C. MengerK. DiehlH. DietzelR. SchuellerG. CohnA. Wagner | ||||
Die Aufgaben der Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft
Mehr aber noch: Immer zahlreicher werden die Stimmen derer im eigenen Lager der Volkswirtschaftslehre, die energisch erklären: Es kann so nicht weiter gehen. RICHARD EHRENBERG, ein "Einspänner" zwar in unserer Wissenschaft, aber doch ein Mann, der aufgrund wissenschaftlicher Verdienste ein Recht darauf hat, gehört zu werden, widmet "Im Tag" (21. 3. 1909) den "Katheder-Sozialisten" die folgenden herben Worte:
Die ganze Darstellung wird es wohl rechtfertigen, wenn ich meinen Stoff in vier Abschnitten behandle, denen ich etwa die Überschrift geben könnte:
2. Volkswirtschaftslehre und politische Reformbewegung, 3. Volkswirtschaftslehre und geschäftliche Praxis, 4. Die volkserzieherische Aufgabe der Volkswirtschaftslehre, ihre Beziehung zur öffentlichen Meinung Wissenschaften sind, so sagt uns die Wissenschaftslehre, Inbegriffe von formulierten Gedanken, die auf Allgemeingültigkeit Anspruch erheben, demnach ist wissenschaftliches Denken ein seinem Ziel nach allgemeingültiges Urteil. (BENNO ERDMANN) Man pflegt nun zu sagen, die Wissenschaft zerfalle in zwei große Gebiete, die Naturwissenschaft und die Menschenwissenschaft; oder, wie man mit SOMBART besser unterscheiden wird, in die Körper- und Seelenforschung, bei der Menschenforschung handelt es sich nur um jene Wissenschaft, die die menschliche Seele zum Objekt hat, während der menschliche Körper Gegenstand der Naturforschung ist. Wesensunterschiede der beiden Gebiete des menschlichen Denkens ergeben sich, wie wiederum SOMBART näher ausführt, aus der Verschiedenheit des Stoffs:
Derartige Unterscheidungen sind aber cum grano salis [mit einer Brise Salz - wp] zu verstehen. In den Menschheitserscheinungen wirken Naturkräfte und Menschenkräfte zusammen, um eine gemeinsame Erscheinung hervorzubringen. Es erklärt sich daraus zum Teil, daß man je nach dem vorherrschenden Zug der Zeit die Erscheinungen des Menschenlebens bald zu einseitig mit den Mitteln der Naturwissenschaft zu erklären versucht, bald zuviel Gewicht auf die Psyche des Menschen und auf ihr Wollen legt. Die einen lehren, daß der Strom der wirtschaftlichen Entwicklung sich nicht leiten läßt durch menschliches Eingreifen, daß er sich vielmehr eigenwillig seinen Weg selbst bahnt, möge der Mensch damit einverstanden sein oder nicht, während andere lehren, der Wille zur Tat allein lenkt die Welt auch gegen den Strom der wirtschaftlichen Entwicklung. Diese und jene sehen eben gewöhnlich nur die eine Seite des Problems und urteilen daher einseitig. Das ökonomische Wollen des Menschen kennt keine Grenzen, das ökonomische Können aber muß innerhalb der dem Menschen erreichbaren Güterwelt bleiben. Und da der Mensch der homo sapiens ist, schließt er einen Kompromiß zwischen seinem Können und seinem Wollen dadurch, daß er mit dem, was er hat, und dem, was er kann, "haushälterisch" verfährt, möglichst wenig hingibt, um möglichst viel dafür zu bekommen. Ein derartiges wirtschaftliches Verhalten finden