ra-2R. Lazarsfeldvon Kirchmannvon RümelinF. DahnM. RumpfE. Müller    
 
ANDERS VILHELM LUNDSTEDT
(1882-1955)

Die Unwissenschaftlichkeit
der Rechtswissenschaft

[3/3]

Die ständige Behauptung in der modernen Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, der  Staatswille  sei das Subjekt des Rechts, bezieht sich auf nichts anderes, als auf die in der Gesellschaft wirksame Realisationskraft des Rechts. Sicher ist, daß die originäre Herrschermacht der Gesellschaft, die für den Staat kennzeichnend sein soll, nichts anderes ist. Ein bestimmtes System von Verhaltensregeln, das sich auf eine gewisse Menschengruppe bezieht, kommt durch innerhalb der Gruppe selbst wirksame Kräfte seitens besonders bestimmter Personen zur Anwendung. Damit und nur damit  regiert  die Gesellschaft sich selbst. Wenn man von  souveränen Organen  des Staates spricht, so handelt es sich in Wirklichkeit um nichts anderes, als daß gewisse Regeln über die höchste Machtausübung seitens dazu bestimmter Personen oder Personenkomplexe infolge innerhalb der Gesellschaft wirksamer Kräfte zur Anwendung kommen.


Ausführungen von Hägerström

In dem vorstehend Gesagten habe ich einige in diesem Zusammenhang besonders interessante Punkte in der Auffassung der Jurisprudenz berührt, wonach die subjektiven Rechte und Pflichten ihren Grund im mächtigen Willen der Rechtsordnung oder des Gesetzgebers haben sollen. Schattierungen und Varianten finden sich natürlich in größerer Menge, als hier angedeutet werden konnte. Aus unseren bisherigen Darlegungen dürfte jedoch zur Genüge hervorgehen, daß  jede  Theorie von einem Willen hinter den Rechtsinstitutionen nur leere Phantasie ist. Aber im Hinblick auf die Methode der herrschenden Jurisprudenz, sich, wenn sie in  einem  Punkt angegriffen wird, ständig neue Stützpunkt aus einer nie versiegenden Quelle - der Phantasie - zu holen, dürfte es notwendig sein, hier so nachdrücklich wie möglich zu unterstreichen: Bereits vor über 15 Jahren ist durch tiefgehende Untersuchungen nachgewiesen worden, daß alles Gerede von einer einheitlichen Macht oder einem einheitlichen Willen als Triebkraft des Rechtsmechanismus eines Staates keine Stütze in unserer Erfahrung hat. Die Rechtsregeln
    "wirken im modernen Staat durch einen Komplex von in ihm enthaltenen psychischen Kräften. Beispiel: ein nach faktisch herrschenden Rechtsregeln entstandener  Gesetzgebungsakt  schafft neues Recht. Die hierzu durch gleichfalls herrschende Rechtsregel bestimmten Personen, z. B. die Richter, wenden es an. Hier wirkt teils der gegenseitige Druck, teils auch das allgemeine Pflichtgefühlt gegenüber dem das Gemeinwesen organisierenden und die Tätigkeit der speziellen Organe regelnden Rechtssystem. Natürlich ist es sinnlos, diese Kraft der Rechtsregeln als einen wirklichen Willen zu behandeln, der das eine Verhalten gebietet, das andere verbietet. Sicherlich ist der  Gesetzgeber  durch gewisse Rücksichten auf das Gemeinwohl beeinflußt - auch Klasseninteressen spielen eine Rolle -, und deshalb kann man natürlich bei jeder Gesetzesauslegung nach dem Interesse fragen, das zur Entstehung des Gesetzes geführt hat. Aber dieses hinter dem Recht stehende Interesse ist ja nur ein bei den mit der Kraft neues Recht zu setzen, ausgestatteten Personen wirksames Motiv, das unmöglich als eine besondere gebietende Person betrachtet werden kann."
Diese Behauptungen stammen von HÄGERSTRÖM (1). Den näheren Beweis für ihre Richtigkeit hat er in der hier bereits vielfach genannten Abhandlung geliefert "Ist das geltende Recht ein Willensausdruck?" (2) Diese Frage beantwortet er mit Nein, und zwar in einer Weise, die meines Erachtens jeder Mann der Wissenschaft als bindend anerkennen muß. Damit ist eine Grundvoraussetzung nicht nur der in Schweden und anderswo vorherrschenden Privatrechtswissenschaft, sondern auch der üblichen Strafrechts- und Staatsrechtswissenschaft vollständig vernichtet worden. Da diese Arbeit von HÄGERSTRÖM nur in schwedischer Sprache vorliegt, gestatte ich mir, einiges aus ihr mitzuteilen.

HÄGERSTRÖM weist zunächst den Zirkelcharakter der Lehren nach, welche, wie z. B. die von EDUARD von HARTMANN, den für das Recht bestimmenden Willen selbst durch das Recht bestimmt sein lassen. Hierauf zeigt er die Unhaltbarkeit der Vorstellung, daß ein über den "Staatsorganen" stehender wirklicher "Gemeinwille" oder "Gesamtwille" im Recht zum Ausdruck kommt, sowie auch der Ansicht, daß das Recht von der faktischen höchsten persönlichen Macht in der Gesellschaft aufrechterhalten wird. In diesem Zusammenhang kritisiert er AUSTIN, BEROLZHEIMER, BIERLING, BINDING, H. A. FISCHER, HOLD von FERNECK, GAREIS, GIERKE, GOOS, HOLLAND, HÄNEL, HÖLDER, JELLINEK, MAINE, MERKEL, SALMOND, STAMMLER und andere Autoren (3). Danach folgt eine Partie, die besonders große Bedeutung für mein eigenes Studium gehabt hat und die ich deshalb hier in extenso wiedergeben will. Dieselbe lautet in der Übersetzung folgendermaßen:
    Es dürfte sich nun auch so verhalten, daß sich die ständige Behauptung in der modernen Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, der  Staatswille  sei das Subjekt des Rechts, auf nichts anderes bezieht, als auf die in der Gesellschaft wirksame Realisationskraft des Rechts. Sicher ist, daß die originäre Herrschermacht der Gesellschaft, die für den Staat kennzeichnend sein soll, nichts anderes ist. Ein bestimmtes System von Verhaltensregeln, das sich auf eine gewisse Menschengruppe bezieht, kommt durch innerhalb der Gruppe selbst wirksame Kräfte seitens besonders bestimmter Personen zur Anwendung. Damit und nur damit  regiert  die Gesellschaft sich selbst. Wenn man von  souveränen Organen  des Staates spricht, so handelt es sich in Wirklichkeit um nichts anderes, als daß gewisse Regeln über die höchste Machtausübung seitens dazu bestimmter Personen oder Personenkomplexe infolge innerhalb der Gesellschaft wirksamer Kräfte zur Anwendung kommen. Die Machtausübung selbst aber besteht nur darin, daß in bestimmter Weise abgegebene Erklärungen der  souveränen Organe  infolge der Kraft vorhandener Regeln ihrerseits Regeln erzeugen, die vor allen anderen Versuchen, über die Verhältnisse in der Gesellschaft zu bestimmen, durch die Anwendung von dazu bestimmten Personen zur Durchführung gelangen. Was bedeutet z. B. die Machtausübung der  souveränen Organe,  wenn ein privatrechtliches Gesetz erlassen wird? Natürlich beruth seine Durchführung letzten Endes darauf, daß die Richter es in Streitfällen anwenden. Geschieht dies nicht, so bedeutet die Verkündigung des Gesetzes nichts weiter, als daß gewisse Sätze in bestimmter Weise als von der sogenannten gesetzgebenden Behörde erlassen veröffentlich und dem Publikum zur Kenntnis gebracht worden sind. Eine wirkliche Machtausübung findet nicht statt. Aber wenn nun die Richter das Gesetz wirklich anwenden und also eine wirkliche Machtausübung stattfindet, was bedeutet dies anderes, als daß das Gesetz als Glied des kraftbesitzenden Regelsystems, wozu es als regelgemäß verörrentlichtes Gesetz wird, aufgrund derselben Kräfte, die dieses System im Ganzen aufrechterhalten, zu wirklicher Anwendung gelangt? - Wenn man sagt, daß der  Staat  Eisenbahnen baut, das Postwesen verwaltet, das Heer organisiert usw., so steckt hinter dieser Behauptung nur folgende Realität: Von einem kraftbesitzenden Regelsystem zur obersten Regelung für die Verhältnisse der betreffenden Menschengruppe bestimmte Personen oder Personenkomplexe,  souveräne Organe,  geben unter Beobachtung gewisser regelbestimmter Formen Erklärungen mit einem bestimmten ideellen Inhalt betreffend den Bau von Eisenbahnen usw. ab. Diese Erklärungen enthalten gedachte Verhaltensregeln, die sich auf bestimmte Personen,  untergeordnete Staatsorgane,  beziehen. Die betreffenden Regeln sind Glieder des grundlegenden Regelsystems infolge der zu diesem selbst gehörenden Prinzipien. Sie werden von den dazu bestimmten Personen infolge der Wirksamkeit der Kräfte durchgeführt, die das Regelsystem im Ganzen aufrechterhalten.

    Ist es nun möglich, das Recht als ein System von Imperativen und Willenserklärungen des  Staatswillens  zu betrachten, im Sinne eines Willens der in einer bestimmten Menschengruppe vorhandenen Kraft, die ein sich auf die Gruppe beziehendes Regelsystem der oben genannten Art aufrechterhält? Untersuchen wir die Natur der betreffenden Kraft näher, so erweist sie sich jedoch als ein äußerst mystischer Wille. Sie enthält als Komponenten allerlei Momente verschiedener Art. Nehmen wir als Beispiel den nicht seltenen Vorgang der Verfassungsgebung. Eine  konstituierende Versammlung  proklamiert eine bestimmte Verfassung. Ist es nun die physische oder psychische Überlegenheit dieser Versammlung, die der verkündeten Verfassung Kraft verleiht? Gewiß nicht! Wenn man von der Gewohnheit des Volkes, sich Erlassen zu fügen, die mit Anspruch auf Autorität auftreten, sowie von Vorstellungen über die Berechtigung der betreffenden Versammlung, hier zu bestimmen absieht, macht man es sich unmöglich, den faktischen Verlauf zu begreifen. Von besonderer Bedeutung ist wohl in solchen Fällen, daß die Heeresleitung die dekretierende Behörde stützt. Aber die Bedeutung dieses Faktors beruth wiederum auf der Stärke der Heeresorganisation und ähnlichen Momenten, die sich wieder auf der Stärke der Heeresorganisation und ähnlichen Momenten, die sich wieder auf in Gewohnheit übergegangenen Gehorsam reduzieren lassen. Fragen wir sodann nach der Kraft, die gewöhnlich dem einmal gesetzten Recht Bestand verleiht, so können wir auf eine Musterkarte von allerhand heterogenen Faktoren hinweisen: Rechtsbewußtsein, Klasseninteressen, die allgemeine Neigung, sich in die Verhältnisse zu schicken, Furcht vor Anarchie, Mangel an Organisation beim mißvergnügten Teil der Bevölkerung und nicht weniger die vererbte Gewohnheit, auf das Rücksicht zu nehmen, was man geltendes Rechts nennt usw. Vgl. hierzu  Franz Klein,  "Die psychischen Quellen des Rechtsgehorsams und der Rechtsgeltung", 1912, Seite 24f. Man kann hier nicht einmal davon sprechen, daß ein wirklicher, durch solche Faktoren bestimmter Wille des einzelnen Gesellschaftsmitgliedes, sich den Rechtsregeln zu beugen, eine entscheidende Bedeutung hat. Hier wirken allzusehr Moment wie die Gewohnheit und die Vorstellung, daß es natürlich ist, bestehenden Rechtsregeln zu gehorchen; diese Momente lösen bei der Masse des Volkes ohne dazwischentretenden Willen Handlungen aus, wodurch das Recht aufrechterhalten wird. Aber auch wenn man zugeben wollte, daß ein solcher Wille der Masse der wesentliche Faktor ist, so ist es doch ein ungereimter Gedanke, daß ein einheitlicher, auf die Aufrechterhaltung des Rechts gerichteter Wille die bestimmende Kraft ist. Wenn sich jedermann für sich dem Recht zu fügen wünscht, so bedeutet dies keineswegs einen einheitlichen Willen der Individuen mit gemeinsamem Zweck als Einheitspunkt. Es ist keineswegs gesagt, daß deshalb die Einzelwillen gemeinsam auf die Aufrechterhaltung des Rechts im Ganzen gerichtet sind (siehe oben). Zuzugeben ist, daß in gewissen Fällen wirklich eine einheitliche Willensrichtung zur Aufrechterhaltung der Grundlagen des bestehenden Rechts vorhanden sein kann und dann natürlich als wirkliche rechtserhaltende Kraft Bedeutung erlangt. Aber unter modernen Verhältnissen ist in normalen Fällen gar kein solcher Wille vorhanden. Ganze Schichten der Bevölkerung sind an einer revolutionären Änderung der Grundlagen des Rechts interessiert, wenn sich dieses Interesse auch wegen gewisser hemmender Faktoren nicht in Taten umsetzt. Andere Volkskreise sind gleichgültig oder reflektieren überhaupt nicht über den Wert des bestehenden Rechts. Aber trotz dieser Zersplitterung besteht die Rechtsordnung im Staat doch ohne allzu große Störungen infolge es Zusammenspiels von Faktoren der oben genannten Art. Aber auch wenn eine einheitliche Willensrichtung auf Aufrechterhaltung einer bestimmten Rechtsordnung in einem Staat vorhanden ist, so dürfte diese Willensrichtung doch für sich allein nicht imstande sein, eine Rechtsordnung zu stabilisieren. Würden alle Faktoren wie vererbte Gewohnheit, dem bestehenden Recht zu gehorchen, der Einfluß überlieferter Vorstellungen von der Heiligkeit des Rechts usw. fortfallen, so würde ganz sicher ein noch so einmütiger Entschluß, eine bestimmte Rechtsordnung aufrechtzuerhalten, nicht durchgeführt werden können. Zumindest ist es unmöglich, die Möglichkeit einer so einheitlichen, das Recht aufrechterhaltenen Kraft an geschichtlichen Beispielen darzutun, weil stets Faktoren der genannten art mitgespielt haben. Aus dem Gesagten dürfte hervorgehen, wie gewaltsam die Konstruktion von  Georg Jellinek  und anderen ist, daß die Staatsgewalt, d. h. die Realisationskraft des Rechts, unter  allen  Umständen  wesentlich  in einem gemeinsamen, auf einen bestimmten Zweck gerichteten Willen der Gesellschaftsmitglieder wurzelt. -  Paul Eltzbacher,  "Über Rechtsbegriffe", 1900, Seite 27, behandelt die Rechtsnorm als "eine Norm, die darauf beruth, daß Menschen ein Verhalten innerhalb eines sie selbst umfassenden Menschenkreises allgemein beobachtet wollen". Diese Definition hat  Max Salomon,  "Das Problem der Rechtsbegriffe", 1907, Seite 45, übernommen. Auch hier wird das Recht durch einen Hinweis auf seine Realisationskraft bestimmt. Aber aus dieser Kraft ist hier ein einheitlicher Normwille der betreffenden Gruppe geworden. Die Kraft der Rechtsnormen  beruth  jedoch niemals nur darauf, daß eine gewisse Anzahl Menschen der Gruppe ihre allgemeine Einhaltung wollen, sondern stets auch auf vielen anderen Faktoren wie Gewohnheit, Trägheit, überlieferte Vorstellungen usw. Das russische Recht beruth gewiß nicht, wie  Eltzbacher  Seite 19 sagt,  nur  darauf, daß eine gewisse Anzahl Russen wollen, daß der Wille des Zaren durchgeführt wird, sondern größtenteils auch auf religiösen Vorstellungen von der Person des Herrschers, auf der Gleichgültigkeit der Massen, auf der Heeresdisziplin usw.

