ra-2B. SternK. GareisG. SchmollerGerechtigkeitAristoteles    
 
ERNST PIERON
Gibt es Gerechtigkeit?

"Der Name der Gerechtigkeit wird seit langem mißbraucht, um Willkür und Gewalt zu verdecken und die Unterdrückten, Entrechteten einzulullen in die jammervolle Ohnmacht ihrer Dummheit, Gleichgültigkeit und Geduld."

"Die Parlamente liefern sich Redeschlachten von riesiger Länge, in welchen jede Partei der anderen die Berechtigung ihrer Ansprüche nachzuweisen versucht. Aber all das Gerede ist im Grunde genommen überflüssig, denn keine Partei wird die andere jemals überzeugen und veranlassen, mit den eigenen Ansprüchen zurückzustehen. Jede Partei kommt vielmehr schon mit dem fertigen Urteil über das zu schaffende Gesetz in die Sitzung. Die Gesetze werden nur pro forma im Parlament beraten, tatsächlich aber in den Beratungssälen der einzelnen Parteien."

"Früher als die Besitzlosen erkannten die Bevorrechteten, daß Wissen Macht ist und schlossen durch kostspielige, zeitraubende Studien die Besitzlosen, welche einen frühzeitig lohnenden Verdienst suchen mußten und nicht in der Lage waren, Studienkosten zu bestreiten, im allgemeinen zugunsten der Besitzenden von der Gelehrsamkeit aus."


Ist es gerecht, daß wir leiden und uns quälen? - Ist es notwendig?

Gibt es Gerechtigkeit? --

Immer wieder durchschauern diese Fragen klagend und anklagend die Seelen der Gerichteten und der Bedrückten. Sie wälzen sich furchtbar empor aus den tiefsten Tiefen der Menschheit bis hinauf zu ihren höchsten Höhen. Sie erschüttern den festgefügten Bau des Bestehenden mit dem Gewicht ihrer Verzweiflung, als wollten sie alles zermalmen. Dennoch hört man nur selten Worte solcher Klagen, denn nur wenige wagen es, sie auszusprechen, - oft auch verhallt ihr Jammer ungehört im Gemäuer der Gefängnisse oder im Schlamm der Verworfenheit. Aber das Elend dringt, stärker als Worte es können, hervor aus dem Leben der Armen, die ausgestoßen und vernichtet wurden im Namen der Gerechtigkeit. -

Erfüllt von kleinlicher Selbstsucht, umgeben von Wohlstand und allem Luxus, den des Mammons Hochkultur geschaffen hat, genießen die Mächtigen, die Reichen, rücksichtslos ihr Leben und kümmern sich nicht um ihre Opfer. - Es ist an der Zeit, zu erwachen, - zu sehen, zu denken, zu schaffen! - Seht hin, ihr Reichbeglückten, seht hin auf die Ärmsten der Armen, wendet nur einmal den Blick von dem glitzernden Tand eurer Genüsse und seht stattdessen das klägliche Dasein jener Vielen, die ihr verachtet. O, euer Abscheu, euer Stolz, eure Gleichgültigkeit wahrt euch davor. Sonst würdet ihr mit Schaudern den grenzenlosen Jammer dieser zerstörten Existenzen begreifen, würdet erkennen, daß sie zerstört wurden, damit ihr schwelgen und genießen könnt, würdet aus diesen Trümmern menschlichen Glückes die drohendsten, furchtbarsten Anklagen vernehmen, die nie zu beantwortenden Fragen der Opfer eurer Gerechtigkeit. - Wahrlich es ist an der Zeit, zu erwachen! - Es könnte der Tag kommen, an dem sie zu Gericht sitzen, die jetzt verachtet und getreten werden. Wie würde es euch gehen, wenn ihr an die Stelle jener armen Schächer gerietet? - Es ist so einfach, es ist spielend leicht, Ohnmächtige zu vernichten, wenn man die Macht dazu hat. Es klingt so ehrbar, wenn man sagt, die Gerechtigkeit habe es so gefordert. - Aber habt ihr auch bedacht, ob es gerecht ist, daß ihr jene richtet? - Seid ihr denn gerechter, seid ihr besser als sie? - Woher stammt euer Recht, sie zu richten? - Seht, sie sind Menschen wie ihr, sie tragen in sich wie ihr das heiße Verlangen, zu sein, zu leben und zu genießen. Ihr habt den Überfluß, sie haben den Mangel. Daher stammt die Mehrzahl ihrer Verbrechen, daher stammen ihre Leiden. - Ihr aber, die ihr erhaben seid über ihre Ohnmacht, - ihr, - gerade ihr - vernichtet sie im Namen der Gerechtigkeit! -

Gibt es Gerechtigkeit? -

Wenn man den Reden und Schriften der Vertreter und Anbeter jeder herrschenden Macht glauben wollte, - wenn man den pomphaften Kultus der Justitia für den wahrhaften Dienst der Gerechtigkeit halten könnte, - wenn man kritiklos den Bericht der sogenannten Weltgeschichte als Wahrheit nehmen würde, - dann müßte man allerdings die Frage für überflüssig erklären und unbedingt bejahen. Denn zu allen Zeiten, solange menschliche Herrschaft auf Erden besteht, die Gewalt ausübt über andere Menschen, wurde behauptet, die Gerechtigkeit habe ihren Sitz in den Häuptern der Herrschenden, Gerechtigkeit sei der Zweck und die wichtigste Grundlage ihrer Macht, Gerechtigkeit sei die ewige Lebenskraft ihrer Gesetze. - Aber eine Macht verdrängte die andere, und jede hatte ihre eigenen "gerechten" Gesetze, die dennoch oft den früheren geradezu widersprachen. Unter jeder Herrschaft gab es Ungleichberechtigte, Herren und Sklaven, gab es Reiche und Arme, Hohe und Niedere, und neben Überfluß jammervollen Mangel. - Im Namen der Gerechtigkeit wurden die abscheulichsten Gewalttaten, die erbärmlichsten Erbärmlichkeiten der Menschheitsgeschichte vollbracht. Im Namen der Gerechtigkeit wurden Tyrannen erhoben und gestürzt, und jeder neue nannte die angemaßte Gewalt sein Recht. Im Namen der Gerechtigkeit wurden Millionen von Menschen gefangen, verstümmelt, getötet, wurden verheerende Kriege geführt und ganze Völker beraubt, entrechtet, vernichtet. Zum Genuß und Vorteil Weniger gingen und gehen noch heute die meisten Menschen im Sklavengewand der Not. Sie kämpfen und schaffen, frohnden und darben, damit Wenige leben und genießen. Und über ihnen allen lauert im Namen der Gerechtigkeit die Gewalt der Wenigen, um sie zu strafen, wenn auch sie ihren gerechten Anteil am Leben und Genuß fordern oder sich nehmen. -

