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OTTO RITSCHL
(1860 - 1944)
Über Werturteile
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"Im Reich der Zwecke, hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde."

"Der sittliche Trieb, der idealer Art ist, geht nicht bloß auf ein einzelnes Begehren und Wollen, sondern auf eine Wertgesetzgebung im Dasein der Dinge überhaupt und nimmt zunächst nicht die Naturansicht der Dinge, sondern die Idealansicht, den Vernunftglauben, in Anspruch und belebt diesen zum sittlichen Glauben. Nur in Verbindung mit diesem höchsten und reinsten Wertgefühl ist der Glaube ganz und vollkommen und ist von ihm nur in der Abstraktion zu trennen."


1. Historische Übersicht

Die Erkenntnis derjenigen Erscheinungen des geistigen Lebens, die bezeichnet werden sollen, wenn von Werturteilen oder von Wertbeurteilungen die Rede ist, hat eine doppelte geschichtliche Wurzel. Sie führt teils auf LUTHER, teils auf KANT zurück. LUTHER hat das charakteristische Merkmal der religiösen Erkenntnis oder des Glaubens darin entdeckt, daß die zu erkennenden oder zu glaubenden Objekte der christlichen Religion für das religiöse Subjekt notwendig zugleich Gegenstände eines unvergleichlichen Interesses sind. Da nun diese Anschauung Luthers in der letzten Zeit nicht selten verhandelt worden ist, begnüge ich mich damit, sie nur mit einem Zitat zu belegen: "Es ist nicht genug, daß einer glaubt, es sei Gott, CHRISTUS habe gelitten und dgl.; sondern er muß festiglich glauben, daß Gott ihm zu der Seligkeit ein Gott sei; daß CHRISTUS für ihn gelitten hab, gestorben, gekreuzigt, auferstanden sei, daß er sein Sünd für ihn getragen hab" (E. A. 22, 136). In diesen und ähnlichen Aussprüchen LUTHERs wird deutlich der Wert hervorgehoben, den das gläubige Subjekt den Objekten des Glaubens beilegt. Aber der Ausdruck Wert, geschweige der Terminus Werturteil fehlt noch unter den LUTHER geläufigen Bezeichnungen für die angegebenen Erscheinungen.

Die Anfänge dieser Nomenklatur finden sich vielmehr erst bei KANT, treten bei ihm jedoch im Zusammenhang mit anderen Gedanken auf. Die Frage nach dem Wert der Menschen und der Dinge in der Welt ist für KANT überhaupt die entscheidende in seiner ganzen Weltanschauung. Sie hängt aufs engste zusammen mit der andern Frage nach den Zwecken des menschlichen Handelns. Indem sich ihm diese aber zuspitzt zur Frage nach dem Endzweck in der ganzen Welt, kommt es ihm vor allem auf den moralischen oder den höchsten Wert an, damit daran das wirklich Gute, d. h. das sittlich Gute festgestellt werde. So engt sich der Sprachgebrauch ein. Der Ausdruck Wert wird mehr und mehr im besonderen absoluten Sinn und seltender im allgemeinen relativen Sinn angewandt. "Im Reich der Zwecke", sagt (1) KANT, "hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was, auch ohne ein Bedürfnis vorauszusetzen, einem gewissen Geschmack, d. i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemütskräfte gemäß ist, einen Affektionspreis; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen innern Wert, d. i. Würde" (2) An einem andern Ort (3) sagt KANT, das Talent habe einen Marktpreis, das Temperament einen Affektionspreis, der Charakter "einen inneren Wert und ist über allen Preis erhaben."

Die psychologische Begründung dieser Distinktionen bietet KANT in folgender Erklärung (4): "Angenehm heißt jemandem das, was ihn vergnügt; schön, was ihm bloß gefällt; gut, was geschätzt, gebilligt, d. i. worin von ihm ein objektiver Wert gesetzt wird." Die hier abgestuften drei Gebiete des Angenehmen, des Schönen und des Guten hat nun KANT keiner gleichmäßigen psychologischen Behandlung unterzogen. Er lehrt, daß Urteile über das Angenehme und über das Schöne zustande kommen, indem bei den ersten mittels Empfindung ein Interesse oder eine Neigung sehr erheblich mitwirke, bei den andern der gegen jedes Interesse gleichgültige Geschmack wesentlich ausschlaggebend sei. Es handelt sich also in beiden Fällen nach KANTs Ansicht um Vorgänge zusammengesetzter Art. Der Verstand, der das Urteil des Angenehmen oder des Schönen abgibt, ist dabei nicht der einzige Faktor, sondern er ist, damit jene Urteile überhaupt vollzogen werden können, teils an die Mitwirkung der auf Empfindungen ruhenden Begierde, teils an die des Geschmacks gebunden. Einen bemerkenswerten Ausdruck empfängt dieser Sachverhalt, indem KANT für die Urteile der zweiten Art den Begriff des Geschmacksurteils gebildet hat, das "sowohl ein ästhetisches, als ein Verstandesurteil" sei, "aber in beider Vereinigung (mithin das letztere nicht als rein) gedacht". (5)