    Wenn man nun aus dem hier geschilderten Kraftkonglomerat einen einheitlichen Willen macht und mit dessen Hilfe das Recht definiert, so ist dies ein Ausfluß der allgemeinen Vermenschlichungstendenz, die hier, wie so oft, zu fiktiven Vorstellungen in der Wissenschaft führt. Allerdings hat diese Annahmen eines  Staatswillens,  der im Recht zum Ausdruck kommt, eine berechtigte Unterlage. Sowohl seinen Grundlagen nach als auch in sekundären Regeln ist das Recht zumindst zu einem großen Teil der Ausdruck von Interessen. Deshalb ist auch die Frage nach der Absicht, nach dem Sinn eines Gesetzes, berechtigt. Der Fehler aber liegt darin, daß man hierbei an einen einheitlichen Willen denkt, der zunächst seine Interessen nach einer bestimmten Wertskale ordnet und dann nach dieser Ordnung handelt. In Wahrheit verhält sich die Sache so, daß bei dem Interessenkampf in einer Gesellschaft besondere Interessen in der Rechtsform ihren Ausdruck finden. Das so gegebene Regelsystem wird dadurch realisiert, daß eine Masse heterogener Faktoren auf seine Aufrechterhaltung hinwirken, ohne daß irgendein einheitlicher Wille der Gruppe vorhanden zu sein braucht, dieses System durch Handeln aufrechtzuerhalten.

    Man könnte die fragliche Anschauung jedoch trotz ihrer Unwissenschaftlichkeit als unschädlich betrachten, ja rechtfertigen, wenn es ihren Vertretern nur darauf ankäme, einen zusammenfassenden Ausdruck für das Konglomerat von Kräften zu gehen, die zur faktischen Aufrechterhaltung des Rechtssystems zusammenwirken. Unbestreitbar wirkt dieses Konglomerat ganz so, wie wenn ein mächtiger Wille gewisse Imperative aufstellte oder seine Beschlüsse kundgäbe und dann aus eigener Kraft seine Herrscherstellung geltend machte, d. h. unter Brechung des Widerstandes das durchsetzte, was er einmal als seinen Entschluß erklärt hat. Dies ist freilich nicht der Sinn der Theorie. Aber sie würde doch verhältnismäßig unschuldig sein, wenn man sich ihrer nicht bediente, um scheinbar wissenschaftliche Sätze juristischen Inhalts zu gewinnen. Man benutzt den vermeintlichen Staatswillen zur Entscheidung der Frage, ob und inwieweit gewisse ursprüngliche Rechtsquellen neben dem Gesetz, wie Gewohnheit, Geist des Gesetzes, Natur der Sache, Billigkeit, zu berücksichten sind. Man will diese Frage vielfach dadurch beantworten, daß man den wirklichen Willen der  Staatsgewalt  in diesem Punkt festzustellen sucht. Wir wollen das Bedenkliche des Verfahrens an einigen Beispielen aus der neueren Rechtsliteratur zeigen.

    Nach  Carl Goos,  Forelaesninger over den almindelige Retslaere, Bd. 1, Seite 115f, 119f und 135 sind die zusammengehörigen Rechtsquellen Geist des Gesetzes und Natur der Sache nur insofern von ver  organisierten Staatsgewalt  oder der  Gesetzgebungsmacht  anerkannt, als sie als akzessorische Hilfsmittel in den Fällen erforderlich sind, wo das Gesetz, um angewandt werden zu können, ergänzt werden muß, oder wo aus dem Gesetz selbst hervorgeht, daß ein gewisses Verhältnis als unter Rechtsregeln stehend betrachtet wird, aber diese sich nicht direkt durch Gesetzesauslegung gewinnen lassen. Die Gewohnheit ist nach  Goos  als eine von derselben Macht neben dem Gesetz anerkannte Rechtsquelle in allen Fällen zu betrachten, wo sie nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist. Die Gesetzeskodifikation sei nämlich historisch sekundär im Verhältnis zur Rechtsgewohnheit, die ursprünglich von der organisierten Staatsmacht anerkannt worden sei (Seite 134). Daher könne man nur dann annehmen, daß diese Macht ihre ursprüngliche Anerkennung der Rechtsgewohnheit zurückgenommen habe, wenn dies aus einer speziellen Gesetzesbestimmung hervorgeht. Auf diese Weise soll die Bedeutung der verschiedenen Rechtsquellen für die Rechtsanwendung entschieden werden. - Hierzu ist nun folgendes zu sagen: Man nehme an, daß der Richter trotz allem auch  contra legem  [gegen das Gesetz - wp] nach Rechtsgewohnheit, der Natur der Sache oder dem Geist des Gesetzes entscheidet, sei es nur faktisch durch eine Umdeutung des Gesetzes oder offen in Fällen, wo die Anwendung des Gesetzes wegen besonderer Umstände das Rechtsgefühl allzu sehr verletzen würde. Diese Annahme ist sicher keine bloße theoretische Möglichkeit. Die Anhänger der sogenannten Freirechtsschule in Deutschland haben ein überwältigendes Material über eine diesbezügliche Praxis der deutschen Gerichte gesammelt. Was ist nun in dem gedachten Fall der wirkliche Wille der  organisierten Staatsmacht,  wenn das Urteil Rechtskraft erlangt? Einerseits soll dieser Wille ja im Gesetz ausgedrückt sein, andererseits aber kann man ja ebensogut annehmen, daß er im vorliegenden speziellen Fall im rechtskräftigen Urteil enthalten ist. Das letztere ist ja der Wille, der wirklich realisiert wird. Sagt man nun, die  organisierte Staatsmacht  mißbillige das Urteil selbst, vollstrecke es aber gleichwohl aus prozessualen Gründen, so ist dies ein unhaltbarer Gedankengang. Wenn die Staatsmacht nicht irgendwie gegen den Richter einschreitet, so kann keine Mißbilligung behauptet werden. Daß der im  Gesetz  ausgedrückte  Gesamtwille  etwas anderes  fordert,  beweist keineswegs die Mißbilligung, denn daß der Staatswille in diesem speziellen Fall, wo er nur als in dem gefällten Urteil hervortretend behauptet werden kann, an der im Gesetz aufgestellten Forderung festhält, ist in keiner Weise beweisbar. Ebensowenig läßt sich freilich beweisen, daß der Staatswille, solange das Gesetz formell besteht, nun wirklich eine solche vom Gesetz abweichende Art der Rechtsprechung  will.  - Der Grund, weshalb alle solchen Erwägungen in der Luft schweben, ist ganz einfach der, daß der vermeintliche Gesamtwille nicht existiert und deshalb aus ihm auch nichts über die Geltung der verschiedenen Rechtsquellen gefolgert werden kann.

    Besonders bedenklich ist die Auffassung, daß das Gestz der direkte Ausdruck des Willens der  organisierten  Staatsmacht sei und daß andere Rechtsquellen von diesem Willen (innerhalb gewisser Grenzen) autorisiert sind. Man kann nämlich mit Recht einen folgenschweren logischen Fehler vermuten. Was bedeutet die Behauptung, daß eine  organisierte Staatsmacht  vorliegt, anders, als daß ein Regelsystem innerhalb einer bestimmten Menschengruppe durch besonders dazu bestimmte Personen zur Anwendung kommt, welche, indem sie die regelbestimmte Tätigkeit ausüben, die Organe des Staates sind? Daß eine wirkliche  Organisation  vorliegt, kann wohl nur in dem Sinne behauptet werden, daß die verschiedenen regelbestimmten Tätigkeiten teils einander nicht stören, teils sich positiv gegenseitig unterstützen oder ergänzen. Eine  Macht  wird diese Organisation dadurch, daß die Organe faktisch gegenüber jedermann in der Gesellschaft die ihnen obliegende geregelte Tätigkeit ausüben können. Eine Macht der  Gesellschaft  liegt vor, weil die hierzu erforderliche Kraft in  innerhalb  der Gruppe selbst wirksamen Faktoren besteht. Aber was ist dieses organisierte Regelsystem? Im modernen Staat ist es wenigstens prinzipiell gerade das, was man Gesetzesrecht nennt. Was bedeutet es beispielsweise, daß es in einem Staat ein besonderes gesetzgebendes Organ gibt? Hierin liegt wohl nichts anderes, als daß die Verfassung als eine ideelle Verhaltensregel besondere Personen oder Personenkomplexe zu einer bestimmten, unter Beobachtung gewisser Formen vorzunehmenen Tätigkeit - der  Gesetzgebung - bestimmt und daß diese Regel nun auch wirklich durchgeführt wird, sowie daß durch die soeben genannte Tätigkeit neue Regeln  (Gesetze)  gleichfalls aufgrund des Inhalts der Verfassung gegeben sind, die ihrerseits infolge der Kraft der Verfassung zur Durchführung gelangen. Was bedeutet es, daß es besondere Organe für die Rechtsprechung gibt? Hierin liegt wohl nichts anderes, als daß im Gesetz hiherzu bestimmte Personen (vgl. z. B. das Recht des schwedischen Königs,  Richter  zu ernennen, und den in dieser Bestimmung immanenten Rechtssatz darüber, wer als  Richter  zu betrachten ist) infolge der Kraft des Gesetzes eine gewisse gesetzlich geregelte Tätigkeit, die Rechtsprechung, ausüben und daß das gefällte Urteil nach dem Gesetz unter gewissen Umständen Rechtskraft erlangt, d. h. eine konkrete Regel abgibt, die infolge der Kraft des Gesetzes selbst durchgeführt wird. In dieser Weise sind alle sogenannten Staatsorgane zu erklären. Aber wenn nun das in Kraft stehende Gesetzesrecht den Staat organisiert, wie kann es dann eine Willensäußerung des organisierten Staates sein? Das ist, wie wenn man sagte, ein Mensch beschließt seine eigene Entstehung. Es ist nun auch klar, daß, wenn sich im modernen Staat beim dominierenden Charakter des Gesetzesrechtes Gewohnheitsrecht, der Geist des Gesetzes und dgl. bei der Urteilfällung im Einzelfall als das Gesetz ergänzend oder aufhebend geltend machen, dies nur bedeutet, daß der Charakter der Staatsorganisation durch andere Prinzipien derselben modifiziert wird. Das gefällte Urteil tritt, obgleich es sich nicht aus dem Gesetz ableiten läßt, als konkrete Regel in das den Staat bestimmende Regelsystem ein, obgleich dieses System wesntlich aus Gesetzesrecht besteht. Es ist dann sinnlos, wenn man die Gültigkeit dieser anderen Rechtsquellen nach dem  Willen  der organisierten Staatsmacht beurteilt. Der Charakter dieser Macht selbst wird ja gerade dadurch bestimmt, welche Regeln zur Durchführung kommen.