wir nun zwar durchaus nicht bei jedem Individuum, der Herr X zum Beispiel und die Frau Y mögen sehr dagegen "sündigen", ja es mag zugegeben werden, daß eine ganze Generation es unterläßt, wirtschaftlich zu handeln, aber nur mit der Wirkung, daß die folgende Generation die Vorfahren wegen ihrer Gedankenlosigkeit, ihrer Verschwendung anklagt, für die sie nun als Nachkommen büßen muß. So bleibt es jedenfalls wahr, daß der Mensch, wie wir ihn uns vorstellen als Repräsentanten der Menschheit, das Handeln nach einem Wirtschaftsprinzip als ein unentbehrliches Ausstattungsstück seiner psychologischen Natur betrachten muß. Er zieht ja nur die Konsequenz aus einer ehernen Notwendigkeit. Verschärft wird die Wirksamkeit des wirtschaftlichen Motivs noch durch soziale Einflüsse (5), durch die Tatsache, daß das Gemeinschaftsleben der Menschen den Trieb anregt, über die Mitmenschen empor zu kommen, andere Menschen den eigenen Zweckbestrebungen zu unterwerfen, Macht zu gewinnen, die wiederum ganz besonders mit den Reichtümern verknüpft ist, deren Gewinnung sich nicht wohl vom wirtschaftlichen Prinzip trennen läßt. In der Tatsache dieses Prinzips liegt ein Gutteil Erklärung für die gesamte Kulturentwicklung der Menschen überhaupt, sie ist zugleich aber auch die Hauptwurzel für die Wissenschaft, die sich mit dem Studium und der Erklärung des organischen Ineinandergreifens der menschlichen Einzelwirtschaften befaßt, der Sozialökonomik oder Volkswirtschaftslehre. Daß Sozialökonomik der beste Titel ist für die Wissenschaft, die wir im Auge haben, hat HEINRICH DIETZEL in unwiderlegbarer Weise nachgewiesen (6). Aber auch das Wort Volkswirtschaftslehre läßt sich rechtfertigen, wenn man beim Begriff Volk denkt und nicht die nationalen Verschiedenheiten entscheidend sein lassen will, wie man das tut, wenn man von den Völkern spricht. Diejenigen, die das Wort Volkswirtschaftslehre wählen, haben als Grund zudem für sich, daß sie ein Fremdwort vermeiden und deshalb auch dem Laien von vornherein das Verständnis erleichtern für das, worum es sich handelt zumal das Beiwort "sozial" zu allerlei Mißverständnissen verleiten kann. Der Name Nationalökonomie läßt sich unzweifelhaft viel schwerer verteidigen; von MAYR will allerdings gerade das Wort "national" unterstreichen. Die nationale Zusammenfassung des Wirtschaftslebens soll die bedeutsamste sein. Sie ragt hervor sowohl gegenüber weltwirtschaftlichen Tendenzen, wie auch gegenüber einseitigen Interessenbestrebungen innerhalb des nationalen Ganzen. Dieser nationale Zusammenschluß des wirtschaftlichen Lebens soll die wichtigste Erscheinungsform der Volkswirtschaft sein, als des Komplexes der wirtschaftlichen Erscheinungen, die aus den Wechselbeziehungen der in diesen Zusammenschluß einbezogenen Einzelwirtscahften sich ergeben (7). Das trifft gewiß für die Wirtschaftspolitik und für die Wirtschaftsgeschichte zu, aber nicht für die Wirtschaftswissenschaft, wie sie her aufgefaßt wird. Das Prinzip der Wirtschaftlichkeit ist ansich betrachtet, losgelöst von den Zufälligkeiten der Umgebung etwas Festgegebenes.
