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GUSTAV von RÜMELIN
(1815-1889)
Eine Definition des Rechts
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"Es läßt sich aus der Definition nichts herausentwickeln, als was man vorher in sie hineingelegt hat; sie bringt die Erkenntnis nicht erst, sondern setzt sie schon voraus. Aber sie bildet auch deren Abschluß und Prüfstein, ohne welchen die unerläßliche Probe für die Richtigkeit der Rechnung nicht zu machen ist."

In einer seiner kleinen Schriften, welche den Titel führt: Die Definition des Rechts (1), erinnert TRENDELENBURG an diese Stelle in KANTs Kritik der reinen Vernunft:
    "Es ist schön, aber oft sehr schwer, zu einer Definition zu gelangen; noch suchen die Juristen eine Definition zur ihrem Begriff von Recht."
und meint, es wären zwar, seit KANT jene Worte gesprochen hat, 80 Jahre vergangen, es sei aber noch gerade so und dürfe doch zur Ehre der Wissenschaft nicht so bleiben.

Wofern nun hierin ein Vorwurf gegen die Juristen liegen soll, können sie wohl mit Grund dagegen erwidern, daß, auch wenn es sich so verhalten sollte, sie sich jedenfalls in zahlreicher und guter Gesellschaft befänden. Ob denn etwa die Theologen darüber im Reinen seien, was Religion, die Philosophen, was Philosophie, was Wahrheit sei, ob es etwa anerkannte Definitionen des Schönen, des Guten gebe, ob auch nur die Philologen, die Historiker eine fertige Antwort auf die Frage: was Philologie, was Geschichte sei, zu geben wüßten? Wenn es mit dem Recht nicht besser stehe, so könne das doch nur darin seinen Grund haben, daß das Recht eben auch zu jenen höheren und idealen Begriffen gehöre, die in der Wirklichkeit niemals einen adäquaten Ausdruck finden, die, auf ein Unendliches, auf die letzten Ziele des Menschengeistes hindeutend, in stetiger Entwicklung fortschreitend, sich nicht gleich den rein empirischen Zweckbegriffen in fertige und abgeschlossene Formeln fassen lassen.

Mit mehr Grund ließe sich vielleicht der Zweifel erheben, ob denn wirklich die Juristen, wie KANT sagt, eine Definition ihres Rechtsbegriffs  suchen,  d. h. ob sie bemüht sind, eine solche zu finden. Die Theologen gehen wenigstens an der Aufgabe, das Wesen der Religion in einer allgemeinen Fassung zu bestimmen, nicht vorüber; für die Ästhetik, die Moral bildet die Definition des Schönen, des Guten den Ausgangs- und Zielpunkt der Untersuchungen; die Juristen aber scheinen in der Tat nur ein schwächeres Interesse und Bedürfnis zu empfinden, für ihren obersten Begriff eine feste Formulierung zu besitzen. Den praktischen Juristen wird seine Berufstätigkeit kaum jemals auf die Frage führen: was ist das Recht überhaupt; für den Rechtslehrer und Theoretiker aber zerfällt seine Wissenschaft nach dem jetzigen System der Arbeitsteilung in eine Reihe gesonderter Felder, deren jedes den Hauptbegriff schon als gegeben und irgendwie festgestellt voraussetzt, ohne für seine Zwecke viel Wert darauf zu legen, ob die Fassung so oder anders lautet. Man wies das ganze Problem der Rechtsphilosophie zu, welche wenigstens bis vor kurzem der näheren Fühlung mit der Jurisprudenz entbehrte und weit mehr von der philosophischen als von der juristischen Seite ihre Pflege fand.

Das scheint nun in neuester Zeit anders werden zu sollen, indem sich in der rechtswissenschaftlichen Literatur eine philosophierende Richtung geltend macht, welcher wir schon eine Reihe geistvoller und anregender Arbeiten zu verdanken haben. Ja, es tritt der Gedanke auf, das, was bisher Rechtsphilosophie hieß und als ein gemeinsames Besitztum von Philosophie und Rechtswissenschaft galt, den Philosophen ganz aus der Hand zu nehmen und unter dem Namen einer allgemeinen Rechtslehre zu einem selbständigen und integrierenden Bestandteil der Rechtswissenschaften zu erheben. Die Philosophen können diese neue Wendung nur freudig begrüßen und sehen deren weiteren Früchten und Erfolgen mit teilnehmender Erwartung entgegen. Einstweilen aber, bis sie eines Besseren belehrt werden, dürften sie noch an der Überzeugung festhalten, daß das Recht nicht aus sich selbst heraus aufzubauen, ohne Anleihen bei der Psychologie, der Ethik, der Gesellschaftslehre nicht zu begründen ist, ja selbst der Anknüpfung an die Metaphysik nicht ganz wird entbehren können.