    In ungemein interessanter Weise hat  Paul Krückmann,  Einführung in das Recht, 1912, Seite 73f, ausgeführt wie auch im modernen Rechtsleben keineswegs nur das Gesetz von den Richtern angewandt wird. Dies beruth sicher nicht nur darauf, daß sich die Richter über den Inhalt des geltenden Rechts irren. Gewohnheitsrecht, Billigkeit, Gerichtspraxis usw. spielen neben dem Gesetz eine sehr große Reolle, und man urteilt ganz bewußt sowohl  praeter  [am Recht vorbeit - w] als auch  contra legem.  Nach  Krückmann  läßt sich das aber juristisch in keinster Weise rechtfertigen. Durch das vom Standpunkt des Gesetzesrechts materiell unrichtige Urteil erhält die obsiegende Partei kein wirkliches Recht, das sie nach dem Gesetz nicht hat. Sie erlangt nur  Rechtsbesitz,  d. h. sie kommt in dieselbe Lage, wie  wenn  sie (nach dem Gesetz) ein wirkliches Recht hätte, Seite 95f. Die Grundlage dieses Gedankengangs ist, daß nach  Krückmann  objektives Recht nur solche Bestimmungen sind, die von der  Rechtsgemeinschaft  ausgehen, sieht z. B. Seite 1. Der Richter sei von der  organisierten Gesamtheit angestellt  und könne deshalb rechtmäßig nur nach den Vorschriften urteilen, die von dieser gegeben sind, d. h. nur nach Gesetzesrecht (siehe z. B. Seite 82). Er könne deshalb keine Rechte neben dem Gesetz schaffen, wenn er auch eine Person faktisch in dieselbe günstige Lage zu versetzen vermag, wie wenn sie ein bestimmtes Recht hat. Hier zeigt sich derselben Fehler, den wir soeben bei  Goos  nachgewiesen haben. Das Gesetzesrecht erhält seine bevorzugte Stellung als Rechtsquelle dadurch, daß es den Willen der organisierten Gesellschaft konstituierte. Hierzu kommt bei  Krückmann  ein, wenn möglich, noch mehr in die Augen fallender logischer Fehler. Der Richter soll von der organisierten  Gesamtheit angestellt  sein, als ob es jemals eine staatliche Organisation gegeben habe, zu der nicht Richter als immanente Glieder des Organismus gehört hätten. Mit gleichem Recht könnte man sagen, der menschliche Organismus habe Kopf und Herz zu Werkezeugen.

    In ähnlicher Weise mißbraucht  Neukamp  den fingierten  Gemeinschaftswillen,  wenn er in seiner Schrift "Einleitung in die Entwicklungsgeschichte des Rechts", 1875, Seite 41, einerseits erklärt, daß  eine  zutreffende Darstellung der Lehre von den Rechtsquellen nur aus den Vorschriften des positiven Rechts' gewonnen werden kann, und andererseits, daß  das positive Recht vollständig freie Hand in der Ausgestaltung seiner Vorschriften über die Rechtsquellen hat.  Damit kann besonders das Verhältnis zwischen Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht wissenschaftlich bestimmt werden. Der  Gemeinschaftswille  kann nämlich ebensogut wie der  Einzelwille  im voraus die Formen bestimmen, in denen allein seine  Willensbetätigungen  als  rechtlich relevante  (als Rechtsproduktion) gelten sollen. So hat das römische Volk zur zeit der Republik bestimmt, daß nur der in gewissen Formen (Rogation des Magistrats usw.) ausgeproches Wille den Charakter des Gesetzes hat (Seite 35f). Aber wenn nun eine  Gemeinschaftswille  etwa durch seine gesetzgebenden Organe bestimmt, daß nur ein verfassungsmäßig zustandegekommenes Gesetz privatrechtliche Gültigkeit hat und dann trotzdem der Richter bei der Rechtsanwendung im Einzelfall das Gesetz durch Gewohnheitsrecht oder Billigkeit ergänzt oder gar korrigiert, so wird ja, da gefällte Urteile Rechtskraft erlangen, Gewohnheitsrecht oder Billigkeit rechtlich relevant. Auch in diesem Fall schafft ja der  Gemeinschaftswille,  wenn ein solcher als höchste Rechtsmacht angenommen wird, durch den Richter wirkliches Recht. Man kann wohl ein rechtskräftiges Urteil nicht als rechtliche Nullität betrachten, weil der  Gemeinschaftswille  hier von seiner eigenen Vorschrift abgegangen ist. Wenn  Neukamp  mit seinem Beispiel aus dem römischen Recht sagen will, daß zur Zeit der Republik keine anderen Rechtsregeln wirklich gegolten haben als die, welche durch den in bestimmten Formen geäußerten  Gemeinschaftswillen  entstanden sind, so braucht man nur auf die Bedeutung der sogenannten  responsa prudentium  [kluge Antworten - wp] hinweisen, die der wesentliche Inhalt des  proprium jus civile  gewesen zu sein scheinen ( Eugen Ehrlich Beiträge zur Theorie der Rechtsquellen, 1902, Seite 1f). Daß durch diese  responsa,  die faktische Autorität erlangten, das Gesetz in seiner Anwendung realiter stark in der Richtung auf größere Billigkeit modifiziert wurde, ist oft nachgewiesen worden. Siehe z.  Henry Maine, "Ancient Law", 1906, Seite 30f. - Daß die Analogie zwischen  Gemeinschaftswillen  und  Einzelwillen  bezüglich der Fähigkeit, ihre Rechtsproduktion für die Zukunft an gewisse Formen zu binden, falsch ist, dürfte nicht näher bewiesen zu werden brauchen. Die Gültigkeit der Selbstbindung des Einzelwillens beruth natürlich auf über ihm stehenden Recht.

    Man sucht hier eine Richtschnur für die Beurteilung der Bedeutung verschiedener Rechtsquellen zu gewinnen, indem man sich vorstellt, daß der  Staatswille  in einer  bestimmten Ausdrucksform  festsetzt, welcher Ausdruck als wirklich bindend anzusehen, d. h. eine zuverlässige Bezeichnung dessen ist, was er wirklich will. Aber warum soll gerade  der  Ausdruck, durch den über die Bedeutung verschiedener Ausdrücke eine Bestimmung getroffen wird, der entscheidende sein, da sich doch daneben andere Ausdrücke für denselben Willen finden, die den im ersten Ausdruck geforderten Formen nicht entsprechen? Es wird beispielsweise auf dem Weg der Gesetzgebung bestimmt, daß das Gesetz niemals Gewohnheitsrecht weichen darf. Dennoch derogiert [für ungültig erklären - wp] das Gewohnheitsrecht dem Gesetz, in welchem Fall man annehmen muß, daß der  Staatswille,  soweit hierunter die gewisse Regeln in einer Menschengruppe durchführende Macht verstanden wird, auch in dem derogierenden Gewohnheitsrecht zum Ausdruck kommt. Weshalb soll nun die Bestimmung des Gesetzesrechts über das Gewohnheitsrecht als der einzige gültige Ausdruck des Staatswillens betrachtet werden? Es scheint im Gegenteil, als habe in diesem Fall die Gesetzesbestimmung keine andere Bedeutung, als daß sie in der offiziellen Gesetzessammlung abgedruckt ist. Wie kann das, was wirkungslos ist, der Ausdruck der Staats macht  sein? Tatsächlich wird man hier dazu getrieben, den Staatswillen vor jedem Ausdruck bestimmen zu lassen, welchen Ausdruck er als den seinigen anerkennt. Auf diese Weise verschafft man sich die Möglichkeit, ine über den gegebenen Ausdrücken stehende Norm als vorhanden ansehen zu können.  Walter Jellinek,  "Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung", 1913, Seite 174f, kennt einen vom Staat ausgehenden Rechtssatz, der allem Gesetz vorhergeht und dieses selbst für einen Ausdruck des Staatswillens erklärt, sowie einen aus derselben Quelle stammenden Rechtssatz, nach dem die Anwendung von Gewohnheitsrecht und die Rücksicht auf die  Natur der Sache  unter gewissen Umständen der Wille des Staates sind. Der Staatswille könnte also bekannt sein,  ehe  er irgendwie zum Ausdruck gekommen ist. Woher der ausgezeichnete Rechtslehre diese Kenntnis von einem nicht ausgedrückten Staatswillen hat, sagt er nicht, sondern verweist nur in einer Anmerkung auf  Georg Jellineks  Theorie vom Staat als Träger des Rechts.

    Wir haben nun die Staatswillentheorie in ihren Versuchen kritisiert, den Staatswillen als Willen der das Recht aufrechterhaltenden Kraft zur Entscheidung über die Bedeutung primärer Rechtsquellen zu benutzen; dies haben wir teils im allgemeinen getan, indem wir die fiktive Natur des Begriffs und die daraus folgende Haltlosigkeit des Gedankenganges hervorgehoben haben, teils im besonderen durch den Hinweis auf das  hysteron proteron  [das Spätere ist das Frühere - wp], das vorliegt, wenn man, wie es natürlich ist, den Staatswillen auf die staatliche Organisation selbst bezieht, sowie durch den Hinweis auf die gleichfalls natürliche Konsequenz, daß der Staatswille vor jedem Ausdruck als normierend betrachtet wird. Aber die Kritik würde unvollständig sein, wenn nicht auch ein anderes Bedenken gegen die Anwendung der Theorie in der Frage der primären Rechtsquellen hervorgehoben würde. Ich meine das versteckte Einschieben naturrechtlicher Gesichtspunkte.

    Wenn der Richter bei der Entscheidung eines Rechtsfalles verfassungsgemäß geltendes Recht anwendet, gibt es dann irgendeine Rechtsregel, nach der er feststellte, daß gerade das geltende Gesetz und keine andere Regel zugrunde zu legen ist? Welches wäre diese Rechtsregel, welche die Gültigkeit der Verfassung selbst bestimmt? Natürlich kann man hier nicht auf die Richterinstruktion verweisen, da deren rechtlicher Gehalt selbst auf die Verfassung zurückgeht.  Adickes  behauptet in der Schrift "Zur Lehre von den Rechtsquellen" 1872, daß es einen solchen Rechtssatz gibt, sagt aber selbst, Seite 24 und 73, daß es ein auf der  Natur der Sache  beruhender Rechtssatz ist, also ein  naturrechtlicher,  kein positivrechtlicher Satz. Nach  Walter Jellinek,  a. a. O., Seite 27, gibt es einen höchsten Rechtssatz, der allen Rechtsordnungen ihre Gültigkeit verleiht: "Wenn in einem menschlichen Gemeinwesen ein höchster Gewalthaber vorhanden ist, so soll das, was er anordnet, befolgt werden." Der Satz, der nach  Jellinek  selbst eine  Denknotwendigkeit  und keine Vorschrift ist, ist natürlich naturrechtlich und, wie man wohl sagen kann, ohne größeren Wert. Wenn  Emil Lask,  "Rechtsphilosophie" in der Festschrift für Kuno Fischer, 1904, Seite 304 (womit seite 270f zu vergleichen ist) sagt, daß das Sollen, welches von der Jurisprudenz behandelt wird, "seinen formellen Grund in der positiven Anordnung durch einen Gemeinwillen" habe, während das philosophische Sollen "einer absoluten Werthaftigkeit entstammt", so ist dies unklar.

