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Grundlagen einer Erkenntnistheorie [ 2 / 3 ]
II. Kapitel Die Metaphysik der Naturwissenschaft Wir haben gesehen, daß der Glaube an eine transzendente Welt von dreierlei Faktorn abhängt: einmal von der verhältnismäßigen Unabhängigkeit der Wahrnehmung vom Ich, dann vom einem notwendigen Analogieschluß von beobachteten Veränderungen auf nicht beobachtete und endlich auf der Ununterbrochenheit eines bestimmten unmittelbaren oder erschlossenen Kausalprozesses. Wir haben aber auch weiter gesehen, wie sich dieser Glaube in Nichts auflöst und auflösen muß, sobald man diese transzendente Welt näher bestimmen will: denn es stellt sich heraus, daß diese ganz transzendent sein sollende Welt aus immanenten Bestandteilen, d. h. auf Bewußtseinsdaten zusammengesetzt ist, so daß für dieselbe, insofern sie sich von der Bewußtseinswelt unterscheiden soll, gar nichts übrig bleibt. Es ist das auch ganz natürlich, weil uns für die Erweiterung unserer Erkenntnisse nur Analogieschlüsse zu Gebote stehen, Analogien aber nur zwischen Ähnlichem aber nicht toto genere [völlig - wp] Verschiedenem stattfinden können; daher kann uns auch keine Analogie aus dem Bewußtseinsinhalt herausführen. Dennoch beansprucht dies eine Wissenschaft und zwar eine Wissenschaft, die den Anspruch darauf erhebt, eine solche im eigentlichen Sinn allein zu sein: die Naturwissenschaft. Sie will erklären, wie uns die Bewußtseinswelt entsteht. Dieses Bestreben ist freilich weniger sichtbar bei den eigentlichen Detailforschern und tritt mehr bei den Philosophen der Naturwissenschaft hervor, welche die letzten und allgemeinsten Konsequenzen aus derselben zu ziehen bemüht sind. Da jedoch die Detailforschung ohne Zusammenhang mit dem Ganzen der Wissenschaft keinen Sinn und Zweck hat, so sind alle Naturforscher genötigt, sich ein metaphysisches System zum Privatgebrauch instinktiv zusammenzustellen. Trotzdem glauben gerade die Detailforscher sehr oft ganz frei von jeder Metaphysik zu verfahren, wobei sie nur vergessen, daß gerade die einfachsten Begriffe, deren sie sich bedienen, metaphysische oder richtiger erkenntnistheoretische Probleme sind. Da sie nun jener Begriffe nicht entbehren können, so müssen sie dieselben in irgendeinem Sinn gebrauchen und folglich das Problem in irgendeiner Weise als gelöst voraussetzen. Sie können und konnten aber jene Lösung nicht aus den Tatsachen der Wissenschaft nehmen, weil sie jene Tatsachen stets unter einem Standpunkt betrachtet haben, der eben jene Probleme als gelöst schon vorausgesetzt hat. Welcher Detailforscher untersucht wohl zuerst, was das bedeutet: Sein, Ding, Kausalität, Begriff usw. und welcher Forscher verwendet diese Begriffe nicht? Aber man könnte doch wohl mit Recht verlangen, daß man kein Wort gebraucht, ohne anzugeben, was man darunter versteht, außer wenn die Bedeutung des Wortes unangefochten dasteht. Ich zweifle aber, ob in der Tat sämtliche Naturforscher so vollständig in der Deutung dieser Worte übereinstimmen werden. Man muß freilich zugestehen, daß jener ungenaue Gebrauch mancher Begriffe für die Detailforschung als Detailforschung weniger zu sagen hat, denn man kann recht gut nicht wissen, was man im Allgemeinen unter Kausalität zu verstehen hat und dennoch ziemlich genau angeben können, warum man etwas in einem bestimmten Fall als Ursache ansehen muß oder nicht. Das kommt aber nur daher, weil man eben doch einen nebelhaften Begriff von Kausalität besitzt, der sich dann im speziellen Fall instinktiv klärt. Dennoch muß auch im speziellen Fall eine Ungenauigkeit zurückbleiben und das hat zur Folge, daß sich bei dem Versuch, eine allgemeine Naturwissenschaft herzustellen, jene einzelnen Ungenauigkeiten summieren und zu Widersprüchen transzendenter Art führen. Freilich werden die Detailforscher verlangen, man möge doch jene allgemeine Naturwissenschaft auf sich beruhen lassen, sie sei weder notwendig noch möglich. Das ist aber nur dann wahr, wenn es richtig ist, daß die Wissenschaft sich nicht mit jenen Fragen zu beschäftigen hat, die ein allgemeineres menschliches Interesse haben, sondern nur mit jenen, welche einzelne Forscher und Dilettanten, sonst aber Niemanden interessieren. Ist aber die Wissenschaft für die Menschheit da und nicht für die Gelehrten, dann haben jene Detailforschungen, die weder einen technologischen noch den Wert besitzen, zur Lösung allgemeinerer Fragen beizutragen, offenbar gar keinen nennbaren Wert. Daher hat eine allgemeine Naturwissenschaft einen Wert nur durch das größere Interesse der Menschheit im Allgemeinen daran, sondern auch dadurch, daß sie allein den einzelnen Forschungen Zweck und Ziel verleihen kann. Diese allgemeine Naturwissenschaft ist aber entschieden metaphysisch, sie muß es schon deswegen sein, weil die einzelnen Naturforscher von Jugend auf mit der Atomwelt als Ursache der Bewußtseinswelt vertraut gemacht, auch nicht einmal die Frage erheben, ob es eine solche transzendente Atomwelt geben kann, sondern höchstens, ob sie genügt, die Bewußtseinswelt zu erklären. Und wenn nun ein Mann wie F. A. LANGE auftritt und darauf hinweist, daß auch die Naturwissenschaft nicht über die Bewußtseinswelt hinausführt, dabei aber verlangt, den Materialismus methodologisch konsequent durchzuführen und ihn so erkenntnistheoretisch zu vernichten, so hat das höchstens zur Folge, daß man gewinnen heiklen Fragen fern bleibt, im Übrigen aber den Materialismus nicht nur methodologisch, sondern auch erkenntnistheoretisch zu verwerten fortfährt. Man vergißt, daß es nicht dasselbe ist, eine Anschauung als Hilfsvorrichtung, als Instrument für Forschungen zu gebrauchen und sie als Grundlage unserer Erkenntnis zu betrachten. Aber dies hat LANGE zum Teil selbst verschuldet, denn indem er den Materialismus vernichten wollte, räumte er ihm doch eine solche Tragweite ein, daß mit Ausnahme der Logik (1) eigentlich keine Wissenschaft übrig geblieben ist, die nicht ihrer Methodologie materialistisch sein sollte. Es blieb daher für alle nicht materialistischen Anschauungen nur die Dichtung übrig; und gewiß gegen seinen Willen leistete er dem praktischen Materialismus mehr Vorschub, als er dem erkenntnistheoretischen genommen hat. Die Angelpunkte aber, um welche sich die materialistische oder zumindest metaphysische Naturwissenschaft dreht, sind das Gehirn, und die Welt der Atome: das Gehirn als Ursache oder Träger der Bewußtseinswelt, die Atome als letztes Substrat der bewußtseinslosen Welt. Beide Annahmen sind voneinander nicht unabhängig, doch hinreichend verschieden, um sie, wie ich beabsichtige, getrennt behandeln zu können. Ich kann, glaube ich, als zugestanden annehmen, daß die Physiologie die Gehirnfunktion, wenn nicht als Ursache, so doch gewiß, als notwendige Bedingung allen Bewußtseinsinhaltes annimmt. Diesen Satz möchte ich einer kleinen Erörterung unterziehen. Zunächst muß man fragen, was ist denn das Gehirn selbst? Es ist ein bestimmt gestaltetes, farbiges, gewichtiges Ding. Was heißt das nun, das Gehirn hat Gewicht? Offenbar nichts anderes, als daß es einen Druckk auf unsere Muskeln ausübt, d. h. daß es, etwa auf eine Hand gelegt, eine Empfindung zur Folge hat, die wir Muskelempfindung nennen. Es ändert daran nichts, daß wir das Gewicht des Gehirns nicht auf diese Weise bestimmen, sondern zu diesem Zweck die Waage zu Hilfe nehmen; denn die Waage führt eben nur die Intensitäten dieser Muskelempfindungen, die nur ungenau meßbar sind, zurück auf genauer meßbare Größen räumlicher Gesichtsempfindungen. Es führt uns daher weder das Gewicht in seiner ursprünglichen noch in seiner reduzierten Form über die Empfindung, als über Bewußtseinsdaten hinaus. Ebensowenig ist das der Fall mit der Farbe des Gehirns, die doch offenbar eine Empfindung, also ein Bewußtseinsdatum ist. Die Gestalt des Gehirns ist aber an seine Sichtbarkeit gebunden, soweit dasselbe unmittelbar mit den Augen oder mittelbar mit dem Mikroskop untersucht wird; eine noch weitere erschlossene Gestaltung von Gehirnteilen, die überhaupt gar nicht wahrnehmbar ist, führt zur Atomtheorie, die weiterhin behandelt werden wird. Mag man nun was für Ansichten auch immer über Raum und Zeit haben, die wahrgenommene Gestalt des Gehirns ist ein Bewußtseinsdatum; das gilt sowohl für seine äußere Gestalt, als seine innere Struktur. Dazu tritt noch in fettiges Anfühlen desselben, also eine Gruppe von Tastempfindungen. Alle diese Gruppen von Bewußtseinsdaten, die man noch im Einzelnen beliebig vermehren könnte, stehen in einem kausalen Zusammenhang sowohl untereinander als mit anderen Bewußtseinsdaten des Leibes und seiner Umgebung. Dieser bestimmte qualitativ-räumlich-zeitliche Kausalzusammenhang ist das Gehirn, so wie es uns gegeben ist. Dieses Gehirn kann offenbar nicht die Ursache der Bewußtseinsinhalte sein, denn es setzt ja, um nur selbst vorhanden sein zu können, eine Empfindung, folglich einen Bewußtseinsinhalt voraus. Es kann aber auch nicht eine der Bedingungen des Bewußtseinsinhaltes sein, weil ja eine Bedingung nur die nicht vollständige Ursache selbst ist, also ebensowenig wie die Ursache das in sich enthalten darf, was sie bewirken helfen