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OSWALD KÜLPE
Erkenntnistheorie und
Naturwissenschaft

[Vortrag gehalten am 19. September 1910 auf der
82. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Königsberg]

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"Kant fragt nicht, ob eine Naturwissenschaft möglich ist, und versucht erst recht nicht, eine philosophische Naturlehre an deren Stelle zu setzen. Er fragt vielmehr: wie ist eine Naturwissenschaft möglich? und ist bestrebt, ihr Faktum aus einer Theorie der Erkenntnis heraus zu begreifen."

"Die Planeten sind keine Empfindungen oder Komplexe von solchen und die chemischen Elemente lassen sich ebensowenig mit den Inhalten unserer Sinneswahrnehmung zur Deckung bringen. Sie sind auch nicht, obwohl man sie zuweilen so genannt hat, Begriffe. Denn diesen kommen keine optischen Eigenschaften wie den Kristallen, keine Absonderungen wie den Drüsen, keine Valenzen wie den chemischen Stoffen unmittelbar zu. Wir wollen solche Gegenstände als Realitäten oder als reale Objekte bezeichnen und sie durch die Unabhängigkeit der Existenz von Setzung und Bestimmung allgemein charakterisieren."

"Alle Erfahrung enthält, wie uns schon Kant gelehrt hat, zweierlei: Faktoren, die von uns unabhängig sind, die sich uns aufdrängen, als ein Gegebenes, Vorgefundenes schlechthin zu gelten haben und daneben, von ihnen nur in abstracto trennbar, Zutaten unserer selbst, mögen sie nun zufällige Auffassungsweisen oder Gesetzmäßigkeiten unserer Organisation sein."

Hochansehnliche Versammlung!

Es gereicht mir zur großen Ehre und Freude, die wissenschaftliche Tagung der heurigen Naturforscher- und Ärzteversammlung mit einem philosophischen Vortrag eröffnen zu dürfen. Ich möchte darin ein Zeichen der wiedererwachenden, allenthalben sich regenden Bedürfnisse nach philosophischer Ergänzung und Vertiefung erblicken, wie sie sich bei der jetzigen wissenschaftlichen Gesamtlage naturgemäß entwickelt haben. Wo man über Axiome und Prinzipien, über Raum und Zeit, über Mechanik und Elektrodynamik als Grundlage der gesamten Physik, über Energetik und Atomistik, über Mechanismus und Vitalismus und andere letzte Frage so lebhaft diskutiert, wie in der heutigen Naturwissenschaft, da ist der Sinn und das Interesse für die Beziehungen der Philosophie geöffnet, da spinnen sich von selbst die Fäden, die beide Gebiete miteinander verknüpfen. So hat die Situation im eigenen Lager den Naturforscher zu erkenntnistheoretischen und metaphysischen Erwägungen geführt.

Aber auch die Philosophie hat zu dieser Annäherung beigetragen. Zunächst und vor allem durch die erfolgreichen Versuche, über die materialen und formalen Voraussetzungen der Naturwissenschaft Klarheit zu verbreiten, deren Verfahren und Grundlagen zu begreifen, deren Grenzen und Konsequenzen zu ziehen. Die moderne Logik und Erkenntnistheorie sind in viel höherem Maß zu den Einzelwissenschaften in ein unmittelbares Verhältnis getreten, als das in früheren Zeiten der Fall war, und von der modernen Metaphysik darf erst recht behauptet werden, daß sie im engsten Kontakt mit den besonderen Wissenschaften ihrer Aufgabe obliegt. Daneben muß jedoch auch der modernen Psychologie gedacht werden. Sie ist eine Tochter der Naturwissenschaft und der Philosophie. FECHNER, der bekannte Physiker und geistreiche Philosoph, hat sie ins Leben eingeführt und WUNDT, ein bedeutender Physiologe und unser umfassendster philosophischer Geist, hat sie auf eigene Füße gestellt und ihre selbständige Entwicklung durch die Errichtung eines eigenen Laboratoriums am meisten gefördert. Diese Psychologie arbeitet mit naturwissenschaftlichen Hilfsmitteln und bedient sich vielfach der von der Schwesterwissenschaft ausgebildeten Methoden. Zugleich führen zahlreiche Gesichtspunkte von ihr zu den Geisteswissenschaften hinüber und hat sie der modernen Philosophie in mehr als einer Richtung eine bedeutsame Unterstützung gewähren können. Wenn schon im bürgerlichen Leben entzweite Eltern zuweilen durch wohlgeratene Kinder miteinander versöhnt werden, so wird man auch der modernen Psychologie die erfolgreiche Erfüllung einer ähnlichen Mission für das Verhältnis von Philosophie und Naturwissenschaft zutrauen dürfen.

Aber es ist zweifellos auch dem genius loci [dem guten/bösen Geist des Hauses - wp] zu verdanken, wenn Philosophie und Naturwissenschaft sich in Königsberg zusammenfinden, dem Geist KANTs, in dem das Problem der wissenschaftlichen Arbeit an der Natur seiner ersten erkenntnistheoretischen Lösung entgegenreifte und unter dessen Einfluß sich nach der Niederlage von HEGELs Philosophie die erste beachtenswerte Wiederherstellung der philosophischen Positionen vollziehen konnte. Wenn auch SCHILLER einst den Transzendentalphilosophen das warnende Wort zurief: "noch kommt das Bündnis mit der Naturwissenschaft zu früh", so dürfen wir es heute geradezu als ein günstiges Omen für die Einleitung einer verständnisvollen und fruchtbaren Wechselbeziehung zwischen Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft betrachten, daß wir auf dem durch KANTs Wirken und Schaffen geheiligten Boden sie zu betätigen versuchen.