Eine allgemeine Rechtslehre aber wird sich der Aufgabe, auch den allgemeinen Rechtsbegriff in einer Definition zu erfassen und auszuprägen, nicht wohl entziehen können. Wenn, wie TRENDELENBURG sagt, das Begriffslose in der Wissenschaft rechtlos wird, sollte es dem Recht selbst widerfahren dürfen, rechtlos zu werden? Jede Wissenschaft, die sich als besonderer Ast oder Zweig vom Stamm des allgemeinen Wissens ablöst, muß die Stelle kennen, an welcher das geschieht, sowie die ihr zunächst stehenden und verwandten Äste und Zweige, die aus denselben Teilen des Stammes ihre Nahrung schöpfen und es ist nur die Formulierung ihres namengebenden Grundbegriffs, durch welche sie zu dieser Erkenntnis gelangt.

Man hat den Wert einer Definition weit überschätzt, als der Begriff noch im Wege der Konstruktion gefunden, einem magischen Schlüssel gleich, erst die wahre und volle Erkenntnis des Gegenstandes erschließen sollte. Es läßt sich aus der Definition nichts herausentwickeln, als was man vorher in sie hineingelegt hat; sie bringt die Erkenntnis nicht erst, sondern setzt sie schon voraus. Aber sie bildet auch deren Abschluß und Prüfstein, ohne welchen die unerläßliche Probe für die Richtigkeit der Rechnung nicht zu machen ist. Sie ist zwar nur eine abgekürzte Beschreibung der Sache, aber im Satz, der nicht nur ihre unerläßlichen Merkmale zusammenfaßt, sondern auch deren innere Beziehung zueinander, die Art ihrer Synthese zu klarem Ausdruck bringt, tritt doch wieder die ganze vorausgegangene Untersuchung in eine neue und fruchtbare Beleuchtung, durch welche das Einzelne erst in seine richtige Gruppierung gestellt wird. Unser Wissen tritt erst aus einer gewissen trüben Umflorung heraus und in die Sphäre der Wissenschaft ein, wenn diese letzte Gleichung, das Schlußwort der ganzen Betrachtung gefunden ist. Und so entbehrt auch die ganze Rechtswissenschaft ihres Fundaments, so lange sie für den Begriff, nach dem sie sich benennt, diese letzte und oberste Formel noch nicht gefunden hat.

Aber leicht kann die Lösung der Aufgabe nicht sein, da man ihr so gern aus dem Weg geht und noch kein gelungener und anerkannter Versuch zu verzeichnen ist.

Ein Teil der Schwierigkeit betrifft schon die Fragestellung für die Aufgabe selbst.

Wenn es auch keine Realdefinitionen im HEGELschen Sinne geben kann, sondern nur Worterklärungen, die dem Bedarf der Wissenschaft genügen, so können doch auch diese nicht dem bloßen Sprachgebrauch untergeordnet sein. Die Sprache erweitert oft spielend und willkürlich den Bereich eines Wortes, indem sie es um eines einzigen gemeinsamen Merkmals willen auf ganz heterogene Dinge überträgt. Niemand wird imstande sein, eine Definition einer Uhr zu geben, die ebenso auf die Sonnen- und Taschenuhr, wie auf die Spieluhr und Gasuhr paßt. Aber nicht bloß der populäre, sondern auch der wissenschaftliche Sprachgebrauch verfährt auf diese Weise. Um einer partiellen Ähnlichkeit, einer Analogie oder gar einer bloßen Fiktion willen dehnt man einen Begriff weit über seine ursprüngliche Begrenzung aus und müht sich dann ab, Definitionen zu suchen, welche die ungleichartigsten Dinge noch in  einer  Formel verknüpfen sollen. Das dürfte ganz besonders für die Rechtswissenschaft zutreffen. Oder sollte es nicht unnatürlich sein, dem Begriff der Person oder Persönlichkeit zuzumuten, daß er außer dem lebendigen menschlichen Individuum auch noch Vereine und Stiftungen, tote Sachen, bloße Zwecke in sich umfasse? Wie muß man sich mit der Definition des staatlichen Gesetzes abquälen, wenn dieselbe auch die sogenannten Finanzgesetze, die der ständischen Zustimmung bedürfenden Verwaltungsakte, die Ermächtigungen zu einer Ausgabe, einer Anleihe einschließen soll! Man wird dabei auf ausgebeinte Schemen, auf abstrakte Formeln geführt, die entweder so weit gefaßt sind, daß man dabei auch noch an vieles andere denken kann oder so eng  ad hoc  präpariert, daß sie sich im Grunde nur in Tautologien hin und her wenden. Definieren und das heißt ja genau begrenzen, läßt sich nur, was wirklich genau und scharf begrenzt ist; deshalb muß man jedes Wort da aufsuchen, wo es seine volle und wahre Geltung hat, nicht an den fließenden Grenzen, mit denen es in fremde Gebiete hinüberschweift. Man muß diese Ausläufer separat behandeln, dem Hauptbegriff nur als getrenntes Anhängsel folgen lassen, sie aber nicht in diesen selbst mit hineinverarbeiten wollen.