soll. Man könnte aber vielleicht einwenden, das wahrgenommene Gehirn sei natürlich nicht die Ursache der Bewußtseinsinhalte, sondern die Ursache liege in gewissen unwahrnehmbaren Bestandteilen desselben, welche eben seine Wahrnehmung bewirken; das führt uns wieder zur später zu behandelnden Atomtheorie. Doch zugestanden, es wäre notwendig, solche unwahrnehmbaren Bestandteile (die also erschlossen sein müßten) anzunehmen und man wollte sie nun als die Bedingungen des Bewußtseins betrachten, so würde das nur dahin führen, erschlossene Daten als Ursache unmittelbar gegebener Daten ansehen zu wollen, was sinnlos ist. Oder will man vielleicht jene Bestandteile des Gehirns, die unerschließbar sind, als Ursachen des Bewußtseins ansehen? Welchen Nutzen sollte das gewähren und wie will man behaupten, daß es etwas gibt, das man nicht einmal zu erschließen vermag? Aber noch ein Ausweg wäre vielleicht vorhanden; jene erschlossenen Bestandteile noch einmal, als auch ohne ihre Erschließung bestehend zu setzen. Aber wie will man denn das feststelle, das hieße doch ebenfalls wieder das Unerschließbare erschließen. Es gibt also keinen Ausweg aus Bewußtseinsdaten, wo wir hinreichen, überall treten sie uns entgegen, weil wir selbst und die Welt aus ihnen bestehen. Ist das Gehirn ein kausaler Zusammenhang von Bewußtseinsdaten, so ist das natürlich auch mit der Reizung desselben der Fall. Ein Messerstich bringt die Empfindung des Schmerzes hervor, indem er eine Reizung der Nerven hervorbringt, die bis zum Hirn fortgeleitet, die Empfindung des Schmerzes auslöst. Was heißt das, ein Messerstich? Den Schmerz kann er nicht bedeuten, das ist seine Folge. Es ist also das Eindringen des Messers in die Haut und das Muskelgewebe. Dieses Eindringen sehe ich entweder oder ich stelle es durch den Tastsinn fest - es ist also wieder eine kausal zusammenhängende Gruppe von Empfindungen, mit deren Eintreten eine andere Empfindung kausal verbunden erscheint: die des Schmerzes. Das Messer (die Ursache des Reizes) wie auch sein Eindringen (der Reiz selbst) sind Bewußtseinsdata. Man wird aber dagegen einwenden, daß die Empfindung des Schmerzes unterbleibt, sobald durch absichtlich hervorgebrachte oder pathologische Störungen die Nervenbahn von der Stelle des Reizes zum Gehirn unterbrochen ist. Das heißt, wenn dann diese Stelle von einem Messer oder einer Nadel durchstochen oder anderswie gereizt wird, so fühlt das bestreffende Individuum, Tier oder Mensch, keinen Schmerz. Woher weiß man das? Durch das Experiment. Unmittelbar? doch wohl nicht? Nur dadurch, daß das Tier oder der Mensch keine Bewegungen macht, keinen Laut ausstößt, letzterer auch durch Worte kundgibt, daß er keinen Schmerz empfindet. Daraus, durch eine Deutung dieser vorhandenen und ausbleibenden Bewegungen, erschließen wir die Schmerzlosigkeit nach Analogie unseres eigenen Verhaltens bei derartigen Anlässen. Ist aber bei uns die Nervenbahn unterbrochen, dann ist die Erschließung für uns selbst eine andere. Dann können wir nur erschließen, daß wir, obschon gewisse Bewußtseinsdaten (der Reiz) gegeben sind, dennoch andere mit ihm sonst stets verbundene ausgeblieben sind; da wir aber weiter bemerkt haben, daß (erschlossenerweise) auch bei Anderen diese Bewußtseinsdaten unter sonst gleichen Umständen ausgeblieben sind, so oft eine Unterbrechung der Nervenbahnen konstatiert wurde, so schließen wir wieder auf uns zurück und folgern, daß, falls es möglich wäre, daß ein Anderer, ohne uns zu töten, unseren Leib untersuchen könnte, er durch Worte, deren Deutung uns bekannt ist, kundgeben müßte, daß er die Wahrnehmung einer zerstörten Nervenbahn hat: d. h. wir würden genötigt sein, eine fremde Wahrnehmung analog zu unseren eigenen zu erschließen. Auf diesem ganzen bisher durchwanderten Weg von Schlüssen und unmittelbaren Wahrnehmungen sind wir aber auch nicht mit einem Schritt aus den Bewußtseinsdaten herausgetreten. Der ganze Vorgang, sowohl des Reizes als auch der Auslösung der Empfindung, ist eine Reihe unmittelbarer und erschlossener Wahrnehmungen. Und selbst wenn der Vorgang im Nerven selbst erforscht wäre, könnte er uns nur als unmittelbare Wahrnehmung am fremden, als erschlossene am eigenen Körper gegeben sein, wie umgekehrt die Schmerzempfindung unmittelbar nur uns selbst, mittelbar am fremden Individuum gegeben ist. Man kann freilich auch hier einwenden, daß nicht der wahrgenommene Gegenstand auf unsere Sinne einwirkt, sondern ein Gegenstand, der dem wahrgenommenen entspricht. Aber hier ist dieselbe Entgegnung wie vorhin am Platz. Entweder ist dieser Gegenstand erschlossen oder er ist unerschließbar. Im ersteren Fall wäre ein Zusammenhang zwischen erschlossenen und unmittelbaren Bewußtseinsdaten gegeben, im zweiten Fall aber behauptet, etwas Unerschließbares erschlossen zu haben. Ist daher die Wand vor mir nicht das Objekt, das meine Gesichtsempfindung erzeugt, sondern vielmehr diese selber, so nützt es nichts, ein ähnlich oder analog gestaltetes, erschlossenes an seinen Platz zu stellen, denn damit ist nur ein neues Bewußtseinsdatum gesetzt (2); dieses neue ist aber erschlossen und es wäre damit also noch der Widerspruch verbunden, daß das Erschlossene die Ursache desjenigen wäre, aus dem es erschlossen wird: d. h. es würde stets die Wirkung der Ursache hervorgehen: denn man kann nicht sagen, sobald ich ein Objekt erschließen muß, sehe ich eines wirklich, sondern so oft ich eines wirklich sehe, muß ich (nach dieser Hypothese) eines erschließen. Soll aber eben das erschlossene Objekt nicht, insofern es erschlossen ist, Ursache des unmittelbaren Objekts sein, dann ist eben wieder ein für alle Zeit Unerschließbares und Unerkennbares die Ursache und man möge dann nur erklären: wie man dennoch zur Kenntnis dieses Geheimnisses gelangt ist. Wenn jemand ein Geheimnis mit sich ins Grab nimmt, das er durch kein Wort und keine Tat verraten und das kein Merkzeichen in der Welt hinterlassen hat, so steht es doch wenigstens frei, zu behaupten, es sei möglich, daß er ein Geheimnis gehabt hat, wenn auch kein Mensch etwas davon wissen kann, denn es ist ein mögliches Bewußtseinsdatum, das in keinem Widerspruch mit anderen Bewußtseinsdaten steht: wenn ich aber die Existenz eines Etwas behaupte, von dem ich gar nichts wissen kann, weil es ja eben die Ursache meines Wissens sein soll, dann mache ich in der Tat das reine Nichts zur Endursache der Welt. Also ist die Physiologie keine Wissenschaft - ihre Voraussetzungen sind falsch und dennoch hat sie Resultate aufzuweisen, die unanfechtbar sind! Wie läßt sich das vereinigen? Ja, beruhen denn ihre Voraussetzungen auf der Behauptung: sie habe den Zusammenhang zwischen den Bewußtseinsdaten und anderen gar nie im Bewußtsein gegebenen Daten festzustellen? Hat die Wissenschaft den Zusammenhang des Wissbaren mit dem Unwissbaren zu erklügeln, oder vielmehr den Zusammenhang innerhalb des Wissbaren festzustellen? Doch wohl das Letzere! Das Wissbare ist aber doch wohl ein Bewußtseinsdatum? Dann hat also auch die Physiologie einen Zusammenhang zwischen Bewußtseinsdaten festzustellen und kann daher niemals die Bewußtseinsinhalte erklären wollen, weil sie sie jederzeit voraussetzen muß. Jener Zusammenhang aber, den die Physiologie festzustellen hat, betrifft Daten des fremden Leibes untereinander; die Physiologie des Gehirns insbesondere hat vor Allem die Aufgabe, den Zusammenhang zwischen Gehirnfunktion und Bewegungen des Leibes festzustellen. Es ist das also ein Zusammenhang zwischen zwei Gruppen von Bewußtseinsdaten jener unmittelbar oder mittelbar (durch das Mikroskop oder Schlüsse) gegebenen Empfindungen, die das Gehirn des fremden Leibes ausmachen und jener offen unmittelbar sichtbaren Bewegungen am fremden Leib, welcher Zusammenhang per analogiam auch auf die Bewegungen des eigenen Leibes übertragen wird. Es schließt sich aber daran notwendig die Frage, ob die Physiologie des Gehirns damit auch füglich alles getan hat, was man von ihr verlangen kann? Nach der Ansicht mancher Philosophen (wie zum Beispiel F. A. LANGEs und COMTEs) wäre damit alles geleistet und zugleich eine jede Psychologie unnötig gemacht. Die Physiologie hat sich gar nicht um die Psychologie zu kümmern, diese muß am wahrnehmbaren Leib festgestellt werden und geht in die Physiologie auf, sie besteht gar nicht als eigentliche Wissenschaft (3). Diese Auffassung streift aber nur die Oberfläche des ganzen Problems. Nehmen wir an, die oben bezeichnete Aufgabe der Physiologie des Gehirns wäre vollendet: sämtliche Hirnfunktionen und ihr Zusammenhang mit sämtlichen Bewegungen des Körpers wären erforscht, so daß man über diesen Zusammenhang eine genaue Tabelle aufstellen könnte. Wären dann sämtliche psychologische Erscheinungen: Reproduktionen (Vorstellungen), Gefühle mit in diesem Zusammenhang einbegriffen? Gewiß nicht! Denn nehmen wir an, der Zusammenhang zwischen jenen mannigfaltigen Gehirnfunktionen und jenen verschiedenen Bewegungen des Gesichts, die wir Lachen und Weinen nennen, wäre genau bekannt, es gäbe aber einen Menschen, der selbst niemals geweint oder gelacht, noch andere in diesem Zustand beobachtet hätte, der daher die Verbindung bestimmter Gefühle mit