Aber beschreiben ließen sich dann doch die wirtschaftlichen Vorgänge? Man mache den Versuch, man suche die Wirklichkeit eines Gemüsemarktes z. B. erschöpfend zu schildern. Man analysiere die einzelnen Verkäufe und Käufe, die da stattfinden zunächst etwa nach den zugrunde liegenden psychologischen Motiven: Bei Fall Nr. 1 haben wir es mit einer Marktfrau zu tun, die im Dienst ergraut ist, die ihren Kunden schon an der Nase ansieht, wessen Geistes Kind sie sind, sie handelt gerade jetzt mit einem unkundigen Fremden, wir können sicher sein, daß sie ihm mindestens 50% "zuviel" abnimmt: Nr. 2 ist ein lebenslustiges junges Ding, das nimmt, was es bekommen kann, um rasch auszuverkaufen; denn sie weiß, daß "er" schon an der nächsten Ecke auf sie wartet; Nr. 3 ein gutmütiger Typus, nimmt eben von einer barmherzigen Schwester einen kräftigen Händedruck entgegen, als Lohn für die Außerachtlassung des ökonomischen Prinzis, Nr. 4, eine cholerisch veranlagte Hausfrau, sieht ihre größte Feindin vor einem Marktkorb feilschen, rasch eilt sie hinzu, und bietet mer als dem wirtschaftlichen Prinzip entsprechen würde, hat aber dafür auch das wohlige Gefühl, Frau X gründlich geärgert zu haben. ... Wir empfinden alsbald, daß wir Unmögliches zu unternehmen versuchten, obwohl SCHMOLLER meint, "volkswirtschaftliche Erscheinungen beobachten heißt die Motive der betreffenden wirtschaftlichen Handlungen usw. klarlegen." Nur das bekommen wir ja als allgemeingültiges Resultat unserer Untersuchung, daß die Menschen kuriose Leute sind, etwas, was man auch schon ohne eingehende Untersuchungen der Wirklichkeit hätte wissen können. Weil man nun aber doch gerne aus wenig viel machen möchte, trägt man nur zu gerne in die wissenschaftlichen Untersuchungen "unkontrollierte Instinkte, Sympathien und Antipathien hinein", und noch leichter widerfährt es den Jüngern der deutschen historischen Schule, so meinte MAX WEBER in seiner Freiburger Antrittsrede, "daß der Punkt von welchem wir bei der Analyse und Erklärung der volkswirtschaftlichen Vorgänge ausgehen, unbewußt auch bestimmend wird für unser Urteil darüber." (9) Derselbe Autor führt in einer späteren Arbeit, in seinen kritischen Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik aus (10), wenn man sage, daß die Geschichte die konkrete Wirklichkeit eines Ereignisses in seiner Individualität kausal zu verstehen habe, so sei damit selbstverständlich nicht gemeint, daß sie dasselbe in der Gesamtheit seiner individuellen Qualitäten unverkürzt zu reproduzieren habe, das wäre eine nicht nur praktisch unmögliche, sondern prinzipiell sinnlose Aufgabe. ...
So behandelt dann auch der Sozialökonom in der Hauptsache nur eine Seite des menschlichen Lebens, wenn er überhaupt wissenschaftlich arbeiten soll und nichts Unmögliches leisten will und kann. Ihn interessieren die Menschen nur, soweit sie wirtschaftlich zu handeln in der Lage sind. Daß ein solches Isolierverfahren notwendig ist, um wissenschaftlich brauchbare Begriffe klar und eindeutig herauszuarbeiten, kann wohl im Ernst von niemandem geleugnet werden, der wissenschaftlich denkt. Zutreffend weist auch LIFSCHITZ (Untersuchungen über die Methodologie der Wirtschaftswissenschaft, 1909, Seite 39) darauf hin, daß die historische Schule die isolierende Abstraktion bekämpft "ohne dabei zu achten, daß selbst nach der historisch-empirischen Methode der Denprozeß immer auf die Abstraktion und Isolation angewiesen ist, wenn überhaupt ein Denken zustande kommen soll." Daß es umgekehrt den "abstrakten" Nationalökonomen, namentlich auch RICARDO nicht an "empirischer Weltkenntnis", an "positivem Studium des Konkreten" fehlte, hat DIETZEL (a. a. O., Seite 106f in vortrefflicher Weise dargelegt. Daß die Sozialökonomik sich nur mit einer Seite des menschlichen Lebens zu befassen hat, muß sogar KNIES zugestehen, der von SCHMOLLER den Ehrentitel "Theoretischer Begründer der historisch-psychologischen modernen deutschen Nationalökonomie" erhalten hat. Von KNIES stammt der häufiger zitierte Satz:
Freilich, das Prinzip, das im Vordergrund unserer Wissenschaft steht, ist nicht ein Motiv, das im Wirtschaftsleben ebensoviel und ebensowenig wiegt, wie irgendein anderes, es handelt sich vielmehr um das Haupt prinzip, mit dem - ich wiederhole das - gewiß nicht jeder einzelne Mensch in allen Lagen seines Lebens, aber doch die Menschheit, solange der Adamsfluch auf ihr lastet und sie Kulturstreben in sich fühlt, unbedingt rechnen muß. Das ist nachdrücklich hervorzuheben, weil ja unsere Wissenschaft nicht so sehr der Mensch, wie er uns etwa zufällig auf der Straße begegnet interessiert, sondern die Menschen, wie sie uns als typische Individuen einer Gruppe gegenübertreten, als Arbeiter, Unternehmer, Kapitalisten, als Landwirte, Handwerker, Kaufleute als Angehörige des Staates, der Nation, der Rassen. Und noch eins muß hier gesagt werden: Wirtschaftliche Motive sind keineswegs ausschließlich egoistische Motive. Dies hebt MARSHALL mit Recht hervor (11). Er meint dabei zugleich, daß hier einer der Punkte ist, wo ein Teil der deutschen Sozialökonomen die älteren englischen Schriftsteller mißverstanden hat, von denen man noch heute zuweilen behauptet, daß sie den Egoismus zum regulierenden Faktor im Wirtschaftsleben hätten machen wollen. MARSHALL mißt die Schuld an diesem Mißverständnis seinen englischen Landsleuten bei, freilich, mit einer Motivierung, die für das Volk der Denker, so nennt man ja die Deutschen, nicht gerade schmeichelhaft ist: "Es ist viel zu überlassen", in diesem Fall sei man aber dabei zu weit gegangen und habe dadurch zu häufigen Irrtümern Anlaß gegeben. Ist man sich über die theoretischen Grundprinzipien unserer Wissenschaft einigermaßen klar, dann kann man es ruhig dem wissenschaftlichen Taktgefühl des einzelnen überlassen, die Grenze für das Arbeitsgebiet zu ziehen, insbesondere zu entscheiden, ob man sich beschränken soll auf rein wirtschaftliche Vorgänge, oder ob darüber hinaus auch "ökonomisch relevante" und "ökonomisch bedingte Erscheinungen" (MAX WEBER) in den Kreis der Betrachtungen hinein zu ziehen sind (12). Die Hauptsache ist nur, daß wissenschaftliche Aufgaben in einem wissenschaftlichen Sinn gelöst werden. Dabei wird man sich vor allem an den Satz erinnern haben: scientia est per causas scire [Wissen ist Wissen von den Ursachen. - wp]. Mag man immerhin das Darstellen, Beschreiben, Erzählen der Einzelerscheinungen "Wissenschaft" nennen, insofern man dadurch die äußere Erscheinungsform erkennt und feststellt und den äußeren Zusammenhang zum Ausdruck bringt; eine höhere Stufe der Wissenschaft ist es dann auf jeden Fall nach dem Grund der Erscheinungen, nach der Erklärung ihres Zusammenhangs zu forschen, das zu suchen, was man das innere Wesen der Erscheinungen genannt hat. Selbst wenn jemand aufgrund einer langen Reihe von Beobachtungen den Mut findet, eine Regelmäßigkeit zu konstatieren, so ist damit doch für die sozialökonomische Wissenschaft wenig gewonnen, wenn uns nicht gleichzeitig das Kausalitätsverhältnis enthüllt wird. Die treibenden Ursachen der volkswirtschaftlichen Erscheinungen müssen wir erkennen: "erst wenn dies gelungen ist", ich zitiere LEXIS (13), "erhält die beobachtete Regelmäßigkeit für uns eigentlich wissenschaftliche