Wenn es sich nun im Sinne KANTs mit der dritten Art von Urteilen, denjenigen über das sittlich Gute oder über den sittlichen Wert von Personen, Gesinnungen und Handlungen ähnlich verhielte, wie in den Gebieten des Angenehmen und des Schönen, so könnte man es vielleicht auffallend finden, daß nicht schon KANT selbst in der Analogie seines Begriffs von einem Geschmacksurteil auch den Terminus Werturteil geprägt hat. Daß dies aber nicht geschehen ist, hat seinen guten Grund. Das sittliche Urteilen und das dadurch bestimmte gute Handeln sind für KANT eben keine komplizierten, sondern durchaus einfache psychische Vorgänge. "Reine Vernunft", so erklärt er (6), "muß für sich allein praktisch sein, d. i. ohne Voraussetzung irgendeines Gefühls, mithin ohne Vorstellungen des Angenehmen oder Unangenehmen, als der Materie des Begehrungsvermögens, die jederzeit eine empirische Bedingung der Prinzipien ist, durch die bloße Form der praktischen Regel den Willen bestimmen können". Es darf also "gar keine besondere Art von Gefühl, unter dem Namen eines praktischen oder moralischen, als vor dem moralischen Gesetz vorhergehend und ihm zu Grunde liegend angenommen werden." Erst in Folge des sittlichen Urteils entspringt vielmehr das Gefühl der Achtung, das lediglich durch die Vernunft bewirkt ist. "Es dient nicht zur Beurteilung der Handlungen oder wohl gar zur Gründung des objektiven Sittengesetzes selbst, sondern bloß zur Triebfeder, um dieses in sich zur Maxime zu machen". Das "geistige Gefühl der Achtung für moralische Ideen" ist ferner weder ein Gefühl der Lust noch der Unlust, es ist also auch "kein Vergnügen, sondern eine Selbstschätzung (der Menschheit in uns), die uns über das Bedürfnis desselben erhebt." (7) Denn die Verfolgung des moralischen Gesetzes gibt der Person in ihren eigenen Augen einen unmittelbaren Wert. (8) Sie ist damit auch der Grund dafür, daß der Mensch als Subjekt der Moralität zugleich der Endzweck der Schöpfung ist. (9)

Nach diesen Normen bemißt sich endlich auch der Wert aller anderen Dinge in der Welt. Es ist nicht das Erkenntnisvermögen oder die theoretische Vernunft, in Bezug worauf "das Dasein alles übrigen in der Welt allererst seinen Wert bekommt, etwa damit jemand da sei, welcher die Welt betrachten könne". Denn daraus, daß die Welt erkannt wird, kann ihrem Dasein kein Wert erwachsen. Vielmehr kann erst unter der Voraussetzung eines Endzwecks die Weltbetrachtung selbst einen Wert haben. Ebensowenig kann nach dem Gefühl der Lust oder nach der Glückseligkeit der absolute Wert geschätzt werden. Denn der Mensch "muß schon als Endzweck der Schöpfung vorausgesetzt werden, um einen Vernunftgrund zu haben, warum die Natur zu seiner Glückseligkeit zusammenstimmen müsse, wenn sie als ein absolutes Ganzes nach Prinzipien der Zwecke betrachtet wird ... Sondern der Wert, welchen der Mensch allein sich selbst geben kann und welcher in dem besteht, was er tut, wie und nach welchen Prinzipien er, nicht als Naturglied, sondern in der Freiheit seines Begehrungsvermögens handelt, d. h. ein guter Wille ist dasjenige, wodurch sein Dasein allein einen absoluten Wert und in Beziehung auf welches das Dasein der Welt einen Endzweck haben kann". Dieser Kern der Moral ist auch der Grund der Religion, zu welcher jene unumgänglich führen soll. (10) Denn nach KANT hat die Religion ihr Wesen darin, daß sie "die Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote" ist. (11)

KANT nennt (12) einmal das Sittengesetz "allein wahrhaftig, nämlich in aller Absicht objektiv". In diesem Ausspruch liegt der Schlüssel für das Verständnis seines Begriffs vom Wert und der konkreten Anwendungen, die er diesem Gedanken gibt. Wenn KANT die Dinge unter dem Gesichtspunkt des Wertes beurteilt, so meint er eben, in seinem Begriff vom Sittengesetz einen absolut zuverlässigen objektiven Maßstab zu besitzen, wonach sich die verschiedenen Werte in der Welt je nach ihrer Würde oder nach ihrem Preis ordnen lassen. Das Sittengesetz soll aber nach seiner Meinung lediglich aus der reinen Vernunft herstammen und auch allein um seiner formalen Gesetzmäßigkeit willen eine die Handlungsweise der Menschen verbindende Kraft besitzen. Hier liegt nun der Grundirrtum, den KANT freilich nur mit der Denkweise seines ganzen Zeitalters teilt. Nämlich auch KANT ist gerade in der psychologisch wichtigsten Frage der Ethik Intellektualist. Gedanken der reinen Vernunft sollen nach seiner ausdrücklich und oft von ihm bezeugten Ansicht ohne Mitwirkung von Gefühlen der Lust oder Unlust den menschlichen Willen ausschlaggebend bestimmen können. Daher hat er auch die Beziehung nicht erkannt, die zwischen jeder Wertgebung der Vernunft und dem wertempfindenden Subjekt obwaltet, sofern dieses eben nicht nur erkennt, sondern immer zugleich auch ein fühlendes und aufgrund von Gefühlen begehrendes Ich ist. Und daher erklärt es sich auch, daß KANT noch nicht den Begriff des Werturteils gefunden hat, obgleich übrigens wichtige Voraussetzungen dazu bei ihm bereits vorhanden sind.