jenen Gesichtsbewegungen nicht kennt. Würde er aus den Bewegungen und ihrem Zusammenhang mit Gehirnfunktionen erkennen können, was für eine Bedeutung ihnen zukommt? er würde sie offenbar als Fratzen ansehen, deren Bedeutung er nicht zu erschließen vermag. Doch nehmen wir weiter an, er würde nach Analogie mit anderen Bewegungen, die er als Bewegungen des Schmerzes oder Lust kennt, endlich doch erschließen, mit was für Gefühlen jene Bewegungen zusammenhängen; hätte er dann jene Deutung unmittelbar durch die Bewegungen oder Gehirnfunktionen gefunden? oder muß er nicht vielmehr den Zusammenhang zwischen gewissen Gefühlen und gewissen Bewegungen und daher auch Gehirnfunktionen schon kennen, ehe er jene deuten, den Schluß in Bezug auf die Bewegungen des Lachens und Weinens vollziehen kann? Oder ist es genug, die Muskelbewegungen und die mit ihnen zusammenhängenden Laute, sowie Gehirnfunktionen zu kennen, um eine fremde Sprache zu verstehen und zu deuten? Wie viele Bewegungen des Gesichts, der Hände, selbst der Füße und des Rumpfes sind nur verständliche, nachdem man bei sich selbst zumindest eine analoge Verbindung derselben mit gewissen Vorstellungen und Gefühlen kennen gelernt hat. Je genauer man daher jene Verbindung feststellen will, umso genauer muß man nicht nur jene Bewegungen, sondern auch das Vorstellungs- und Gefühlsleben kennen, dessen Zeichen jene sind. Bewegungen und Gehirnfunktionen bleiben Bewegungen und Gehirnfunktionen und haben ansich gar keine weitere Bedeutung. Diese Bedeutung kann ihnen erst zukommen durch die Beobachtung ihres (der Bewegungen und erst mittelbar der Gehirnfunktionen) Zusammenhangs mit Vorstellungen und Gefühlen beim eigenen Körper vor Allem durch den bei sich beobachteten Zusammenhang zwischen gewissen Lauten und gewissen Gefühlen und Vorstellungen, also durch die bei sich beobachtete Verbindung zwischen Sprache, Vorstellung und Gefühl. Dadurch wird es erst möglich, die Sprache anderer richtig aufzufassen und mittels derselben auch andere Vorgänge am fremden Leib in der richtigen Weise zu deuten: denn selbst das Weinen und Lachen seinen Bewegungen nach kann unmittelbar an sich selbst gar nicht beobachtet werden, und ihre Verbindung mit Gefühlen wird erst durch dabei geäußerte Worte klar. Aber eben diese Worte sind reiner Schall ohne Deutung, und eine genaue wissenschaftliche Deutung ist nicht möglich ohne Kenntnis dessen, nach dem gedeutet werden soll, d. h. ohne eine genaue Kenntnis des Vorstellungs und Gefühlslebens, also ohne eine wissenschaftliche Psychologie. Und vor allem da, wo es sich darum handelt, gewisse einfachere Elemente der psychologischen Entwicklung festzustellen, hat die Psychologie einzig und allein die Fähigkeit, dieselben aus den gegebenen, stets komplizierten Vorstellungs- und Gefühlsganzen herauszuschälen. Daher ist auch jene Psychologie, die ihre Grundlage durch die Beobachtung neugeborener Kinder feststellen will, in der Tat eine Kinderpsychologie: sie merkt nicht, daß sie das voraussetzt, was sie sucht: ein psychologisches System. Was ist am Kind gegeben? Bewegungen, Laute. Diese müssen gedeutet werden. Nach was? Nach dem Vorstellungsleben des Kindes? Das ist doch überhaupt gar nicht unmittelbar gegeben! Daher kann die Deutung nur nach dem eigenen Vorstellungsleben erfolgen. Aber dann muß dieses bekannt sein und zwar genau bekannt sein, weil durch eine genaue Analyse des eigenen Vorstellungslebens jener analoge Zusammenhang des ganz anders gearteten Vorstellungslebens des Kindes und seiner Bewegungen und Laute zu erschließen ist. Denn eben, weil die Analogie eine so schwache ist, weil das beiderseitige psychische Leben so ganz verschieden ist, vermögen wir uns nur mit Mühe in den dem kindlichen halbwegs analogen Vorstellungs- und Gefühlskreis hineinzudenken, d. h. jene Bewegungen und Laute zu deuten. Um dieses aber zu können, muß unser Vorstellungsleben in allen seinen Beziehungen klar vor uns liegen, d. h. wir müssen seine wirkliche oder vermeintliche Gesetzmäßigkeit, sein System kennen, ehe wir uns nach seinem Vorbild an die Deutung eines so verschiedenen Phänomens wagen dürfen, wie es das Seelenleben eines Kindes ist. Ich habe ebenn den Ausdruck Seelenleben gebraucht, ein verhaßtes Wort für viele Naturwissenschaftler und Philosophen, und mit Recht, sobald es für ein Leben, das die Entwicklung eines transzendenten Wesens darstellen soll, gebraucht wird. Hier hat es nur die Bedeutung eines unmittelbar gegebenen oder erschlossenen Vorstellungs- und Gefühlslebens, insofern es die Wahrnehmungswelt modifiziert und von ihr modifiziert wird. Der Schrecken aber vor dem transzendenten Seelengespenst hatte zur Folge, daß auch das immanente Seelenleben vom Schauplatz der Philosophie ausgeschlossen wurde und eine solche Begriffsverwirrung eingetreten ist, daß ein Mann wie COMTE (4) behaupten konnte, man müsse die Leidenschaften nur von außen beobachten, wolle man verläßliche Resultate erlangen. Als Hauptgrund gibt er an, daß man nicht zugleich Beobachter und Beobachteter sein kann und übersieht dabei zweierlei: einmal, daß man Erinnerungen seines früheren Vorstellungslebens doch untersuchen kann und daß, wie schon auseinandergesetzt worden ist, eine Deutung des Äußeren ohne Kenntnis des sogenannten Inneren keinen Sinn hat. Will man dagegen einwenden, daß bloße Erinnerungen an das eigene Seelenleben nicht verläßlich sind, dann möchte ich fragen, inwiefern wir von einer vergangenen Wahrnehmung mehr als die Erinnerung besitzen und dennoch sollen erst viele Wahrnehmungen überhaupt eine Erkenntnis ermöglichen. Die Beobachtung des eigenen Vorstellungs- und Gefühlslebens bildet also die Grundlage der Deutung eines jeden fremden Seelenlebens, weil nur das eigene Vorstellungsleben unmittelbar gegeben, jedes fremde ihm analog erschlossen ist. Die Beobachtung Neugeborener bildet daher stets nur eine scheinbare Grundlage der Psychologie, weil ein jeder, um überhaupt beobachten, d. h. die Bewegungen des Kindes deuten zu können, schon ein mehr oder weniger ausgebildetes System der psychologischen Erscheinungen mitbringen muß; je weniger ausgebildet, je weniger genau dieses System ist, desto schwankender werden seine Deutungen ausfallen. Daher werden auch die Beobachtungen an Neugeborenen mit jedem psychologischen System übereinstimmen; sobald sich dieses nur nicht mit den bekanntesten psychologischen Deutungen in Widerspruch befindet. Trotzdem ist von LANGE (5) der Psychologie eine höchst provisorische Bedeutung zugestanden worden, solange bis die Physiologie ihre Rolle übernehmen kann. Ein Haupteinwand, der von LANGE angeführt worden ist, ist der, daß der Psychologie auf ihrem einzig unbestrittenen Gebiet der Assoziation der Vorstellungen die immanente Kausalität fehlt; das Vorstellungsleben erscheint nämlich durch Wahrnehmungen bestimmt und aus den Vorstellungsgesetzen sind natürlich Wahrnehmungen nicht zu erschließen, vielmehr erscheinen durch eine auftretende Wahrnehmung die Vorstellungsgesetze suspendiert [ausgesetzt - wp] und unterbrochen. Aber verhält es sich denn mit den Wahrnehmungen anders? Ich trete aus dem Haus in vollem Gassenanzug, ein Zweiter beobachtet mich, plötzlich kehre ich um und eile ins Haus zurück - die Wahrnehmungsreihe des Beobachters ist unterbrochen. Wo steckt die Ursache? in der Wahrnehmung? Nein, im Vorstellungsleben; der Beobachter wird schließen "er hat sich an etwas erinnert was er vergessen hat" und er wird diese Ursache erschließen, weil er bei sich selbst einen solchen Zusammenhang zwischen gewissen Wahrnehmungen und Vorstellungen beobachtet hat. Hier hat eine Vorstellung die immanente Kausalität der Wahrnehmungen unterbrochen. Doch ist dagegen noch ein Einwand möglich. Man kann sagen: gewiß die Psychologie ist so lange nötig, bis die Physiologie den Zusammenhang zwischen Vorstellungen und Gefühlen einerseits, Gehirnfunktionen andererseits vollständig aufgedeckt hat, dann braucht man nur die Gehirnfunktionen zu kennen und aus diesen müssen sich dann sämtliche Bewegungen vorausbestimmen lassen (6). Die Psychologie ist dann unnötig, weil sie ungenau sein muß, die Kenntnis der Gehirnfunktionen und der daraus folgenden Bewegungen ist einer exakteren Bestimmung fähig und vollständig hinreichend. Vielleicht unter einer Bedingung, - dann nämlich, wenn sämtliche Menschen, anstatt aus Fleisch und Blut und Nervenmasse aus Glas und einer durchsichtigen Flüssigkeit gebildet wären, so daß man ihr Gehirn in seiner Funktion beobachten könnte; zur Bequemlichkeit könnte man vielleicht auch noch fordern, daß die Augen der Menschen eine solche Einrichtung besitzen, um nach Belieben zu Mikroskopen umgewandelt werden zu können, um das lästige Untersuchen fremder Gehirne mit dem Mikrokop hinten anzustellen. So lange das Gehirn sich aber in einem undurchsichtigen Schädel, als undurchsichtige Masse befindet, wird man wohl genötigt sein, aus den äußeren Bewegungen auf ein Vorstellungsleben analog dem eigenen zu schließen und aus diesem wieder auf etwaige künftige Handlungen des äußerlichen Leibes. Doch auch dagegen könnte man noch einwenden, daß man bei vollendeter Kenntnis der Physiologie aus den äußeren Bewegungen auf