Es ist bekannt, welch große Bedeutung die mathematische Naturwissenschaft eines NEWTON und seiner Nachfolger für die kantische Philosophie besaß. Die "Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" lassen in ihrer Anwendung der Transzendentalphilosophie auf den Begriff der Materie deutlich erkennen, wie sehr die Aufstellung der Kategorien und Grundsätze des reinen Verstandes durch die Absicht bedingt war, die Voraussetzungen der Mechanik zu verallgemeinern. Eine abgesonderte Metaphysik der körperlichen Natur tut, wie KANT in jener Schrift selbst bemerkt,
    "der allgemeinen vortreffliche, unentbehrliche Dienste, indem sie Beispiele (Fälle in concreto) herbeischafft, die Begriffe und Lehrsätze der letzteren . . . zu realisieren, d. h. einer bloßen Gedankenform Sinn und Bedeutung zu unterlegen." (1)
Und die für seine positive Theorie der Erkenntnis grundlegenden Fragen nach der Möglichkeit und dem Rechtsgrund einer a priori verfahrenden Mathematik und Naturwissenschaft offenbaren uns den Geist seiner bedeutsamen transzendentalen Methode, für die eine Wissenschaft als ein vorgefundener Tatbestand zum Problem und zugleich zur Basis der Philosophie wird. Nicht als ob es gälte, an ihr und ihrem Inhalt herumzukritteln und durch ein reines Denken vermeintlich tiefere und richtigere Einsicht in das Wesen der Naturerscheinungen zu gewinnen. KANTs Transzendentalphilosophie will vielmehr nur die Voraussetzungen der reinen Mathematik und Naturwissenschaft in einen inneren und allgemeinen Zusammenhang aufnehmen und damit eine Theorie der Wissenschaft selbst entwickeln. Die Philosophie spielt bei ihm nicht die Rolle eines albernen Schulmeisters, der alles weiß und alles seiner Zensur unterwirft. Sie ist vielmehr in allem, was den Inhalt der einzelwisssenschaftlichen Forschung anbetrifft, was deren Ergebnisse und Methoden ausmacht, von ihr abhängig und von ihr zu lernen verpflichtet. KANT fragt nicht, ob eine Naturwissenschaft möglich ist, und versucht erst recht nicht, eine philosophische Naturlehre an deren Stelle zu setzen. Er fragt vielmehr: wie ist eine Naturwissenschaft möglich? und ist bestrebt, ihr Faktum aus einer Theorie der Erkenntnis heraus zu begreifen.

Bei aller Anerkennung des gewaltigen Fortschritts, den KANTs Erkenntnistheorie für eine fruchtbare Wechselbeziehung zwischen Philosophie und Naturwissenschaft angebahnt hat, und bei aller Würdigung ihrer Ergebnisse für die Zeit ihrer Entstehung muß doch auf zwei wichtige Aufgaben hingewiesen werden, die in ihr unerfüllt blieben. Die eine von ihnen besteht in der systematischen Herauslösung der unentbehrlichen Voraussetzungen aus der Wissenschaft, in der sie wirksam sind. Gerade an KANTs Beispiel kann die Notwendigkeit eines solchen Verfahrens deutlich gemacht werden. Seine Kategorien sind nicht als Voraussetzungen der Wissenschaft dieser entnommen worden, sondern werden aus der logischen Einteilung der Urteile abgeleitet. So entsteht der Anschein, als ob eine unmittelbare Analyse des wissenschaftlichen Tatbestandes gar nicht erforderlich ist, um die in der Wissenschaft geltenden Prinzipien zu entdecken. KANTs Idealismus hat dadurch eine allzu aprioristische Färbung erhalten. Es bedarf eines zuverlässigen Weges, einer einwandfreien Methode zur Feststellung der in einer Wissenschaft herrschenden letzten Annahmen und Bestimmungen. Solange die Axiomatik nicht allenthalben von den Einzelwissenschaften selbst ausgestaltet worden ist, hat die Erkenntnistheorie die Voraussetzungen, die sie behandeln will, erst einmal aus dem Gewebe, in das sie verschlungen sind, herauszuziehen. Die Methodenlehre der modernen Logik und der allgemeine oder prinzipielle Teil der Einzelwissenschaften haben bereits wertvolle Ansätze zur Lösung dieser Aufgabe aufzuweisen. Aber ein solches aufsteigendes Verfahren der transzendentalen Methode entbehrt noch immer der umfassenderen Begründung und spezielleren Durchbildung.