      1. Ist ein unbedingtes Sollen in Bezug auf das, was der  Gemeinschaftswille  bestimmt - und um ein solches Sollen handelt es sich nach  Lask  in der Jurisprudenz - ohne einen absoluten Wert denkbar?

      2. Kann ein  Gemeinschaftswille  ein unbedingtes Sollen begründen, wenn nicht bereits vorausgesetzt wird, daß seine Anordnungen respektiert werden sollen, d. h.: ist dies in einem anderen Sinn denkbar, als daß die einzelne Vorschrift befolgt werden soll, weil sie von der zuständigen Behörde ausgeht?

    In Wirklichkeit beruth die Anwendung von verfassungsmäßig geltendem Gesetz durch den Richter auf den Kräften, welche die Verfassung aufrechterhalten und  Gesetze  erst zu wirklichen Rechtsregeln machen. Hier wirken Faktoren wie das moralische Rechtsbewußtsein des Richters, der Richtereid, die Überzeugung, daß verfassungsmäßig geltende Gesetze die Regeln für die Amtstätigkeit angeben, genau so, wie es dem Arzt natürlich erscheint, in seinem Beruf die Lehren der medizinischen Wissenschaft anzuwenden, Furcht vor Reaktionen bei einer Verletzung des Gesetzes usw. Durch solche Kräfte ist der Richter zwar gebunden, so daß seine eigenen Wünsche bezüglich der Regeln, die anzuwenden sind, sich nicht geltend machen. Aber eine juristische Regel, welche die Gültigkeit der Verfassung selbst bestimmte, gibt es nicht. Sodann: welche Rechtsregel ist es, die den Richter bestimmt, in einem konkreten Fall nach Gewohnheitsrecht, dem Geist des Gesetzes usw.  praeter  oder  contra legem  zu entscheiden? Eine solche Rechtsregel ist nicht zu entdecken. Durch allerlei außerrechtliche Faktoren wie das Rechtsbewußtsein und ja auch wissenschaftlich verfehlte Hypothesen, daß der Staatswille in diesem Fall die Anwendung solcher Rechtsquellen fordert, setzen sich solche Entscheidungsgrundsätze durch, ganz ebenso wie die Verfassung durch solche Faktoren Kraft erlangt, und es entstehen wirkliche Rechtsregeln. Jeder Versuch, juristisch ein Sollen für den Richter gegenüber der einen oder anderen Rechtsquelle zu konstruieren, ist zum Mißlingen verurteilt. Auch die Verpflichtung des Richterstandes, das Gesetz zu befolgen, sagt  Gustav Radbruch, "Grundzüge der Rechtsphilosophie", 1914, Seite 182, "kann nicht durch die juristische Geltungslehre auf das Gesetz, vielmehr nur durch die Ethik auf den Eid gegründet werden", durch den der Richter sich gebunden hat. Ob letzteres eine wissenschaftliche Begründung ist, soll dahingestellt bleiben.

    Wenn man nun trotz all dem glaubt, mit Hilfe der Staatswillenstheorie die Gültigkeit besonderer primärer Rechtsquellen positivrechtlich begründen zu können, so hängt das mit einer offenbaren Zweideutigkeit des angewandten Begriffes  geltendes  Recht zusammen. Einerseits wird der  Staatswille  daraus konstruiert, daß ein gewisses System von Verhaltensregeln in einer bestimmten Menschengruppe mittels Regelanwendung von dazu durch Regeln bestimmten Personen, z. B. den Richtern, wirklich durchgeführt wird. Diese Äußerungen des  Staatswillens  werden dann als das geltende Recht aufgefaßt, von dem die Jurisprudenz handelt. Aber insofern gehört zum  geltenden  Recht, daß die Regeln wirklich von den regelanwendenden Behörden durchgeführt werden, und die Jurisprudenz hat nur den Inhalt dieser  faktisch  angewandten Regeln darzustellen - zwecks Anleitung der Behörden, die diese Regeln faktisch infolge der Wirksamkeit gewisser Kräfte ihren Handlungen zugrunde legen. Aber nun kommt es vor, daß ein gewisses Regelsystem in seiner Geschlossenheit nicht zu vollständiger Durchführung gelangt, sondern daß sich daneben Regeln anderer Art den regelanwendenden Behörden aufdrängen, sei es als nötige Ergänzungen oder geradezu als Modifikationen des vorzugsweise bestimmenden Regelsystems. Dann entsteht die Frage: welche Regeln  sollen  in solchen Fällen angewandt werden? Man glaubt nun, diese Frage dadurch entscheiden zu können, daß man den  Staatswillen  zu Hilfe nimmt, obgleich  dieser  als das geltende Recht bestimmend seine Bedeutung nur als Ausdruck dafür hat, daß ein gewisses Regelsystem zur wirklichen Durchführung gelangt. Daß der Staatswille diese oder jene Regel will, bedeutet dann nicht, daß sie  wirklich  durchgeführt wird, sondern nur, daß sie durchgeführt werden  soll.  Damit hat dann auch der Begriff  geltendes  Recht als an den Staatswillen geknüpft die Bedeutung erhalten, daß gewisse Regeln durchgeführt werden  sollen.  Aber damit ist ein naturrechtliches Element in das  geltende Recht  als Gegenstand der Jurisprudenz gekommen. Dieses Element wird jedoch dadurch verdeckt, daß man glaubt, man habe es nur mit dem zu tun, was der Staatswille wirklich will, obgleich in Wirklichkeit das, was man in diesem Fall mit dem Willen des Staates meint, nichts anderes ist, als daß gewisse Regeln befolgt werden sollen." (4)
Nach einer auf diese Stelle folgenden Kritik von KELSENs "Hauptprobleme der Staatsrechtslehre" und KRABBEs "Lehre von der Rechtssouveränität" faßt HÄGERSTRÖM das Ergebnis seiner Untersuchungen folgendermaßen zusammen:  Wenn  die Willenstheorie das geltende Recht als ein System von Imperativen oder Willenserklärungen der  rechtlichen  Macht betrachtet, liegt ein Zirkel vor.  Wenn  man von einem "Gemeinwillen" ausgeht und darunter den Willen aller versteht, gerät die Willenstheorie in Widerspruch zu den Tatsachen.  Wenn  man von einem  "Gemeinwillen"  im Sinne eines überindividuellen Willens ausgeht, führt die Theorie zur Sinnlosigkeiten.  Wenn  man von einem  Willen des Inhabers oder der Inhaber der faktischen Macht  in einem Gemeinwesen ausgeht, stößt man auf das Hindernis, daß das Recht selbst die faktische Macht begründet und begrenzt.  Wenn  man schließlich von der  Realisationskraft des Rechts,  dem "Staatswillen", ausgeht, so erweist es sich als unmöglich, hier den Gedanken an einen wirklichen Willen durchzuführen. Damit, schließt HÄGERSTRÖM, dürften die möglichen Formen der Willenstheorie erschöpft sein. (5)

Im Jahr darauf veröffentlichte HÄGERSTRÖM seine außerordentlich scharfsinnige und erstaunlich tiefschürfende Arbeit "Till fragan om den objektiva rättens begrepp", 1917. (6) In dieser Schrift zeigt HÄGERSTRÖM, daß die Jurisprudenz ständig die vermeintlichen Befehle des Staatswillens mit Pflichten verwechselt, die von ihr als ein objektiv bestimmtes Attribut der Handlung aufgefaßt werden und keineswegs nur als ein Ausdruck dafür, daß die Handlung befohlen ist. Weiter wird auseinandergesetzt, daß der Begriff  Pflicht  selbst im Sinne von etwas objektivem ein theoretisch sinnloser Begriff ist und daß in der Pflichtvorstellung immer der Gedanke an ein "Du sollst" liegt. Dieses "Du sollst", selbst nichts anderes als ein Befehlsausdruck, wird infolge einer Assoziation als eine objektive Bestimmtheit der Handlung selbst aufgefaßt. Daß sich eine solche Sinnlosigkeit im allgemeinen Bewußtsein festsetzen konnte und halten kann, beruth darauf, daß dieses "Du sollst" in seiner Verknüpfung mit der Handlung auf das Gefühlsleben wirkt, wodurch jede logische Reflexion über den Sachverhalt gehemmt wird. Diese Dinge werden in der genannten Arbeit unter Kritik der damaligen juristischen und rechtsphilosophischen Literatur über den Gegenstand auseinandergesetzt, wobei, wie ich zu behaupten wage, die Hauptrichtungen so gut wie vollständig berücksichtigt worden sind.

Von diesen beiden, leider nur auch schwedisch erschienenen Arbeiten hat ein rechtsphilosophischer Forscher gesagt, daß sie weit über den Zusammenhang hinaus, in dem ihre Ausführungen stehen, befruchtend und schöpferisch auf die Philosophie wirken müssen. Durch sie, sagte er, dürften die Probleme der Objektivität des Rechts und der das Recht tragenden Kräfte  ein für allemal  aus den Banden willkürlicher Konstruktionen befreit und der faktisch einzig mögliche Weg zu ihrer Lösung beschritten worden sein, nämlich der der realpsychologischen Forschung (7). Der Rezensent schloß mit den Worten:
    "Professor  Hägerströms  Stil ist nicht, was man als leicht lesbar zu bezeichnen pflegt: er opfert der Bequemlichkeit des Lesers nichts von der Exaktheit des Ausdrucks, er strebt überhaupt nach nichts anderem als nach Klarheit über die Wirklichkeit. Aber jeer, der sich die Mühe macht, sich einige Seiten in seine Arbeiten hineinzulesen, wird unwiderstehlich von dieser Darstellung fortgerissen, in der die Sprache durch ihre einzigartige Präzision ein nahezu vollendetes Werkzeug im Dienst wissenschaftlicher Wahrheitsforschung geworden ist.


Bemerkungen über die Stellung des
Rechtsbewußtseins im Rechtsmechanismus

Kehren wir nun zunächst einen Augenblick zu BERGBOHM zurück! Nach dem Gesagten dürfte von der Beweiskraft seiner Darstellung nichts übrigbleiben. Die historischen Fakten, die nach BERGBOHM entscheidend für den Rechtscharakter sein sollen, haben eine ganz andere Bedeutung, als BERGBOHM annimmt. Die Macht, die nach ihm das "Recht setzt", beruth selbst auf dem Recht. Es ist psychologisch höchst interessant, daß ein scharfsinniger Gelehrter mit offenem Blick für die chimärischen Seiten der Jurisprudenz und dem deutlichen Streben nach realistischer Klarheit (man lese z. B. BERGBOHMs vorurteilsfreie Reflexionen über die Begriffe "Rechtssatz", "Gesetz" usw., a. a. O., z. B. Seite 68f) gerade in dem für ihn selbst springenden Punkt nur  Behauptungen  über das vorbringt, was vor allem zu erklären ist. Der Positivierungsprozeß soll bewirken, daß ein Vernunftsatz, eine Moralnorm, ein "Einfall", oder was es nun sein mag, "objektiv verbindlich, rechtsverbindlich" wird. Der Grund für diese außerordentlich wichtige Behauptung? Hierüber erfährt man nichts weiter, als daß sich die positiveren Fakta von einer "kompetenten rechtbildenden Macht" ableiten. Dies führt ja nur zu einer neuen Frage: Worauf kann eine solche Kompetenz gegründet werden? Aber hierauf erhält man keine Antwort. Dies hängt natürlich mit BERGBOHMs Glauben an einen als selbstverständlich vorausgesetzten mystischen Willen der Rechtsordnung zusammen, der den besonderen rechtssetzenden Mächten Zuständigkeit verleihen soll. Aber das Eigentümliche ist gerade, daß ein Mann wie BERGBOHM, der in vielen anderen Beziehungen den Irrgängen der Jurisprudenz so skeptisch gegenübersteht, unbedenklich eine solche alles andere in den Schatten stellende Chimäre hinnehmen kann wie diesen allgemeinen Willen als Grundlage des Rechts.