innere Gehirnfunktionen und aus diesen wieder zurück auf Bewegungen schließen könnte. Gewiß? aber was würde man gewinnen? Ebenso wie verschiedene Gefühle und Vorstellungen dieselben Bewegungen hervorrufen können, so müssen auch verschiedene Gehirnfunktionen dieselben Bewegungen zur Folge haben können. Man würde also derselben Ungenauigkeit wie bei der Psychologie im gewöhnlichen Leben nicht entgehen, nur für den Arzt hätte eine solche Kenntnis fraglos eine ungeheure Bedeutung. Aber nehmen wir an, alle Schwierigkeiten wären gehoben, sämtliche Vorstellungs- und Gefühlsvorgänge wären auf wahrnehmbare und auch im gewöhnlichen Leben leicht bestimmbare Gehirnfunktionen zurückgeführt: man würde also nur in Bewegungen und Gehirnfunktionen denken, ohne Rücksicht auf die psychologische Bedeutung, die ihnen zukommt; dann aber müßte auch jeder Schmerz und jede Lust nur in Berechnung gezogen werden, insofern sie eine Gehirnfunktion und eine Bewegung ist - Lust und Schmerz als solche würden also aufhören. Dann müßte aber auch alles Leben verschwinden, denn es würde jeder Impuls zum Handeln aufhören. Was kann mir an dieser oder jener Körperbewegung der Gehirnfunktion liegen, wenn ich ihre Bedeutung nicht kenne? Jeder Antrieb zum Leben müßte aufhören, sobald es nur eine Mechanik des Lebens gäbe. Will man aber die mechanischen Vorgänge deuten, dann muß man ihre Verbindung mit dem Vorstellungs- und Gefühlsleben bei sich selbst studieren, denn der fremde Körper bietet nur Bewegungen und Gehirnfunktionen zur Beobachtung dar. Da aber unmittelbar an sich selbst jene Verbindung von Vorstellungen und Gehirnfunktionen und Bewegungen nur sehr teilweise beobachtet ist, so bleibt nichts anderes übrig, als das fremde Vorstellungsleben nach den fremden Sprechäußerungen zu ergänzen, welche das einzige Gebiet sind, auf dem eine solche Verbindung von Vorstellungen und äußeren Bewegungen und Lauten bei sich selbst vollständig zu verfolgen möglich ist; freilich ist diese Verfolgung bisher auch zum größten Teil nur eine Möglichkeit geblieben, obgleich schon LOCKE darauf hingewiesen hat, wie wichtig eine derartige Feststellung des Sinnes der Worte ist: sie erfordert in der Tat eine vollständige Philosophie. Aber ist es denn überhaupt auch nur möglich, die Vorstellungs- und Gefühlswelt aufzulösen in eine Welt ihr entsprechender Wahrnehmungen, d. h. Bewegungen und Gehirnfunktionen? Sobald ich irgendwelche Vorstellungen und Gefühle auf Wahrnehmungen zurückgeführt habe, dann treten eben an ihre Stelle jene Wahrnehmungen als neue Erinnerungen mit neuen Gefühlen, als neue Reproduktionsdata und als neue Faktoren für Willensentschließungen, und wenn ich nun diese neuen Vorstellungen wieder auf ihre Funktionen in der Wahrnehmungswelt zurückführe, so ergibt das eine neue Reihe von Erinnerungen, die als solche in den Bestimmungsprozeß des Lebens eingreifen usw. Eine vollständige Auflösung der Vorstellungswelt mit ihren unzähligen Erinnerungen von Wahrnehmungen, Erinnerungen von Erinnerungen, Gefühlen bei Erinnerungen von Gefühlen in eine Welt festbestimmter Wahrnehmungen ist unmöglich, weil jedes Bewußtseinsdatum einen Ausgangspunkt sich stets wieder erneuernder Erinnerungen und Gefühle bildet, einer Reproduktionsreihe in indefinitum [unendlich - wp], die wieder in indefinitum miteinander in Kombination treten können. In diesem Sinn ist der Geist in der Tat unendlich, wie die Welt unabsehbar ist (7). Daher ist auch die Psychologie nicht nur eine provisorische, sondern eine ständige Wissenschaft, nicht nur deswegen, weil sich die Vorstellungswelt niemals vollständig in die Wahrnehmungswelt auflösen läßt, sondern vor Allem deshalb, weil die Wahrnehmungswelt erst durch ihre Verbindung mit Vorstellungen und Gefühlen einen Wert erhält, einen Antrieb zum Handeln geben kann; daher muß die Wahrnehmungswelt in ihrer Beziehung zum Vorstellungs- und Gefühlsleben dargestellt und gefaßt werden: das kann aber nicht die Physiologie vollbringen, die mit Vorgängen der Wahrnehmungswelt zu tun hat und die Vorstellungen und Gefühle nur insofern berücksichtigen kann, als sie mit unmittelbaren oder erschlossenen Wahrnehmungen zusammenhängen. Daher muß es eine Wissenschaft geben, welche die subjektiven Beziehungen innerhalb der Bewußtseinswelt allein berücksichtigt und dadurch die Grundlage bildet für alle Wertschätzungen; denn das Objektive in abstracto, losgetrennt von allen subjektiven Beziehungen, ist nicht nur niemals so gegeben, es ist auch interesselos, ohne Wert oder Unwert. Auch selbst die Wissenschaften, wenn man von ihrem praktischen Wert absieht, haben nur einen Wert durch das subjektive Wohlgefühl, welches das klare, entschiedene Wissen begleitet. Die Physiologie wird aber sogar der Psychologie nicht ganz entbehren können. Wo es sich um wahrnehmbare Bewegungen handelt, ist sie zwar vollständig unabhängig, nicht aber da, wo es sich um das Reproduktions- und Gefühlsleben handelt. Bei Vivisektionen [Eingriff am lebenden Körper - wp], die am Großhirn vorgenommen werden, z. B. handelt es sich nicht um Bewegungen und Laute allein, sondern um eine Deutung dieser Daten. Aber nach was soll denn diese Deutung erfolgen? Nach anderen Bewegungen oder Gehirnvorgängen? Diese sind ja selbst einer Deutung bedürftig! Es bleibt also eben nur der Weg übrig, bei sich selbst, d. h. im unmittelbar gegebenen Vorstellungs- und Gefühlsleben jene Verbindungen von Bewegungen und Lauten mit Vorstellungen und Gefühlen aufzusuchen, um dann die fremden Bewegungen und Laute jenen analog deuten zu können: d. h. aber eben nichts anderes, als das Vorstellungs- und Gefühlsleben studieren und erforschen. Denn die Physiologie vermag die Reproduktions- und Gefühlserscheinungen ebensowenig wie die Wahrnehmung selbst zu erklären, d. h. aus etwas anderem selbständig zu entwickeln; sie vermag nur die physiologischen zum großen Teil erschlossenen, weil nur für einen zweiten Beobachter geltenden, Begleiterscheinungen nachzuweisen. Diese Begleiterscheinungen bestehen nicht nur selbst aus Wahrnehmungen, Vorstellungen, Begriffen, Gefühlen, sondern haben auch keinen Zweck, ohne Beziehung auf ein unmittelbar gegebenes Wahrnehmungs- und Vorstellungsleben, dessen äußere Symbole sie sind. Daher ist es auch leicht erklärlich, warum die Physiologie in den Methoden ihrer Gehirnforschung die jeweilige Hauptrichtung der Psychologie widerspiegelt. Solange die Psychologie noch das Geistesleben in Vermögen zersplitterte, suchte man solche in den einzelnen Hirnpartien zu lokalisieren. Die Vermögenstheorie verschwand und an ihre Stelle ist das Bestreben, eine möglichste Einheit des geistigen Lebens herzustellen getreten, die geistigen Funktionen auf die einfachsten Elemente zurückzuführen. Auch dieses hatte seine Rückwirkung auf die Physiologie. Denn an und für sich hat die Lokalisationstheorie keine psychologischen Bedenken, wie selbst ihre Feinde zugestehen, nur die psychologische Unterlage hat sich als falsch erwiesen.k Daher trat an ihre Stelle jetzt die Einheit und Gleichwertigkeit der geistigen Elemente als psychologische Leitvorstellung und das Großhirn in allen seinen Teilen wurde als gleichwertig angesehen, jeder Teil konnte den anderen ersetzen, nur die Masse der funktionsunfähigen Teile des Gehirns sollte über die Größe der noch verbliebenen Intelligenz entscheiden. Die Intelligenz wurde also in die Klarheit und Intensität der Vorstellungen verlegt, wo diese fehlten, waren die Vorstellungen zwar noch da, aber nicht mehr verwertbar: es fehlte die Fähigkeit, "die Sinneswahrnehmungen gedanklich zu einem zweckmäßigen Handeln zu verarbeiten" (8). Da aber an und für sich der Mangel an Klarheit und Intensität der Vorstellungen oder der Grad des Blödsinns schwer meßbar und überhaupt ansich seinem Grad nach genau gar nicht festzustellen ist, so lag es nahe, sich nach der Ursache dieses Blödsinns umzusehen, den Blödsinn zu analysieren oder was auf dasselbe hinausläuft, die Intelligenz in ihre einfachen Bestandteile zu zerlegen. Diese einfachen Bestandteile können aber nur Erinnerungen sein, da die Wahrnehmungen die Intelligenz wohl heranbilden, ihr aber nicht unmittelbar angehören. So ist man also zu dem Versuch gekommen, die Erinnerungsbilder zu lokalisieren und die Klassifikation derselben den Wahrnehmungen zu entnehmen. So werden Erinnerungsbilder in gewisse Sphären des Gehirns "deponiert" und diese Sphären stehen wieder miteinander in Verbindung (9); die Assoziationspsychologie hat folglich ihre Wirkung geäußert. Ich will zwar damit nicht behaupten, daß jene Ansichten über die Funktion des Großhirns aus psychologischen Studien hervorgegangen wären, das wäre falsch, sondern nur darauf hinweisen, wie unwillkürlich psychologische Anschauungen in physiologische hineinspielen und hineinspielen müssen. Man ist eben genötigt physiologische Daten psychologisch zu deuten, da aber diese psychologische Deutung sich nicht unmittelbar ergibt, so ist es nötig, sich ein psychologisches Privatsystem zurechtzumachen, nach dem jene Deutung dann erfolgt; dieses Privatsystem aber wird natürlich instinktiv und nicht mit voller Klarheit zurechtgelegt. So haben wir also gesehen, daß die Physiologie