Bedeutung." Wie könnte man aber den Kausalzusammenhang aufdecken, ohne die störenden Nebenursachen und Zufälligkeiten auszuschalten, ohne mit anderen Worten, die Isoliermethode anzuwenden! Daß "mit der allbeherrschenden Kausalität" die Teleologie als heuristisches Prinzip durchaus verträglich ist, beton SCHULZE-GÄVERNITZ mit Recht (14). Die Nationalökonomie, so meint er, bedient sich beispielsweise des teleologischen Begriffs der Wirtschaft, das heißt der Güterversorgung zum Zweck der menschlichen Lebenserhaltung. Indem sie hierdurch ihr Gebiet gegen andere Wissenschaften abgrenzt, wird sie einer streng kausalen Erklärung der sie interessierenden Vorgänge keineswegs untreu. Daß darüber hinaus eine Zwecksetzung, die außerhalb des Erkenntnis zwecks liegt, für unsere Wissenschaft von bedenklichen Folgen begleitet sein kann, wird in einem späteren Zusammenhang eingehender erörtert werden müssen. Es soll nicht geleugnet werden, daß die Isoliertmethode die Gefahr in sich schließt, daß der Forscher sich in seine Begriffswelt einkapselt, die Fühlung mit dem praktischen Leben verliert, das wir doch gerade durch unsere Wissenschaft besser verstehen lernen wollen. Geistiges Beherrschen der Tatsachenwelt, keine Gedankenspielerei, das muß eine entschiedene Maxime für unsere wissenschaftliche Arbeit sein. Diesem Zweck dient namentlich ein andauerndes Vergleichen der Wirklichkeit mit dem, was sich aus dem isolierenden Verfahren ergibt, so zwar, daß die Tatsachen nicht in das Prokrustesbett der Theorie hineingezwungen werden, sondern in der Weise, daß die Tatsachen die richterliche Instanz für den Wert oder Unwert der Theorie bilden. Richtiges Denken und richtiges Sehen sind die Instrumente des sozioökonomischen Forschers, die beide zusammen wirken müssen, wenn keine Pfuscherarbeit geliefert werden soll. Ergeben sich von der Theorie in der Praxis Abweichungen, die einen regelmäßigen Charakter zu tragen scheinen, so wird dafür der Grund zu suchen sein. Es wird u. a. berücksichtigt werden müssen, was man wenig präzise, aber allgemein verständlich "Volksgeist" und "Zeitgeist" genannt hat; sorgfältig wird ferner zu untersuchen sein, ob die Motive zu kollektiven Handlungen, die in unserem Zeitalter unzweifelhaft eine steigende Bedeutung haben, eine neue Anregung zur Aufdeckung von volkswirtschaftlich kausalen Zusammenhängen geben können. Gerade hier, wie auch sonst noch vielfach, bleiben wichtige erkenntnistheoretische Vorfragen für den sozialökonomischen Gelehrten zur Beantwortung übrig. Während MARSHALL meint (15), daß die Erweiterung des Gebietes der öffentlichen Tätigkeit für das öffentliche Wohl mit der Verbreitung der Genossenschaftsbewegung und anderer Arten des freiwilligen Zusammenschlusses sich so entwickelt, daß dadurch den Nationalökonomen neue Gelegenheiten eröffnet werden, "Motive zu messen, deren Tätigkeit auf irgendein Gesetz zurückzuführen früher unmöglich war," vertritt SCHUMPETER (16) die Ansicht, daß die soziale Betrachtungsweise, die er selbstredend von derjenigen der Berücksichtigung sozialpolitischer Momente streng geschieden wissen will, für die rein theoretischen Gedankengänge weder wesentlich neue Ergebnisse, noch sonst irgendwelche wesentliche Vorteile zu bieten scheint, was durch den Umstand bestätigt wird, und darin wird man ihm jedenfalls recht geben müssen, daß ja doch niemand "mit ihr Ernst macht." Eine Frage will ich hier gleich einschalten, deren Beantwortung für das Verständnis der wissenschaftlichen Aufgaben der Sozialökonomik von wesentlicher Bedeutung ist: Kann man von wirtschaftlichen "Naturgesetzen", überhaupt von Gesetzen auf dem