Der Fortschritt über KANT hinaus wurde durch den Gewinn von richtigeren psychologischen Grundanschauungen angebahnt. Gegen die gerade noch von KANT gepflegte Theorie von den Seelenvermögen trat vor allem HERBART auf, indem er vielmehr die Einheit der Seele betonte (13) und auch einmal aussprach (14), daß von den drei Tätigkeiten der Seele, Vorstellen, Fühlen und Begehren, keine die andere ganz verdränge, da vielmehr jede fast immer auch die beiden andern in sich schließe. Dann freilich erklärt HERBART die Begierden und Gefühle nur für Arten und Weisen, wie unsere Vorstellungen sich im Bewußtsein befinden und damit nähert er sich wieder einer intellektualistischen Grundauffassung. Dennoch hat er, teils hinter KANTs Erkenntnis von der Mitwirkung des Gefühls bei den Urteilen über das Angenehme und das Schöne zurückbleibend, teils die Auffassung KANTs vom Verhältnis der Moral zur Religion berichtigend, den prinzipiellen Unterschied beachtet und klarzustellen versucht, der zwischen den von ihm so genannten theoretischen und ästhetischen Urteilen obwaltet. Theoretisch nennt er nämlich solche Vorstellungen, deren Gegenstand als ein gleichgültiger gedacht wird; ästhetisch sind dagegen nach seiner Ansicht die Urteile, welche, vermöge eines "unwillkürlichen, willenlosen Vorziehens oder Verwerfens", "das Prädikat der Vorzüglichkeit oder Verwerflichkeit unmittelbar und unwillkürlich, also ohne Beweis und ohne Vorliebe oder Abneigung den Gegenständen beilegen". (15) Solche ästhetische Urteile liegen unter anderem auch den moralischen zugrunde. Denn aus jenen erzeugt sich stets der Vorsatz, mit dem die nunmehr folgenden Begierden und Handlungen zu vergleichen, das Wesen eines moralischen Urteils ist. Und so kommt auch den Taten und den sich darin äußernden Gesinnungen ihr Wert oder Unwert aus den unwillkürlichen ästhetischen Urteilen zu. Eine Mitwirkung des Gefühls wird aber bei diesen Vorgängen nicht angenommen. Die Wertgebung selbst erscheint vielmehr von Lust und Unlust unabhängig. Dagegen ist es wichtig, daß HERBART die religiösen Begriffe als eine besondere Art der ästhetischen auffaßt. "Die Religion", sagt er, "macht außer dem moralischen Eindruck noch einen ästhetischen; und das ist ihr so wesentlich, daß, wenn sie gar nicht ästhetisch wirken sollte, sie auch gar nicht moralisch wirken könnte. Denn hinter den moralischen Begriffen liegen notwendig, als erste Grundvoraussetzung, ästhetische Begriffe verborgen." So aber erscheint die Religion umgekehrt wie bei KANT als eine Voraussetzung der Moral, wie denn auch HERBART meint, daß selbst "Männer von strengen Grundsätzen und von geordneter Lebensführung ... sich stillschweigend in ihrem Innern sehr fest an die Stütze der Religion anlehnen", die er freilich sonst nur als eine Ergänzung der Moral zu bezeichnen pflegt.

Wenn der Verdienste HERBARTs um die uns hier beschäftigenden Fragen gebührenderweise gedacht wird, so dürfen daneben diejenigen SCHLEIERMACHERs nicht übersehen werden. Dieser hat zunächst die wohl unabhängig von jenem gewonnene psychologische Grundansicht, daß die Seele in ihren verschiedenen Äußerungen stets ein und dieselbe sei, dahin entwickelt, (16) daß uns das psychische Leben stets "erscheint als ein Oszillieren zwischen den überwiegend aufnehmenden und überwiegend ausströmenden Tätigkeiten, so daß in der einen immer ein Minimum der andern mitgesetzt ist, und das Ganze sich darstellt als eine fortwährende Zirkulation, in welcher die Einwirkungen von außen her das einzelne Leben anregen unter der Form der Empfänglichkeit und dann das Leben sich steigert zur Selbsttätigkeit, die in einem Ausströmen sich endigt, bis dann wieder Einwirkungen von außen kommen." Mit diesen Grundgedanken stehen andere psychologische Wahrheiten im Zusammenhang, die SCHLEIERMACHER erkannt hat, wie daß wir uns den Menschen auch in seinen leidhaften Zuständen immer nur als selbsttätig denken können. (17) Andererseits waren SCHLEIERMACHER auch die von KANT angeregten Gedanken über den wahren Wert und die Würde des Menschen, über das Gefühl der Achtung, über den Unwert des Strebens nach Glückseligkeit und Wohlbefinden geläufig. Namentlich in seinen Predigten (18) begegnet uns nicht selten diese Betrachtungsweise, die nur im Unterschied von derjenigen KANTs mehr und mehr religiös motiviert wird. Doch hat SCHLEIERMACHER von diesen Ideen bekanntlich keinen Gebrauch gemacht, um darauf die Theorie der Religion zu gründen.

In dieser Hinsicht ist dagegen de WETTE in die Spuren von KANT getreten. "Wir erkennen nicht bloß", so erklärt er (19), "das Dasein der Dinge, wir geben ihnen auch einen Wert und diese Wertgebung treibt uns zur Handlung, indem uns der Wert Zweck wird. Die Wert- und Zweckbeurteilung der Dinge aber ist verschieden und steigt stufenweise in verschiedenen Lustgefühlen und Trieben vom Sinnlichen zum Geistigen auf." Den höchsten und unbedingten Wert und Zweck, lehrt nur de WETTE, "halte ich nur im höchsten Wohlgefallen am Guten und in der Achtung der persönlichen Würde fest." Dazu kommt aber noch ein anderer Trieb der Vernunft, "der ihrem innersten Wesen angehört und darum der vernünftige oder selbständige in höchster Bedeutung heißt, nach welchem ich dem Dasein der Vernunft schlechthin den höchsten Wert beilege, ihr persönliche Würde gebe und in der Achtung dieser Würde das Guten in der höchsten Bedeutung finde. Die Forderungen dieses Triebes sind Pflichten und nicht Erfahrungssache, sondern aus der innersten Natur des Geistes entspringende, mit Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit gegebene Gesetze". Der sittliche Trieb, der idealer Art sei, heißt es weiter (§ 21), "geht nicht bloß auf ein einzelnes Begehren und Wollen, sondern auf eine Wertgesetzgebung im Dasein der Dinge überhaupt und nimmt zunächst nicht die Naturansicht der Dinge, sondern die Idealansicht, den Vernunftglauben, in Anspruch und belebt diesen zum sittlichen Glauben. Nur in Verbindung mit diesem höchsten und reinsten Wertgefühl ist der Glaube ganz und vollkommen und ist von ihm nur in der Abstraktion zu trennen."