Diese Bemerkungen finden gerade auf den Rechtsbegriff eine mehrfache Anwendung.

Eine Definition des Rechts, die sich mit dem Sprachgebrauch deckte, ist eine Undenkbarkeit und wäre überdies auch noch völlig wertlos.

Es ist zu bedauern und die Quelle vielfältiger Verwirrung und Unklarheit, daß die deutsche Sprache in überbietender Nachahmung der lateinischen unlogisch genug war, um zwei so grundverschiedene Begriffe, wie das objektive und subjektive Recht, um ein Sollen und ein Dürfen, einen  Zwang  und einen Spielraum der Wahl, eine Ordnung und eine Freiheit mit dem gleichen Wort zu bezeichnen. Oft genug begegnet es uns, daß das Wort  Recht  in einem und demselben Satz bald im einen bald im anderen Sinn zu verstehen ist und die dadurch entstandene Unklarheit erst bei näherer Aufmerksamkeit verschwindet. Es ist unmöglich, das objektive und subjektive Recht in  einer  Definition zu treffen, da beide unter ganz verschiedene Oberbegriffe fallen; es ist ferner einleuchtend, daß das objektive Recht der primäre, das subjektive der abgeleitete Begriff ist, daß daher zunächst für jenes die Definition zu suchen wäre und das subjektive Recht als der vom objektiven begrenzte und zugleich geschützte Spielraum freier Entschließung sich aus jenem von selbst ergeben müßte.

Ebenso bedarf es wohl keiner näheren Begründung, daß das, wofür wir eine Definition suchen, nicht bloß das empirische, tatsächliche Recht, wie es auch immer beschaffen sein möge, sein kann. Ohne Zweifel ist das Merkmal des Positiven dem Rechtsbegriff durchaus wesentlich, aber wenn wir vom Recht nichts zu sagen wüßten, als daß es das Ganze der in einem Gemeinwesen in Geltung stehenden und von einer öffentlichen Gewalt zur Ausführung gebrachten Normen oder Ordnungen sei, so reichte dies zwar aus, um das Recht von allen anderen Dingen zu unterscheiden, aber es umschlösse Recht und Unrecht in der gleichen Formel und gälte gleichmäßig von den Institutionen in Birma und Dahome, wie in den ersten Kulturstaaten.

Wir verlangen einen Maßstab, ein Prinzip, an dem sich erkennen läßt, was mit Recht Recht genannt wird und was mit Unrecht oder mit anderen Worten, es ist die Idee, nicht der empirische Begriff des Rechts, wofür wir in einer Definition den treffenden Ausdruck suchen.