Ferner ist es eine Verschiebung der Problemstellung, wenn BERGBOHM von den "ihrer Tendenz nach als unverbrüchliche Normen ... geltenden Regeln" spricht, die zu  Recht  gemacht werden. BERGBOHM  geht  dabei von einer gewissen Situation  aus,  die in diesem Zusammenhang logisch nicht als Ausgangspunkt dienen kann, sondern vielmehr selbst einer tiefschürfenden Analyse bedarf. (8) Dasselbe gilt für den von mir bisher nicht direkt berührten Anfang der zitierten Darstellung von BERGBOHM. Die von ihm erwähnten "Agentien", welche Triebfedern und Ideen des objektiven Rechts sein sollen (das sittliche Bewußtsein, religiöse Überzeugung, in der menschlichen Natur begründete Faktoren, Vernunft, Humanität) lassen sich nicht in dieser Weise aussondern, sondern sind vielmehr in dem Kraftkomplex enthalten, dessen bester Name  nicht  "Recht" ist - denn dieses Wort ist, wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden soll, höchst irreführend und geeignet, wirklichkeitsfremde Vorstellungen zu begünstigen -, sondern  "Rechts- oder Gesellschaftsmechanismus"  im Sinne der mit einer gewissen Regelmäßigkeit stattfindenden Durchführung bestimmter Zwangsmaßregeln gegenüber gewissen Verhaltensweisen, wodurch wiederum eine gewisse faktische Ordnung, sozusagen ein Standard, im Verhalten der Menschen zur ihren Mitmenschen entsteht. (9) Der ganze Anfang des langen Zitates aus BERGBOHM zeigt, daß dieser die Stellung und Bedeutung dessen, was man allgemeines Rechtsbewußtsein zu nennen pflegt, vollständig verkannt hat. Weit entfernt, mit dem bei ihm an anderen Stellen zum Ausdruck kommenden Gedanken Ernst zu machen, daß die im Rechtsbewußtsein enthaltenen Faktoren eher ein  Produkt  des Rechts als dessen Grund sind, vertritt BERGBOHM hier die Ansicht, daß diese Faktoren der faktischen Rechtsordnung  unabhängig  gegenüberstehen und im Verhältnis zu ihr ein  Prius  sind, ja, daß sie der Grund der Rechtsordnung sind, zu der sie durch einen gewissen Positivierungsprozeß umgebildet werden. Denn alle diese "Agentien", von denen BERGBOHM spricht, gehören mehr oder weniger gerade zum sogenannten allgemeinen Rechtsbewußtsein. Aber außerdem sollen sie auch der sogenannten vernünftigen Natur des Menschen entspringen, die für BERGBOHM offenbar ebenfalls eine Grundlage des faktischen Rechts ist. Er rechnet ja hier ganz offen mit Sätzen der Vernunft, sittlichen Normen und auf praktischer Erfahrung beruhenden technischen Regeln als Vorgängern des Rechts, ohne deren Abhängigkeit vom Rechtsmechanismus irgendwie anzudeuten. Ein solcher Standpunkt ist grundfalsch. Ohne den Rechtsmechanismus würde es weder Rechtsbewußtsein noch Vernunft geben. Ebenso wirklichkeitsfremd ist es, wenn Bergbohm, am Ende des Zitates, sagt, daß das Recht bereits vorhandene praktische Regeln über die Handlungen und Verhältnisse der Menschen in sich aufnimmt. Weder diese Handlungen und Verhältnisse noch Regeln über sie sind in Wirklichkeit denkbar, wenn man vom Rechtsmechanismus abstrahiert.

Während sich nun BERGBOHM immerhin, wie wir sahen, auf jede Weise einzubilden sucht, daß seine Anschauung frei von Naturrecht ist, verficht man auch heute noch in England ganz offen den Satz, daß das Naturrecht die Grundlage der Rechtsregeln ist. POLLOCK, einer der bekanntesten neueren englischen Rechtslehrer, glaubt z. B., daß das englische Schadensersatzrecht auf dem von dem römischen Juriskonsulten ULPIAN proklamierten rein naturrechtlichen Prinzip beruth, daß man einem anderen keinen Schaden zufügen darf. (10) Er erklärt ausdrücklich, die zentrale Idee des Naturrechts sei "zur Gänze in unserem System berücksichtigt". Diese Idee besteht in einem "ultimativen Prinzip der Tüchtigkeit im Hinblick auf die Natur des Menschen als rationales und soziales Wesen, das die Rechtfertigung für jedes positive Gesetz ist oder sein sollte." (11)

Dies ist nur eine direktere naturrechtliche Formulierung des Gedankens, daß das Recht seinen Grund im Rechtsbewußtsein der Menschen hat. Untersuchen wir nun die Richtigkeit von POLLOCKs Formulierung, nach der das Recht seinen Grund in der sozialen und vernünftigen Natur des Menschen haben soll!

Die Naturwissenschaft rechnet jetzt mit der Möglichkeit organischen Lebens auf der Erde seit ungefähr 300 Millionen Jahren und mit menschlichem Leben seit mindestens etwa 300 000 Jahren. Wie die ersten Menschen oder - da natürlich kein absoluter, plötzlicher Übergang vom Tierstadium im engeren Sinne zum Menschenstadium stattgefunden haben kann - jedenfalls menschenähnlichen Wesen lebten, darüber wissen wir nichts Näheres. Aber gewisse Überlegungen lassen sich doch nicht von der Hand weisen. Wenn diese Wesen vor etwa 300 000 Jahren, auf dem Übergangsstadium zwischen Tier und Mensch, in einer Art von Verbänden lebten, so können sich diese nicht plötzlich gebildet haben, sondern müssen eine Weiterentwicklung der Lebensverhältnisse ihrer nächsten Tiervorfahren gewesen sein. Gingen wir weitere 300 000 Jahre zurück, so würden wir Geschöpfe vorfinden, die den Keim zum Menschen in sich tragen und irgendwie vegetierten, ohne in Verbänden zu leben, die man als menschliche Gemeinwesen bezeichnen könnte. Man kann keinen in der raumzeitlichen Erfahrung liegenden Grund angeben, weshalb diese Wesen vernünftiger und sozialer gewesen sein sollten als beispielsweise die Stammväter der Affen. Auf die Vernunft und Sozialität der  jetzigen  Menschen kann man sich hier nicht berufen. Man würde sich vollständig über alle wissenschaftliche Erfahrung hinwegsetzen, wenn man die sozialen Bedürfnisse des modernen Menschen genetisch anders erklären wollte als durch das vieltausendjährige Leben der Menschen in Gemeinwesen verschiedener Art und die hierdurch bedingte Entwicklung. Ganz entsprechend verhält es sich mit der jetzigen Stufe des menschlichen Denkvermögens. Es ist eine völlig willkürliche Behauptung, daß die Menschen durch ihre  vernünftige  Natur zu sozialen Verbänden zusammengeführt worden sind. Es gibt keinen Erfahrungsgrund für die Annahme, daß das soziale Zusammenleben der ersten menschenähnlichen Wesen auf anderen Eigenschaften derselben beruth hätte als denen, die nocht heute die Tiere zu Verbänden, zu Gruppen oder Rudeln zusammenführen, d. h. auf sogenannten Instinkten oder Trieben zu Handlungen, welche das Leben der Gattung erhalten. Es ist eine wissenschaftlich anerkannte Tatsache, daß der Instinkt lange vor dem Dasein des Menschen Tierverbände hat entstehen lassen, und es kann nicht bezweifelt werden, daß viele Jahrtausende, ehe es eine Spur von dem gab, was man menschliche Gemeinwesen nennen könnte, die Menschen oder ihre Vorfahren in anderen Verbänden gelebt haben, die in verschiedenen Entwicklungsstufen aufeinander folgten. Durch eine solche Lebensführung erhielt das Menschenwesen gradweise die Erziehung, die es ihm ermöglichte, Gemeinwesen zu gründen, die mehr Ähnlichkeit hatten, zwar nicht mit dem Staat in sogenannt historischer Zeit, aber mit dem Gemeinwesen von Menschen oder jedenfalls menschenähnlichen Geschöpfen in vorhistorischer Zeit, von dem wir durch gewisse Schlußfolgerungen eine schwache Ahnung erhalten können. Die Faktoren, auf denen dann die Weiterentwicklung der menschlichen Gemeinwesen beruhte, können nicht in erster Linie vernünftige Überlegungen gewesen sein; maßgebend waren hier vielmehr Angst und Furcht vor den Naturkräften, sowohl vor den äußeren Elementen als auch vor den Trieben von Tieren und Menschen sowie religiöse und andere abergläubische Vorstellungen, die unter den Menschen herrschten. Sehr richtig hat HÄGERSTRÖM einmal in einer Vorlesung gesagt, der Mensch unterscheidet sich von den anderen Tierarten weniger als ein  animal sapiens  [kluges Tier - wp], sondern als  animal mysticum. 

Das Gesagte läßt sich durch den Hinweis auf ein so späters Gebilde wie das älteste römische Gemeinwesen veranschaulichen. Die ganze Staatsordnung gründete sich hier auf die Priester und das, was diese als unmittelbare Vertreter der Götter bestimmten. Die Staatsordnung war auch zu einem wesentlichen Teil nur ein System von Regeln für allerhand abergläubische Handlungen, durch die man sich das Wohlwollen und den Beistand der Götter sichern und ihren verhängnisvollen Zorn abwenden wollte. Und auch nachdem die soziale Ordnung aus einer rein göttlichen Ordnung, zu einem  fas  [göttliches Gebot - wp], zu dem weniger direkt religiös betonten sogenannten  ius  geworden war, was war wohl dieses  ius,  dieses Recht in den Augen der Römer anderes als ein Komplex von übernatürlichen Kräften, welche sie durch Aussprechen gewisser Formeln oder Handlungen beherrschen zu können glaubten, die nach einem gewissen Ritual, bisweilen an einem bestimmten Ort, zu bestimmter Zeit und unter besonderen Wahrzeichen stattfanden? Der Prätor repräsentierte nach römischer Anschauung durch sein  imperium  das Gesetz in besonderer Weise, so daß er dessen geheime Kräfte in Konflikten zwischen prozessierenden Parteien in Gang setzen oder hemmen konnte. Kurz: was war die Staatsordnung der Römer bis in die Zeit der klassischen Jurisprudenz hinein anderes als ein Ausdruck ihres Glaubens an Zauberei und Magie? (12)

Man wird vielleicht einwenden, daß die Rechtsordnung der Römer das Volk doch jedenfalls in die Höhe gebracht und es befähigt habe, eine Kultur zu schaffen, die in vieler Beziehung noch heute unsere Bewunderung erregt. Dies ist gewiß richtig, aber kein tauglicher Einwand; denn was ich hier behaupte, ist nur, daß die Römer ihr  ursprüngliches  Recht keineswegs der  Vernunft  zu verdanken hatten. Daß dieses Recht sich gleichwohl in so günstiger Weise zum Vorteil für die Nation entwickelte, beruhte wesentlich auf etwas den Römern selbst großenteils Unbewußtem, nämlich teils auf ihren staatsbildenden Instinkten, teils auf den Einflüssen anderer gleichzeitiger Völker mit höherer Kultur, vor allem der Griechen. Dank den Wirkungen einer ursprünglich primitiven Rechtsorganisation bildeten sich im Gemeinschaftsleben, das hierdurch doch geschaffen wurde, allmählich die Voraussetzungen, die den Römern vernünftigere Erwägungen über ihre Rechtsordnung ermöglichten. Man kann daher sagen, daß sich das römische Recht in einem  späteren  Stadium durch das Zusammenwirken zweier Faktoren entwickelte: einerseits eine vernünftigere Berücksichtigung der Forderungen des Rechtslebens und andererseits ihre abergläubischen Vorstellungen, wobei letztere jedoch stets bis zu einem gewissen Grad von ihren staatsbildenden Instinkten beeinflußt waren.

Vergleichen wir nun die Vorstellung, die ein Römer der  älteren Königszeit  vom Recht hatte, mit den entsprechenden Vorstellungen eines Römers der  Kaiserzeit!  Kann jemand, der die Verhältnisse während dieser Perioden kennt, bestreiten, daß während eines im Verhältnis zur Entwicklungsgeschichte der Menschheit so unbedeutenden Zeitraums wie nur etwa 700 Jahre das soziale Zusammenleben im römischen Staat die rechtlichen Vorstellungen der Menschen in höchst bedeutender Weise entwickelt und sie von vielem krassem Aberglauben befreit hat? Denken wir uns nun jedoch noch weiter zurück, bis zu den Vorfahren der ältesten Römer - sagen wir 100 000, ja warum nicht 300 000 Jahr vor der Gründung Roms -, und vergleichen wir dann die Vernunft  dieser  Wesen beispielsweise mit der Vernunft des Menschen  unserer  Zeit! Wie viel von dem, was wir Vernunft nennen, hat wohl ein solches Geschöpf jener vergangenere Zeiten besessen? Gehen wir aber nur  zeitlich weit genug zurück,  so stoßen wir früher oder später auf ein Stadium, in dem die Vorfahren der Römer, wie aller anderen Völker, kein größeres Denkvermögen besaßen als heutzutage z. B. die Schafe, von den Affen ganz zu schweigen. Es bedarf keines besonderen Wissens oder Scharfsinns, um zu erkennen, daß das, was die menschlichen Wesen aus einem Zustand allgemeiner Unvernunft auf ihre jetzige Höhe geführt hat, gerade das Gemeinschaftsleben während vieler Jahrtausende war. Aber das "Gemeinschaftsleben" ist seinerseits nur ein Ausdruck dafür, daß das Verhalten der Menschen durch die Aufrechterhaltung einer gewissen Ordnung beeinflußt wurde, die in den ältesten Gemeinwesen natürlich von einfachster Art war, aber sich allmählich zu dem entwickelt hat, was wir Rechtsordnungen nennen.