So unverkennbar in diesen Ausführungen die Einflüsse KANTs auf Gedankenbildung und Sprachgebrauch de WETTEs sind, so hat dieser doch die von jenem noch ausdrücklich abgelehnte Kombination zwischen der Wertgebung der Vernunft und dem Gefühl vollzogen, vermöge dessen das Subjekt allerdings in erster Linie seinen eignen Wert empfinden soll. In diesem Zusammenhang hat de WETTE die Ausdrücke Wertgefühl und Wertbeurteilung, wenn auch noch nicht den Terminus Werturteil gebildet. Indessen sind doch die mitgeteilten Gedanken nicht das letzte Wort, das jener Theologe in der Dogmatik redet, da er neben und über dem Glauben noch die religiöse Ahnung annimmt. Dadurch wird aber nachträglich die Bedeutung jener Entwicklungen abgeschwächt.

Die folgende Generation von Theologen hat aus Gründen, auf die hier nicht eingegangen werden kann, dem Problem der Wertbeurteilung in der Religion keine Aufmerksamkeit und Arbeit zugewandt. Allerdings gilt in Folge von teilweise mißverstandenen Anregungen SCHLEIERMACHERs das Gefühl oder auch das Gemüt als das eigentliche, geradezu neu entdeckte Organ der Religion. Aber die psychologische Grund der Pektoraltheologie [Herztheologie - wp], deren Spekulationen andererseits von den in der HEGELschen Schule aufgebrachten Fragestellungen abhängiger sind, als man gewöhnlich annimmt, ist überwiegend unzureichend. So hat ROTHE, der dabei freilich wohl einen richtigen Gedanken im Sinne hatte, doch in bemerkenswerter psychologischer Unklarheit einmal folgenden Ausspruch getan, dessen Inhalt in die hier zu verhandelnden Fragen einschlägt: "Sehr vielen", so klagt er (20), "kommt gar kein Gedanke daran, daß wir auch mit dem Gefühl erkennen, daß die Funktion des Gefühls auch ein Erkennen ist. Wehe unserem Geschlecht, wenn sie Recht hätten! Wie erkenntnislos wäre doch die unermeßliche Mehrzahl der Menschen, wenn das Erkennen mit dem Verstand, das denkende Erkennen die einzige Weise des Erkennens wäre, - wie erkenntnislos namentlich in Ansehung der übersinnlichen Gegenstände, in Ansehung gerade derjenigen Dinge, ohne deren Erkenntnis eine menschenwürdige Existenz gar nicht möglich ist."

Von großer Tragweite für die Einsicht in das Wesen des religiösen Erkennens sind dann die Beobachtungen und Forschungen von LOTZE gewesen. Dieser teilt, wohl von HERBART darin angeregt, doch mehr mit SCHLEIERMACHER die richtige psychologische Grundansicht, die er nur konkreter und lebendiger entwickelt hat. Er erklärt (21) die sogenannten Seelenvermögen als verschiedenartige Ausdrücke eines und desselben Wesens und lehrt, daß die ganze Seele in jeder Form des Wirkens tätig sei. Er kombiniert ferner, doch in klarerer Weise, als de WETTE, die Anerkennung von Werten und Unwerten mit dem Gefühl, das er ausschließlich als Lust oder Unlust bestimmt wissen will. "Es gibt gar keinen Wert oder Unwert", erklärt er (22), "der ansich einem Ding zukommen könnte; beide existieren bloß in Gestalt von Lust und Unlust, die ein gefühlsfähiger Geist erfährt". An jeden Eindruck überhaupt knüpft sich ferner ein Gefühl des Wertes. (23) Und so ist auch ursprünglich keine Vorstellung gleichgültig, sondern "der an ihr haftende Wert von Lust oder Unlust entgeht nur unserer Aufmerksamkeit, weil im ausgebildeten Leben der Sinn und die Bedeutung, welche die Eindrücke für unsere Lebenspläne haben, uns wichtiger geworden ist, als die Überlegung des Eindrucks selbst". "Jeder wirkliche Fall der Lust" ist dagegen "nur Anerkennung und Genuß des eigenen spezifischen Wertes, den  seine  Veranlassungsursache verschieden von der Ursache jeder anderen Lust besitzt. (24) Im Gefühl für den Wert der Dinge besitzt aber die Vernunft "eine ebenso ernst gemeinte Offenbarung, wie sie in den Grundsätzen der verstandesmäßigen Forschung ein unentbehrliches Werkzeug der Erfahrung hat". (25) Demgemäß unterscheidet LOTZE endlich die Welt der Gestalten oder der Formen von der Welt der Werte, die er auch einmal dem Reich der Zwecke gleichsetzt.