die Bewußtseinsinhalte nicht nur nicht erklären kann, weil sie sie stets voraussetzen muß, sondern daß sie auch nicht einmal alle psychologischen Daten jemals wird psychologisch wiedergeben können, und selbst wenn sie das könnte, eben eine psychologische Deutung derselben notwendig wäre, die sie nur durch eine Psychologie erlangen kann. Freilich dürfte eine solche Psychologie nicht metaphysisch sein, kein transzendentes Seelengespenst dürfte in ihr spuken, sie hätte nur die Analyse des Vorstellungs- und Gefühlslebens möglichst genau zu vollziehen; daß diese Analyse niemals die Genauigkeit einer naturwissenschaftlichen Forschung erlangen wird, macht sie weder entbehrlich, noch ist es ein Grund, sie überhaupt ganz zu unterlassen. Noch ein Problem aber haben wir ungelöst gelassen: das Problem der bewußtlosen Handlungen, der Instinkte und Reflexvorgänge. Daß sie in irgendeinem Bewußtseinszusammenhang gegeben sein müssen, ist klar, sonst müßte man sich des Unbewußten bewußt sein können: es handelt sich eben nur darum, ob sie nach Analogie von bewußten Daten erschlossen oder ob ihnen selbst ein Bewußtseinszusammenhang zugeschrieben werden soll. Wenn ich im Schlaf eine Bewegung mache, einen nebenstehenden Tisch umwerfe, dann beim Aufwachen erstaunt darüber bin und mich dessen nicht erinnere, habe ich diese Bewegungen mit Bewußtsein vollzogen oder erschließe ich jetzt nur, daß ich es getan habe, ohne behaupten zu können, daß diese Bewegung jemals die Daseinsart unmittelbar gegebener Vorgänge haben könnte. Das heißt: ist diese Bewegung jener Seinsart, wie etwa das erschlossene Erdinnere, das wir erschließen, ohne es zu sehen, oder gleich jener des fremden Ich, das wir erschließen, ohne es seiner Wesenheit nach überhaupt jemals wahrnehmen zu können? Oder ist sie uns unmittelbar bewußt gewesen, wie uns im wachen Zustand Bewegungen bewußt sind, nur daß ihre Intensität so gering war, daß die Erinnerung an sie fehlt? Mir scheint das letztere richtig: denn auch der Reflexbewegungen sind wir uns bewußt, wenn wir sofort nach ihrem Auftreten auf sie aufmerksam gemacht werden, aber nach Verlauf einiger Zeit verschwinden sie vollständig aus der Erinnerung und sind höchstens wieder aus den Worten eines Anderen zu erschließen, folglich unmittelbar nicht mehr zu konstatieren möglich. So erinnert man sich, selten die Stirn gerunzelt, die Augenlider für einen Augenblick geschlossen zu haben, wie man es gewöhnlich tut, weiß es aber sehr wohl, wenn man gleich nach der Tat daran erinnert wird. Demnach würden alle unbewußten Vorgänge jene sein, deren Intensität zu schwach ist, um eine währende Erinnerung zurückzulassen, die daher längere Zeit nach ihrem Eintreten nur aus anderen Tatsachen erschlossen werden können und so den Anschein gewinnen, nur erschlossenerweise vollzogen worden zu sein. Daß dieselben sich als Reflexvorgänge wesentlich (was übrigens nicht allgemein anerkannt ist) von den bewußten Vorgängen physiologisch unterscheiden, geht uns hier nichts an, weil es sich hier um den unmittelbaren Zusammenhang der Tatsachen handelt: die Physiologie hingegen setzt einen Beobachter und Beobachteten voraus und eine Reihe von erschlossenen Tatsachen, die unmittelbar gar nicht gegeben sind. Am Beobachteten sind nämlich die Reflexvorgänge genauso wie die bewußten Vorgänge gegeben und ihr physiologischer Unterschied beruth darauf, daß die Reaktion auf den Reiz nicht von einem Teil des Gehirns, sondern von irgendeinem anderen Nervenzentrum ausgeht, welche Tatsachen natürlich ebenfalls erschlossen und nicht unmittelbar beobachtet sind. Damit ist aber nicht bewiesen, daß die sogenannten Reflexzentra nicht mit Bewußtsein verbundene Bewegungen und andere Wahrnehmungen hervorrufen: das kann ja aus dem Verlauf der Nervenbahnen und den Funktionen der Nervenzentren nicht ersehen werden, sondern muß auf gänzlich unphysiologische Weise aus den Bewegungen und eventuell Lauten, Worten des Beobachtungsobjekts gedeutet werden; gedeutet aber kann nur werden nach analogen Vorgängen des Beobachters selbst: daher ist die unmittelbare psychologische Beobachtung der maßgebende Faktor der Beurteilung. Dieser aber scheint mir dahin zu weisen, daß sämtliche Reflexvorgänge im Schlaf und wachen Zustand stets im Augenblick ihres Erfolgens bewußt sind, nur eben oft keine Erinnerung zurücklassen, weil sie zu schwach sind. Daher ist auch LOCKEs Behauptung, man denke im Schlaf niemals, sonst müßte man sich dessen erinnern, richtig und falsch. Richtig wäre sie, wenn man sich niemals daran erinnern würde, was man im Schlaf tut oder denkt, denn dessen man sich niemals erinnern kann, das kann nicht als vorhanden behauptet werden. Aber sie ist falsch, sobald es wahr ist, daß man sich an Vorgänge während des Schlafes erinnert, nur nicht immer und selten deutlich, denn dann muß ich schließenn, daß wohl die Erinnerung, nicht aber das vergangene Datum gefehlt hat, wenn ich es erst auf einem Umweg erschließen muß. Man kann freilich einwenden, daß auch Träume oft einen großen Grad an Lebhaftigkeit besitzen, aber man kann das doch nur von jenen Träumen behaupten, deren man sich erinnert und nicht von jenen, deren man sich nicht oder nur halb erinnert. Überdies ist Lebhaftigkeit (wie überhaupt Alles) relativ: ein Traum kann also verhältnismäßig lebhaft sein, während ihn der darauffolgende wache Zustand derart an Lebhaftigkeit übertrifft, daß er ihn sofort aus der Erinnerung vertreibt, so daß der Traum nur ein dunkles Gefühl hinterläßt. Doch sei es wie es will, ob nun Reflexbewegungen, instinktive Handlungen sogenannte unbewußte Vorstellungen erschlossen sind oder unmittelbar bewußt aber vergessen, über Bewußtseinsdaten führen sie auch nicht hinaus. Zum Schluß muß ich noch einmal zu LANGE zurückkehren, um die Meinung hintanzuhalten, als hätte ich ihn falsch verstanden oder schlecht gedeutet. Ich weiß recht wohl, daß LANGE vollständig anerkennt, daß mit der physiologischen Bestimmung von Daten nicht ihre psychologische Deutung mitgegeben, daß diese vielmehr eine "Deutung aus unserem Bewußtsein heraus" (10) ist und er sagt weiter, daß wir die "unmittelbare Erkenntnis des Geistigen" nur in unserem "Selbstbewußtsein" haben (11), ja er gibt sogar zu, daß die "Vorstellung von Atomen und ihren Bewegungen" aus der Empfindung ableitbar ist, daß man also versuchen könnte, "von der Empfindung aus die Schranken des Naturerkennens zu durchbrechen" (12) und daß der Wertbegriff im subjektivsten Wesen des Menschen wurzelt (13); und dennoch ist er der Ansicht, daß jene Wissenschaft (Psychologie wie er sie nennt), die von der Empfindung ausgeht, nicht die Mittel in sich hat, eine exakte Wissenschaft zu werden und schließt sie daher von der Wissenschaft aus. Den Grund dafür schöpft er daraus, daß, wie schon oben erwähnt, jener Psychologie die immanente Kausalität fehlt. Aber jener Psychologie, die LANGE mit der Geisteswissenschaft identifiziert, die alles von der Empfindung aus aufzubauen hat, soll eine solche immanente Kausalität fehlen? Wo ist denn jener Faktor, der sie durchbrechen könnte? Die Wahrnehmung? Diese ist doch selbst in der Empfindung eingeschlossen, und da ja für LANGE unmittelbar nur die Empfindung gegeben und aus dieser selbst die Welt der Atome ableitbar ist, so ist in der Tat nicht abzusehen, wo jene Unterbrechung der Kausalität stattfinden soll. Diese Unterbrechung findet auch wirklich nur für jene spezielle Psychologie im engeren Sinn statt, die sich mit dem Vorstellungs- und Gefühlsleben im Gegensatz zum Wahrnehmungsleben beschäftigt, aber ohne sie deswegen unnötig oder unmöglich zu machen. Jene alles in sich fassende Psychologie aber muß auch eine immanente Kausalität haben, weil nichts da ist, was sie beschränken könnte, als höchstens LANGEs unmöglicher Grenzbegriff eines Dings-ansich, der hier bei ihm mehr als negativ sich zu äußern scheint. Gibt es in der Tat einen Zusammenhang von Daten, der nicht naturwissenschaftlich erklärbar und bestimmbar ist und diese gesteht LANGE zu, weswegen soll er von jeder wissenschaftlichen Behandlung ausgeschlossen sein? Weil er bisher keine exakte Bestimmung zugelassen hat? Nein, würde LANGE sagen, weil er niemals eine solche zulassen wird, nur das Objekt, die Anschauung, nicht die geistigen Beziehungen lassen eine wissenschaftliche Bestimmung zu. Als Grund, warum nur sie allein eine wissenschaftliche Bestimmung zulassen, würde LANGE wohl anführen, weil sie allein der Messung zugänglich sind. Hier ist aber zweierlei falsch: einmal, daß nur das der Messung (mathematischer Messung) zugängliche eine Wissenschaft ist. Denn dann wäre jede Wissenschaft des Allgemeinen, auch die Logik (die LANGE aufrecht erhält) ausgeschlossen. Das Allgemeinste ist seiner Natur nach nicht unmittelbar anschaulich und meßbar, es dürfte daher nur Spezialwissenschaften geben. Zweitens bedenkt LANGE nicht, daß die Geisteswissenschaft so gut ihre Anschauungen hat, wie die Naturwissenschaft, ja sogar dieselben Objekte und daß es nur eine Verschiedenheit des Standpunktes ist, nach dem beide sie auffassen. Die Naturwissenschaft abstrahiert von allen Bewußtseinsbeziehungen, in denen ihre Anschauungen gegeben sind und die Geisteswissenschaft