichnet. da es der Psychologie nicht auf die einzelnen Akte oder Inhalte des psychischen Lebens ankommt, sondern auf ihre Stellung und Bedeutung im Zusammenhang des Ganzen, so hat es einen guten Sinn, wenn sie die unbewußten Vorstellungen als Vorstellungen bezeichnet. Daß sie damit keine aktuellen Vorstellungen als Vorstellungen meint, überhaupt nichts damit bezeichnen will, das seinem  Wesen  nach bekannt wäre, sagt der Zusatz "unbewußt" genügend deutlich.

Der so gefaßte psychologische Begriff des Unbewußten ist weder hypothetisch noch mystisch, sondern, wie schon gesagt, der Ausdruck für Tatsachen. Er ist, genauer gesagt, der Ausdruck für das Tatsächliche, das wir an die Stelle von allerlei allgemeinen Begriffen und mystischen Kräften und Tätigkeiten der Seele zu setzen haben. Machen wir mit dem Unbewußten Ernst, so hört z. B. das Problem der Aufmerksamkeit auf, ein besonderes Problem zu sein; es wird zum Problem des Vorstellungsverlaufs überhaupt, wie er sich gestaltet aufgrund der äußeren Eindrücke, der nach den Gesetzen der Erfahrungs- und Ähnlichkeitsassoziation wirkenden, bewußten und unbewußten Vorstellungen, endlich der Beziehungen der bewußten und unbewußten psychischen Elemente zum Ganzen der Persönlichkeit oder zu "mir". Es bedarf ebenso, wo der Begriff der unbewußten Vorstellungen zu seinem Recht gelangt, d. h. die von ihm bezeichneten Tatsachen in Rechnung gezogen werden, nicht mehr der angeblichen psychomotorischen Kraft der Gefühle, der besonderen Kraft oder Tätigkeit des Willens etc. (6) Die echte  Assoziationspsychologie  wird möglich, die freilich von einer "atomistischen" Vorstellungsmechanik möglichst weit entfernt bleibt.

Und nicht als etwas gelegentlich Hinzutretendes, sondern als die allgemeine Basis des psychischen Lebens erscheint dieses Unbewußte. Das psychische Leben eines Momentes, so habe ich mich an anderer Stelle gelegentlich ausgedrückt, ist wie ein im Meer versunkenes weites Gebirge, von de nur wenige höchste Gipfel über die Wasseroberfläche emporragen. Wollen Sie einen einfachen Beleg, so nehmen Sie, was sich jetzt in mir abspielt. Ich rede, füge Wort an Wort und habe das Bewußtsein der Richtigkeit dessen, was ich sage. Dieses Bewußtsein ist nicht bedingt durch die Worte als solche, sondern durch das, was die Worte bedeuten. Davon aber sind jetzt nur zufällige Rudimente in meinem Bewußtsein. Ich denke, soweit mein Denken Bewußtseinsvorgang ist, in Begriffen, d. h. wenn Sie auch hier die Mystik weglassen, in Worten, die ehemals daran geknüpfte Vorstellungen unbewußt wirksam werden lassen.

Man könnte erwarten, daß ich nun, nach den unbewußten (reproduktiven) Vorstellungen, auch noch die "unbewußten Empfindungen", die in der Psychologie gleiches Recht und gleiche Bedeutung besitzen, wie jene, besonders zu Wort kommen lasse. Ich unterlasse dies aber hier, und bemerke nur, daß es sich mit ihnen völlig analog verhält. (7)

In der Psychologie auf das Unbewußte verzichten, so lautet mein Ergebnis, heißt auf die Psychologie verzichten. Wie kann man dann seine Verwendung tadeln?