Dazu kommt eine zweite, wie mir scheint, noch bedeutungsvollere Aufgabe, nämlich die Ausdehnung der transzendentalen Methode auf die empirischen Wissenschaften.
Obwohl KANT neben der reinen eine angewandte Mathematik, neben der mathematischen eine uneigentliche, nach Erfahrungsgesetzen ihre Gegenstände behandelnde Naturwissenschaft und eine historische, die Naturobjekte in einer systematischen Ordnung vorführende Naturlehre unterscheidet, hat er nur auf die a priori verfahrenden Disziplinen seine Theorie gerichtet und begründet (2). Aber das Problem der empirischen Wissenschaften ist nach deren großartiger Entwicklung im abgelaufenen Jahrhundert nicht mehr zu ignorieren. Die selbständigen und eigenartigen Forschungsweisen auf diesem Gebiet haben in der Logik des 19. Jahrhunderts eine verdiente Beachtung gefunden und bemerkenswewrte Untersuchungen angeregt. Dagegen sind die materialen Voraussetzungen der Erfahrungswissenschaften nicht in gleichem Maße studiert und verarbeitet worden. Hier dürfte die Erkenntnistheorie in der Gegenwärt die dringendste und lohnendste Aufgabe zu erfüllen haben. Mit einer kurzen Schilderung einer zu dieser Aufgabe gehörenden Untersuchung hoffe ich dem Bündnis zwischen Philosophie und Naturwissenschaft heute am besten dienen zu können.

In allen Erfahrungswissenschaften finden wir das Bestreben, Gegenstände zu setzen und zu bestimmen, die von der setzenden und bestimmenden Tätigkeit des Forschers selbst unabhängig bestehend gedacht werden. Der Astronom redet in diesem Sinn von den Himmelskörpern und ihren Bahnen, der Physiologe von der Kontraktion der Muskeln, von der Erregung der Nerven, von der Sekretion der Drüsen, der Mineraloge von starren anorganischen Körpern an unserer Erdoberfläche, der Chemiker von den Stoffen und ihren Verbindungen. Solche Gegenstände sind keineswegs mit den Sinneseindrücken identisch, die uns zu ihrer Setzung und Bestimmung Veranlassung gegeben haben. Die Planeten sind keine Empfindungen oder Komplexe von solchen und die chemischen Elemente lassen sich ebensowenig mit den Inhalten unserer Sinneswahrnehmung zur Deckung bringen. Sie sind auch nicht, obwohl man sie zuweilen so genannt hat, Begriffe. Denn diesen kommen keine optischen Eigenschaften wie den Kristallen, keine Absonderungen wie den Drüsen, keine Valenzen wie den chemischen Stoffen unmittelbar zu. Wir wollen solche Gegenstände als Realitäten oder als reale Objekte bezeichnen und sie durch die Unabhängigkeit der Existenz von Setzung und Bestimmung allgemein charakterisieren. Es ist meines Wissens der berühmte Mathematiker GRASSMAN gewesen, der in seiner Ausdehnungslehre zuerst zwischen Formal- und Realwissenschaften aufgrund der Verschiedenheit ihrer Gegenstände eine Grenze aufgerichtet hat (3). Aus diesem für alle Realwissenschaften charakteristischen Verfahren der Realisierung entwickelt sich das große erkenntnistheoretische Problem der Realität, das in vier besonderen Fragen formuliert werden kann:
    1. Ist eine Setzung von Realem zulässig? Diese Frage muß im Hinblick auf die gegnerische Haltung des sogenannten Konszientalismus oder Wirklichkeitsstandpunktes beantwortet werden, der eine jegliche Realisierung als eine Transzendenz über die Wirklichkeit des Bewußtseins, über die ursprüngliche Erfahrung hinaus für unberechtigt erklärt. Für diesen Rest der antiken Skepsis lassen sich alle naturwissenschaftlichen Erkenntnisse als ein Gewebe von Empfindungen und Begriffen fassen und ausdrücken. Hauptvertreter dieser Richtung ist im 18. Jahrhundert der große schottische Philosoph HUME gewesen. In der Gegenwart kommt ihr unter den Naturforschern MACH am nächsten. Die Behandlung unserer ersten Frage gestaltet sich dem Geist der transzendentalen Methode entsprechend als eine Verteidigung des Realismus oder als eine Widerlegung der vom Konszientalismus vorgebrachten Einwände.

    2. Wie ist die Setzung von Realem möglich? und fordert eine Prüfung und Entwicklung der Gründe, die zur Annahme realer Gegenstände führen. Die Art, wie die Philosophie bisher das Problem der Außenwelt behandelt hat, entspricht im Wesentlichen dem Versuch, die hier formulierte Frage für ein bestimmtes Gebiet zu beantworten.

    3. Ist es hiernach gelungen, den allgemeinen Realismus durch eine Theorie der Setzung von Realem zu begründen, dem Wesen der gesetzten Realitäten gelten. Die dritte ist ebenso wie die erste zu formulieren:

    Ist eine Bestimmung von Realem zulässig? und verlangt eine Auseinandersetzung mit derjenigen erkenntnistheoretischen Richtung, die bei dem bloßen Gedanken eines Realen von unbekannter Beschaffenheit, also bei der Setzung stehen bleiben zu müssen behauptet. Der Phänomenalismus, in klassischer Form durch KANT vertreten, lehnt eine positive Beantwortung der beiden letzten Fragen ab. Manche Naturforscher der Gegenwart haben sich, wenn auch aus anderen Gründen als KANT, dieser Richtung angeschlossen. Auch hier wird das Verfahren einer Rechtfertigung realistischer Bestimmung den Charakter einer bloßen Verteidigung der in der Wissenschaft allgemein üblichen speziellen Realisierung tragen dürfen.