Nein, es gibt keine Gerechtigkeit!

Ihr Name aber wird seit langem mißbraucht, um Willkür und Gewalt zu verdecken und die Unterdrückten, Entrechteten einzulullen in die jammervolle Ohnmacht ihrer Dummheit, Gleichgültigkeit und Geduld.

Wo die Herrschaft beginnt, endet die Gerechtigkeit. Wer Macht ausübt, indem er andere beherrscht, raubt ihnen Rechte, um daraus für sich das Vorrecht der Herrschaft zu bilden. Er kann nun und nimmer gerecht sein, denn der tiefste Sinn der Gerechtigkeit, der keine Ausnahme zuläßt, ist: Allen gleiches Recht zu gönnen, den Starken und Schwachen, den Großen und Kleinen. -

Solange die Menschen im ursprünglichen Zustand natürlicher Freiheit lebten, hatten alle gleiches Recht. Erst die Kultur und die Massenverbreitung der Menschen machte der unbedingten Freiheit Aller ein Ende und ermöglichte die Entwicklung und Bildung von Staaten. Sie weckte die widernatürliche Sklavenbegierde, zu herrschen, sie schuf die kampfreiche Ungleichheit der Menschen und damit die Möglichkeit, zu herrschen und zu gebieten. - Zum Schutz gegen gewaltsame Eingriffe, zur Regelung friedlichen Strebens schlossen sich Gruppen von Menschen zusammen, und so entwickelte sich allmählich der Staat. Aber er wurde selbst eine dauernde, feste Gewalttat, und seine Gesetze dienten weit mehr der Macht der Gewalthaber als dem Wohl aller. Denn nicht auf Gerechtigkeit, auf objektive Erwägung des für alle Notwendigen, sondern auf das Verlangen, sich dauernd die Macht im Staat zu erhalten, gründeten die Herrschenden ihre Gesetze. Folglich konnte diese Gesetze auch nicht zur Gerechtigkeit führen. -

Es wäre vielleicht besser um das Glück der Menschheit bestellt, wenn nicht die Notwendigkeit sie vom freien Zustand der Wildheit zur Kultur gezwungen hätte. Sind den nicht die verachteten Barbaren, die Wilden in ihrer einfachen Natürlichkeit besser und glücklicher als wir? - Aber wir sind verdorben für die Wildheit. Die Kultur hat unseren Körper und Geist, unser Leben und Streben durchwirkt. Darum müssen wir weiter auf der angefangenen Bahn, immer weiter, - es gibt kein Zurück. Doch, wenn auch die bisherige Entwicklung der Kultur sich als eine Entfremdung vom Natürlichen erwiesen hat, wird die höchste Menschheitskultur eine Rückkehr zur Natur darstellen, - eine unzertrennbare Vereinigung von Natur und Kultur. Dann wird auch die Gerechtigkeit wieder aufleben. Darum sollte sich unser Streben dahin richten, der Verbildung der Kultur zu begegnen und sie geläutert mit der Natur zu verbinden. -

Weit entfernt von dieser Erkenntnis ist nach der herrschenden Ansicht die Möglichkeit gegeben, künstlich durch Gesetze und Verordnungen Gerechtigkeit zu schaffen und auf diese Weise die üblen Wirkungen der Kultur einzudämmen. - Ich bezweifle stark die Richtigkeit dieser Ansicht, vermute vielmehr, daß durch Gesetze in vielen Fällen keine Regelung, sondern eine weitere Verbildung und Schädigung der Menschheit erreicht wird. Die Gerechtigkeit läßt sich schwerlich in Formeln und Paragraphen pressen; wenn sie leben soll, muß sie aus dem Leben der Lebenden entstehen, nicht aber aus toten Schriften und Gesetzen. So wenig wie eine Funktion des Lebens kann sie gelehrt oder künstlich erzeugt werden. - Gerechtigkeit wird erst dann möglich sein, wenn die Grundlage und der Ausbau der Gesellschaftsordnung dergestalt gerecht ist, daß es jeder als selbstverständlich ansehen muß, gerecht zu denken und zu handeln, - daß der Wirkungskreis und die Lebensgrundlage jedes Einzelnen die Ungerechtigkeit zur törichten, unfruchtbaren Handlungsweise stempelt, statt daß dieselbe, wie in unserer Zeit, zur beinahe notwendigen Voraussetzung für Ansehen, Wohlleben und Genuß erhoben wird. - Dann wird Gerechtigkeit das ganze Leben aller Menschen umfassen und doch auch jedes Einzelleben erfüllen; dann wird sie über allen und doch in jedem sein. - Es wäre töricht, Gerechtigkeit erzwingen zu wollen, denn jede Gewalt, jeder Zwang würde ihrem ureigensten Wesen widersprechen und sie unmöglich machen. Sie muß und wird sich entwickeln, so wie sich die Menschheit entwickelt, bis sie schließlich als selbstverständliche Funktion des menschlichen Geistes zur Grundlage allen Denkens und Handelns wird. Nicht Gewalt darf sie stützen, sondern sie selbst muß die höchste, einzige Gewalt sein und allein durch ihre überzeugende Macht über alle und jeden durch alle und jeden herrschen.