Auch von anderen neueren Philosophen wird der Begriff des Wertes in der oder jener Weise verwendet und teilweise auch der Ausdruck Werturteil gebraucht. (26) Auf diese Lehrbildungen näher einzugehen fehlt hier der Anlaß, da von ihnen bisher noch keine ersichtliche Rückwirkung auf die Theologie ausgegangen ist. Dagegen hat, angeregt von LOTZE, zum erstenmal (27) wieder nach de WETTE, ALBRECHT RITSCHL den Gedanken des Wertes mit Nachdruck in der Theologie geltend gemacht. Dieser Gesichtspunkt erscheint bei ihm in einer doppelten Anwendung. Einmal handelt es sich um den eigentümlichen Wert, den sich das christliche Subjekt in der religiösen Selbstbeurteilung beilegt (28). Das ist inhaltlich verselbe Gedanke, der sich bereits bei KANT und de WETTE findet, den aber RITSCHL, von beiden abweichend und vielmehr in Übereinstimmung mit SCHLEIERMACHER ausdrücklich religiös motiviert, indem er ihn auf das Herrenwort Mc. 8, 36.37 [??] zurückführt. Insofern ist jedoch diese Wertbeurteilung von einer andern abhängig. Das ist die spezifisch religiöse Betrachtung, dergemäß z. B. die Vorstellungen von der Gottheit CHRISTI ihre religiöse Art daran haben, "daß sie den Wert CHRISTI in der von ihm eingeführten Weltanschauung und für die damit zusammenhänges Selbstbeurteilung bezeichnen". Wesentlich auf diese Anwendungen bleibt die Wertbeurteilung in der 1. Auflage der Rechtfertigungslehre beschränkt. In den folgenden Auflagen werden dann dieselben Gedanken weiter entwickelt und auch auf die Erörterung anderer Fragen ausgedehnt. Nun wird auch der bequeme, aber freilich mehrdeutige Ausdruck Werturteil gebraucht, der in der 1. Auflage noch fehlt. Soweit ich die einschlägige Literatur übersehe, ist es aber gar nicht RITSCHL, sondern WILHELM HERRMANN gewesen, der diesen manchen Philosophen (29) bereits geläufigen Terminus in den theologischen Sprachgebrauch eingeführt hat.

Bei HERRMANN findet sich nun wieder einerseits der kantische Gedanke von der über alle Natur erhabenen Würde des Menschen, die diesem in einem Wertgefühl, d. h. in einem Gefühl von seinem eigenen Wert, zu Bewußtsein kommt. (30) Andererseits läßt HERRMANN durch dieses Selbstgefühl des Menschen fernere Werturteile begründet sein, vermöge deren überhaupt gewisse Dinge lediglich um ihres Wertes willen als wirklich gesetzt werden. So wurzelt nach seiner Meinung auch der "Geltungswert des religiösen Objekts allein in einer bestimmten Energie des Selbstgefühlts". Die Objektivität der Glaubensobjekte selbst ruht aber "auf der Tatsachee  der  Person JESU und ihrem Verhältnis zu den Bedürfnissen des sittlichen Menschengeistes.

Wenn nach HERRMANNs Ansicht durch die Werturteile als solche, wegen des darin ausgesagten Wertes irgendwelcher Dinge, diese als wirklich gesetzt werden sollen, so steht seine Auffassung derjenigen RITSCHLs nicht so nahe, wie der Anschauung und dem Sprachgebraucht KAFTANs. Während sich jener nämlich der Formeln bedient, daß das religiöse Erkennen in Werturteilen verlaufe (31) oder daß die religiösen Urteile eine besondere Klasse von selbständigen Werturteilen seien, so behauptet KAFTAN (32) im Widerspruch damit, daß vielmehr den religiösen Urteilen Werturteile zugrunde liegen, daß sie selbst aber wesentlich theoretische Sätze seien, und "daß auch die Wertbeurteilung der Welt im Zusammenhang des religiösen Glaubens, indem sie an den Gottesgedanken angeknüpft werde, sich aus theoretischen Sätzen von objektiver Bedeutung zusammensetze, welche aus der Erkenntnis Gottes abgeleitet oder begründet werden." Dieser Auffassung hat sich auch SCHEIBE in den fraglichen Punkten angeschlossen. Seine Erörterungen gelangen im Einklang damit zu dem Ergebnis, daß die Urteile des religiösen Erkennens "Postulate aufgrund von Werturteilen" seien. (33)



2. Der psychologische Begriff der Werturteile

Indem ich mich nun der Frage nach den Werturteilen selbst zuwende, sehe ich zunächst vom religiösen Erkennen nach gänzlich ab. Es scheint mir nämlich vor allem anderen wesentlich darauf anzukommen, daß ein stichhaltiger psychologischer Begriff von den Werturteilen gewonnen werde. Insofern darf von jedem, der die verschiedenen intellektualistischen Theorien über das menschliche Seelenleben für Irrungen ansieht, das Zugeständnis erwartet werden, daß es ein Erkennen gibt, bei welchem nicht ausschließlich die intellektuelle Funktion oder der Verstand oder die Vernunft sich in Tätigkeit befindet. Dann aber wir im Anschluß an SCHLEIERMACHER und an LOTZE (34) als Grundlage der ferneren Untersuchungen auch der Satz behauptet werden dürfen, daß die einheitlich zu denkende Seele in jedem Moment, in dem die eine oder die andere ihrer Funktionen wirksam ist, auch mit allen ihren übrigen Fähigkeiten zugleich beteiligt ist. Gewiß überwiegt das eine Mal die vorstellende, ein andermal die fühlende und dann wieder die strebende oder wollende Kraft der Seele. Aber die jeweilig vorherrschende Wirkungsart ist immer in irgendeinem Grad von den beiden anderen Wirkungsarten begleitet.