Man sagt: das Unbewußte sei nichts als der völlig unbestimmte Begriff einer Disposition. Soweit dies zutrifft, ist es kein Tadel, sondern eine Selbstverständlichkeit. Auch die materiellen Kräfte sind bloße Dispositionen. Die ganze Materie ist Disposition. Und auch der Begriff dieser Dispositionen ist ein ansich völlig unbestimmter. Er ist bestimmbar einzig aus den Wirkungen der Dispositionen, schließlich ihren in der unmittelbaren Erfahrung gegebenen Wirkungen. Das Gleiche gilt vom Unbewußten in der Psychologie. es ist eben  überall  unmöglich, das nicht in der Erfahrung unmittelbar Gegebene anders zu bestimmen als aus der Erfahrung.

Oder man meint im Ton des Vorwurfs, mit dem Unbewußten könne man alles machen. In der Tat ist damit allerlei gemacht worden; man hat allerlei Unfug damit getrieben. Aber das beweist doch nur, daß man mit diesem wie mit jedem wissenschaftlichen Begriff gewissenhaft vorgehen muß, daß man in jedem Fall seiner Anwendung das Tatsächliche aufzuzeigen hat, das man damit meint. Die gleiche Pflicht der Gewissenhaftigkeit hat dann aber natürlich auch der Kritiker des Unbewußten. Er muß zusehen,  welchen  Begriff des Unbewußten und welche Anwendung desselben er in jedem einzelnen Fall vor sich hat. Der Kampf gegen  das  Unbewußte, ohne eine nähere Bestimmung desselben, gar gegen einen selbstgemachten Popanz dieses Namens, ist zumindest kein sehr zweckvolles Unternehmen.

Und womit befreit man sich von einem derart gescholtenen Unbewußten? - Hierzu gibt es mehrere Wege.

Der eine ist dieser: Man behauptet allerlei Bewußtseinsdaten, die in keinem Bewußtsein vorkommen. Ein einfaches Beispiel sind die schon oben erwähnten Obertonempfindungen, die man als wirkliche oder bewußte Empfindungen in der Klangempfindung enthalten sein läßt.

Oder man setzt an die Stelle des Wortes "Unbewußt" das Wort "Unbemerkt". Damit ist gar nichts geändert. Ein Bewußtsein von etwas haben, oder etwas "bemerken", beides ist nur ein verschiedener Ausdruck für die nicht weiter beschreibbare, weil absolut letzte Tatsache, daß etwas ideell oder für mich da ist, daß ich von ihm weiß, daß ich es - nicht physisch sondern geistig erlebe. Oder meint man im Ernst, es hat einen Sinn, von einer doppelten Weise des ideellen oder geistigen Daseins, oder des Daseins für mich zu reden, einer die darin besteht, daß ich ein Bewußtsein von etwas habe, und einer anderen, die darin besteht, daß ich etwas bemerke? Kann ich von etwas wissen, es geistig erleben, ohne es zu bemerken, oder vielleicht auch umgekehrt, etwas bemerken, ohne von ihm ein Bewußtsein zu haben? Kann etwas für mich da sein und doch zugleich nicht da sein?

Oder endlich: Man nennt das Unbewußte halb- oder dunkelbewußt. Damit statuiert man dieselbe Unmöglichkeit in anderer Form. Das Dasein für mich kann sowenig wie das objektiv wirkliche Dasein Grade haben. Etwas ist, oder es ist nicht. Damit ist nicht gesagt, daß das angeblich Halbbewußte  immer  ein tatsächlich  Unbewußtes  ist. Es ist vielleicht ein andermal ein solches, das nur flüchtig am geistigen Auge vorüberzog, psychisch isoliert und darum bedeutungslos blieb, nicht Gegenstand eines spürbaren Interesses wurde, zu keinen anderen Vorstellungen in Beziehung trat, keine Vorstellungen weckte, nicht Ausgangspunkt wurde für Fragen, kurz in keiner Weise Mittelpunkt wurde für das psychische Leben usw. Ich habe an anderer Stelle (8) zu zeigen versucht, durch welche Selbsttäuschung der rückwärts gewandte Blick des Psychologen, wie schon des naiven Bewußtseins, dazu gelangen kann, allerlei derartige psychische Tatbestände im Sinne der Grade des Bewußtseins zu interpretieren. Ich sage: der rückwärts gewandte Blick; denn, daß es nicht angeht auf das Halb- oder Dunkelbewußte im Augenblick seines  Daseins  die Aufmerksamkeit zu richten, und so aufgrund sicherer unmittelbarer Beobachtung seine Halb- oder Dunkelbewußtheit zu konstatieren, leuchtet ein. Der Mangel der Aufmerksamkeit soll es ja eben sein, der die Halb- oder Dunkelbewußtheit verschuldet.