So, wie die Freiheit aller Menschen erst dann möglich sein wird, wenn jeder Einzelne seinen Freiheitsdrang und Willen soweit einschränkt, daß er die Freiheit der Anderen nicht gefährdet, ist auch Gerechtigkeit nicht denkbar, wenn nicht jeder neben seinen Rechten auch die Rechte der Anderen anerkennt und gelten läßt, also selber gerecht ist: Freiheit und Gerechtigkeit sind zusammengehörige, nicht trennbare Begriffe. Niemals wird Gerechtigkeit walten, wenn nicht jeder frei ist, - niemals wird Freiheit bestehen, wenn nicht jeder gerecht ist. Die Gesellschaftsordnung muß derart verändert werden, daß es für jeden und alle notwendig und selbstverständlich wird, frei und gerecht zu sein. Dann werden Freiheit und Gerechtigkeit vereint die Menschheit beglücken. -

Wie ungeheuer groß der kulturelle Tiefstand der Jetztzeit trotz allen Gefasels und Rühmens noch ist, zeigt sich deutlich darin, daß die heutige Geselschaftsordnung durchweg an Rechtsungleichheit, Zwang und Gewalt krankt und keine Spur allgemeiner Freiheit und Gerechtigkeit in ihr besteht. Herrschsucht ist heute der Ehrgeiz der Meisten. Teils sind Einzelpersonen, teils Parteien und Cliquen Tyrannen. Teils ist die Macht auf überlieferte Vorrechte,teils auf die Majorität, teils auf den Mammon gestützt. Alles beugt sich vor ihr, alles jagt ihr nach. Jeder will Herr sein und alle, alle sind Knechte. Gerechtigkeit wird in der Gegenwart oft verwechselt mit Machtfülle, und die Entrechtung gilt vielen als höchstes, heiligstes Recht. Die Wenigen, welche die höchsten Kulturideale: Gerechtigkeit und Freiheit, erkennen und ernsthaft erstreben, werden - was für ein Hohn! - im Namen der Gerechtigkeit verfolgt und verachtet. Und über sie hinweg schreiten die Allzuvielen mit ihrem Alltagsegoismus stolz und begierig dem Gipfel der Herrschaft entgegen und mühen sich ab um dieses Phantom des Glücks, nicht ahnend, daß sie in diesem Streben tief unter dem unkultivierten, aber freien Wilden stehen und, andere unterdrückend, selber zu Sklaven werden.

Mehr noch als auf anderen Gebieten kommt das Ungesunde der bestehenden Gesellschaftsordnung im Rechtsleben der Völker zur Geltung. Hier sind die schlechten Wirkungen einer Jahrtausende hindurch entwickelten Gewaltherrschaft deutlich zu erkennen. Statt eine gesunde Grundlage des Staatswesens zu bilden, welche von vornherein die Rechtsgleichheit aller Bürger gewährleistet und Schäden von der Schwere der jetzt allgemein als notwendiges Übel angesehenen im Keim erstickt, versucht man durch eine Unzahl von überlieferten und neuerdachten Gesetzen einzelne Mißstände und Konflikte, welche die Folgen des ganzen Systems sind, zu regulieren und zu vertuschen. Das Leben des kultivierten Staatsbürgers ist von der Geburt bis zum Tod durch gesetzlichen Zwang festgelegt, sodaß er selbst oft die Fülle der ihn betreffenden Bestimmungen gar nicht kennt und kennen kann und erst durch weitere Zwangsmittel auf dieselben hingewiesen wird. Wenn man die dickleibigen Gesetzbücher der Kulturstaaten durchblättert, muß man unwillkürlich auf den Gedanken kommen, daß die Kultur den Menschen verdirbt und unfähig zur Selbstbestimmung gemacht hat, sodaß er nicht anders als an der Kette der Gesetze, angetan mit dem Maulkorb der Strafandrohung fähig ist, zu existieren. Dagegen kennt der vielverachtete Wilde keine oder doch nur wenige Gesetze und lebt trotzdem verhältnismäßig besser als wir. Manche Menschen folgern hieraus, daß die Fülle der Gesetze ein Zeichen von Hochkultur sei. Ich aber bin der Meinung, daß gerade durch die Unmasse gesetzlicher Bestimmungen die Unzulänglichkeit und innere Unkultur der herrschenden Gesellschaftsordnung und Staatseinrichtungen bewiesen wird. Ein Sprichwort sagt: wo viele Gesetze, da viele Verbrechen. Das ist richtig und verständlich. Man kann jedoch weiter folgern: Wo viele Verbrechen, da viele Schäden, viel Not und Unzufriedenheit. Wo aber solche Mißstände sich häufen, da kann für einen vernünftig Denkenden weder von einem geordneten Staatswesen noch von höherer Kultur die Rede sein, denn beide sind nur dann existenzberechtigt, wenn sie dem Wohl und Glück der Menschheit dienen; sie müßten demnach prinzipiell die Ausrottung solcher Mißstände als Hauptzweck verfolgen, statt sie, wie die täglich wachsende Gesetzesfülle beweist, noch zu vermehren.

Man hat in den meisten Volksschichten vor der Herrschaftsform des Absolutismus eine Abscheu und nicht mit Unrecht. Die Willkürherrschaft eines Einzelnen wird kaum die Geschäfte eines Volkes in zufriedenstellender Weise führen können, denn er muß, da er die Macht meist ererbt hat, keineswegs zu den Intelligentesten seiner Nation gehören und wird infolge seines unübersehbaren Machtumfangs fast regelmäßig den Einflüssen aller möglichen, unkontrollierbaren Elemente ausgesetzt sein, welche meist zu ungunsten des Volks in die eigene Tasche zu wirtschaften suchen. Aber selbst die höchstkultivierten Völker haben den Absolutismus nur abgeschafft, um sich der Willkürherrschaft der Parteien oder der Majorität zu unterwerfen.