Sodann muß die Definition das Recht da erfassen, wo es voll und in allen seinen Merkmalen gilt, nicht in jenen Grenzbegriffen, denen die Sprache noch die gleiche Benennung leiht, obgleich sie schon ganz abweichende Elemente mit sich führen. Wenn eine Definition des Rechts danach strebt, auf das Völkerrecht, eine Mischung von Recht und Brauch und auf das Kirchenrecht, eine Mischung von Recht und Vereinsstatut, ebenso zu passen, wie auf Staats-, Straf- und Privatrecht, so muß sie die Merkmale des vollkommenen Rechts beiseite lassen und nur die des unvollkommenen zum Ausgangspunkt nehmen, was dann jene trüben und verzogenen Schattenbilder von Begriffsbestimmungen gibt, bei welchen man froh sein muß, wenn man überhaupt noch erkennt, von was die Rede sein soll. Wenn aber einfach der Sprachgebrauch entscheidend sein soll, was als Recht gilt, dann möge man doch nicht unterlassen, auch noch das Strandrecht und das Faustrecht in die Definition mit aufzunehmen. (2)

Es ist somit die Idee des Rechts, das objektive Recht, das Recht in seiner vollen und unabgeschwächten Erscheinung, wofür die adäquate Formulierung zu finden allein einen Reiz und Wert für die Wissenschaft haben kann.

Eine kurze Übersicht und Kritik einer Anzahl der namhaftesten Definitionen des Rechts dürfte am leichtesten und schnellsten der Aufgabe näher führen.

Die bekannteste und folgenreichste Begriffserklärung ist die von KANT. Sie lautet:
    "Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter welchen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann."
Sie entspricht ganz der obigen formalen Forderung, indem sie nur das objektive Recht bestimmt, auch nicht den empirischen Begriff, sondern die Idee, das Prinzip, den Sinn und Zweck des Rechts sucht und die unvollkommenen Grenzformen beiseite lassend, auf den Kern der Sache eindringt. Indem sie die Gleichheit und ein allgemeines Gesetz als die Hauptmerkmale des Rechts an die Spitze stellt, gibt sie dem modernen Staatsgedanken den prägnantesten Ausdruck und bleibt für alle Zeit das würdige Denkmal eines freien und hohen Geistes.

Aber einer eindringenderen Prüfung hat sie doch nicht Stand halten können. Ich erwähne nur einige der nächstliegenden Einwürfe.

Man sollte nicht erwarten, das Recht sei ein Inbegriff von Bedingungen, sondern eher von Normen, von geltenden Satzungen. Bedingungen sind mitwirkende, begleitende Ursachen, ohne welche ein in Frage stehender, als Hauptsache gedachter und vorausgesetzter Erfolg oder Vorgang nicht eintreten kann.

Wenn wir uns alles das denken, was vorhanden sein muß, daß ein Gemeinwesen von gleich Freien entstehe und Bestand habe, so erscheint uns das Recht nur als  eine  dieser Bedingungen, nicht als ihr Inbegriff. Es gehörte noch eine kaum aufzählbare Menge von anderen Dingen dazu, z. B. ein Land, ein darin wohnendes Volk von einer gewissen Gleichartigkeit der Bildung, ein dasselbe umfassendes Herrschaftsinstitut, die Macht zum Selbstschutz nach Außen, die Bande von Moral und Sitte, ohne die das Recht nicht lebensfähig ist usw.

Sodann ist ein Inbegriff von Bedingungen doch immer nur etwas Theoretisches, was auch bloß gedacht und aufgezeichnet werden kann. Dem Recht ist es wesentlich, Wille einer öffentlichen Gewalt zu sein und von ihr äußerlich realisiert und nach Umständen erzwungen zu werden. Eine Koexistenz von gleich Freien wäre unter idealen Voraussetzungen auch ohne Recht durch die Leistungen freier Sittlichkeit denkbar. Aber darum handelt es sich: den Anteil auszuscheiden, den gerade das Recht dabei zu erfüllen hat und die Mittel zu bezeichnen, durch welche das geschieht. Jede Definition des Rechts ist unrichtig, die dieses Moment der praktischen Verwirklichung durch eine öffentliche Gewalt nicht in sich aufnimmt, ohne welches der Unterschied des Rechts von Moral und Sitte niemals klar zu stellen ist.