Was man sich bei der Erörterung über das Verhältnis des Menschen zur Rechts- oder Staatsordnung stets vor Augen halten muß, sind die von der modernen Naturwissenschaft festgestellten ungeheuren Zeitabstände. Folgende Zahlenzusammenstellungen reden eine Sprache, die bei solchen Erörterungen Beachtung finden dürfte. Man nimmt, wie gesagt, an, daß die Existenz des Menschengeschlechts ungefähr das  500fache  des Zeitraums von 700 Jahren umspannt, währenddessen die soeben erwähnte Vernunftentwicklung beim römischen Volk (hinsichtlich seiner Rechtsvorstellungen) deutlich nachweisbar ist; und es war kein größerer Zeitraum erforderlich als etwas das  zweimal  Fünfhundertfache des Alters des Menschengeschlechts, damit sich die allerniedrigste Tierart zu einem Menschenwesen entwickeln konnte. Hiernach kann man ahnend ermessen, wie ungeheuer der Vernunftabstand zwischen den ersten und den jetzt lebenden menschlichen Wesen ist !!!

Aus dem Gesagten ergibt sich mit voller Evidenz, wie grundverkehrt es ist, wenn POLLOCK und andere glauben, das Recht habe seinen Grund in der sozialen und vernünftigen Natur des Menschen. Die soziale und vernünftige "Natur" des Menschen ist so wenig der Grund des Rechts, daß sie eher selbst ihren Grund im Recht hat. Jedenfalls ist sie ohne dieses nicht denkbar. Aber das allgemeine Rechtsbewußtsein ist, wie gesagt, nur ein anderer Ausdruck für die soziale und vernünftige Natur des Menschen, soweit es sich um die Rechtserscheinungen handelt. Hieraus dürfte hervorgehen, was von der verbreiteten,  teils bewußten, teils  (wie beim Positivismus)  unbewußt im Hintergrund stehenden  Vorstellung zu halten ist, daß die Rechtsordnung, einschließlich Rechte und Pflichten, ihre Quelle im allgemeinen Rechtsbewußtsein hat.

Gegen das Gesagte läßt sich nicht einwenden, daß es sich dabei nur um leere Spekulationen oder jedenfalls um unbeweisbare Hypothesen handelt. Meine Absicht war lediglich, gewisse  allgemeine  Grundlinien anzugeben, von denen man nicht abweichen kann, ohne mit der raumzeitlichen Erfahrung in Widerspruch zu geraten, d. h. ohne unwissenschaftlich zu verfahren. Die Fundierung des Rechts im allgemeinen Rechtsbewußtsein läßt sich jedoch in jedem besonderen Fall mit voller Evidenz widerlegen. Zum Wichtigsten muß ja die Basierung der Rechte und Pflichten auf das allgemeine Rechtsbewußtsein gehören. Aber es läßt sich zeigen, daß sich diese Produkte des Rechtsbewußtseins bei näherer Prüfung in nichts auflösen. Man hat die Konsequenz gewisser sozusagen konstanter Verhaltensweisen der Staatsorgane in der Weise mißverstanden, daß man geglaubt hat, diese Konsequenzen seien ein  Prius  im Verhältnis zu diesen Verhaltensweisen (13). Eine Spezies dieses Irrtums ist der Glaube, daß das Versprechen die Kraft hat, Rechtsverhältnisse zu schaffen (14). Berücksichtigt man meine soeben angedeuteten Darlegungen, so kann kein Zweifel darüber herrschen, daß auch die sonstigen Vorstellungen des Rechtsbewußtseins von Gerechtigkeit und Billigkeit nur Folgeerscheinungen des Rechtsmechanismus sind und also im Prinzip nicht als Grundlage der Gesetze und ihrer Auslegung betrachtet werden können. Zwecks Vermeidung jedes Mißverständnisses sei jedoch über die Stellung des allgemeinen Rechtsbewußtseins im Rechtsmechanismus folgendes gesagt:

Obgleich das allgemeine Rechtsbewußtsein ohne den Rechtsmechanismus nicht denkbar ist,  so ist es doch von außerordentlicher Bedeutung für diesen. Es ist kaum übertrieben zu sagen, daß die moralischen Gefühle der Pflicht gegenüber einzelnen Mitmenschen und der Gesamtheit, des Mitleids, des Ehrgefühls usw., die in dem, was wir Rechtsbewußtsein nennen, enthalten sind, der  unmittelbare  Grund dafür sind, daß die Menschen in einer Weise handeln, die das soziale Zusammenleben ermöglicht. Die absolute Konsequenz, Unparteilichkeit und Unwiderstehlichkeit, womit die "Rechtsordnung" den Menschen durchgeführt zu werden  scheint,  und die faktische Notwendigkeit ihrer Durchführung für die Existenz und den Bestand der Gesellschaft haben zur Folge, daß die Menschen vermöge ihres sozialen Instinktes das Recht als etwas  empfinden,  das wegen seiner Bedeutung für sie und seiner Erhabenheit über die  heilig oder gerecht  ist. Dadurch erhält das sogenannte Recht eine besondere Weihe, und deshalb glaubt man, es sei sanktioniert, in älteren Zeiten durch die Götter, später durch den einen Gott oder die absolute Vernunft, jetzt - nach der historischen Schule - durch das Rechtsbewußtsein des ganzen Volkes. Ohne diese Ehrfurcht des Volkes vor dem "Recht" könnte dieses nicht aufrechterhalten werden.

Eine Sache für sich ist es nun, daß das Rechtsbewußtsein natürlich nur in sehr primitiver Weise die im Gemeinwesen aufrechterhaltene Ordnung widerspiegeln kann. Im Großen und Ganzen wird die Zweckmäßigkeit der Aufrechterhaltung bestimmter Grundsätze vom Rechtsbewußtsein nicht auf dem Weg der Reflexion erkannt, sondern nur instinktmäßig gefühlt. Das allgemeine Rechtsbewußtsein urteilt nur nach dem, was direkt, ohne tiefere Überlegung, in die Augen fällt. Von einem Verständnis der notwendig höchst verwickelten Beschaffenheit des Rechtsmechanismus kann nicht die Rede sein. Auch spiegelt sich in den Manifestationen des Rechtsbewußtseins weniger die Bedeutung ab, welche die Aufrechterhaltung der "Rechtsregeln" für das allgemeine Verhalten hat, als vielmehr die stark in die Augen fallende "Anwendung" der "Rechtsregeln" im  einzelnen Fall,  die von der Vorstellung des Rechtsbewußtseins zu einer "Pflege der Gerechtigkeit" vereinfacht wird, d. h. zur Brandmarkung des "Rechtsbrechers" und zu einer Wiederherstellung des "verletzten Rechts". Auf diese Weise gelangen im Rechtsbewußtsein irrationale Gerechtigkeitsgesichtspunkte zur Herrschaft, Vorstellungen von der  abstrakten  Existenz einer gerechten Ordnung, von Rechten und Pflichten, von Pflichtverletzung, von Vergeltung gegenüber dem Täter und Genugtuung für den Verletzten. Infolge dieser Kurzsichtigkeit des Rechtsbewußtseins - das sich unvernünftigerweise auf die Beurteilung des aus dem Zusammenhang mit dem ganzen Rechtsmechanismus losgerissenen Einzelfalles  beschränkt - ist die Jurisprudenz dazu gelangt, die Rechtssituation nach bestimmten Maximen durch eine Bewertung der Parteiinteressen nach sogenannten Billigkeitsgesichtspunkten zu bestimmen. Diese Bewertung kann dann, je nachdem sie zugunsten oder zum Nachteil einer Partei ausfällt, zur Konstatierung ihres Rechts, bzw. ihrer Rechtspflicht führen. Die Jurisprudenz übersieht hierbei, daß die privaten Parteiinteressen im Rechtsmechanismus nur eine ganz untergeordnete Rolle spielen können. Die Bedeutung des Rechtsmechanismus liegt nicht in der Schlichtung von sogenannten Rechtskonflikten, sondern darin, daß die Situationen, die man fälschlich Rechtskonflikte nennt, im allgemeinen nicht entstehen. Betrachtet man die Sache so, so fallen alle Gerechtigkeits- und Billigkeitsgesichtspunkte fort.

Aber kann das richtig sein? Das Rechtsbewußtseins soll einerseits eine außerordentlich nützliche Rolle spielen, andererseits aber eine Verfälschung der Wirklichkeit sein! Wie kann trotz des zuletztgenannten Umstandes behauptet werden, daß das Rechtsbewußtsein von größter Bedeutung für die Aufrechterhaltung des Rechtsgetriebes, d. h. des Gesellschaftsmechanismus ist? Sollte man nicht meinen, daß das Rechtsbewußtsein dem Rechtsmechanismus nur entgegenwirken kann und die größte Verwirrung anrichten muß? Die Sache verhält sich jedoch so, daß sozusagen in der Tiefe des Rechtsbewußtseins ein sozialer Grundton schwingt, der bis zu einem gewissen Grad die Gerechtigkeitsvorstellungen dirigiert und in Schranken hält. Dies folgt ja daraus, daß, wie schon bemerkt, das Rechtsbewußtsein seinen spezifischen Charakter dadurch erhält, daß es der gefühlsmäßigen Einsicht in die Notwendigkeit des Rechtsmechanismus für das Zusammenleben der Menschen entspringt. Die erwähnte Divergenz zwischen Gefühl und Wirklichkeit entsteht dadurch, daß man - übrigens ganz begreiflicherweise - nicht versteht, wie der Rechtsmechanismus fungiert und seine Bedeutung ausübt. Vielmehr betrachtet man die Sache auf die oben geschilderte primitive Art. Aber sobald die schädlichen sozialen Konsequenzen einer solchen Auffassung genügend deutlich und  allgemein erkennbar  werden, hält das Rechtsbewußtsein, soweit sich diese Klarheit erstreckt, nicht mehr an seinem primitiven Standpunkt fest, sondern beugt sich der Erkenntnis zweifelloser sozialer Zweckmäßigkeit. Bezeichnen ist in dieser Beziehung die Stellung des Rechtsbewußtseins zur  Selbsthilfe.  Die subjektiven Rechte im Sinne des Rechtsbewußtseins müßten, um dessen Vorstellungen von der Gerechtigkeit zu genügen, eigentlich um jeden Preis realisiert werden. Hieraus würde sich die Konsequenz ergeben, daß Selbsthilfe ein allgemeines, zumindest subsidiäres, Rechtsinstitut würde. Aber die Unvereinbarkeit der Eigenmacht mit dem Gemeinwohl hat das innerstaatliche Rechtsbewußtsein zu einer so weitgehenden Selbstaufgabe gebracht, daß die Unzulässigkeit der sogenannten Selbsthilfe nunmehr in sehr großem Umfang als das Postulat des Rechtsbewußtseins selbst bezeichnet werden kann.