Gebiet unserer Wissenschaft sprechen? Mit aller Schärfe verneinte diese Frage kürzlich KARL DIEHL bei der Gelegenheit seiner Freiburger Antrittsrede (17): "Nie dürfen wir von Naturgesetzen reden, wenn wir volkswirtschaftliche Erscheinungen betrachten." Nicht nur lehnt DIEHL die sogenannten "ewigen" Naturgesetze ab, sondern auch "wirtschaftliche Gesetze innerhalb bestimmter historisch-rechtlicher Epochen". Dieses Urteil ist umso beachtenswerter, weil DIEHL zu den wenigen deutschen Nationalökonomen gehört, die auch während der Blütezeit des Historismus die Notwendigkeit des theoretischen Denkens für die Volkswirtschaftslehre in den Vordergrund rückten. Ganz sicher hat jedenfalls DIEHL recht, wenn er meint, daß die schlechten Erfahrungen, die man in der Wirtschaftspolitik mit den sogenannten Gesetzen der politischen Ökonomie machte, dem Ansehen unserer Wissenschaft sehr geschadet hätten. Ich glaube aber, daß dabei der größere Teil der Schuld die Praxis insofern trifft, als sie den Sinn des Wortes "Naturgesetz" manchmal arg mißverstanden hat. Das gilt auch von PRINCE SMITH, wenn er den Satz schreibt, den DIEHL zitiert:
Faßt man aber Gesetz in dem Sinn, wie es die meisten neueren Theoretiker tun, "als den Ausdruck für eine infolge der Macht wirtschaftlicher Zusammenhänge aus gewissen Motiven sich ergebende regelmäßige Wiederkehr wirtschaftlicher Erscheinungen" (NEUMANN), als die "Konstatierung von Tendenzen" (MARSHALL), so ist auch gegen die Aufstellung von wirtschaftlichen und sozialen "Gesetzen" nichts einzuwenden, es sei denn der naheliegende Mißbrauch, der von Unkundigen mit dem Wort "Gesetz" getrieben werden kann. Ein anderes Wort, am besten vielleicht "Tendenz", würde diese Bedenken beseitigen. (18) Es wurde bereits betont, daß der Aufgabenkreis für die sozialökonomische Forschung nicht ein für allemal festgelegt werden kann, daß dabei vielmehr der Individualität der Forscher Rechnung getragen werden muß, dasselbe gilt für das "System", das heißt: für die Ordnung der Gedankenentfaltung. Wiederum unter der Voraussetzung, daß die "Ordnung" auch eine wirkliche Ordnung ist. die Bedeutung einer wohldurchdachten Systematik darf nicht unterschätzt werden, sie erleichtert unzweifelhaft nicht nur das Nach- und Mitdenken des Lesers, sondern auch die eigene Denkarbeit des Forschers. Nicht als Muster, sondern nur als Beispiel, um eine Vorstellung zu vermitteln von den wissenschaftlichen Einzelaufgaben der Volkswirtschaftslehre gebe ich hier eine kurze Skizee des Systems, wie es mir persönlich angemessen zu sein scheint. Es wird ein grundlegender und ein ausführender Teil zu unterscheiden sein. Die Grundlegung hat sich zunächst zu befassen mit dem wirtschaftenden Menschen, wobei auszuführen ist, inwiefern, und warum er dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit untersteht, wobei aber auch gleich zu betonen ist, daß Wirtschaftsmenschen "nicht wesenlose Schemen sind, sondern Typen der Wirklichkeit, deren Abstufung von einem MORGAN oder PEREIRE bis zum polnischen Tagelöhner oder Elsässer Hausknecht geht" (19). Es wären dann die große Modifikationen des Wirtschaftsprinzips zu erörternm und zwar