Sodann war es, wie schon oft geltend gemacht worden ist, unmöglich, dem Recht durch die rein formalen und negativen Merkmale der Gleichheit, der Freiheit, der Allgemeinheit schon einen bestimmten Inhalt zu verschaffen. Die Freiheit ist nur die Negation des Zwangs, Gleichheit und Allgemeinheit nur die des Unterschieds. In der Anarchie gilt jenes KANTsche allgemeine Gesetz der Freiheit auch, da jeder tun kann was er will und die Willkür des einen mit der des andern vereinigt ist. Wenn nicht bestimmt ist, was dabei herauskommen soll, läßt sich überhaupt jede beliebige Maxime zu einem allgemeinen, für alle gleichen Gesetz erheben. Die Gleichheit kann auch in einer Gleichheit des Elends und der Knechtschaft bestehen. KANT läßt, was er bewußt oder unbewußt hinzudenken mußte, unausgesprochen, daß er nur ein solches Gemeinwesen gleich Freier im Auge hat, in welchem eine Ordnung des Friedens, Schutz und Pflege der gemeinen Wohlfahrt geboten ist. Nur indem er sich die stillschweigend wie etwas Selbstverständliches vorausgesetzten materiellen Ziele und Zwecke des Rechts verbarg, konnte er zum rein formalistischen Aufbau der Rechtsidee aus abstrakten Begriffen und zu jener scharfen Scheidung von Recht und Sittlichkeit, von Legalität und Moralität gelangen, für welche der ethische Charakter des Rechts völlig verloren ging.

Damit hängt dann weiter auf das Innigste zusammen, daß schließlich für KANT doch die subjektiven Rechte, die Prinzipien des Privatrechts den Ausgangspunkt bilden, daß Staat und Recht schließlich doch auch wieder atomistisch von unten herauf auf einem Urvertrag von Gleichgestellten aufgebaut werden mußte, daß der Staat nur als Assekuranzanstalt der Freiheit, nicht als Kulturstaat und ethische Institution aufgefaßt werden konnte.

Die nächsten Nachfolger KANTs bieten nur wenig unserer Aufgabe Dienliches. Diese besteht nicht darin, von den mannigfach wechselnden Auffassungen des Rechtsbegriffs Rechenschaft zu geben, sondern nur auf die Versuche zu achten, eine solche Auffassung in die geschlossene Formel einer wissenschaftlichen Definition auszuprägen. Nicht alle Sätze, die mit den Worten anfangen: das Recht ist - wollen und können eine Definition sein, sondern nur diejenigen, die das ausdrücklich bezwecken. FICHTE und SCHELLING haben das, soviel ich sehe, gar nicht versucht.

Ich übergebe auch den bekannten, gar zu sphinxartig gefaßten Satz von HEGEL:
    "Dieses, daß ein Dasein überhaupt, Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. Es ist somit überhaupt die Freiheit als Idee."
Denn er ist außernhalb des Systems gar nicht verständlich; er will nur die Denkmomente bezeichnen, mit welchen das Recht in der Reihe der Entwicklungsstufen der Idee in seine Stelle einrückt; er will und kann keine Definition in unserem, der vulgären Logik entnommenen, die freie Begriffskonstruktion ausschließendem Sinne sein.

Wenn SCHLEIERMACHER das Recht als das gegenseitige Bedingtsein von Erwerbung und Gemeinsacht auf dem Gebiet des Verkehrs bestimmt, so wird man zweifeln dürfen, ob das auch nur als eigentliche Definition gemeint sein konnte. Jedenfalls aber scheint dabei nur das Privatrecht ins Auge gefaßt zu sein und fehlt jede Angabe eines Prinzips, nach welchem jenes gegenseitige Bedingtsein zu ordnen wäre.

Auch HERBARTs originelle, seltsam scharfsinnige, aber schließlich unhaltbare Ausführungen bieten das hier Gesuchte nicht. Er hat nur einen engeren Sinn von Recht im Auge, wenn er sagt: Recht ist Einstimmung mehrerer Willen, als Regel gedacht, die dem Streit vorbeuge. Das Recht hat auch an der gesellschaftlichen Realisierung der anderen praktischen Ideen HERBARTs, dem Lohn-, Verwaltungs- und Kultursystem, sowie an der beseelten Gesellschaft seinen Anteil, ohne in diesem umfassenderen Sinn formuliert zu werden. Überdies vermißt man auch in der Bestimmung des engeren Begriffs eines bloß richterlichen Rechts ein inneres Prinzip für die Auffindung der dem Streit vorbeugenden Regel.

SCHOPENHAUER tut sich mehr als billig auf das Paraxon zu gute, daß nicht das Recht, sondern das Unrecht der primäre und positive Begriff, das Recht nur die Negation des Unrechts sei. Woran sollte das Unrecht als solches erkannt und unterschieden werden, wenn nicht am Maßstab eines Seinsollenden, an der Forderung der Gleichheit und Gegenseitigkeit zwischen dem Willen der "Lebensbejahung" des  A  und dem des  B?  Es ist nur richtig, daß uns unser Rechtsgefühl vorzugsweise durch die Erfahrung seiner Verletzung an uns oder anderen zu Bewußtsein kommt und die Rechtspflege nur durch das Unrecht in Aktion gesetzt wird. Auf das Staatsrecht erleidet der ganze Gedanken ohnedies gar keine praktische Anwendung.