    4. Endlich ist zu fragen: Wie ist eine Bestimmung von Realem möglich? Mit der Antwort auf diese Frage wird der spezielle Realismus vollendet, d. h. eine positive Theorie der Bestimmung realer Objekte entwickelt, für die es gegenwärtig kaum einen Ansatz in der Erkenntnistheorie gibt. Zwei Aufgaben sind es hier namentlich, welche gelöst werden müssen. Die realen Gegenstände sind, da sie mit den Bewußtseinsinhalten der Wahrnehmung nicht zusammenfallen und ebensowenig als bloße Begriffe angesehen werden können, nach Platons glücklicher Bezeichnung Gedankendinge. Es bedarf daher einer erkenntnistheoretischen Würdigung des Denkens als des Organs, mit Hilfe dessen Reales gesetzt und bestimmt wird. Gedankendinge sind aber auch die idealen Objekte, die fiktiven Gegenstände, von denen in der mathematischen Wissenschaft ein so häufiger Gebrauch gemacht wird. Darum besteht eine zweite Aufgabe in der Darlegung der Kriterien, welche die realen Objekte auszeichnen, und in der Theorie der verschiedenen Wege, die im Interesse einer speziellen Realisierung eingeschlagen werden.
Dieses Programm einer Grundlegung der Realwissenschaften kann hier selbstverständlich keine Durchführung erfahren. Seine Aufstellung soll uns nur dafür den Blick öffnen, daß die Erkenntnistheorie hier ein weites und nur wenig bebautes Feld der Arbeit vorfindet, auf dem sich die beste Gelegenheit zur Verständigung zwischen der Philosophie und den Einzelwissenschaften bietet. Es ist an der Zeit, die Aufgabe der Wissenschaft nicht durch die Mathematik schlechthin typisch ausgeprägt zu finden und das Ziel aller Realwissenschaften in schlichter Anerkennung seiner prinzipiellen Berechtigung systematisch zu entwickeln und abzuleiten. Hier liegt keine bloße Beschreibung von Bewußtseinstatsachen vor, hier werden ebensowenig reine Gedanken, mögen sie auf Abstraktion oder Kombination aus der Erfahrung beruhen oder sonstige Produkte einer gestaltenden Logik sein, in ihrer Gesetzmäßigkeit behandelt. Hier haben wir es vielmehr mit Gegenständen zu tun, deren Erkenntnis aus der Erfahrung und dem Denken gewonnen wird und die daher in einer eigentümlichen Doppelbeziehung zu diesen beiden Quellen unserer wissenschaftlichen Einsicht stehen. Mit Faktoren a priori, mit reinen Anschauungen und Verstandesformen konnte KANT für die Lehre von der Möglichkeit einer Mathematik und Mechanik ausreichen. Das Problem der Realität ist aber nur unter ausdrücklicher Berücksichtigung des a posteriori [im Nachhinein - wp] Gegebenen, der Bewußtseinstatsachen, der Wahrnehmungsinhalte zu lösen. Mit einigen wenigen Andeutungen über die darin liegenden besonderen Schwierigkeiten und deren Überwindung muß ich mich hier begnügen. Ich möchte zeigen, wie innerhalb gewisser Grenzen eine Setzung und Bestimmung von Realem möglich ist, also mich auf den Umkreis der durch die zweite und vierte Frage bezeichneten Aufgaben, so weit sie zur Naturwissenschaft in Beziehung stehen, beschränken.

Alle Erfahrung enthält, wie uns schon KANT gelehrt hat, zweierlei: Faktoren, die von uns unabhängig sind, die sich uns aufdrängen, als ein Gegebenes, Vorgefundenes schlechthin zu gelten haben und daneben, von ihnen nur in abstracto trennbar, Zutaten unserer selbst, mögen sie nun zufällige Auffassungsweisen oder Gesetzmäßigkeiten unserer Organisation sein. Die Aufgabe aller Realisierung besteht nun im Allgemeinen darin, diese beiden Faktoren voneinander zu sondern und das von uns Unabhängige in seiner Eigentümlichkeit zu erkennen. So verfährt bereits der naive Realismus, dem wir alle innerhalb gewisser Grenzen praktisch huldigen. Als unabhängig gilt dabei, was unser Wille nicht hervorgebracht hat und nicht zu ändern vermag. Aber das Prinzip der Subjektivität der Sinnesqualitäten, das sich der Naturforschung in der neueren Zeit unabweislich aufdrängt und durch das Gesetz der spezifischen Sinnesenergie (4) seine positive Ergänzung fand, hat die von unserem Willen unabhängigen Empfindungen trotzdem von "uns" abhängig und damit unfähig erscheinen lassen, Bestandteile oder Eigenschaften der Naturobjekte zu sein.