reflektiert eben gerade auf jene. Aber LANGE hat immer nur jene Philosophie im Sinn, die von "wertvollen Hirngespinsten, d. h. Ideen ausgeht, die mit der Wahrnehmungswelt nicht übereinstimmen und übersieht, daß es eine Wissenschaft geben kann, welche die Wahrnehmungswelt so gut wie die Naturwissenschaft als Grundlage ansieht, aber um daran die Bewußtseinsbeziehungen zu studieren, welche der Naturforscher voraussetzen muß, bei jedem Akt seiner Forschung, ohne sie im Resultat berücksichtigen zu dürfen. Die konsequente Durchführung von LANGEs Grundsätzen kann daher auch nur zu einem Selbstmord der Philosophie führen. Die Philosophie hätte dann nur nachzuweisen, daß sie nichts weiß und nichts wissen kann, um zu verhüten, daß sie wissenschaftlich benutzt wird, dann hätte sie ins Reich der Fabeln zu verschwinden. Eine solche Philosophie ist ebenso trostlos wie falsch. Sie ist der Grenzbegriff LANGEs in seinen falschen Konsequenzen. Man kann ja doch nur beweisen, daß man etwas weiß, niemals aber, daß man etwas nicht weiß, denn ein solcher Beweis setzt voraus, daß man gerade das, dessen Nichtwissen man beweisen will, weiß. Das Nichtwissen ist nur bei einem Anderen nachzuweisen und setzt voraus, daß der Nachweisende das vom Andern nicht Gewußte selbst weiß. Das aber von Niemandem Gewußte als nicht gewußt nachweisen oder beweisen zu wollen, ist doch der offenbarste Widerspruch. Der zweite Angelpunkt naturwissenschaftlicher Metaphysik ist die Atomtheorie. Es muß aber von vornherein betont werden, daß die naturwissenschaftliche Berechtigung der Atomtheorie anzugreifen ein Anachronismus [falscher Zeitpunkt - wp] wäre. Ob die Atomtheorie zur Herstellung eines allgemeinen Zusammenhangs der einzelnen naturwissenschaftlichen Gebiete notwendig ist, ob sie erforderlich ist, um gewisse Erscheinungen naturwissenschaftlich begreiflich zu machen, darüber hat nicht die Philosophie, sondern die Naturwissenschaften zu entscheiden, allein zu entscheiden. Aber die Naturwissenschaft gebärdet sich oft so, als ob sie die einzige Wissenschaft überhaupt, als ob mit ihr Alles entschieden wäre und dieser Behauptung muß mit Entschiedenheit entgegengetreten werden. Die Naturwissenschaft setzt immer und überall einen Bewußtseinszusammenhang voraus, ist selbst nur in einem Bewußtseinszusammenhang denkbar, während sie doch von ihrem Standpunkt aus mit voller Berechtigung von diesem Zusammenhang abstrahiert; sie sollte daher aber auch nicht vergessen, daß sie abstrahiert, daß folglich das, wovon sie abstrahiert, ursprünglich und von ihr unberücksichtigt vorhanden ist. Sie sollte daher auch bedenken, daß, was für ihr Gebiet berechtigt ist, deswegen noch keine allgemeine Berechtigung und Gültigkeit hat. Damit im Zusammenhang steht die Frage, ob den Atomen Realität oder Wirklichkeit zuzuschreiben ist. Realität im weitesten Sinne hat aber Alles, insofern es in irgendeiner Beziehung gegeben ist; nur das reine und als solches undenkbare Nichts hätte keine Realität, wenn es mehr als der unbeendbare Versuch wäre einen jeden immer wieder von neuem auftauchenden Inhalt zu negieren. In diesem weitesten Sinne sind Atome ebenso real und wirklich, wie die reinsten Hirngespinste; da aber diese Realität von den Verteidigern einer philosophischen und naturwissenschaftlichen Atomtheorie gewiß nicht für hinreichend gehalten wird, so ist es eben nötigf, die Realität näher zu bestimmen, welche jener Theorie zukommen soll. Hier ist es nun klar, daß die Notwendigkeit, Atome zu erschließen, keine allgemeine, für alle Gebiete menschlichen Wissens und Könnens geltende ist. Dinge, die in unserer Abwesenheit wirken, ihre zumindest teilweise Unabhängigkeit von dem, was wir die subjektive Seite der Welt nennen, fremde Ichwesen nach dem Muster unseres eigenen müssen zwar allgemein und notwendig von jedem erschlossen werden, niemand kann sich diesem Schluß entziehen. Aber ist dasselbe mit den Atomen der Fall? Ist im gewöhnlichen Lebensverkehr, in der Kunst, der Jurisprudenz, Philologie und in jener Psychologie, die sich auf die Assoziation der Vorstellungen beschränkt, ein solcher Schluß für jedermann notwendig? Ob die Atomtheorie steht oder fällt, ihre Grundlage, das Vorstellungsgebiet des gewöhnlichen Lebens, bleibt bestehen, Kunst, Sprachwissenschaft, Assoziationspsychologie usw. werden sich wenig darum kümmern. Die Notwendigkeit einer Atomtheorie wird also wohl auf die Naturwissenschaft beschränkt werden müssen, vorausgesetzt, daß diese selbst sie für notwendig erklärt. Eine Theorie aber, deren Notwendigkeit sich auf das Gebiet eines Kreises von Wissenschaften beschränkt, kann nur eine Hilfskonstruktion sein, die ungemein notwendig für ein wissenschaftliches Gebiet, dennoch keine allgemeine Geltung für sich in Anspruch nehmen darf. Man könnte zwar dagegen einwenden, daß die Resultate der Naturwissenschaften ihre Einwirkung auch auf entfernte Gebiete anderer Wissenschaften äußern; lassen wir aber auch die Berechtigung dieser Wirksamkeit außer aller Erörterung, so äußern eben die Resultate jene Wirkung und damit ist nicht bewiesen, daß auch die Mittel, durch welche jene erreicht werden, eben notwendige Mittel für jede Wissenschaft sind. Allerdings ist die Nahrung für den Dichter von großer Wirksamkeit, selbst für seine Dichtung, aber daraus folgt nicht, daß der zur Nahrungszubereitung notwendige Kochlöffel auch eine bei der Dichtung selbst zu berücksichtigende Grundlage bildet, d. h. daß man mit Hilfe des Kochlöffels zu dichten hat. Es wird daher von mir die Atomtheorie nicht, insofern sie eine naturwissenschaftliche Forderung ist, einer Kritik unterzogen, sondern insofern sie als philosophisches Postulat auftritt. Hingewiesen aber muß darauf werden, daß die philosophische Atomistik das historische Prioritätsrecht vor der naturwissenschaftlichen hat, indem sich die Naturwissenschaft jener zu ihren Zwecken bemächtigt hat. Das scheinen alle Jene zu vergessen, die in blindem Haß jede Philosophie von sich abweisen und ohne es zu wissen, sich ihrer dennoch bedienen. Die einzige Frage aber, die man gegenüber der philosophischen Atomistik erheben kann, ist die Frage nach der Art ihrer Realität: den die Versicherung, daß die Atome notwendig zum Zweck eines naturwissenschaftlichen allgemeinen Zusammenhangs der Erscheinungen angenommen werden müssen, gibt ihnen nur die Realität einer naturwissenschaftlichen Hilfskonstruktion, mit der sich die Anhänger der Atomistik wohl schwerlich begnügen werden. Es muß also festgestellt werden, welche bestimtme Seinsart den Atomen selbst zukommen soll. Nun wird freilich Realität in jedem philosophischen System in einer bestimmten und nicht in der vorhin erwähnten allgemeinsten Bedeutung gebraucht, da aber jedes philosophische System einen anderen Begriff der Realität hat (sonst würde es nur ein System geben, könnte man sich darüber einigen), so müßte man die Atomtheorie eigentlich im schillernden Licht jener verschiedenen Philosophien betrachten, was eigentlich einer Kritik der verschiedenen philosophischen Systeme gleichkommen würde. Da dieses untunlich ist, so will ich negativ jene Realität feststellen, die den Atomen nicht zukommen kann und dies nachzuweisen versuchen, dadurch wird auch indirekt die Bedeutung der Realität der Atome in den einzelnen Systemen widerlegt oder bestätigt sein. Die Realität nun, welche den Atomen meiner Meinung nach nicht zukommen kann, ist jene, die sich über das Bewußtsein hinaus erstrecken und zugleich die Qualität seiner Daten erzeugen soll. Um nun zu beweisen, daß die Atome eine solche kausale Erklärung der Bewußtseinstatsachen zu geben nicht imstande sind, ist nur nachzuweisen nötig, daß sie selbst allen ihren Elementen nach aus Bewußtseinstatsachen bestehen, folglich ein Entstehen jener elementaren Bewußtseinsdaten aus Daten außerhalb allen Bewußtseins nicht erklären können, weil sie jene elementaren Daten stets selbst schon voraussetzen müssen. Die Atome werden aber in zweierlei Weise bestimmt: einmal als abstrakte in concreto gar nicht vorstellbare Wesen, die aber trotzdem eine über bloße Abstraktionen hinausreichende Realität haben sollen; und das andere Mal als zwar konkret bestimtme Wesen, bei denen aber ihre konkrete Bestimmtheit nicht in Rechnung gezogen zu werden braucht. Die Trennung dieser beiden Arten von Atomen ist aber nur eine scheinbare, beide laufen auf dasselbe hinaus: denn es ist ganz unmöglich, etwas nur in abstracto zu denken, ohne es an einem Konkretum, einer Anschauung zu denken. Wer dies leugnet, der führt wieder das reine Denken, das sich nur in Begriffen bewegen soll, in die Philosophie ein. Freilich, wer ein solches rein begriffliches Denken aufrecht erhalten will, wird kaum widerlegt werden können, denn man kann ihm eben nur entgegnen, daß man es bei sich selbst nicht zu finden vermag und ihn bitten, einem den Weg zur Auffindung zu zeigen. Aber jeder, der vorurteilslos an die Sache herangeht, muß zugeben, daß bloße Begriffe ohne entsprechende Anschauung reine Worte ohne Sinn sind. Dann aber unterscheiden sich diese beiden Arten von Atomen nicht, denn im ersten Fall muß ich sie ebenfalls in irgendeiner konkreten anschaulichen Weise als