Die auf der grundlegenden festen Rechtsbegrenzung einer Verfassung aufgebauten, heute als fortgeschrittenst angesehenen Staaten erkennen als Grundsatz die Gleichberechtigung aller Bürger vor dem Gesetz an und suchen dem Gerechtigkeitsgefühl oder doch dem Bedürfnis der Majorität des Volkes dadurch näher zu kommen, daß sie bei der Gesetzgebung die Mitwirkung und Genehmigung einer Volksvertretung gewährleisten. Die Verfasung ist aus der herrschenden Gesellschaftsordnung, welche Vorrechte einzelner Personen, Familien, Stände, Gruppen und Klassen des Volkes prinzipiell anerkennt, hervorgegangen, sie fügte zu diesen Vorrechten gewissermaßen als Gegengewicht noch ein weiteres, das Vorrecht der Majorität des Volkes. Damit suchte die vordem absolute Regierung den Ansturm der Mehrzahl ihrer Bürger zu beschwichtigen, welche, über die damals herrschende allgemeine Rechtlosigkeit der großen Masse des Volkes empört, sich auflehnten, um eine Änderung der Regierungsform zu erlangen. Statt also zur Herstellung gerechter Verhältnisse mit den Vorrechten überhaupt aufzuräumen, und die Gesellschaftsordnung demgemäß umzugestalten, - was allerdings ein Selbstmord der Herrschaft gewesen wäre, - gab man der unzufriedenen Majorität ebenfalls ein Vorrecht und bewirkte dadurch eine zeitweilige Beruhigung des Volkes. Der leitende Gedanke der Staatsverfassung ist, dem Volk diejenigen Gesetze und Rechtsgrundlagen zu geben, welche von der Regierung und der Majorität des Volkes oder der Volksvertretung gutgeheißen werden. Hierdurch dachte man offenbar eine bedingte Gerechtigkeit auf der Basis der bestehenden Gesellschaftsordnung zu schaffen und damit künftigen Empörungen vorzubeugen. Eine möglicherweise eintretende Auflehnung des Volkes gegen die Härten und Ungerechtigkeiten der herrschenden Einrichtungen sollte durch die Redeschlachten des Parlaments, durch die Wahlkämpfe der Parteien des Volkes vereitelt oder doch so abgeschwächt werden, daß sie der Herrschaft und den Vorrechten der Herrschenden keinen Abbruch tun könnten.

Die Annahme, daß Gerechtigkeit unter Beibehaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung möglich sei, konnte sich nicht verwirklichen. Gerechtigkeit ist ein fester, unbedingter Begriff, sie muß auf den individuellen Eigenschaften und allgemeinen Rechten jedes Einzelnen nicht aber auf den Wünschen und Bedürfnissen der Majorität beruhen. Die Majorität kann und wird sehr häufig berechtigte Ansprüche der Minorität verletzen. Das auf einer solchen Verfassung aufgebaute Rechtsleben mußte zur Quacksalberei am Gesellschaftskörper ausarten, konnte aber niemals zur Genesung desselben, d. h. zur Gerechtigkeit führen. Schwere, innere Fehler des Staatswesens und der Gesellschaftsordnung können durch die bloße Einwirkung auf ihre äußeren Folgeerscheinungen nicht aus der Welt geschafft werden, sie bedürfen der Heilung durch eine grundsätzliche, radikale Abänderung der gesamten Einrichtungen, aus denen sie entstanden sind. Die auf ungleichmäßiger Rechtsverteilung basierende Gesellschaftsordnung, welche mit allen aus ihr notwendig folgenden Mißständen im großen Ganzen bereits vor der Gründung des Verfassungstaates bestand, sollte nach der Verfassung in alter Weise fortbestehen, - nichtsdestowenniger sollten die aufgrund der Verfassung entstehenden Gesetze zur Beseitigung dieser Mißstände führen, - beides aber ist unvereinbar, daher sind die Parlamente im günstigsten Fall darauf beschränkt geblieben, Gesetze zur dürftigen Ausgleichung oder Unterdrückung der aus den Fehlern der Gesellschaftsordnung erwachsenden Konflikte zu schaffen.

Aber selbst, wenn ein Parlament genügend Macht haben würde, die Gesellschaftsordnung abzuändern und zu verbessern, wäre ein gerechter Zustand durch sein Wirken wohl kaum erreichbar. Gerechte Verhältnisse können nur durch eine unparteiische, objektive Beurteilung erlangt werden. Ein Parlament wird jedoch seinem ganzen Wesen nach niemals unparteiisch und objektiv handeln können, denn es stellt im Grunde doch nur einen Extrakt der einzelnen, scharf voneinander getrennten Parteien und Interessengemeinschaften des Volkes dar. Günstigstenfalls kann ein Parlament den Willen der Mehrzahl seiner Wähler durchsetzen und damit diesen zu ungunsten der Minorität die Annehmlichkeit, Rechte zu genießen, als Vorrecht verschaffen, mit anderen Worten eine Willkürherrschaft der Majorität errichten und stützen. Doch selbst die Majorität der Wähler kommt im Parlament zumeist nicht auf ihre Rechnung, denn jede Partei und ihre Parlamentskandidaten versuchen im allgemeinen vor der Wahl durch große, meist unhaltbare Versprechungen und klangvolle, hoffnungsreiche Reden, oft sogar durch noch verwerflichere Mittel die Stimmen der Wähler für sich zu werben, wodurch selbstverständlich viele der weniger aufgeklärten, ihrer Rechtsbedürfnissenicht voll bewußten Wähler veranlaßt werden, gerade den Unrichtigen, ihren Interessen mitunter direkt feindlichen Mann zu wählen. Ferner kommen als Wähler nur Männer in einem gewissen, bei vielen Nationien sogar erst in sehr vorgerücktem Lebensalter in Betracht, wärend die etwas jüngeren Männer und ebenso die Frauen, welche infolge ihrer Tätigkeit am öffentlichen Leben und an der Rechtspflege häufig sehr stark interessiert sind und ihre Rechtsansprüche sehr wohl zu erkennen vermögen, ohne weiteres von der Wahl ausgeschlossen werden.