b) der Einfluß der Volksziffer; in einer volksarmen Volkswirtschaft wird das Prinzip der Wirtschaftlichkeit unter übrigens gleichbleibenden Umständen andere Formen annehmen müssen, als in einer volkreichen Volkswirtschaft; die Theorie des MALTHUS würde hier die gebührende Berücksichtigung finden, c) die Anpassung an die soziale Umgebung; dabei wäre - Beispiele können hier nur angedeutet werden - die Lehre von der Lebenshaltung zu erörtern, der Widerstand, den die Menschen einer Herabsetzung ihrer Lebenshaltung entgegensetzen, ist für die Erklärung des wirtschaftlichen Seins besonders nutzbar zu machen. Aber auch noch andere Probleme müssen in diesem Paragraphen ihre Erledigung finden: wie Sitte und Gewohnheit zu treibenden Kräften im volkswirtschaftlichen Leben werden können, wie der Glaube an Utopien und Ideale hier hemmend, dort fördernd wirkt usw. Es müßte sich anschließen d) die Untersuchung, wie der wirtschaftende Mensch sich der Rechtsordnung anpaßt und wie dies auf die Volkswirtschaft einwirkt. Hier erhält auch der Staat seine Position im System der Volkswirtschaftslehre. Das folgende Kapitel trägt die Überschrift "Die wirtschaftlichen Güter und ihr Wert", hier wären die unerläßlichen Grundbegriffe in ihrem Zusammenhang kurz zu erörtern und zugleich könnte man an leicht greifbaren Beispielen zeigen, wie unökonomisch die Begriffsspielerei auch in unserer Wissenschaft ist. Eine Darlegung der Grundprinzipien der wirtschaftlichen Organisation, des "Individualprinzips" einerseits und des "Sozialprinzips" andererseits, sowie der möglichen Mischformen, namentlich des "Solidarismus" beschließt die Grundlegung. Die eigentliche Ausführung gliedere ich in vier Teile:
2. Die Bereitstellung der Güter 3. Das Ergebnis des wirtschaftlichen Güterprozesses: der Volksreichtum und seine Verteilung. 4. Der Rhythmus im wirtschaftlichen Leben.
2. die beabsichtigte Verzehrung der Genußgüter (ihre Wirkung ist die Befriedigung der Bedürfnisse), 3. die beabsichtigte Verzehrung der produktiven Güter (reproduktive Verzehrung, deren beabsichtigte Wirkung Entstehung von Gütern von höherem wirtschaftlichen Wert ist, als die produktiven Güter haben), 4. das Sparen.
II. Die Elastizität der Bedürfnisse:
b) Sparen und Verschwendung, c) die Geschmacksänderung (die Mode).
b) die Organisation der Konsumenten.
2. die Produktionsanlage und Werkzeuge, 3. das Kapital (worunter Biermann "werbende Geldsummen") versteht, 4. die exekutive Arbeit des Lohnarbeiters, 5. die Konjunktur Für meine Systematik der Lehre von der Gütererzeugung möchte ich als Ausgangspunkt den Satz nehmen, mit dem ADAM SMITH seine Untersuchungen über die Natur und Ursachen des Volksreichtums beginn:
b) die Erhaltung und Ausbildung der menschlichen Wirtschaftskräfte; c) die wirtschaftsgeographische Verteilung dieser Kräfte
b) technische Hilfsmittel: Arbeitsteilung, Maschinenwesen.
b) die Güterhervorbringung; c) der freie Wettbewerb und seine Einschränkungen (Markt und Preisbildung), d) der Tauschverkehr und seine Hilfsmittel (Handel, Geld- und Kreditwesen, Bank und Börsen, Transportwesen).
b) Kapitalzins, c) Risikoprämie, d) Vorzugsrente. Die nähere innere Begründung dieser Systematik kann natürlich hier nicht gegeben werden. Ich werde bei anderer Gelegenheit ausführlich darauf zurückkommen müssen. Die Untereinteilung des vierten Abschnittes schließlich: Die Lehre vom Rhythmus im wirtschaftlichen Leben ergibt sich von selbst:
b) Die Zufallsstörungen im Wirtschaftsleben: Depressionen und Krisen. Dieser Name ist allgemein gebräuchlich, um die sozialökonomische Richtung zu kennzeichnen, die ADAM SMITH, RICARDO, MALTHUS ihre Führer nennt. Der Grund für die Benennung "klassisch" liegt, so meint zumindest BRENTANO (25), in gewissen Eigentümlichkeiten, welche der klassischen Nationalökonomie mit den klassischen Richtungen auf anderen Gebieten menschlichen Schaffens gemein sind. Ebenso wie beispielsweise die klassische Bildhauerei hat die klassische Nationalökonomie einen von allen Besonderheiten des Berufs der Klassen der Nationalitäten und Kulturstufen freien Menschen geschaffen.