Dadurch bildete sich ein neues Kriterium der Realität aus. Die Unabhängigkeit vom erfahrenden Subjekt ist das Merkmal der objektiven Welt des Naturforschers geworden. Eine solche Unabhängigkeit aber ließ sich nur an abstrakten Gegebenheiten der Erfahrung feststellen. Veränderungen räumlicher und zeitlicher Art, das Kommen und Gehen der Sinnesinhalte, ihr längeres oder kürzeres Verweilen, ihre Koexistenz und Sukzession, ihre Konfiguration und Ordnung weisen zweifellos eine von uns unabhängig bestehende Gesetzlichkeit auf. Dabei sind aber diese abstrakten Beziehungen zwischen Inhalten gegeben, die als solche ebenso sicher von unserer Organisation abhängen. Das Material, so können wir auch sagen, an welchem wir jene selbständige, von uns nicht erzeugte Gesetzlichkeit entdecken, ist durch unsere Organe bedingt. Suchen wir nach einem Analogon für diese Sachlage in der Naturwissenschaft selbst, so werden wir hier den Begriff von erzwungenen Bewegungen am ehesten anwendbar finden (6). Auch hier ist der Vorgang, die Veränderung, welche sich an einem Gegenstand vollzieht, durch diesen selbst nicht hervorgebracht, er ist daran unschuldig, das Geschehen wird ihm aufgenötigt. Das Problem der Außenwelt läßt sich daher vom Standpunkt des Physikers auch so formulieren: wie muß dasjenige beschaffen sein, das die von uns unabhängigen Beziehungen zwischen den Sinnesqualitäten entstehen läßt? Voraussetzung ist dabei, daß diese Beziehungen selbst zugleich jener Welt angehören, daß also das aufgenötigte Geschehen in unserer Erfahrung demjenigen entspricht, welches diese Nötigung ausübt. Durch diese Einschränkung wird der Untersuchung eine bestimmte Richtung zugewiesen und der Begriff der erzwungenen Bewegung genauer determiniert.

Aus dem Kriterium des naturwissenschaftlichen Realismus ergibt sich, daß die Sinnesqualitäten nicht schon durch ihre Beschaffenheit ein Anrecht auf eine Realisierung haben. Denn die selbständige Gesetzlichkeit, die wir an ihren Beziehungen wahrnehmen, wurzelt nicht in ihrer Qualität. Sie wäre auch dann möglich, wenn die Empfindungen eine ganz andere als die tatsächlich gegebene Beschaffenheit hätten. Wenn wir rot empfänden, wo wir jetzt grün empfinden, und umgekehrt, so wäre die Gesetzlichkeit nicht gestört. Wir würden von grünem Blut und von roten Wiesen reden und könnten den Zucker bitter und die Aloe süß nennen - all das würde am naturwissenschaftlichen Kriterium der Realität und seiner Anwendung nichts ändern. Die Sinnesqualität als solche ist hierfür irrelevant. Darum konnte GALILEI sagen, daß die Sinnesinhalte für die Körper der Naturwissenschaft unwesentliche oder zufällige Merkmale sind.

Trotzdem findet man zuweilen bei Naturforschern wie bei Philosophen die Ansicht ausgesprochen, daß gewisse Qualitäten davon eine Ausnahme machen. Man nennt sie die mechanischen Qualitäten. Druck, Stoß, Zug, Kraft und vielleicht noch die Schwere, der Widerstand, die Undurchdringlichkeit gehören dazu. In ihnen meint man die Qualitäten des Tast- und des Muskelsinns vor sich zu haben. Was Kraft ist, soll man nur aus der Anstrengungsempfindung der eigenen Muskulatur wissen, ebenso soll die Schwere nur durch den Sinneseindruck verständlich werden, den man beim Heben einer Last verspürt, Undurchdringlichkeit soll nichts anderes sein, als der unbesiegbare Widerstand, den ein Körper unseren Versuchen, in ihn einzudringen, entgegensetzt, oder die Empfindung der Härte. Druck, Stoß und Zug aber sollen wir alle als besondere Qualitäten unseres Tastsinnes kennen. Und so ist man dann von diesem Standpunkt aus geneigt, die sogenannte mechanische Interpretation der Naturerscheinungen, die Zurückführung aller Naturrealität auf Bewegungen und bewegende Kräfte, als eine Bestimmung durch Tast- oder Muskelsinnesqualitäten aufzufassen. Darum sollen diese einen besonderen Realitätswert haben, der den anderen Qualitäten abzusprechen ist.

Diese Lehre ist einerseits am allgemeinen Kriterium der Realität zu messen und muß von ihm aus verworfen werden. Denn für die Qualitäten des Tast- und Muskelsinns gilt in der gleichen Weise wie für alle anderen die Abhängigkeit von der psychophysischen Organisation. Es wäre deshalb ein Rest von naivem Realismus, wenn man sie den Tönen und Farben, den Gerüchen oder Geschmäcken gegenüber auszeichnen wollte. Andererseits ist die Prüfung dieser Ansicht auch vom tatsächlichen Weltbild des Naturforschers aus durchzuführen. Es muß untersucht werden, ob dessen Begriffe wirklich durch die mechanischen Qualitäten unserer Sinneswahrnehmung bestimmt sind. Auch das ist, soweit wir aus den Definitionen ersehen können, nicht der Fall. Vielmehr liegt bei dem Versuch, den mechanischen Naturbegriffen die Bedeutung gewisser Sinnesqualitäten beizulegen, eine Einfühlung vor, die jene Begriffe in keiner Weise ergänzt oder gar mit ihrem eigentlichen Sinn erfüllt.