Durch diese tatsächlichen Mißstände wird das Parlament zur einseitigen Interessenvertretung, welche, selbst wenn die Mehrzahl der Volksvertreter den ernsten Willen zur Objektivität anwenden wollte, unfähig sein muß, Gerechtigkeit zu schaffen. - Wehe dem Menschen, dessen Gegenpartei Gesetze schafft, denen er unterworfen ist. -

Die Parlamente häufen Gesetze auf Gesetzen. Schon sind ganze Rechtsbibliotheken aufgestapelt, um das öffentliche Leben zu lenken. Die natürliche Rechtsgrenze, welche die Gesetzlichkeit auf den geringsten, absolut unentbehrlichen Machtbereich verweist, ist längst erheblich überschritten. Widersinnige, überflüssige, ja direkt schädliche Gesetze sind in vielen Staaten auf der Tagesordnung. Die Freiheit der Bürger ist von der Gerechtigkeit gänzlich vernichtet worden. Die Gerichte sind ständig überlastet, die Gefängnisse überfüllt. Not, Elend, Verbrechen und Laster überragen allenthalben das Wohlleben der wenigen Beglückten. Die Unzufriedenheit im Volk steigt immer höher. - Indessen arbeiten die Parlamente ruhig weiter, sie liefern sich Redeschlachten von riesiger Länge, in welchen jede Partei der anderen die Berechtigung ihrer Ansprüche nachzuweisen versucht. Aber all das Gerede ist im Grunde genommen überflüssig, denn keine Partei wird die andere jemals überzeugen und veranlassen, mit den eigenen Ansprüchen zurückzustehen. Jede Partei kommt vielmehr schon mit dem fertigen Urteil über das zu schaffende Gesetz in die Sitzung. Die Gesetze werden nur pro forma im Parlament beraten, tatsächlich aber in den Beratungssälen der einzelnen Parteien. Sie sind eine ewige Last und können keine Zufriedenheit, keine Gerechtigkeit, keine Freiheit schaffen. Die wachsenden Mißstände des ungesunden, öffentlichen Lebens unserer Zeit sprechen der Wirkungsmöglichkeit des Verfassungsstaates ebenso wie der gesamten Gesellschaftsordnung das Vernichtungsurteil.

Unter Berücksichtigung der vorgeschilderten Tatsachen muß man zugeben, daß die Gerichte gegenwärtig einen sehr schweren Stand haben. Sie sind berufen, die ständig vermehrte Gesetzesfülle durchzuführen, und sollen aufgrund derselben nach bestem Wissen und Gewissen Recht sprechen, mit anderen Worten gerecht sein, ohne die Ungerechtigkeit des Rechtssystems, dem sie untergeordnet sind, zu verletzen. Mancher gewissenhafte, einsichtige Richter mag dadurch schon in das Dilemma geraten sein, ob er gesetzestreu oder gerecht richten soll. Es ist eben ein unfruchtbares Gewerbe, gesetzliche Totgeburten mit dem Leben in eine enge Beziehung zu bringen und aus dem Unbelebten ein wahrhaftes Leben zu erwecken.

Die Schwierigkeiten der gegenwärtigen Rechtssprechung haben neben vielen anderen eins der größten, schmachvollsten Übel heraufbeschworen: die Verwissenschaftlichung der Justiz. Es kann nichts Widersinnigeres erdacht werden als diese Tatsache, die Gerechtigkeit, die in allen lebendig, die mit jedem innigst verbunden sein müßte, die als gesundeste, notwendigste Grundlage des öffentlichen und privaten Lebens angesehen werden sollte, - diese Gerechtigkeit ist in Gesetzen niedergelegt, welche für die Masse der Menschen unverständlich und so fernliegend sind, daß sie nur von Gelehrten nach jahrelangem, mühsehligem Studium durchgeführt werden können. Wenn die Gesetzes selbst auch noch so gut wären und den direkten Weg zur Gerechtigkeit weisen könnten, würde diese Tatsache allein schon genügen, sie wirkungslos zu machen. Dennoch heißt es: Unkenntnis der Gesetze schützt vor Strafe nicht. -

Man betrete nur die Tempel der blinden Justitia, man studiere ihren pomphaften, umständlichen Kultus, man schaue aber auch hinter die Kulissen dieses modernen Götzendienstes und erstarre über die vielen Opfer an Freiheit, Leben und Glück, welche täglich dort fallen. Da sitzen Menschen in wallenden Talaren, belastet mit Ämtern und Würden und richten im Namen der Macht über andere Menschen. Sie bestimmen über die Freiheit und das Leben Tausender, können dem Bettler Reichtum, dem Reichen Armut verkünden, sie sind in ihrem Amt über alle gesetzt und sind doch ebensolche Menschen wie alle anderen. -

Es liegt mir fern zu behaupten, daß im allgemeinen die Richter nicht die Absicht haben, gerecht zu sein und objektiv zu urteilen, keinem zuliebe und keinem zuleide. Aber ist mit dem guten Willen das Gewollte auch schon ermöglicht? - Gewiß mögen die meisten Richter ehrliche, hochachtbare Menschen sein, aber sie sind doch eben nur Menschen. Sie tragen gleich allen in sich den Trieb der Selbsterhaltung, und das Amt, dem sie ihre Stellung im Leben verdanken, zwingt sie, andere zu richten. Sie stehen wie jeder andere im öffentlichen Leben, bekennen sich zu den Ansichten einzelner Parteien, sind aufgewachsen in Vorurteilen des Standes ihrer Eltern und Erzieher, sie sind Geliebte, Gatten, Söhne, Väter, Brüder, Freunde und Feinde anderer Menschen, auch sie kennen Haß und Liebe, auch sie haben Leidenschaften, vielleicht sogar Laster, auch sie können irren. Ob sie wohl fähig sein werden, alle diese menschlichen Eigenschaften abzustreifen, wenn sie im Amt sind? - Ich befürchte: Nein! - Selbst bei ehrlichstgewollter Objektivität werden sie von ihrer Umgebung, von ihren Ansichten und Charaktereigenschaften beeinflußt werden, ohne es zu merken. Woher kommt es, daß man ihnen gerade das Recht und die Macht gab, andere zu richten? - O, sie haben sehr viel gelernt aus toten Büchern und Schriften, haben mehrere Prüfungen ihrer Gelehrsamkeit bestanden, haben dem Staat den Eid der Treue geschworen und sind hernach auf Anordnung der herrschenden Macht zu Richtern geworden.