Dieser Sachverhalt ist völlig klar, wenn wir ein Subjekt in der Richtung des Wollens tätig denken. Denn wenn jemand etwas will, verfolgt er damit einen Zweck. Dieser muß, um überhaupt Zweck zu sein, in Gedanken vorgestellt werden. Daß er aber tatsächlich auch erstrebt wird, ist durch Gefühle bedingt, die ihn erstrebenswert erscheinen lassen. Weniger einfach scheint es sich mit dem Fühlen zu verhalten. Denn es sind allerdings Gefühle der Lust oder der Unlust denkbar, die weder mit einer Vorstellung verbunden sind, noch bestimmte Willenstriebe anregen. Aber solcher Gefühle, die sich nicht unmittelbar oder wenigstens alsbald in Vorstellungen ausdrücken, kann sich der Mensch auch nicht bewußt werden, da ein Bewußtsein ohne Vorstellungen gar kein wirkliches Bewußtsein sein würde. Wenn dagegen häufig Gefühle, ohne daß ihnen Bewegungen des Wollens folgen, beobachtet werden können, so lassen sich diese Erscheinungen entweder so erklären, daß das im Fühlen zugleich latente Wollen nur unentwickelt bleibt oder man kann mit WUNDT (35) und PAULSEN (36) das Fühlen und Wollen als verschiedene Entwicklungsstufen eines und desselben Geschehens auffassen. Es kommt hier nicht darauf an, zu dieser Frage Stellung zu nehmen, da in beiden Fällen das Wollen nicht unabhängig vom Fühlen gedacht wird.

Schließlich ist die vorstellende Tätigkeit der Seele, besonders auf der Stufe des auf ein Wissen abzielenden Erkennens, durch das uralte Vorurteil des Intellektualismus belastet, als ob sie isoliert von den beiden andern wirksam sein kann und muß. Der Grund dafür sind Ansprüche, die man allerdings mit einem gewissen Recht an das wissenschaftliche Erkennen stellt. Denn in demselben Maße, als dieses nicht ausschließlich,ohne alle Mitwirkung subjektiver Liebhabereien und Wünsche, die ihm zur Untersuchung gegebenen Objekte in ihrer Eigenart zu vergegenwärtigen bestrebt ist, wird sein Erfolg durch die überwindende Wahrscheinlichkeit unrichtiger Ergebnisse gefährdet. Mag man aber auch den berufsmäßigen Vertretern der Wissenschaft das bekanntlich ohne sehr anstrengende Übung gar nicht erreichbare Ziel vorbehalten, lediglich mit dem Verstand zu arbeiten, so fragt es sich doch einmal, innerhalb welcher durch die Gesetze des Erkennens und die Erkenntnisobjekte selbst gegebener Grenzen ein solches lediglich theoretisches Denken überhaupt möglich (37) und zweckmäßig ist. Anderersiets ist aber weitaus die Mehrzahl der Menschen zum Betrieb des reinen Erkennens weder berufen noch gerade erheblich befähigt. Denn tatsächlich wird von dieser großen Mengee ein dem wissenschaftlichen Erkennen verwandtes Denken nur in sehr beschränktem Umfang ausgeübt. Zunächst sind die Frauen im Allgemeinen wegen der natürlichen Stärke ihres Gefühlslebens jener Leistung nicht eben gewachsen. Aber auch Männer mit starken Gefühls- und Triebleben werden immer nur in begrenztem Maße die Fähigkeit wissenschaftlicher Objektivität erreichen.

Am wichtigsten scheint mir indessen die Tatsache zu sein, daß die Kinder, wenn sie allmächlich die Dinge ihrer Umgebung und ihr eigenes Inneres kennen und beurteilen lernen, sich niemals in wissenschaftlichen oder theoretischen Urteilen ergehen. Wenn ein Kind neue Eindrücke aus der Außenwelt in sich aufnimmt, geschieht dies vielmehr regelmäßig unter sehr deutlicher Mitwirkung der Freude oder der Abneigung, des Begehrens oder des Abscheus. Und wenn es bereits bekannte Dinge, die ihm nicht etwa durch den steten Verkehr mit ihnen gewohnt worden sind, wiedererkennt, so vollzieht sich auch dieser Vorgang unter deutlichen Äußerungen seiner zugleich dadurch erregten Gefühle. Aus solchen Tatsachen, die ich wohl kaum durch Beispiel zu belegen brauche, kann nun meines Erachtens geschlossen werden, daß von Haus aus die beginnende und fortschreitende Wahrnehmung der Außenwelt oder die ursprüngliche Aufnahme und Verarbeitung von Vorstellungen auf das Engste verbunden ist mit der unmittelbar zugleich stattfindenden Erregung von Gefühlen, die sich auf denselben Gegenstand beziehen, der kennen gelernt oder wiedererkannt wird. Also in den ersten Standien, in denen der Mensch Bekanntschaft mit den Dingen seiner Umgebung macht, ist sein Wahrnehmen und Vorstellen untrennbar mit korrelaten Gefühlen vereinigt. Da nun jedes Gefühl, wie LOTZE richtig lehrt, zugleich einen Wert oder Unwert für das fühlende Subjekt bezeichnet, da aber die mit solchen Gefühlen unmittelbar zusammenhängenden Verbindungen von Vorstellungen oder Urteile mit gutem Grund als Werturteile (38) bezeichnet werden können, so folgt daraus, daß die Kinder bis zu einem gewissen Zeitpunkt überhaupt nur in Werturteilen erkennen. Diese Art der Erkenntnis ist also die ursprüngliche, die der Mensch ausübt. Und soweit sich auch im späteren Leben manche Personen eine ursprüngliche Frische und rege Empfänglichkeit bewahren, vollziehen sie in demselben Grad gleichfalls ein Erkennen und Urteilen in Werturteilen. Ich brauche mich auch hierfür nur wieder auf die Frauen zu berufen, mit deren Gemütsart in diesem Punkt diejenige von poetisch, ästhetisch und religiös besonders begabten Männern verwandt ist.