Wir alle unterliegen bekanntlich willig dem unausrottbaren Trieb zur Einfühlung in die uns gegebene Welt, sobald wir uns ihr gegenüber ästhetisch verhalten dürfen. Aber diese Einfühlung ist und bleibt, vom erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt aus betrachtet, eine subjektive Zutat, eine Hineintragung von uns abhängiger Faktoren in das Reich der Realität. Dabei haben wir drei verschiedene Stufen dieses Prozesses zu unterscheiden. Die erste besteht darin, daß die Naturkörper selbst mit den Empfindungen von Druck, Widerstand, Kraft usw. begabt gedacht werden, wenn sie Druck, Widerstand, Kraft ausüben oder erleiden. Sie selbst gleichen dann Organismen, denen wir allgemein eine solche Empfindungsfähigkeit beilegen. Das ist die ursprünglichste Stufe der Einfühlung, die wir jederzeit betreten, sofern wir Wesen außer uns Zustände zuschreiben, die wir selbst erleben, falls wir uns in einer ähnlichen Situation befinden. Dann dienen die Sinnesqualitäten unmittelbar zur Bestimmung der Realität, die Naturobjekte haben die Fähigkeit, auf mechanische Einwirkungen mit mechanischen Qualitäten zu reagieren. Von hier führt nur ein Schritt zur Verlegung von Liebe und Haß, von Fühlen und Wollen in die leblose Natur. Dieser Stufe der Einfühlung gegenüber ist es nicht schwer sich klar zu machen, daß eine mechanische Beziehung stattfinden kann, ohne daß man Empfindungen oder Sinnesqualitäten den in dieser Beziehung stehenden Körpern beizulegen braucht. Man hat sich nur zu vergegenwärtigen, welche mechanischen Qualitäten noch dem toten Tierkörper innewohnen können, wenn er Druck ausübt und Widerstand erleidet und genau der lebendigen Kraft fähig ist, die wir einem Stück Holz oder einem Stein von entsprechender Masse zuschreiben.

Eine zweite Stufe der Einfühlung besteht darin, daß man dem Druck, dem Stoß, der Kraft die Bedeutung von Sinnesqualitäten gibt, so wie man etwa der Gebärde des in Schlangen verstrickten Steinbildes des Laokoon die Bedeutung des Schmerzes beilegt. Man behauptet nicht, daß die Marmorgestalt den Schmerz empfindet, aber man interpretiert sich ihre Haltung und Miene in diesem Sinn. So meint man auch, daß Druck, Stoß, Kraft nichts anderes bedeuten kann, als die uns bekannten Qualitäten des Tast- oder Muskelsinns. Diese Stufe geht leicht in die dritte über, nach welcher wir uns die Worte Druck, Widerstand, Zug usw. nicht anders sollen verständlich machen können, als durch die Beziehung auf unsere entsprechend benannte sinnliche Erfahrung. Hiernach hätten wir überall, wo solche Begriffe uns in der Naturwissenschaft entgegentreten, ihnen den aus unserer Empfindungswelt bekannten Inhalt zu verleihen, und jene Ausdrücke müßten leere Zeichen bleiben, wenn wir auf die Erfüllung mit solchen Inhalten verzichten würden. Untersuchen wir daraufhin die Redeweise der Naturforscher, so werden wir alsbald entdecken, daß sie von solchen Qualitäten gänzlich abstrahieren. Druck, Stoß, Zug, Kraft sind überhaupt nicht ab bestimmte Sinnesinhalte gebunden, sie werden auch dort als bestehend gedacht, wo eine Mitwirkung unserer mechanischen Qualitäten ganz ausgeschlossen ist, und als Begriffe erhalten sie einen Sinn nur im Hinblick auf das selbständige, fremdgesetzliche Geschehen, von dem wir gesprochen haben. Jene naturwissenschaftlichen Bestimmungen sind keine Übertragungen sinnlicher Qualitäten auf die Außenwelt. Und wenn sich die Erinnerung an die geläufigen Sinnesqualitäten bei der Anwendung dieser Namen aufdrängen sollte, würde die kritische Vorsicht und Besonnenheit fordern, einer solchen psychologischen Gesetzmäßigkeit keinen Einfluß auf die Bearbeitung des eigenen Gebietes zu gestatten. Wer aber daran Anstoß nehmen sollte, daß hier Begriffe ohne anschaulichen Inhalt angewandt werden, mag durch die moderne Psychologie zu der Einsicht gelangen, daß es auch unanschauliche Bewußtseinsinhalte gibt und daß die Gegenstände unseres Denkens keineswegs den Sinneseindrücken entnommen zu sein brauchen.

So ist die reale Welt des Naturforschers zunächst ein abstraktes Geschehen, eine Veränderung ohne Veränderliches, eine Bewegung ohne Bewegliches, eine Beziehung ohne Beziehungsglieder. Als solche ragt und wirkt sie unmittelbar in unsere Bewußtseinswirklichkeit hinein, als solche kann sie beobachtet, berechnet, gemessen werden. Und dieses Geschehen wird von Gesetzen durchwaltet, von virtuellen Abhängigkeiten, die sich mit und ohne unser Wissen zur Geltung bringen und auf unser Zutun gar nicht angewiesen sind. Seine Träger im Bewußtsein jedoch, das bunte Heer unserer Sinneseindrücke, machen das ihnen aufgezwungene Verhalten mit, sie müssen es, wie es vom Heideröslein heißt, "eben leiden".