Fragt sie nach Rechtsverhältnissen im alten Rom, fragt sie nach den Gesetzen des Mittelalters, fragt sie nach dem Wortlaut der herrschenden Gesetze, - sie werden antworten, werden hochgelehrte Erklärungen geben und mit vielem Scharfsinn die Gedanken der Gesetzgeber auszulegen versuchen, jeder in seiner Weise. Fragt sie nach der toten Moral, nach der pharisäischen Weisheit der herrschenden Klassen, - sie werden das alles wissen, werden Paragraphen über Paragraphen zitieren und stolz sein auf ihre Gelehrsamkeit. Aber fragt sie nicht nach den Gefühlen, nach dem geistigen Elend und der körperlichen Not, nach den Lebensbedingungen und Lebensbedürfnissen derer, die sie richten, fragt sie nicht nach den eigentlichen Gründen, nach der Entstehung der Rechtsverletzungen, sucht nicht ihr Urteil nach über die Gesetze, nach welchen sie richten. Wenige, Allzuwenige werden euch Antwort geben und selbst von den Wenigen wird euch kaum einer befriedigen. -

Es ist wahrlich nicht recht, daß ein Gesättigter richtet über den, welcher hungert, oder ein Bevorrechtigter über den Entrechteten oder ein Alter über die Jugend. Über eine menschliche Handlung kann nur derjenige richten, welcher selbst die Verhältnisse versteht und durchlebt hat, die ihr Ursprung sind. Verständnis und Mitgefühl, nicht aber tote Paragraphen und Beamtenpflicht können einen Menschen zum Richter über andere Menschen befähigen. Sucht nicht in der gegenwärtigen Rechtspflege nach der menschenfreundlichen, vertehenden und versöhnenden Gerechtigkeit. Das Gesetz wird heute über das Recht erhoben, die Pflicht zu dienen über die Gerechtigkeit. Man hat nicht umsonst zum Wahrzeichen der Gerichte die blinde  Justitia  gemacht, denn wahrlich die Justiz ist blind für menschliche Not und Gebrechen, für Entrechtung und Verzweiflung, blind und gefühllos waltet sie ihres Amtes und sucht zu strafen, ohne zu versöhnen. Nichts gilt ihr das höchste, heiligste Recht, das Recht des Lebens, sie kennt nur Gesetz und Pflicht, Pflicht und Gesetz. Was nutzt dem Richter der beste Wille, unbedingt gerecht zu richten, wenn ihm seine Erziehung, seine Lebensstellung, sein Studium, sein Pflichtgefühl das Verständnis für wahre Gerechtigkeit geraubt hat? - Was nutzt ihm auch schließlich das Verständnis für wahre Gerechtigkeit, wenn er verpflichtet ist, seinen Spruch ungerechten, parteiischen Bestimmungen unterzuordnen, wenn ihm überhaupt die Macht fehlt, wahrhaft gerecht zu sein? -

Durch die Überantwortung der Rechtspflege an Gelehrte ist eine ganz eigenartige, sicher schädliche Gepflogenheit bei den Gerichten eingerissen. Die Laien, welche der Gesetzesmaterie fern stehen und das Unglück haben, mit den Gerichten in Berührung zu geraten, sind in den weitaus häufigsten Fällen nicht imstande, zum Teil auch nicht berechtigt, selbständig zu verhandeln. Nur durch Vermittlung gelehrter Anwälte können sie dem Gericht ihre Ansprüche übermitteln. Zwischen den Richtern und Anwälten entsteht dann häufig ein recht ergötzlicher, aber wenig vorteilhafter Wettstreit, die zum großen Teil unklaren Gesetzesparagraphen mit vielem Scharfsinn auf ihren wahren Gehalt hin zu zersetzen. Hierdurch wird nicht nur eine erhebliche Umständlichkeit, Erschwerung und Verteuerung der Rechtsprechung, sondern auch ein weiterer, sehr böser Übelstand hervorgerufen, nämlich die ungleichartige Urteilsfindung durch die einzelnen Gerichte. Es ist durchaus nicht selten, daß das eine Gericht denselben Fall in ganz anderer Weise beurteilt als das andere, nur weil jedes Gericht seine eigene Gesetzesauslegung anwendet.