Daß jedoch diese Art zu erkennen und zu urteilen auf die Dauer nicht die ausschließliche bleibt, rührt einmal von der Macht der Gewohnheit her. Dinge, an die wir uns gewöhnen, regen unser Gefühl immer weniger auf. Sie werden uns also allmählich indifferent, und sie hören nur dann etwa auf uns gleichgültig zu sein, wenn sie uns plötzlich entzogen werden. So können auch Gedanken und Gedankenverbindungen des Kindes, die ursprünglich in der Form von Werturteilen Gestalt gewonnen hatten, nach und nach diesen Charakter verlieren. Dann tritt das fühlende Element zurück, und das Phlegma der Vorstellung bleibt allein noch übrig. Solche ihres Gefühlsinhalts entkleidete Vorstellungsgruppen und Urteile möchte ich als Gewohnheitsurteile bezeichnen und von den eigentlich theoretischen Urteilen, wie sie in der Wissenschaft erstrebt werden, ausdrücklich unterschieden wissen. Es sin die Urteile und Kenntnisse des gemeinen Lebens, soweit diese auf der unmittelbaren Erfahrung des Einzelnen beruhen, und nicht etwa schon aus irgendeiner Wissenschaft mittels popularisierender Unterweisung in den Gedankenkreis eines einfachen Menschen übergegangen sind. Jene Unterscheidung selbst aber möchte ich dadurch rechtfertigen, daß alle Gewohnheitsurteile als der Niederschlag ursprünglicher Werturteile wegen ihres durchaus unwissenschaftlichen Charakters der wirklichen Wissenschaft inhaltlich stets verdächtig sein müssen, bis ihre methodische Nachprüfung etwa eine Bestätigung des in ihnen enthaltenen gewöhnlichen Wissens ergibt. Daß umgekehrt aber die Wissenschaft auch oft die Richtigkeit der herrschenden und mehr oder weniger allgemein gehegten Gewohnheitsurteile widerlegt, und sie durch bessere Kenntnisse ersetzt, ist eine nur allzu bekannte Tatsache.

Die Grundsätze und Mittel des theoretischen Erkennens der Wissenschaft sind eben durchaus andere, als die urwüchsige Praxis der Werturteile, aus denen das primitive Wissen entspringt. Dazu aber, daß jemand theoretisch denken und urteilenlernt, bedarf es einer Fähigkeit, von den konkreten Dingen zu abstrahieren, die immer nur das Ergebnis einer strengen Geisteszucht und Schulung ist. Gewiß mögen manche Individuen eine natürliche, wohl meist ererbte Anlage mit auf die Welt bringen, die der ihnen widerfahrenden Belehrung entgegenkommt. Aber ohne eine solche Anleitung würden auch die Begabtesten niemals eine Fertigkeit im theoretischen Denken gewinnen, die wenigstens beim heutigen Stand der Wissenschaft irgendetwas besagen würde. Wie schwer dagegen den meisten Menschen gerade die Anfänge einer Wissenschaft, wie das kleine Einmaleins oder gar die Elemente der Geometrie, werden, und wie sie sich in diese Dinge überhaupt nur unter strengster Zucht hineinzufinden wissen, das ist doch eine allgemein bekannte Erfahrung. Immerhin gilt es überall da, wo die allgemeine Schulpflicht eingeführt ist, als notwendig, möglichst allen Kindern wenigstens ein Minimum von theoretischer Bildung beizubringen, da im Bereich einer entwickelten Kultur eine solche Mitgift für jedermann wünschenswert ist.