Ist Realisierung die Setzung und Bestimmung von Gegenständen, die von uns unabhängig bestehen, so muß Erfahrung und Denken an ihr beteiligt sein. Denn ob es solche Gegenstände gibt, darüber kann nur die Erfahrung einen Aufschluß gewähren, und die Abstraktion von allen Subjektivitäten, mit denen unsere Bewußtseinstatsachen reichlich erfüllt sind, kann nur vom Denken geleistet werden. Darum gibt es keine rein rationalen und ebensowenig rein empirische Kriterien der Realität. Jene gelten für alle gedachten, nicht bloß für die realen Objekte, und Erfahrung ist in keinem ihrer für sich gegebenen Bestandteile etwas schlechthin Reales. Wenn man daher die Widerspruchslosigkeit oder den logischen Gegensatz oder das Prinzip des zureichenden Grundes als rationale Kriterien der Realität hat verwerten wollen, so ist man stets hinter seiner Aufgabe zurückgeblieben. Eine Unterscheidung von idealen und realen Objekten ist auf dem Boden des reinen Denkens, des a priori [von Vornherein - wp] nicht vollziehbar. Das bloße Denken bestimmt nichts über seinen Inhalt, abgesehen von der allgemeinen, auch für alle Fiktionen geltenden Festsetzung, daß das Gedachte denkbar, daß es denkmöglich sein muß.

Aber auch die Erfahrung, für sich allein genommen, ist dem Naturforscher weder in ihrer Totalität noch in einzelnen Abschnitten gleichbedeutend mit dem Realen. Man braucht dabei nicht einmal an die Materie oder die Energie, an Elektronen und Moleküle zu denken, auch die empirischen Gesetzmäßigkeiten der Naturwissenschaft, wie die des freien Falls oder die der magnetischen und elektrischen Erscheinungen, sind keine Beziehungen zwischen Sinnesinhalten, obwohl sie an ihnen und mit Hilfe der Beobachtung von ihnen ermittelt und demonstriert werden. Sinneseindrücke fallen nicht, ziehen sich nicht an und stoßen sich nicht ab, Sinnesinhalten haben keine meilenweiten Abstände und keine Lichtgeschwindigkeit, sie atmen und wachsen nicht und scheiden keine Flüssigkeiten aus, sie lassen sich keinem periodischen System von Atomgewichten einfügen und sich auf keine Kristallform zurückführen (6). Darum sind rein empirische Gründe für die Setzung und Bestimmung von Realitäten keine genügende Rechtfertigung derselben. Die besondere Stärke gewisser Empfindungen, der Unterschied zwischen der Wahrnehmung und der Vorstellung, die Tatsache der äußeren Wahrnehmung und manche andere für eine Lösung des Problems der Außenwelt angegebenen Erfahrungsgrundlagen reichen nicht aus, um den Realismus der Naturwissenschaft zu erklären, so sicher es ist, daß Sinneswahrnehmungen einen notwendigen Anteil daran haben. Bestimmte Erfahrungen als solche weisen nicht über sich hinaus, auf eine von ihnen verschiedene Außenwelt hin. Sie sind ein in sich Vollendete und Abgeschlossenes, einer unmittelbaren Verwertung für realistische Bestimmungen weder fähig noch bedürftig.

Nur als ein Produkt von Erfahrung und Denken, von Wirklichkeit des Bewußtseins und vernunftgemäßer Erwägung, von Sinneseindruck und Verstandestätigkeit läßt sich der Realismus der Naturwissenschaft begreifen. Was KANT allgemein erklärte:
    "Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind ..., nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen",
gilt hier sicherlich in dem Sinn, daß ein Realismus nur aus dem Zusammenwirken von empirischen und rationalen Momenten hervorzugehen vermag. Dieser Einsicht sind dann auch solche Bestimmungen zu verdanken, die in der Außenwelt eine Ursache unserer Wahrnehmung oder den einheitlichen Beziehungsgegenstand für die Sinnesempfindung vieler Personen oder die Trägerin der fremdgesetzlichen Beziehungen innerhalb unserer Sinneseindrücke erblickt haben. Denn in allen diesen Kriterien sind empirische und rationale Faktoren regelmäßig miteinander verbunden.