Jurististische Autoritäten haben durch umfangreiche Kommentare die Gesetze scharfsinnig zu erklären versucht, um diesem Übelstand abzuhelfen. Aber dadurch wurde die Sache nicht sehr gebessert, weil selbst die verschiedenen Autoritäten nicht unbedingt gleicher Ansicht sind. Das eine Gericht hält sich nun an die eine, das andere an die andere Autorität und die Widersprüche bestehen fort. Durch die Kommentare wurde vielmehr eine weitere Verwissenschaftlichung der Justiz erreicht, welche dieselbe dem Verständnis durch den Laien noch mehr entzieht. Die Kommentare wurden zum Gesetz neben dem Gesetz. -

Die heutige Wissenschaft stellt leider eine Absonderung des Wissens vom allgemeinen Volksgeist dar und ist mehr als geeignet, die Autoritätenanbetung zu fördern und damit das selbständige Forschen der meisten Gelehrten abzuschwächen. Das Studium der Rechte mit der altersgrauen Lehre von der Entwicklung und Notwendigkeit der gesetzlichen Macht mit seinen zahllosen in feste Formeln gepreßten Begriffen ist nur zu sehr darauf eingerichtet, dem Rechtskandidaten gesetzliche Vorurteile und Überlieferungen ins Hirn zu pflanzen, seinen Geist dem praktischen Leben zu entfremden und ihn zum einseitigen Fachmenschen, zum Paragraphengelehrten, nicht aber zum Rechtsforscher auszubilden. Die Ausübung der Rechtspflege verlangt einen ganz anderen Menschen, sie fordert kategorisch Vielseitigkeit und die Fähigkeit, das ganze öffentliche Leben ebenso wie das private Leben jedes Einzelnen gerecht und vorurteilslos beurteilen zu können. Nicht der Gelehrte, dessen Denken und Folgern sich auf Paragraphen und Formeln stützt, sondern der im praktischen Leben stehende und das Leben verstehende Mensch ist geeignet zur Rechtspflege.

Spätere Beurteiler unserer Zeit werden es als eins der deutlichsten Merkmale des kulturellen Tiefstandes bezeichnen, daß sich die Masse des Volkes auf Gelehrte verließ, um ihr Recht zu finden, daß die Not, Gleichgültigkeit und Beschränktheit der Masse es vertrug, das Wissen nur im Besitz einer Gelehrtenkaste zu sehen, anstatt es sich zu erwerben und selbst zu verwerten. Es ist bitter traurig, daß nicht jeder Einzelne die Grundlagen der Rechtspflege genügend zu kennen und anzuerkennen imstande ist, daß jeder Einzelne nicht in die Lage versetzt ist, daß jeder Einzelne nicht in die Lage versetzt ist, sein Recht genügend und selbständig zu vertreten. Ebenso traurig ist es auch, daß nicht jeder die Forschungen der Ärzte schon als Schüler kennen lernt, um sich vor Krankheiten zu schützen, daß nicht jeder Gelegenheit hat, sich überhaupt die wichtigen, allgemein interessanten Schätze der Wissenschaften anzueignen, damit er sie im Leben praktisch nützen und anwenden kann. Die Wissenschaft muß Gemeingut der Menschheit werden und nicht nur, wie jetzt, das Gewerbe und der Ehrgeiz einzelner Weniger sein. Nicht in toten Sprachen und unverständlichen Formeln, nicht in kostspieligen, eine teure, teilweise überflüssige Vorbildung beanspruchenden Akademien sollte die Wissenschaft gelehrt werden, sondern in gemeinverständlicher, jedem Wißbegierigen zugänglicher Weise. -

Der Grund des Gelehrtenprivilegiums, die Ausübung der Wissenschaften und insbesondere der Rechtspflege für sich in Anspruch zu nehmen, liegt tief im System einer ungerechten Gesellschaftsordnung, welches darauf hinlenkt, die Macht und die Vorrechte der herrschenden und besitzenden Klassen unter allen Umständen aufrecht zu erhalten. Früher als die Besitzlosen erkannten die Bevorrechteten, daß Wissen Macht ist und schlossen durch kostspielige, zeitraubende Studien die Besitzlosen, welche einen frühzeitig lohnenden Verdienst suchen mußten und nicht in der Lage waren, Studienkosten zu bestreiten, im allgemeinen zugunsten der Besitzenden von der Gelehrsamkeit aus. Hierdurch spielten sie die wichtigsten Staatsämter und einflußreichsten Beschäftigungen, welche eine Wissenschaft voraussetzten, ohne weiteres den Besitzenden in die Hände. Diese boten eine gewisse Sicherheit dafür, daß sie im Sinne der Herrschenden handeln würden, denn sie waren in den Vorurteilen der Herrschaftsvorrechte aufgewachsen und hatten im Großen und Ganzen dieselben Interessen, wie die Herrschenden selbst. Bei den Besitzlosen, welche ganz andere Interessen und Anschauungen haben konnten, lag die Gefahr nahe, daß dieselben an den Vorrechten und Vorurteilen rütteln würden. -

In einigen entwickelteren Staaten hat man für einzelne Kategorien der Rechtspflege gemischte Gerichtshöfe, aus Gelehrten und Laien bestehend, der Herrschaft abgetrotzt, aber der Wert dieser Gerichtshöfe ist infolge der gar zu komplizierten Gesetze und der Autorität, welche der gelehrte Richter den Laien gegenüber im allgemeinen ausübt, keineswegs zu überschätzen.

Immerhin ist daran, ebenso wie an den in neuerer Zeit entstandenen, die Wissenschaft volkstümlich verbreitenden Vereinen und Hochschulen der Trieb und das Verlangen des Volkes zu erkennen, nicht länger seine wichtigsten Angelegenheiten von einer Gelehrtenkaste verwalten zu lassen, sondern vielmehr durch Eroberung der Wissenschaft eine neue, bessere Zeit der allgemeinen Aufklärung und Gerechtigkeit zu erreichen. -

Das Rechtsleben der Gegenwart hat allerdings von dieser schönen, späteren Zeit fast noch nichts an sich; es ist noch immer auf Vorurteilen und Vorrechten aufgebaut und kann so nicht dem Wohl der Menschheit dienen. Auf einer ungesunden Gesellschaftsordnung erheben sich die ebenso ungesunden Staatswesen. Die zahlreichen Mißstände des öffentlichen und privaten Lebens werden unter Beibehaltung ihrer ungesunden Grundlagen durch Gesetze bekämpft. Die Gesetze entsprechen nicht der objektiven Gerechtigkeit und der Erkenntnis wirklich notwendiger Maßnahmen, sondern dem Willen der Regierung und der in den Parlamenten am stärksten vertretenen Parteien. Die Durchführung dieser Gesetze erfolgt durch Gelehrte meist in unpraktischer, langwieriger und dem Laien nicht verständlicher Weise. Hierdurch werden Unzufriedenheit und wachsendes Mißtrauen in den einzelnen Volksschichten hervorgerufen und die Klassengegensätze verschärft. Trotz der Unmenge hoher Intelligenz, welche das Rechtsleben erfordert, sind die modernen Staaten ein trauriges Flickwerk geblieben, in welchem Elend, Not und Verbrechen der Besitzlosen unaufhörlich im Kampf liegen mit Wohlstnad, Genuß und Anmaßung der Besitzenden, in welchen weder Freiheit noch Gerechtigkeit, weder Zufriedenheit noch Glück zu finden sind. -