Schließlich habe ich mich aber vor allem gegenüber denjenigen zu rechtfertigen, die von mir fordern, daß ich das unbewußt Psychische "ehrlich" nicht als ein Psychisches, sondern als ein Physiologisches bezeichne, die es als völlig sicher ausgeben, daß das Unbewußte einzig im Physiologischen seine Stelle hat.

Hier erinnere ich zunächst daran, daß ja das unbewußte Psychische, wie das Psychische überhaupt, für mich gar nicht der Name ist für etwas irgendwie qualitativ Bestimmtes, sondern einig und allein der Name für die Zugehörigkeit zu einem Zusammenhang, nämlich eben einem psychischen Zusammenhang. Was diesem Zusammenhang angehört, und insofern psychisch ist, kann recht wohl zugleich einem physiologischen Zusammenhang angehören und insofern physiologisch sein. Die physiologische Deutung des Unbewußten ist also durch meinen Begrif des Unbewußten in keiner Weise ausgeschlossen.

Aber allerdings: ich weigere mich als Psychologe entschieden, diese Deutung zu vollziehen. Ich erkenne mir nicht das Recht zu das psychisch Unbewußte ohne weiteres mit irgendwelchen physiologischen Namen zu taufen. Und ich habe dazu einige Gründe. Was ich als reales Ich, als meine Persönlichkeit, auch wohl als Seele bezeichne, mit dem Zusatz, daß mir sein Wesen völlig unbekannt sei, das versichern einige, mit Bestimmtheit im Gehirn oder einem Teil desselben wiederzuerkennen. Was ich unbewußte psychische Erregungen nenne, das, behaupten sie, sei nichts anderes als eine bestimmte Art von Gehirnvorgang. Nun mag es ja wohl so sein. Ich will auch hier nicht bestreiten, daß es unter den der Psychologie oder Physiologie Beflissenen solche geben mag, denen es vergönnt ist, in den letzten Grund aller Dinge, wenigstens an dieser Stelle, hineinzublicken, so sicheren Auges, daß sie mit wissenschaftlicher Gewißheit sagen können: es ist so. Aber ich gehöre nun einmal nicht zu diesen Wissenden. Ich gebe die Möglickeit zu, daß es so sei. Aber ich gebe sie nicht als Gewißheit aus.

Mit anderen Worten: Psychologie ist eine Erfahrungswissenschaft, und darf als solche keine metaphysischen Voraussetzungen machen. Wenn überhaupt irgendetwas, so ist jene Identifikation eine Sache der über die Erfahrung hinausgehenden Metaphysik.

Oder will man mit jener Identifikation nur sagen, es lasse sich - nicht irgendein isolierter psychischer Vorgang; solche isolierte psychische Vorgänge gibt es nicht, - sondern die einheitliche Persönlichkeit, das einheitliche Leben und Wesen eines Individuums, in seiner Einheit und Ganzheit, restlos aus den materiellen Gehirnvorgängen begreifen; man wisse mit wissenschaftlicher Gewißheit zu sagen, daß und wie es daraus und einzig daraus entsteht oder enstehen kann. - In der Tat kann ja jene Identifikation nur diesen Sinn haben. - Dann bekenne ich nicht nur wiederum mein Nichtwissen, sondern gehe sogar zu dem gelinden Zweifel über, d. h. ich gestehe, daß es mir allen Ernstes scheint, als läge das Geheimnis der Persönlichkeit etwas tiefer, als jene Gläubigen sich träumen lassen.