Ich sehe auch von KRAUSE und seinen krausen Formeln, seiner Bezeichnung des Rechts als der zeitlich freien Bedingtheit der Vernunftbestimmung, seiner Unterscheidung von Bedingtheit und Bedingtheit, von Bedingnis und Bedingtnis ab, um mich seinem Schüler AHRENS zuzuwenden, der des Meisters reiche und fruchtbare Gedanken näher durchgebildet und in eine verständliche Sprache übertragen, auch die Bestimmung der allgemeinen Rechtsidee unzweifelhaft gefördert hat.

AHRENS vermag sich nicht genug zu tun; er häuft allen denkbaren Qualitäen auf seinen Rechtsbegriff, wiederholt dabei nicht selten die gleichen, nur unter anderen Benennungen oder Modifikationen und läßt infolge dieser Kumulierung der Gesichtspunkte oft die wünschenswerte Klarheit und Einfachheit vermissen.

So hält er auch nicht an einer einheitlichen Formulierung des Rechtsbegriffs fest, sondern variiert in seinen Definitionen innerhalb gewisser Grenzen.

Im Anschluß an KRAUSE nennt er das Recht das organische Ganze der von der Willenstätigkeit abhängigen Bedingungen zur Verwirklichung der Gesamtbestimmung und der darin enthaltenen besonderen Lebenszwecke des Menschen und der menschlichen Gesellschaft.

In der HOLTZENDORFschen Enzyklopädie sagt er: das Prinzip des Rechts ist eine Norm oder Regelung der Bedingungen aller durch Freiheit bestimmten Willenshandlungen für die geordnete Verwirklichung des Guten und aller Güterzwecke des Einzelnen und der Gesellschaft.

An einer anderen Stelle der Rechtsphilosophie (I, 289) heißt es:
    Das Recht ist seiner höchsten Idee nach eine durch die göttliche Weltordnung gesetzte besondere Lebensordnung, in welcher den endlichen Vernunftwesen die Aufgabe gestellt ist, ihre sich gegenseitig bedingenden Lebens- und Güterverhältnisse in Angemessenheit untereinander zur Vollführung der Gesamtbestimmung und der darin enthaltenen besonderen Zwecke des Menschen und der menschlichen Gesellschaft zu regeln.
Ohne auf alle Einzelheiten und die Unterschiede dieser Fassungen näher einzugehen, beschränke ich mich auf einige Bemerkungen über das Ganze dieser Deutung des Rechtsbegriffs.

Es ist ein unbestreitbarer und unverlierbarer Fortschritt, daß der formalistische Charakter der KANT'schen Definition verlassen, dem Recht ein bestimmter Zweck und Inhalt gesetzt, dasselbe nicht nur nicht in dualistischen Gegensatz, sondern in den innigsten Zusammenhang mit der Ethik gestellt, in seiner Beziehung zu den höchsten Zielen menschlichen Strebens, zur Gesamtbestimmung wie zu den besonderen und gesellschaftlichen Lebensgütern erkannt wird.
LITERATUR Gustav von Rümelin - Eine Definition des Rechts, Reden und Aufsätze, Freiburg/Br. und Tübingen, 1881
    Anmerkungen
    1) ADOLF von TRENDELENBURG, Kritische Vierteljahresschrift für die Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1862, sowie Kleine Schriften II, Seite 80
    2) Ebensowenig sind jene Vorstufen, Keime und Ansätze von rechtlichen Ordnungen hereinzuziehen, die wir in vorstaatlichen Zuständen, in der Sippe, Horde, dem lockeren Stammesverband angedeutet finden, wo Recht, Brauch und Sitte mit patriarchalischer Gewalt unscheidbar ineinander fließen. Nach dieser Methode lassen sich auch Pflanze und Tier, Tier und Mensch nicht mehr voneinander abgrenzen; ja man muß schließlich auf die begriffliche Unterscheidung von Tag und Nacht verzichten, da beide an der Dämmerung gleichen Anteil haben und Niemand den Moment ihres Eintritts angeben kann.