Wahrlich, es ist Zeit zu erwachen! Schon regt sich in den Entrechteten das Bewußtsein ihrer Kraft, schon wecken die Fanfaren einer neuen Zeit begeisterte Streiter zu einem schaffenden Kampf. Der Glaube an die Vorurteile der Herrschaft verliert immer mehr seine unheilvolle Macht. Die wachsenden Mißstände beweisen tagtäglich die Unzulänglichkeit der gegenwärtigen Einrichtungen. Ihr Fortbestehen ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Zukunft wird eine neue Welt mit neuen Anschauungen und neuen Werten entwickeln, eine Welt, deren Grundlagen Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit sind, die weder Herren noch Knechte, weder Staaten noch Gerichte kennt.

Doch unser ist der Kampf! Auf! eilen wir der Zukunft entgegen, fördern wir die Entwicklung! - Laßt uns das Saatkorn der Aufklärung in die Geister der Unwissenden senken, damit sie fähig werden, zu denken und zu handeln, laßt uns unermüdlich die Fesseln der Menschheit sprengen, dmit im Kampf des Lebens mit der toten Gewalt das sonnige Gemüt, das freie Leben Sieger bleibt, welches allen Gerechtigkeit und Glück verleiht.

Auf, Brüder und Schwestern! Es gilt die Welt zu erobern! Lange genug hat die Menschheit unter den Fesseln der Vorurteile, der Rechtsungleichheit und Ungerechtigkeit geschmachtet. Es wird nun Zeit, daß wir kämpfen und mutvoll eintreten für das in den Kot getretene Menschentum.

Kämpft, kämpft! Ich rufe euch alle zum Kampf! In euch, in uns allen liegt die Zukunft, das Glück unserer Nachkommen. Wir müssen schaffen, damit spätere Menschengeschlechter frei von Zwang und Herrschaft leben können. Nicht mit roher Gewalt, sondern mit einem kraftvollen Eintreten der Persönlichkeit für das Rechte wird Gerechtigkeit geschaffen. Bedenkt, ihr Mitbesitzer der Erde, wieviel euch von eurem Besitz geblieben ist. Berechnet, wieviel euch die verkehrten Einrichtungen der Vergangenheit und der Gegenwart von eurem Anteil an Glück und Recht geraubt haben, wieviel sie euch täglich noch rauben. Denkt nach, ob es recht ist, daß die Menschheit in gesetzlichen Fesseln unter der Fuchtel der Herrschaft leben muß, - ob es nicht besser, ob es nicht möglich wäre, daß die Fülle der heutigen Gesetze und Zwangsmittel ersetzt werden, durch den guten Willen und die freie Vereinbarung der Menschen.

Ist denn der Mensch, der es fertig brachte, die Erde für sich zu gewinnen, der alles Irdische mit seiner Geisteskraft besiegte, dem sogar die Natur tritbutpflichtig wurde, - ist dieser Mensch wirklich ein so greuliches Untier, daß er stets gehütet, bewacht und gezüchtigt werden muß von seinesgleichen? - Sprecht mir nicht davon, daß die Verschiedenheit der Menschen und die Konkurrenz ihrer Bestrebungen eine zwangsweise Regelung ihrer Lebensäußerungen bedingt. Sprecht nicht davon, daß die denkfaule Masse mit Zwang zurückgehalten werden muß, um nicht schädlich zu wirken. Ich sage euch: die Verschiedenheit der Menschen ist nicht der Grund ihrer schlechten Einrichtungen und ihrer oft ungerechten Lebensäußerungen, vielmehr ist es gerade der hemmende, auf die Menschen ausgeübte Zwang, der ihre natürlichen, geselligen Triebe erstickt, der viele hindert, nützlich zu wirken. In der Gesamtheit der Menschen stellt gerade die Verschiedenheit der Individualitäten die Grundlage des friedlichen Beisammenlebens, die glückliche Ergänzung und Befruchtung der Bestrebungen der einzelnen Menschen dar. Ihr verdanken wir die große technische Kultur unserer Zeit; warum sollte sie bei freier Wirkungsmöglichkeit nicht auch eine ethische und ökonomische Kultur hervorbringen können? - Was nun die Masse betrifft, so wird sie wohl immer bestehen, aber auch sie wird sich in demselben Maß, wie die übrige Menschheit sich andere vom Elend der Herrschaft des Vorurteils und der Lüge zu befreien. Wenn wir auf diese Weise unverzagt und konsequent vorwärtsschreiten, ist der Erfolg unseres Strebens gesichert. Wohl wird noch manches Opfer fallen, wohl wird noch lange Zeit vergehen, ehe wir siegen. Vielleicht werden wir sowenig wie unsere Kinder und Kindeskinder die Früchte unseres Strebens genießen. Doch einmal kommt der Tag des Sieges, einmal fallen die Ketten des Zwangs, aus den Trümmern der Zwingburgen ersteht eine neue Welt der Gerechtigkeit und Wahrheit. Über den Gräbern der Freiheitskämpfer wird ein freies, glückliches Menschengeschlecht erblühen, welches keine Gewalt, keine Herrschaft mehr kennt.
LITERATUR - Ernst Pieron, Gibt es Gerechtigkeit?, Berlin 1906