Angenommen aber auch, ich hätte nicht diese Scheu, für gewiß auszugeben, was ich nicht weiß, oder ich wäre so glücklich, zu einer solchen Scheu keinen Anlaß zu haben, so gäbe es für mich immer noch gewisse  methodologische  Gründe, die Identifikation des unbewußt Psychischen mit irgendeinem Physiologischen zu unterlassen. Nicht weniger als drei solche Gründe habe ich.

Vielleicht ist, was der  Physiker  den von  ihm  beobachteten Erscheinungen zugrunde legt, in Wahrheit ein  Geistiges.  Diese Möglichkeit hindert den Physiker doch nicht, dasselbe zunächst physikalisch, d. h. aus seinen in der unmittelbaren  physikalischen  Erfahrung gegebenen Wirkungen zu bestimmen. Für ihn als Physiker kommt es eben nur nach seiner physikalischen Seite oder als ein Faktor in einem physikalischen Wirklichkeitszusammenhang in Betracht. Mit eine gewissen Stolz wird sich der Physiker zu so einer konsequenten Festhaltung seines physikalischen Standpunktes oder seiner rein physikalischen Betrachtungsweise bekennen. es scheint mir, daß auch dem Psychologen etwas von diesem Stolz wohl anstände. Zumindes wird man es dem Psychologen nicht verargen dürfen, wenn er, ohne die Möglichkeit des Hinausgehens über die rein psychologische Betrachtungsweise überhaupt zu leugnen oder irgendjemandem das Recht dazu abzusprechen, für seinen Teil zunächst darauf verzichtet.

Dazu kommt ein anderes. Das Recht zu jener Identifikation setzt zweifellos voraus, daß man auf beiden Gebieten, dem psychologischen und dem physiologischen, heimisch ist. Es scheint mir aber, der Psychologe hat genug und übergenug zu tun mit seinen psychischen Tatsachen. Schon die einfache psychologische Beobachtung und Analyse ist eine eigene Kunst, die niemandenn von selbst in den Schoß fällt, die vielmehr immer nur durch gewissenhafte Übung angeeignet werden kann. Gleichzeitig ist zu bedenken, daß der Umkreis der psychischen Tatsachen nicht erschöpft ist durch die paar Tatsachen, auf die wir manche Psychologien jetzt wohl sich beschränken sehen. Alles geistige Leben, wie es auch heißen mag, ob Denken und Erkennen, ästhetisches Verhalten, sittliches Bewußtsein oder wie auch immer, verfällt, eben als geistiges oder psychisches, notwendig der Psychologie. Und die Gebiete dieses geistigen Lebens können nicht auseinandergerissen werden, wenn nicht das Verständnis auf jedem derselben verkümmert werden soll. Man ist Psychologe ganz, d. h. im umfassendsten Sinn des Wortes, oder man ist in Gefahr, es gar nicht zu sein. Ist so innerhalb der Psychologie eine eigentliche Teilung der Arbeit ausgeschlossen, so ist umsomehr - abgesehen von besonders bevorzugten Geistern, deren Existenz ich ja gewiß nicht leugnen will - eine Trennung der psychologischen von der physiologischen Arbeit gefordert. Gewiß wird der Psychologe es nie unterlassen sich über physiologische Tatsachen belehren zu lassen. Aber er wird sich weigern dürfen, da selbst zu belehren, wo er die Verantwortung für die wissenschaftliche Gewißheit seiner Versicherungen anderen überlassen muß.