materielle Punkte oder irgendwie sichtbare Sphären vorstellen, nur daß ich eben von diesen sinnfälligen Daten abstrahiere und nur auf gewisse mit diesen sinnfälligen Daten gegenene Beziehungen reflektiere; ich tue also genau dasselbe, was im zweiten Fall ausdrücklich verlangt wird. Dennoch besteht ein Unterschied zwischen beiden Arten von Atomen, der freilich etwas verdeckt ist. Werden den Atomen gewisse abstrakte Eigenschaften und Beziehungen zugeschrieben, so gibt man freilich, zumindest meistens zu, daß diese Beziehungen nur an der Anschauung gedacht werden können, aber den Atomen an und für sich unabhängig von unserem Denken, sollen nur jene abstrakten Eigenschaften und Beziehungen, nicht aber ihr anschaulicher, konkreter Zusammenhang zukommen, während im zweiten Fall auch diese ihre konkreten Bestimmungen in die Transzendenz versetzt werden. Es hat aber gar keinen denkbaren Zweck, den Atomen im ersten Fall an und für sich nur gewisse abstrakte Eigenschaften, etwa ausdehnungsloser Punktualität und gesetzmäßiger Bewegung zuzuschreiben, wenn diese Punktualität und Bewegung eben nur am konkreten Anschaulichen denkbar ist, denn das Maßgebende ist ja dann doch die Anschauung, weil, was nicht an der Anschauung denkbar ist, überhaupt nicht gedacht und daher auch nicht behauptet und verwendet werden kann. Und was für eine Existenz sollen jene abstrakten Bestandteile für sich führen? Die Existenz konkreter Wesen? Heißt das nicht den Begriff von Abstraktum und Konkretum vollständig verwirren, wenn man dem Abstraktum eine konkrete Daseinsweise unabhängig von allem denkbaren Konkreten zuschreiben will? Nimmt man aber trotz dieses Einwandes, um wenigstens den früheren Verwirrungen zu entgehen, an, daß die Atome in ihrer vollen Konkretheit, aber außerhalb allen Bewußtseinszusammenhangs bestehen, nur daß viele ihrer Eigenschaften nicht in Rechnung kommen, dann ist nicht zu begreifen, wie sich die sinnfälligen Bewußtseinsdaten erklären sollen, wenn sie das schon in sich enthalten, was sie in ihrer Wirkung erzeugen sollen. Denn haben sie Farbe, Härte, Gestalt, geben sie Töne von sich usw., dann erscheint die Frage nach der Entstehung von Farbe, Tastempfindung, Ton nur zurückgeschoben und nicht erklärt. Man kann freilich dagegen einwenden, man wolle nicht Farbe, Härte, Ton in ihrem Entstehen ansich erklären, sondern nur ihr Entstehen in uns. Aber es ist nicht abzusehen, was Farbe, Härte usw. ansich bedeuten soll: eine Farbe, die niemand sehen kann, eine Härte, die niemand empfinden kann, weil ja die Atome die empfundene Härte und Farbe selbst erst erzeugen sollen: d. h. doch wirklich, das Unsichtbare farbig und das Untastbare hart nennen. Dabei aber werden alle diese sinnfälligen Eigenschaften nicht, insofern sie an und für sich, sondern gedacht und vorgestellt sind, zu irgendeiner Erklärung verwendet werden können, diese Eigenschaften ansich wären also vollständig nutzlose Doppelgänger der Eigenschaften für uns. Ob also die Atome abstrakt oder konkret gefaßt werden, sie bestehen stets aus Bewußtseinsdaten, aus Anschauungen innerhalb des Bewußtseins, aus dem kein Ausgang möglich ist. Gut, könnte man sagen, lassen wir die Transzendenz der Atome fahren, aber nehmen wir für sie die Existenz ihres notwendigen Erschlossenseins zum Zweck der Erklärung der Entstehung aller Sinnesqualitäten in Anspruch. Sagen wir, wir sind durch aufmerksame Beobachtung der Erscheinungen genötigt, eine Welt räumlicher Beziehungen und Bewegungen anzunehmen, als Grund der unmittelbar uns erscheinenden Welt. Aber Beziehungen räumlicher Art, Bewegungen sind nicht denkbar ohne irgendeine Sinnesqualität, ohne einen qualitativ bestimmten Raum. Denn eine Bewegung oder räumliche Beziehung eines Unsichtbaren und Untastbaren ist nicht zu erschließen, weil überhaupt gar nicht zu denken. Dann aber wäre es notwendig, für die so erschlossene Qualität der Sicht- oder Tastbarkeit der Atome, wieder Atome zweiter Ordnung zu erschließen, um sie erklären zu können und da diese Atome dann doch auch wieder eine von jenen Qualitäten besitzen müßten, so ginge das so fort bis ins Unendliche, ohne daß es in der Tat zu einer Erklärung der Entstehung der Farbe oder der Tastqualitäten kommen würde (14). Noch steht vielleicht ein Ausweg offen, um die Atomtheorie zu retten. Man könnte sagen: die Atome sind nicht als Ursache der unmittelbaren Erscheinungswelt zu erschließen, sondern nur als ihnen parallele Vorgänge. Es ist bei näherer Betrachtung der Tatsachen die Notwendigkeit gegeben, eine rein mechanische Welt der Atome aufzubauen, mit welcher parallel und analog die unmittelbare psychische Welt sich verhält. Freilich sind beide Welten im Bewußtsein gegeben, das hindert aber nicht, eine gegenseitige Abhängigkeit derselben zu erschließen. Aber wenn diese erschlossenen mechanischen Vorgänge als Bewußtseinsvorgänge anerkannt werden, dann wird es natürlich notwendig, für sie als psychische Vorgänge wieder Atomvorgänge zweiter Ordnung zu erschließen, die sich ebenfalls als Bewußtseinsvorgänge entpuppen werden und daher zu einem regressus in indefinitum führen, was immer ein bedenkliches Zeichen ist. Dazu kommt aber noch, daß diese Notwendigkeit eine solche Atomwelt zu erschließen eben nur für die Naturwissenschaften gilt, während der Zwang einer solchen Erschließung für Erkenntnistheorie und Psychologie nicht nur nicht vorhanden ist, sondern sogar zu den größten Unzukömmlichkeiten führt. Die Naturwissenschaft abstrahiert ja von den Bewußtseinsbeziehungen, in denen Alles gegeben ist, und muß sich daher nach anderen Beziehungen räumlich-zeitlicher Art umsehen, um einen Zusammenhang der Erscheinungen herzustellen. Da aber die Philosophie gerade auf die Bewußtseinsbeziehungen reflektiert, so entfällt für sie die Notwendigkeit eines künstlichen Bindemittels der Erscheinungen, welches sie in den unmittelbar vorhandenen Bewußtseinsbeziehungen gegeben vorfindet. In Verbindung mit dem Atombegriff steht der Begriff der Materie und Kraft. Die Atomwesen in ihrem Zusammen sollen ja "die Materie" ausmachen, ihre gesetzlichen räumlich-zeitlichen Veränderungen, die Kraft. Auch hier sind Widersprüche nicht zu vermeiden. Sind die Atome konkret gedacht, dann sind sie selbst schon Materie, d. h. ein räumliches Zusammen sinnlicher Qualitäten und es entsteht die Frage, aus welchen weiteren Bestandteilen denn diese materiellen Atome bestehen, was zu einem regressus in indefinitum führt (15). Gesteht man aber zu, daß man nur gewisser Beziehungen in abstracto bedarf, im Übrigen sich aber um die Beschaffenheit der Atome nicht kümmert, dann hat man zugegeben, daß man Abstraktionen zu einem bestimmten Zweck vollzogen hat, und die Existenz solcher Abstraktionen, ja ihre Notwendigkeit für gewisse Gebiete der Wissenschaft kann anerkannt werden, nur ist damit eben wieder die Empfindung in ihrer vollen Sinnlichkeit vorausgesetzt und keineswegs aus jenen Abstraktionen deduzierbar. Faßt man die Atome aber im abstrakten Sinn ausdehnungsloser Punkte, dann ist es überhaupt völlig unbegreiflich, wie aus ihnen eine ausgedehnte qualitative Materie entstanden gedacht sein soll. Derartige Punkte sind zwar nicht "Nichtse" und "räumliche Ausdehnung", ist auch keine "wesentliche Kategorie der Existenz" (16), das muß vollständig zugestanden werden; aber es handelt sich um die bestimmte Existenzart überhaupt. Sollen diese Punkte Abstraktionen sein und nur Abstraktionen, dann ist ihnen eine solche Existenz zuzugestehen und sie ist auch ganz begreiflich. Sollen aber solche ausdehnungslose Punkte mehr als Abstraktionen sein, sollen sie eine konkrete oder transzendente Existenz haben, so kann dies auf keine Weise zugegeben werden. "Konkret" und "anschaulich" sind Wechselbegriffe, was in keiner unmittelbaren oder erschlossenen Weise anschaulich ist, kann auch nicht konkret sein; und es hieße die Begriffe des Konkreten und Abstrakten vollständig verwirren, ausdehnungslosen Punkten eine konkrete Existenz zuschreiben zu wollen. Sollen aber diese Punkte eine transzendente, von allem Bewußtsein unabhängige Existenz haben, dann sind eben wieder alle Widersprüche der Transzendenz vorhanden und das Problem scheint zurückgeschoben, denn die Frage nach der bestimmten Existenz solcher ausdehnungsloser Punkte ist als transzendent weiter gar nicht diskutierbar; soweit sie aber diskutierbar ist, fällt sie ins Bewußtsein und hier muß eine klare Antwort auf die Frage möglich sein, ob jene Existenz abstrakter oder konkreter Art ist. Es ist kein Zweifel, daß die Antwort dahin ausfallen muß, daß jene Atome Abstraktionen sind. Dann aber ist von vorherein klar, daß aus dem Abstraktum nicht das deduzierbar oder zusammensetzbar ist, von dem man eben abstrahieren mußte, um zu jenem Abstraktum zu gelangen: die Anschaulichkeit. Wie soll aus ausdehnungslosen abstrakten Punkten der konkrete anschauliche Raum der konkreten Materie entstehen. Man kann nicht einwenden, darin sei keine Schwierigkeit vorhanden, auch