Damit die Abhängigkeit des Rechtsbewußtseins von Rücksichten des Gemeinwohls nicht einseitig dargestellt wird, ist hier noch folgendes zu bemerken. In dem soeben angeführten Beispiel traten teils die sozialen Gesichtspunkte sehr deutlich hervor, teils befand sich der Rechtsmechanismus selbst in Übereinstimmung mit diesen. Es ist natürlich, daß, wenn ein  seit langem in Geltung stehendes  Gesetz mit der Auffassung von den Interessen der Gesamtheit in  Konflikt  gerät, die fortgesetzte Aufrechterhaltung des Gesetzes selbst in sehr hohem Grad der Anpassung des Rechtsbewußtseins an dieses Interessen entgegenwirken kann. Nun verhält es sich allerdings, wie später (im zweiten Band) gezeigt werden soll, im Großen und Ganzen so, daß die Gesetzgebung zumindest in gewissen groben Zügen auf das Gemeinwohl Rücksicht nimmt. In besonderen Fällen kann jedoch ein Gegensatz bestehen, und dann stellt sich das Rechtsbewußtsein oft auf die Seite des Gesetzes. Dies ist sogar die Regel, wenn es sich um ein seit Generationen angewandtes Gesetz handelt. Das beruth eben auf der sekundären Natur der Rechtsgefühle. Diese werden - solange die Unvereinbarkeit des Gesetzes mit dem sozialen Interesse von den Betroffenen  nicht allgemein klar durchschaut ist, - in ihren Anti- und Sympathien gerade von dem Verhalten bestimmt, das allgemein wegen der auf das entgegengesetzte Verhalten folgenden Rechtsreaktionen an den Tag gelegt wird. Wenigstens auf gewissen Gebieten wird deshalb das allgemeine Rechtsbewußtsein  unmittelbar  von den aufrechterhaltenen Rechtsregeln geleitet, aber auf die Dauer ist die Voraussetzung hierfür eine gewisse Übereinstimmung zwischen diesen Regeln und den gemeinnützigen Interessen. Durch diesen Anschluß des Rechtsbewußtseins an den Rechtsmechanismus erhält ersteres sozusagen eine solche Politur, daß die Manifestationen seiner Gerechtigkeitsvorstellungen nicht sonderlich großen Schaden anrichten können, andererseits aber in wesentlichen Beziehungen von außerordentlichem Nutzen sind. (15)

Dieser Nutzen hängt - anscheinend höchst paradoxe - gerade damit zusammen, daß das Rechtsbewußtsein die von ihm gefühlten Realitäten des Rechtsmechanismus verfälscht. Der Heiligenschein, der für das Rechtsbewußtsein die  Justitia  umgibt, wenn sie blind ihr Schwert schwingt, verleiht den Rechtsregeln die nötige Stärke, so daß sie gegenüber den diesen Regeln entgegenwirkenden Trieben der Menschen aufrechterhalten werden können. Die Hemmung dieser dem Gemeinwohl feindlichen Impulse und Leidenschaften wäre nicht möglich allein durch  bewußtes Reflektieren  über die Aufrechterhaltung des Rechts, d. h. über die Rechtsreaktionen, die auf gewisse Verhaltensarten folgen. Hier liefert das allgemeine  Rechtsbewußtsein  die nötigen Widerstände: die Pflicht- oder Rechtsgefühle der Individuen. Hierauf werde ich bei der Besprechung der sozialen Funktion der Strafe näher eingehen. Dort wird auch gezeigt werden, daß das Rechtsbewußtsein oft in einer bei oberflächlichem Nachdenken ganz überraschenden Weise gesellschaftsschädlichen Trieben und Leidenschaften entgegenwirkt. Es liegt hier eine besondere Wahrheit gerade in der Behauptung von der Bedeutung des  allgemeinen  Rechtsbewußtseins. Denn gegenüber diese Trieben und Leidenschaften kann man sich, wie später gezeigt werden soll, weniger auf das sozusagen private Rechtsgefühl des einzelnen verlassen als auf den kompakten Druck des gesammelten Rechtsgefühls der Menschen, unter welchen der einzelne lebt und wirkt. Dieser sozial-psychische, spontan wirkende Druck ist die entscheidende Kraft gegen die Verbrechensimpulse.

Um die Stärke des Druckes zu verstehen, der auf diese Weise gegen gewisse Arten des Verhaltens erzeugt wird, muß man sich daran erinnern, daß überhaupt das gegen gewisse Handlungen reagierende Pflichtgefühl auf den schädlichen Folgen dieses Verhaltens für den Handelnden beruth, sowie daran, welche Bedeutung in dieser Beziehung gerade der Straffolge beizumesse ist. Die Strafe ihrerseits aber muß, um die nötige Moralreaktion gegen die betreffende Handlung hervorrufen zu können, in einer Proportion zur Größe des sozialen Wertes gesetzt werden, der nach der in der Gesellschaft herrschenden Auffassung durch die Vornahme der Handlung gefährdet wird. (16) Indirekt stehen also auch hier, wo das Rechtsbewußtsein ausgesprochener spontan, sozusagen als ein Moralinstinkt gegen die Handlung fungiert, Rücksichten auf das Gemeinwohl im Hintergrund.

Dem Gesagten ist noch hinzuzufügen, daß auch bei anderen Gesetzen als dem Strafgesetz der Respekt vor dem Gesetz nicht nur auf bewußtem Nachdenken über die Zwangsreaktion gegen das gesetzwidrige Verhalten beruth. Ich verweise in dieser Beziehung auf meine Ausführungen weiter oben.

Schließlich sei hinsichtlich der Bedutung des Rechtsbewußtseins folgendes bemerkt: Wenn auch das Rechtsbewußtsein eine "Rechtsordnung" voraussetzt, durch die es sich ausbildet und entwickelt, so ist es doch selbstverständlich, daß die weitere Entwicklung der Rechtsordnung selbst gerade durch die Höhe bedingt ist, auf der das Rechtsbewußtsein steht, d. h. es herrscht eine  ständige  Wechselwirkung zwischen Rechtsbewußtsein und Rechtsordnung.'

Wenn ich hier die außerordentlich große soziale Bedeutung des allgemeinen Rechtsbewußtseins hervorgehoben habe, so geschah dies nur, um eventuellen Mißverständnissen meiner Auffassung vorzubeugen. Im übrigen ist in  diesem  Zusammenhang diese Bedeutung des Rechtsbewußtseins nicht von Interesse. Jedenfalls kann man feststellen, daß die Aufrechterhaltung des Rechtsgetriebes im Verhältnis zum  Rechtsbewußtsein  nicht als etwas Sekundäres betrachtet werden darf. Das Wichtigste in  diesem  Zusammenhang ist, daß ohne diese Aufrechterhaltung das Rechtsbewußtsein seine notwendigen Stützen verlieren würde.' Die Begründung des "Rechts" auf das Rechtsbewußtsein gleicht dem Versuch, sich selbst an den Haaren in die Höhe zu ziehen. Würde der Rechtsmechanismus stillstehen, so würden die Rechtsgefühle alle Lenkung verlieren und durch allerlei Sophistik zugunsten der Privatinteressen auf Kosten des Gemeinwohls irregeleitet werden. Allmählich würden sie in reine Racheinstinkte übergehen, um schließlich ganz von den Trieben des animalischen primitiven Egoismus erstickt zu werden, und durch all das würde sich schließlich das Gemeinwesen auflösen. Beachtet man in dieser Weise den  ganzen  Zusammenhang, so wird man vielleicht einsehen, wie radikal die Wirklichkeit von denen entstellt wird, welche an subjektive Rechte und an eine Rechtsordnung glauben, die ihren Grund im allgemeinen Rechtsbewußtsein hätten, möge dieses nun als ein auf sich selbst beruhendes Postulat betrachtet oder aus dem "positiven Recht" abgeleitet werden.

Nun ist aber noch eine weitere Seite des unwissenschaftlichen Hantierens der Jurisprudenz mit dem allgemeinen Rechtsbewußtsein zu betonen, die damit zusammenhängt, daß man den soeben geschilderten rein irrationalen Charakter des ganzen Rechtsbewußtsein übersieht. Wie früher bemerkt, enthält ja das Rechtsbewußtsein unter anderem Vorstellungen von gerecht und ungerecht, von subjektiven Rechten und Pflichten. Das Rechtsbewußtsein  rechnet  mit solchen Dingen als  faktisch  vorhanden. Es handelt sich also im Rechtsbewußtsein keineswegs  nur  um gewisse Gefühlsrichtungen, wenn auch die Gefühle durch das Rechtsbewußtsein sogar eine besondere, geradezu fanatische Kraft erlangen können und wenn auch umgekehrt die Ausgestaltung des Rechtsbewußtseins selbst in der einen oder anderen Richtung durch gewisse Gefühle (z. B. soziale Rachgefühle) beeinflußt worden ist. Wenn man es hiernach im Rechtsbewußtsein  auch  mit  Vorstellungen  von vermeintlichen  Fakta  zu tun hat, so ist es klar, daß diese Auffassungsweise den Gedanken binden muß, wenn es gilt, Rechtsregeln auszuformen und anzuwenden. Die erwähnten "Fakta", an die das Rechtsbewußtsein glaubt, existieren jedoch gar nicht. Daher sind die Deduktionen aus den Dogmen des Rechtsbewußtseins durch gewisse falsche Vorstellungen statt durch die Rücksicht auf das Gemeinwohl bestimmt. Allerdings kann es bisweilen so aussehen, als gingen diese Deduktionen mit logischer Notwendigkeit von unbestreitbaren abstrakten Grundgedanken oder Dogmen über das Gemeinwohl aus. Dies ist jedoch nur ein Schein. Die ganze Bedeutung der abstrakten Rechtsvorstellung des Rechtsbewußtseins - z. B. daß ein "Recht" verletzt oder daß ein anderes "Unrecht" begangen worden ist - liegt nämlich in der Fähigkeit dieser Vorstellung, ihrem Inhalt entsprechende Gefühle hervorzurufen. Fehlt der Rechtsvorstellung diese Fähigkeit, so verliert sie jeden Sinn, d. h. das Rechtsbewußtsein ist zum Unterschied vom theoretischen Bewußtsein gerade dadurch charakterisiert, daß es verschwinden muß und zu leerem Gerede wird, so daß man nicht einmal mehr an die Realität dessen, was man sagt,  glauben  kann, wenn nicht die  Gefühle  mit im Spiel sind.

Es kann sich nun so verhalten, daß eine abstrakte  generelle  Vorstellung des Rechtsbewußtseins die Rechtsgefühle wachruft, während die Deduktion aus dieser Vorstellung  in einem konkreten Fall  die Gefühle unberührt läßt. Ich führe ein paar Beispiele an: Das Rechtsbewußtsein enthält gewisse allgemeine - sicher sozial nützliche - Sätze, wie z. B.: "Verträge sollen gehalten werden" oder "Fremdes Eigentum darf man nicht verletzen, sondern soll es achten". Solche Vorstellungen rufen die Rechtsgefühle wach. Aber dies hindert nicht, daß das Rechtsgefühl mitunter sehr stark  dagegen  reagieren kann, daß z. B. ein armer Versprechensgeber oder Schadensstifter zwecks Erfüllung des Versprechens bzw. Zahlung des Schadensersatzes samt seiner Familie an den Bettelstab gebracht werden soll. In solchen Fällen  war  also die Deduktion des Speziellen aus dem Generellen (17)  nicht  der Ausdruck einer logischen Notwendigkeit, obgleich die Logik der Deduktion unbestreitbar gewesen wäre -  wenn  es sich überhaupt um etwas Rationales gehandelt hätte. Aber es  handelt  sich hier  gar  nicht um etwas Rationales, sondern um etwas höchst Irrationales. Hieraus erklärt sich die Unhaltbarkeit der Deduktion. Die Sache ist nämlich die, daß die Begriffe  Recht  und  Unrecht  ebenso wie andere Vorstellungen des Rechtsbewußtseins höchst irrational sind. Deshalb ist die Logik unanwendbar. Das Irrationale der Vorstellungen des Rechtsbewußtseins hat, wie ich soeben andeutete, zur Folge, daß die  Worte,  wie schön man sie auch zusammenfügen mag, keinen Sinn haben, wenn nicht die  Gefühle  dahinterstehen. Wird nun dieser Charakter der Grundvorstellungen des Rechtsbewußtseins nicht durchschaut, so kann die Folge sein, daß man sich einbildet, man könne aus gewissen abstrakten Grundvorstellungen des Rechtsbewußtseins logische Schlüsse ziehen. Solche Deduktionen haben keinen anderen Gültigkeitsgrund, als daß sie aus den  Worten  zu folgen  scheinen,  die den allgemeinen Grundgedanken des Rechtsbewußtseins ausdrücken, aber im konkreten Fall, weil keine entsprechenden Rechtsgefühhle hinter ihnen stehen, das reine Nichts sind. Infolgedessen können solche rechtswissenschaftliche Deduktionen zur Aufstellung von Rechtssätzen führen, die dem Rechtsbewußtsein widersprechen oder zumindest an ihm keine Stütze haben.