Endlich der letzte Grund. Die Psycho-Physiologie unserer Tage wandelt durchaus und notwendig in den Spuren der Psychologie. Die sogenannten physiologischen Erklärungen psychischer Erscheinungen sind die Übersetzung wirklicher oder vermeintlicher psychologischer Erkenntnis aus der Sprache der Psychologie in die Sprache der Gehirnphysiologie. Eine physiologische Psychologie im eigentlichen Sinne, d. h. eine Einsicht in den Zusammenhang oder die Gesetzmäßigkeit der psychischen Vorgänge, die erst aufgrund der Physiologie gewonnen würde, gibt es nicht. Wohl hat die Psychologie nicht selten durch das vorzeitige Schielen nach physiologischen Tatsachen oder Hypothesen, oder durch die voreilige Frage nach der Möglichkeit der Anknüpfung ihrer Tatsachen an physiologische Tatbestände sich den Blick für die psychologischen Tatsachen trüben, ja überhaupt von ernsthaftem Erfassen psychologischer Probleme abhalten lassen. Die schon oben berührte Mythologie der Körperempfindungen, die jetzt manche Gemüter so seltsam beherrscht und die wohl noch eine Zeitlang ihr Wesen treiben wird, scheint mir dieser Quelle zu entstammen. Ist es doch fast so, als hielten einige jeden beliebigen, wenn auch noch so leeren physiologischen Begriff lediglich darum, weil er an Physiologisches erinnert, zur Lösung beliebiger psychologischer Rätsel geeigneter, als den noch so sicher nachweisbaren Zusammenhang psychologischer Tatsachen. - Indessen dies alles sind Jugendkrankheiten, die die Psychologie überwinden muß. Das Heil der Psychologie und damit zugleich das Heil der Psychophysiologie wird davon abhängen, daß die sich die Psychologie mehr und mehr auf ihre eigenen Füße stellt, durch nichts beirrt auf ihren eigenen Wegen ihren eigenen Zielen zustrebt. In dem Maße als sie dies tut, wird ihr die Psychophysiologie zu folgen, aber auch nur zu  folgen  vermögen, langsam, vorsichtig und jederzeit mit voller psychologischer Sachkenntnis. Vielleicht, daß dann auch das Unbewußte der Psychologie für sie eine greifbarere Gestalt gewinnt.

Der Begriff des Unbewußten in der Psychologie, so sagte ich oben, ist weder hypothetisch noch mystisch, sondern der Ausdruck für feststehende Tatsachen. Ich kann jetzt hinzufügen, daß er zugleich den ausdrücklichen Verzicht auf metaphysische Annahmen in der Psychologie in sich schließt, das konsequente Festhalten des psychologischen Standpunktes der Betrachtung, das bescheidene Bekenntnis des Nicht-alles-Könnens, endlich die Überzeugung von der notwendigen Führerschaft der reinen Psychologie in den Fragen der Psycho-Physiologie.

Im übrigen: Sehe jeder, wie er's treibe. Sei aber zugleich jeder sich bewußt, daß ersprießliches Zusammenarbeiten auf dem Gebiet der Psychologie nicht gefördert wird durch den Streit gegen Namen, oder die Verurteilung bzw. die Lobpreisung von Richtungen und Standpunkten, wohl aber durch eine gewissenhafte Prüfung der behaupteten Tatsachen und ihrer wissenschaftlichen Verwertung.
LITERATUR - Theodor Lipps, Der Begriff des Unbewußten in der Psychologie, Vortrag gehalten am Dritten Internationalen Kongreß für Psychologie vom 4. bis 7. August 1896 in München, München 1897
    Anmerkungen
    1) Am ausgeführtesten in den "Grundtatsachen des Seelenlebens", (1983); mit Rücksicht auf ein spezielles Gebiet in den "Grundzügen der Logik" (1893).
    2) Grundzüge der Logik, Seite 26f
    3) Grundzüge der Logik, Seite 4
    4) Vgl. Grundzüge der Logik, Seite 4f
    5) IVgl. Grundzüge der Logik, Seite 146f
    6) Das Nähere siehe in den "Grundtatsachen des Seelenlebens".
    7) Vgl. im übrigen "Grundtatsachen des Seelenlebens", Seite 125f
    8) "Zur Lehre von den Gefühlen insbesondere den ästhetischen Elementargefühlen" in Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. VIII.