Wir haben uns für das letzte der hier genannten gemischten Kriterien entschieden und unter Verwendung einer physikalischen Analogie die von uns unabhängigen Beziehungen der Sinnesinhalte zueinander als erzwungene, ihnen aufgenötigte Beziehungen bestimmt, die in einer von ihnen verschiedenen Außenwelt ihren Ursprung haben müssen.
LITERATUR - Oswald Külpe, Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft,Leipzig 1910
    Anmerkungen
    1) Kants Werke, Akademie-Ausgabe IV, Seite 478, 15f. Vgl. über Kants Verhältnis zur Naturwissenschaft das Buch von Edmund König, "Kant und die Naturwissenschaft", 1907, sowie Höflers Ausgabe der "Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft", 1900 und die für die Entwicklung der naturphilosophischen Gedanken bei Kant lehrreiche Abhandlung von Franz Biederlack, "Die naturphilosophischen Gedanken Kants in ihrer systematischen Entwicklung", Halle/Saale 1910.
    2) A. a. O. 468, 7f. Vgl. dazu meinen Kant in der Sammlung "Aus Natur und Geisteswelt", Leipzig, zweite Auflage 1908, Seite 89f.
    3) Vgl. Hermann Graßmann, Die Wissenschaft der extensiven Größe oder die Ausdehnungslehre, Bd. 1, 1844, Seite XIX. Rehmke hat neuerdings in seiner "Philosophie als Grundwissenschaft, 1910, innerhalb des Gegebenen Wirkliches und Nichtwirkliches unterschieden, beide als unabhängig vom Bewußtsein bezeichnet und dadurch gegeneinander abgegrenzt, daß jenes in einem "Wirkenszusammenhang" mit anderem Gegebenen stehen soll, während das Unwirkliche außerhalb desselben verbleibt (Seite 300f, 391 und besonders 630f). Rehmke scheint zu übersehen, daß die Unabhängigkeit vom Bewußtsein in beiden Fällen einen verschiedenen Sinn hat. Beim Irrealen, den Gestalten des Märchens, den imaginären Zahlen, den freien Gebilden geometrischer Synthese, besteht nur eine Unabhängigkeit der Geltung, aber nicht eine solche der Entstehung und der Existenz. Andererseits ist sein Kriterium des Kausalzusammenhangs nicht ausreichend. Die Gestalten des Märchens und der Sage stehen ebenso in einer Wirkenseinheit miteinander, wie reale Einzelwesen. Nur wenn man stillschweigend ddabei den realen Kausalzusammenhang schon voraussetzt, kann darin ein Kriterium der Unterscheidung von Wirklichem und Unwirklichem gefunden werden. Dann aber liegt eine petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp] vor. Außerdem fehlt es an einer Unterscheidung zwischen der Wirklichkeit des Bewußtseins und der Realität. Im Übrigen stehe ich mit der scharfsinnigen Kritik des Phänomenalismus durch Rehmke vielfach auf gleichem Boden. Vgl. dazu meine "Einleitung in die Philosophie", fünfte Auflage 1910, § 17.
    4) Das Gesetz der spezifischen Sinnesenergie besagt in allgemeinster Fassung: jede Sinnesqualität ist von nervösen Erregungen und nicht von den sie veranlassenden äußeren Reizen spezifisch abhängig. Etwas spezieller: jede Sinnesqualität ist an die Erregungen einer bestimmten Sinnessubstanz gebunden. Noch spezieller: jede Sinnesqualität ist innerhalb der Sinnessubstanz an bestimmte Endorgane peripherischer und zentraler Art gebunden. In allen drei Fassungen aber betont es die spezifische Abhängigkeit vom empfindenden Subjekt, während die Reize nur die Bedeutung von Auslösungsprozessen erhalten.
    5) Vgl. z. B. F. Auerbach in Winkelmanns "Handbuch der Physik", Bd. 2, Seite 111, 122. Dasselbst auch 146f. Literaturangaben. Es versteht sich von selbst, daß diese Analogie nur bei einem bestimmten Fall solcher Bewegungen zutrifft.
    6) Hans Kleinpeter hat in seinem Aufsatz "Die phänomenologische Naturanschauung und der philosophische Realismus", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 34, 1910, Seite 46f, wieder einmal die Machsche Phänomenologie gegen Stumpf und mich zu rechtfertigen gesucht. An Stumpf, dessen eingehendere Stellungnahme zu dieser Frage in den Abhandlungen der Berliner Akademie der Wissenschaften, 1907, "Zur Einteilung der Wissenschaften", Seite 10f, er nicht kennt, statuiert er dabei "den klassichen Fall", "daß Nichtphysiker über rein physikalische Dinge aburteilen" (Seite 52). Hiernach scheint Kleinpeter der Ansicht zu sein, daß erkenntnistheoretische Erörterungen "rein physikalische Dinge" sind. Seine weiteren Bemerkungen zeigen nur, daß er das Problem nicht verstanden hat, um das es sich bei den phänomenologischen Gesetzen in der Physik handelt. Vielleicht sind die Bemerkungen von Stumpf, a. a. O., denen ich mich vollständig anschließen kann, oder die hier und in der 5. Auflage meiner "Philosophie der Gegenwart" angestellten Betrachtungen dazu geeignet, ihm klarzumachen, daß die physikalischen Gesetze keine Empfindungsgesetze sind. Es wäre ja auch gar nicht zu begreifen, warum die Auflösung der Physik in Phänomenologie solche Schwierigkeiten bereiten müßte, daß selbst ein Mach die "Zurückführung aller physikalischen Gesetze auf rein phänomenologische nicht mehr leisten" dürfte (Seite 61), wenn jene Gesetze sich so selbstverständlich auf Empfindungen beziehen würden, wie Kleinpeter mit drastischen Ausdrücken behauptet (namentlich Seite 59, wo er sich "förmlich versucht" fühlt, micht "in das Laboratorium zu bitten, in dem diese Gesetze durch Empfindungen demonstriert werden"!). Vielleicht macht es auf Kleinpeter etwas mehr Eindruck, daß auch Physiker wie Max Planck, "Die Einheit des physikalischen Weltbildes", Leipzig 1909, sich auf denselben Standpunkt stellt wir wir Philosophen, die sich angeblich "über die anderswo bereits geleistete Arbeit einfach" hinwegsetzen und damit "eine etwas lächerliche Rolle spielen." (Seite 66)