Die beiden soeben angeführten Beispiele erläutern das Gesagte. Ließe man wirklich das  Rechtsbewußtsein  in solchen Fällen entscheiden, so ergäbe sich als Resultat, daß der Versprechende nicht gebunden wäre und daß der Schadensstifter keinen Schadensersatz zu zahlen braucht. Wenn die Jurisprudenz zum entgegengesetzten Ergebnis gelangt, das sicher das einzig annehmbare ist, so beruth dies unmittelbar darauf, daß sie die fraglichen  allgemeinen Grundvorstellungen  des Rechtsbewußtseins beim  Wort  genommen hat, ohne sich darum zu kümmern, daß das Rechtsgefühl in den beiden konkreten Fällen nicht hinter den diese Grundvorstellungen ausdrückenden Worten steht. Gleichzeitig scheint man jedoch zu fühlen, daß diese Worte ohne Verbindung mit dem Rechtsgefühl sinnlos sind, denn man führt Momente ein, die, wenn sie faktisch vorhanden wären, das Rechtsgefühl wachrufen würden. Man sagt nämlich, daß auch ein Armer, der ein gegebenes Versprechen nicht hält, eine  Verpflichtung,  die er selbst übernommen hat,  verletzt  oder daß er das  berechtigte Vertrauen  eines anderen  täuscht,  sowie, daß auch der arme Schadensstifter doch  pflicht- und  rechtswidrig  gehandelt hat, was er nun durch einen Schadensersatz büßen muß. Dessenungeachtet geht in den genannten Beispielen das Rechtsgefühl nicht mit, und deshalb fehlt es hier der Deduktion des Speziellen aus dem Generellen durch die Jurisprudenz an jeder Logik. Trotzdem kommt die Rechtswissenschaft gerade in diesen Fällen zu befriedigenden Ergebnissen. Daß sie von solchen irrationalen Gesichtspunkten aus zu annehmbaren Resultaten gelangt, beruth auf dem Druck, der in Form von Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber der Gesellschaft, in der die Jurisprudenz arbeitet, auf letzterer ruht und sie zwingt, trotz der untauglichen Mittel das Beste der Gesellschaft anzustreben. Aber natürlich ist es auch sehr leicht möglich, daß die Deduktionen der Rechtswissenschaft aus dem Rechtsbewußtsein keine genügende oder gar keine Rücksicht auf das Gesamtinteresse nehmen. Ich kann in dieser Beziehung auf große Partien der Schadensersatzlehre verweisen, ferner auf die Lehre über Verträge zugunsten Dritter, zumindest in der nordischen Jurisprudenz, auf die übliche schwedische Doktrin über "Realverträge", auf verschiedene Theorien über den Mangel rechtsgeschäftlicher Voraussetzungen, auf die törichte Lehre von der "ungerechtfertigten Bereicherung" usw. (18) Hier bewirkt die Gebundenheit an gewisse  Worte  eines Grundsatzes des Rechtsbewußtseins nicht nur, daß man glaubt, wirklich logisch etwas deduziert zu haben, sondern auch, daß dieser Glaube das Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber der Gesellschaft lähmt.

Wir stellen also fest, daß die Methode der Jurisprudenz, möge sie nun in ihren Deduktionen aus den Grundvorstellungen des Rechtsbewußtseins zu vom Standpunkt des Gemeinwohls annehmbaren Resultaten gelangen oder nicht, logisch unhaltbar und deshalb unwissenschaftlich ist. (19) Ich möchte besonders unterstreichen, daß auch die Rechtspositivisten, sogar ein so ausgesprochener wie BERGBOHM, kaum von dieser Unwissenschaftlichkeit freigesprochen werden können. Wie sehr auch BERGBOHM glaubt, das allgemeine Rechtsbewußtsein als Grund des Rechts auszuschließen, so scheint ihm doch - wie schon bemerkt -, da er seine ganze Lehre auf  nicht existierenden Grundlagen  aufbaut, nichts anderes übrigzubleiben, als auf das doch immer existierende allgemeine Rechtsbewußtsein zurückzugreifen. Die "Rechtsnormen" der Positivisten sind ja nachweisbar reine Erdichtung. Wenn Männer der Wissenschaft in dieser Weise Jahrzehnt auf Jahrzehnt mit reinen Phantasiefiguren arbeiten können, so muß dies natürlich darauf beruhen, daß doch gewisse Realitäten im Hintergrund stehen und indirekt, d. h. indem sie  mißverstanden  werden, die Anschauung der Betreffenden stark beeinflussen. Diese Realitäten bestehen natürlich im Gesellschaftsmechanismus, wie er  wirklich  ist. Dessen Wesen haben die Positivisten jedoch nicht erkannt. Aber seit Jahrtausenden spiegelt er sich  faktisch  in unrichtiger Weise in der Vorstellung der Menschen wider. Diese falsche Abspiegelung ist das allgemeine Rechtsbewußtseins. Daß das allgemeine Rechtsbewußtsein etwas völlig Irrationales ist, ist eine Sache für sich. Und daß es doch bei all seiner Irrationalität eine Realität darstellt, und zwar eine solche, die sich für alle Menschen mit normalem Gefühlsleben geltend macht, ist wiederum eine - andere - Sache für sich. Die Verfälschung des Rechtsmechanismus im Rechtsbewußtsein kommt gerade auch in der Vorstellung zum Ausdruck, daß das "Recht" als eine befehlende und verbietende Macht über den Menschen steht. da nun die Gründe des Rechtspositivismus für die Existenz der "Rechtsnormen", welche die Lücken zwischen den verschiedenen "Rechtszeugnissen" ausfüllen sollen, vollständig aus der Luft gegriffen sind, so besteht ja - da auch die Positivisten als normal empfindende Menschen unter dem Einfluß der allgemeinen Rechtsgefühle stehen müssen - aller Anlaß zu der Vermutung, daß diese "Rechtsnormen"  nichts  anderes sind als die Grundvorstellungen des allgemeinen Rechtsbewußtseins' und die aus diesen unbewußt gezogenen Schlußfolgerungen. Hätten die Positivisten nicht einmal am allgemeinen Rechtsbewußtsein eine Richtschnur, so würden sie bei ihrer Unkenntnis der wirklichen Zusammenhänge, wenn sie die "Rechtsnormen" ausfindig machen wollten, vollständig im Dunkeln tappen.
LITERATUR Anders Vilhelm Lundstedt, Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft, Bd. 1, Berlin-Grunewald 1932
    Anmerkungen
    1) In "Naturrätt i straffrättsvetenskapen?" in Svensk Juristtidning 1920, Seite 340. Diese Stelle ist mit den Zitaten von HÄGERSTRÖM weiter oben zu verbinden.
    2) Vielleicht kann man sagen, daß KELSEN in "Hauptprobleme der Staatsrechtslehre", 1911, die rein negative Seite des Gegenstandes auf seine Weise vorbereitend behandelt hat. Aber diese vorbereitende Arbeit ist so erfolgt, daß, wie wir sahen, an die Stelle der alten Lehre von der Natur des Rechts eine andere, wenn möglich noch verkehrtere gesetzt worden ist.
    3) Siehe die betreffende Abhandlung von HÄGERSTRÖM in  Festskrift för Vitalis Norström,  1916, Seite 172-190.
    4) HÄGERSTRÖM, Festskrift für Vitalis Norström, Seite 191-206. Sieht auch HÄGERSTRÖM, Till fragan om den objektiva rättens begrepp, Seite 162f.
    5) Ich habe weiter oben darauf hingewiesen, daß diese Willenstheorien im allgemeinen nichts anderes sind, als eine Umformung des alten naturrechtlichen "contrat social".
    6) "Zur Frage des Begriffs des objektiven Rechts".
    7) ANDREAS BJERRE in Svensk Juristtidning, 1918, Seite 142f.
    8) Eine solche Analyse würde die Sinnlosigkeit des genannten Ausgangspunktes zeigen. (Dies folgt aus dem oben über den Rechtspositivismus Gesagten; siehe auch den Texte dieses Abschnittes.) Zu derselben Kategorie gehören auch Gedanken wie, daß "eine praktische, Handlungen oder Verhältnisse der Menschen und ihrer Vereine bestimmende Norm oder Regel" ansich existiert und zu positivem Recht  wird,  indem sie "zum wesentlichen normativen Inhalt die ebenso wesentliche Rechtsform" erwirbt.
    9) Unter den von BERGBOHM angeführten "Rubriken" ist die zwischen alle anderen eingefügte "Rubrik des Bedürfnisses" nicht zu vergessen. Daß in diesem Zusammenhang das praktische Bedürfnis (sowie auch "die Rubrik des politischen Zwecks") den im übrigen angeführten "Agentien" an die Seite gestellt wird, zeugt von einem wesentlichen Mangel an Verständnis für die wirklichen Zusammenhänge. Ich verweise diesbezüglich hier nur auf meine im 2. Band folgenden Darlegungen über das Gemeinwohl als Prinzip für Gesetzgebung und Rechtsauslegung.
    10) FREDERICK POLLOCK, The Law of Torts, 1929, Seite 1f. Was die bekannte Stelle:  Juris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere  [Die Gebote des Rechts sind diese: Ehrenhaft leben, niemanden verletzen, jedem das Seine gewähren. - wp] - betrifft so hat HÄGERSTRÖM gezeigt, daß sie eine direkte Abschrift stoischer Sätze ist und in keiner Weise in die römische Reechtsanschauung hineinpaßt. Die Definition wurde von ULPIAN als ein "vornehmes Portal" verwandt, durch das der Adept in die Rechtssystemaik eingeführt werden sollte, das er jedoch sofort nach der Einführung vergessen mußte, wenn er nicht hinausgeworfen werden wollte. (HÄGERSTRÖM, Der römische Obligationsbegriff, Anm. Seite 290f)
    11) POLLOCK, Essays in the law, Seite 31. Über POLLOCKs Stellung zum Naturrecht siehe besonders Seite 31-79.
    12) Siehe zum Gesagten meine Abhandlung in "Kritische Vierteljahrsschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft", Bd. 23, Seite 78f und vor allem HÄGERSTRÖM, "Der römische Obligationsbegriffe", 1927, sowie "Das magistratische ius in seinem Zusammenhang mit dem römischen Sakralrecht", 1929.
    13) Siehe hierüber oben §§ 2-5, ferner meine Erörterung der Lehren von der Strafe, der Rechtswirkung des Vertrages und dem Schadensersatz im 2. Band, sowie, betreffende die "konstanten" Verhaltensweisen weiter unten.
    14) siehe hierüber im zweiten Band.
    15) Dies gilt jedoch in erster Linie für das innerstaatliche Gebiet. In internationalen Verhältnissen wird für das Rechtsbewußtsein die "Selbsthilfe" (d. h. ein siegreicher Krieg) zwecks Durchsetzung der "Recht" zu einem wirklichen "Rechtsinstitut". Über die verheerenden Wirkungen des Rechtsbewußtseins auf internationalem Gebiet siehe mein "Superstition or rationality in action for peace?", Seite 196f. Über die "Knechtung" des Rechtsbewußtseins durch soziale Interessen siehe HÄGERSTRÖM, "Naturrätt i straffrättsvetenskapen? a. a. O., Seite 326-336. Wie die Vorstellungen des innerstaatlichen Rechtsbewußtseins ihren gefährlichen Charakter dadurch verlieren, daß sie sich dem faktischen Rechtsmechanismus unterordnen, habe ich in "Superstition etc." a. a. O., Seite 189f auseinandergesetzt. Einige Beispiele dafür, daß die Jurisprudenz unmöglich wissenschaftlich arbeiten kann, solange sie die erwähnte irrationale Doppeltheit des Rechtsbewußtseins übersieht, habe ich in "Superstition etc." Seite 139f angeführt. Näheres darüber in der Darstellung meiner Methode im 2. Band.
    16) Dieses Moment habe ich besonders in meinen Schriften gegen die Einführung des totalen Alkoholverbotes entwickelt.
    17) Das heißt: daß auch im vorliegenden konkreten Fall das Versprechen bzw. die Schadenszufügung zum Zahlungszwang führen soll.
    18) Hinsichtlich der Schadensersatzlehre werde ich das Gesagte bei meiner im 2. Band folgenden Behandlung dieses Gegenstandes näher entwickeln. Auf die übrigen Gebiete kann ich in dieser Arbeit nicht eingehen.
    19) Die obige Erörterung wird durch meine Erkenntniskritik der objektiven Werturteile im 2. Band ergänzt. - Selbstverständlich ist die Vieldeutigkeit der "Gerechtigkeit" von der Jurisprudenz beachtet worden. Und Auseinandersetzungen des "Begriffes" gibt es in Hülle und Fülle. Alle diese Auseinandersetzungen sind sehr oberflächlich, und dies kann man schon daraus ersehen, daß sie im unerschütterlichen Glauben an die Existenz subjektiver Rechte und Rechtspflichten stattfinden. Deren Existenz besitzt ja keine andere Grundlage als gerade die Gerechtigkeitsvorstellungen. Solange man an Rechte und Rechtspflichten glaubt, ist es deshalb unmöglich, den ganzen Irrtum des Gerechtigkeitsbegriffs zu verstehen. Von allen Autoren verweise ich auf die Erörterungen DEMOGUES, Les notions fondamentales du droit privé, 1911, Seite 119f (vgl. Seite 320f und 405f).