Nur wenn ein konkreter anschaulicher Wald aus lauter abstrakten, ausdehnungslosen Begriffen von Räumen zusammengesetzt sein könnte, würden diese Beispiele etwas beweisen; so aber bleibt der ausdehnungslose Punkt eine Abstraktion aus dem qualitativ bestimmten Raum, den er voraussetzt, um überhaupt denkbar zu sein und den er daher nicht bilden kann, weil er seine bestimmte Existenz nur dadurch hat, daß er an ihm gedacht ist. Ebenso verhält es sich mit dem Kraftbegriff. Auch dieser wird oft konkret gefaßt von all Jenen, die sich des beliebten Schlagworts bedienen, daß Kraft und Stoff die Grundlage aller Dinge bildet, und somit die Kraft, die nur ein Ausdruck für gesetzliche Beziehungen innerhalb der Veränderungen ist (18), als etwas auffassen, das Veränderungen erst erzeugen soll. Aber eine solche Kraft ist nie gegeben, sondern nur die Veränderungen selbst, aus denen die Bedingungen abstrahiert werden, unter denen sie eintreten. Die gesetzmäßige Notwendigkeit ihres Eintretens unter diesen Bedingungen, also eine reine Abstraktion ist eben die Kraft. Wenn gesagt wird, der Magnet hat Anziehungskraft, so heißt das nichts anderes, als daß unter gewissen Bedingungen, die sowohl in ihm als außerhalb seiner liegen, eine Hinbewegung von Eisenteilen zu seinem magnetischen Pol stattfinden wird. Dieses ist die Grundlage des magnetischen Kraftbegriffs, er ist nichts anderes als die Abstraktion des Gesetzes aus dieser Art von Veränderungen, oder eine Art der Gesetzmäßigkeit der Veränderungen. Diese Arten der Gesetzmäßigkeit stehen untereinander wieder im Zusammenhang und wird es einmal möglich sein, eine oberste Gesetzmäßigkeit festzustellen, von der alle anderen Unterarten sind, dann hat man die Grundkraft aller Erscheinungen gefunden, die nichtsdestoweniger eine Abstraktion ist, nur denkbar an anschaulichen Veränderungen, daher sie voraussetzend und nicht sie zusammensetzend. Daher ist es auch unmöglich, den Kraftbegriff allein an die Stelle des Begriffs der Materie zu setzen. Denn Kraft ist eine gesetzliche Beziehung und diese ist nicht denkbar ohne Beziehungspunkte, deren Beziehung sie eben ist. Diese Beziehungspunkte mögen nun in der abstraktesten Weise bestimmt werden, denkbar sind sie immer nur am Anschaulichen, Konkreten. Wenn es daher auch möglich wäre (was gar nicht der Fall sein kann), Kraft und Materie ohne anschauliche, konkrete Vorgänge zu denken, so wäre es unmöglich, diese konkreten Vorgänge aus jenen zu deduzieren oder zusammenzusetzen, weil Anschauliches aus Anschauungslosem weder zusammensetzbar noch deduzierbar ist. Materie ist eben der oberste Gattungsbegriff des Anschaulichen, Konkreten überhaupt, wobei natürlich von der bestimmten Art der Konkretheit abstrahiert, sie aber eben damit vorausgesetzt ist (19). Fassen wir also das Gesagte zusammen, so ist die Grundlage der Materie: der qualitativ bestimmte, also anschauliche, konkrete Raum, die Grundlage der Kraft: die konkrete Veränderung in ihrer Gesetzmäßigkeit. Diese Grundlagen sind das ursprünglichst Gegebene und können niemals aus etwas Anderem deduziert oder zusammengesetzt werden, weil dieses Andere sie stets schon voraussetzt, nur an ihnen denkbar ist. Die Naturwissenschaft mag sich daher zu ihren Zwecken, welchen Begriff der Materie und der Kraft auch immer aus diesen Grundlagen abstrahieren, sie kommt niemals über dieselben hinaus. Es ist wahrscheinlich, daß die Naturwissenschaft die Qualität der Tast- und Muskelempfindung, das "Handgreifliche" (20) zur Grundlage ihres Begriffs der Materie auswählen wird, weil der so bestimmte Raum die Grundlage aller Messung bildet, und die Naturwissenschaft ihrem Standpunkt gemäß die räumlich-zeitliche Beziehung an die Stelle der anderen Beziehungen setzt. Für die Erkenntnistheorie ist aber die naturwissenschaftliche Fassung dieses Begriffs nicht maßgebend, weil sie vom umfassendsten Standpunkt den Zusammenhang alles Gegebenen zu betrachten hat, für sie also die räumlich-zeitliche Bestimmung nur eine, wenn auch eine wichtige Seite des Gegebenen ist. Die qualitative Bestimmtheit des Raumes durch die Gesichtsempfindung würde ebenfalls zum allgemeinsten Begriff der Materie hinreichen, und sie müßte die Grundlage für Jenen bilden, der (wenn das physiologisch möglich wäre), aller Tast- und Muskelempfindung entbehren würde. Und nun noch einige Worte über das Verhältnis von Philosophie und Naturwissenschaft im Allgemeinen. Jeder Versuch einer genaueren Bestimmung der naturwissenschaftlichen Grundbegriffe führt zu philosophischen, richtiger erkenntnistheoretischen Erörterungen: ein Zeichen, daß Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft nicht völlig voneinander isolierte Wissenschaften sind. Es würde jedoch falsch sein, daraus schließen zu wollen, daß etwa die Naturwissenschaft auf der Philosophie, oder die Philosophie auf der Naturwissenschaft aufgebaut werden müßte: denn Anatomie und Physiologie haben noch viel innigere Berührungspunkte, ohne daß deswegen die Physiologie rein aus der Anatomie heraus (oder umgekehrt) entwickelt werden könnte. Diese Berührungspunkte, ohne daß deswegen die Physiologie rein aus der Anatomie heraus (oder umgekehrt) entwickelt werden könnte. Diese Berührungspunkte kommen vielmehr nur daher, weil alle Wissenschaften ihre Grundlage in einer Welt unmittelbar gegebener Daten haben, die sie freilich von oft ganz verschiedenen Standpunkten aus betrachten und bestimmen. So ist es auch der Fall mit der Erkenntnistheorie und der Naturwissenschaft. Die Erkenntnistheorie betrachtet die Welt, insofern dieselbe in einem unmittelbaren Bewußutseinszusammenhang gegeben ist. Es ist das der umfassendste Standpunkt, der allen anderen in sich enthält, denn Alles ist in Bewußtseinsbeziehungen gegeben, nichts ohne sie. Sie betrachtet daher auch die erschlossene, nicht unmittelbar gegebene Welt der Wahrnehmung, insofern sie in Bewußtseinsbeziehungen, also dennoch unmittelbar im Schluß und Assoziationsvorgang als Reproduktion gegeben ist. Die Naturwissenschaft hingegen abstrahiert eben von jenem überall vorhandenen Bewußtseinszusammenhang und reflektiert nur auf die räumlich-zeitliche Bestimmtheit, den räumlich-zeitlichen Zusammenhang des Bewußtseinsinhaltes zum Zweck der Möglichkeit einer genaueren Voraus- oder Rückbestimmung desselben, wobei sich beide Faktoren ja wechselseitig unterstützen. Die Naturwissenschaft muß also auch davon abstrahieren, daß auch diese ihre Forschungen, sowie Resultate, Bewußtseinsvorgänge und Inhalte sind, weil eine solche Reflexion nur störend auf den Gang räumlich-zeitlicher Bestimmungen der Erscheinungen einwirken müßte. Daher betrachtet sie die Welt, insofern dieselbe wahrgenommen ist, und abstrahiert von allen Beziehungen, die durch Reproduktion und Gefühlsleben bestimmt werden: denn Reproduktion und Gefühl als solche erscheinen als Bewußtseinsdaten, während man bei der Wahrnehmung von vornherein davon abstrahiert, daß sie als Bewußtseinsdatum gegeben ist. Freilich muß die Naturwissenschaft sich bei jedem Schritt der Reproduktionen bedienen und vermag auch die Gefühle nicht auszuschließen, aber die ersteren werden nur berücksichtigt, insofern sie ein vergangener Wahrnehmungsinhalt und nicht insofern gegenwärtige Reproduktionen sind. Daß die gebrauchten Reproduktionen vergangene Bewußtseinsdaten sind, davon wird ebenfalls abstrahiert und so durch Schlüsse und Ergänzungen eine Welt der Wahrnehmung hergestellt, die zwar unmittelbar so nie existiert, sondern stets der Reproduktionen bedarff, die aber doch einen räumlich-zeitlich bestimmbaren Zusammenhang besitzt. Demgegenüber hat die Erkenntnistheorie darauf hinzuweisen, daß die Erscheinungen noch einen anderen als jenen zum Teil erschlossenen räumlich-qualitativen Zusammenhang besitzen, der unmittelbar und stets gegeben ist, den Bewußtseinszusammenhang, in welchem auch der ganze erschlossene naturwissenschaftliche mitenthalten ist. Die Bewußtseinswelt als solche ist also allumfassend, es ist nicht möglich, sie aus etwas Anderem abzuleiten, denn sie faßt Alles in sich.
1) Langes Logik ist aber formal und nicht erkenntnistheoretisch. 2) siehe darüber Leclair, "Der Realismus der modernen Naturwissenschaft", Seite 927f (?). 3) Langes "Geschichte des Materialismus", Bd. III, Abschnitt II; obgleich Lange anerkennt, daß die Naturwissenschaft und speziell die Physiologie die Bewußtseinsbeziehungen nicht erklären kann. 4) Auguste Comte, Principes de Philosophie Positive, hg. von Littré, Seite 121f. 5) Lange, a. a. O., Seite 397f. 6) siehe dazu Dubois-Reymond, "Die Grenzen des Naturerkennens". 7) vgl. damit Leclair, a. a. O., Seite 29. 8) Friedrich Goltz, "Über die Verrichtungen des Großhirns", Bonn 1881, Seite 126. 9) siehe Hermann Munk, Über die Funktionen der Großhirnrinde, Berlin 1881. 10) F. A. Lange, a. a. O. Seite 156 11) F. A. Lange, a. a. O. Seite 160 12) F. A. Lange, a. a. O. Seite 164 13) F. A. Lange, a. a. O. Seite 177 14) Über einen ähnlichen regressus siehe Lange, a. a. O., Seite 202. 15) siehe Lange, a. a. O. 16) Gustav Theodor Fechner, Über die physikalische und philosophische Atomtheorie, Seite 154. 17) Fechner, a. a. O., Seite 153. 18) siehe darüber Fechner, a. a. O., Seite 120. 19) vgl. Lange, a. a. O., Seite 205f und 215f, dann Schuppe, Erkenntnistheoretische Logik, Seite 586f und Avenarius, Philosophie als Denken der Welt usw., Seite 63. 20) Fechner, a. a. O., Seite 105f. |