Aber die intellektuelle Erziehung erfolgt in der Regel auf Kosten der Fähigkeit des Schülers in Werturteilen zu denken und zu urteilen. Denn die für das rein verstandesmäßige Lernen erforderliche Konzentration der Aufmerksamkeit läßt sich nur erreichen, wenn das wechselnde Gefühlsleben des Zöglings gewaltsam eingedämmt und der so erzwungene Verzicht auf die dem Menschen ursprünglich eigene Nachgiebigkeit gegen seine Gefühle und Begierden zu einer Sache der Übung und Gewohnheit gemacht wird. Die hierdurch bedingte Einbuße an Regsamkeit und Vielseitigkeit der Wertbeurteilung wiegt jedoch ein anderer Gewinn auf, nämlich die unter normalen Verhältnissen mit der Belehrung Hand in Hand gehende Schulung des Wilens und dessen zielbewußte Hinleitung auf wertvolle Zwecke. Andererseits wird niemand behaupten wollen, daß, wenn die Erziehung eines Menschen auch noch so konsequenz lediglich intellektuelle und sittliche Ziele verfolgt, seine Fähigkeit in Werturteilen zu denken überhaupt ausgerottet wird. Daß dies nicht geschieht, dafür sorgt schon das Leben selbst, mit seinen unendlichen Anlässen zu Freude und Leid, und namentlich der Verkehr mit den Menschen, dessen reicher Wechselwirkung so starke Gefühle und Strebungen, wie Liebe und Eifersucht, Ehrgeiz und Haß ihren Ursprung und ihr Wachstum verdanken.
LITERATUR - Otto Ritschl, Über Werturteile, Freiburg/i.B. und Leipzig 1895
    Anmerkungen
    1) KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Sämtliche Werke (Ausgabe HARTENSTEIN), Bd. 4, Seite 282f
    2) Vgl. dazu Metaphysik der Sitten, Bd. 7, Seite 270f
    3) KANT, Anthropologie, Bd. 7, Seite 614
    4) KANT, Kritik der Urteilskraft, Bd. 5, Seite 214
    5) KANT, Anthropologie, Bd. 7, Seite 560
    6) KANT, Kritik der praktischen Vernunft, Bd. 5, Seite 25
    7) KANT, Kritik der Urteilskraft, Bd. 5, Seite 346
    8) KANT, Kritik der praktischen Vernunft, Bd. 5, Seite 41
    9) KANT, Kritik der Urteilskraft, Bd. 5, Seite 449
    10) KANT, Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft, Bd. 6, Seite 100
    11) KANT, Kritik der Urteilskraft, Bd. 5, Seite 495
    12) KANT, Kritik der praktischen Vernunft, Bd. 5, Seite 79
    13) HERBART, Lehrbuch zur Psychologie, Sämtliche Werke, (Ausgabe HARTENSTEIN), Bd. 5, Seite 21
    14) HERBART, Psychologie als Wissenschaft, Sämtliche Werke, Bd. 6, Seite 70
    15) HERBART, Kurze Enzyklopädie der Philosophie aus praktischen Gesichtspunkten entworfen. Sämtliche Werke Bd. 2, Seite 74f. Vgl. Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, Sämtliche Werke, Bd. 1, Seite 124f
    16) SCHLEIERMACHER, Psychologie, Sämtliche Werke III, Bd. 12, Seite 66; vgl. auch Seite 60f
    17) SCHLEIERMACHER, Christliche Sittenlehre, Sämtliche Werke I, Bd. 12, Seite 67
    18) SCHLEIERMACHER, Sämtliche Werke Bd. 1, 3. Auflage, Seite 14, 38f, 70, 139, 162, 240; Bd. 2, 2. Auflage, Seite 2; Bd. 3, 2. Auflage, Seite 208, 246, 250, 257, 282, 287 und öfter
    19) de WETTE, Dogmatik, § 20. Vgl. auch SCHLEIERMACHER, Christliche Glaubenslehre, Bd. 1 § 11, 16, 69, 75
    20) RICHARD ROTHE, Theologische Ethik II, 2. Auflage, § 248, Anm. 3
    21) HERMANN LOTZE, Mikrokosmus, 1. Auflage, Bd. 1, Seite 183f
    22) HERMANN LOTZE, Grundzüge der praktischen Philosophie, 1882, Seite 7
    23) LOTZE, Grundzüge der Psychologie, 1881, Seite 20
    24) LOTZE, Grundzüge der Religionsphilosophie, 1882, Seite 71
    25) LOTZE, Mikrokosmus I, Seite 267
    26) Vgl. z. B. RÜMELIN, Reden und Aufsätze I, Seite 140, Reden und Aufsätze II, Seite 13, 165f; BAUMANN, Handbuch der Moral, Seite 1f; EUCKEN, Die Einheit des Geisteslebens, Seite 371f; WUNDT, Ethik, 1886, Seite 1f, 14, 527f
    27) Daß vorher schon SCHWEIZER, Christliche Glaubenslehre, § 115, von CHRISTI absolutem Wert und einzigartiger Würde spricht, gehört nicht unmittelbar in die hier zu betrachtende Gedankenbildung, sondern jene Urteile sind in erster Linie als Folgerungen aus den von SCHLEIERMACHER beeinflußten christologischen Anschauungen SCHWEIZERs zu verstehen. Vgl. auch § 111.
    28) LOTZE, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung III, 1. Auflage, Seite 170
    29) Vgl. z. B. GUSTAV RÜMELIN, Über das Rechtsgefühl, Reden und Aufsätze 1971, Seite 65
    30) WILHELM HERRMANN, Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit, Seite 80f, 106f.
    31) HERRMANN, a. a. O., 3. Auflage, Seite 201
    32) JULIUS KAFTAN, Das Wesen der christlichen Religion, 2. Auflage, Seite 49
    33) MAX SCHEIBE, Die Bedeutung der Werturteile für das religiöse Erkennen, Halle 1893, Seite 52. Vgl. dazu meine Rezension in der Theologischen Literaturzeitung, 1893, Seite 645f
    34) Vgl. auch GUSTAV RÜMELIN, Über die Lehre von den Seelenvermögen, 1873, Reden und Aufsätze, Seite 134
    35) WILHELM WUNDT, Etik, 1886, Seite 375f und "System der Philosophie", 1889, Seite 43.
    36) FRIEDRICH PAULSEN, Einleitung in die Philosophie, 1892, Seite 116
    37) Vgl. die von A. RITSCHL beobachteten begleitenden Werturteil, ohne welche auch das wissennschaftliche Erkennen niemals stattfindet, a. a. O. 3. Auflage, Seite 194f.
    38) Man könnte auch den Ausdruck Gefühlsurteil wählen. Aber der Terminus Werturteil ist prägnanter, und, wenn man Gefühlsurteil sagte, würden nur gar zu leicht unklare Begriffe begünstigt werden, wie wenn ROTHE (a. a. O. Seite 9) das Gefühl unmittelbar für eine auch erkennende Geistesfunktion ausgibt. Immerhin möchte, wenn man den Ausdruck "Gefühlsurteil" gebrauchte, vielleicht mancher, der nur aus Mangel an Überlegung am Ausdruck Werturteil Anstoß nimmt, leichter verstehen, was damit begründeter Weise allein gemeint sein kann, nämlich eine unmittelbare Verbindung des Vorstellens und Fühlens in demselben zeitlichen Moment, und eine Vergegenwärtigung des vorgestellten Gegenstandes zugleich als einer für das Gefühl desselben Subjekts wichtigen oder wertvollen Sache. Damit halte man auch die ursprüngliche Definition der Religion zusammen, die SCHLEIERMACHER in der ersten Auflage seiner Reden (Seite 69 - 82) gegeben und durch später allerdings wieder zurückgenommene Entwicklungen nur zu einseitig begründet hat, daß nämlich die Religion Anschauung und Gefühl des Universums in einem einzelnen endlichen Gegenstand sei.