Allgemein bekannt ist, daß die klassische Nationalökonomie in Deutschland entthront wurde, wenn sie bei uns überhaupt jemals auf dem Thron gesessen hat, durch die "historisch-ethische" Richtung. Bekannt ist auch, daß diese Richtung bis in die Gegenwart hinein namentlich aber in der Zeit 1870-1900 sozusagen "omnipotent" war. Der anerkannte Meister dieser Schule, SCHMOLLER, trug troz seiner fast sprichwörtlich gewordenen Vorsicht in der Ausdrucksweise kein Bedenken, 1897 bei Antritt des Rektorats der Berliner Universität den Satz zu verkünden:
Die historisch-ethische Schule wollte historisch, ethisch, psychologisch mehr bieten als die Klassiker; sie strebte eine breitere, sicherere Kenntnis der Wirklichkeit an" (26), sie wollte "die Volkswirtschaft wieder in einem richtigen Zusammenhang mit der ganzen übrigen Kultur verstehen lernen." Man ging zu diesem Zweck an die "methodische Einzelforschung" und "realistische Detailforschung in der Wirtschaftsgeschichte" und 1897 glaubte auch SCHMOLLER an den Erfolg dieser Bemühung: "Die Volkswirtschaftslehre", so meinte er damals, "ist aus einer bloßen Markt- und Tauschlehre, einer Art Geschäfts-Nationalökonomie, welche zur Klassenwaffe der Besitzenen zu werden drohte, wieder eine große moralisch-politische Wissenschaft geworden." Den Erfolg dieser Metamorphose für die wissenschaftliche Erkenntnis, für die Summe der feststehenden Wahrheiten schätzte SCHMOLLER offenbar sehr hoch ein. Der Bestand dessen, was heute von allen als gesicherte Wahrheit anerkannt wird, ist ganz erheblich gewachsen; viele Kontroversen sind aus der wissenschaftlichen Diskussion verschwunden. Als einziges Beispiel dafür wurde in der Rektoratsrede die Kontroverse "Über Schutzzoll und Freihandel" genannt. - Wenige Jahre später hat es sich ja in so drastisch deutlicher Weise gerade bei diesem Punkt offenbart, daß SCHMOLLER doch viel zu optimistisch über "feststehende Wahrheiten" in der deutschen Nationalökonomie urteilte. Im Ganzen wird, so glaube ich, kaum ein begründeter Widerspruch laut werden gegenüber folgender Äußerung von GUSTAV COHN, der selbst Anhänger der ethischen Richtung ist: "Wenn irgendetwas unfruchtbar an exakten Wahrheiten für unser Fach gewesen ist, so ist es die ganze historische Forschung älteren, neueren und neuesten Datums" (27). Ob dieses wissenschaftliche Manko - mir zumindest scheint es ein solches zu sein - wett gemacht werden kann durch erfolgreiche politische Taten der Nationalökonomen, wird später zu prüfen sein. Die Stimmen derer, die direkt oder indirekt zugeben, daß man die Klassiker, insbesondere den Meister des Isolierverfahrens RICARDO schlechter machte, als sie es verdienten, mehren sich, man sieht immer deutlicher ein, daß die Klassiker mit ihrer Methode durchaus nicht auf einem falschen Weg waren. MAX WEBER, ein "Jünger der historischen Schule" weist entschieden den einst so beliebten Spott über die sogenannten Robinsonaden der abstrakten Theorie zurück, scharfe genetische Begriffe müßten notwendig "Idealtypen" sein (28). SCHULZE-GÄVERNITZ, der doch auch nicht vom Klassizismus ausgegangen ist, finden den Versuch, "auch die gesellschaftlichen Phänomene einer naturwissenschaftlichen Betrachtung zu unterwerfen, durchaus berechtigt." Er meint in seiner jüngsten Schrift (29):
Es ist gewiß nicht wissenschaftliche Überlegenheit, die dem "Historismus" (34) den "Sieg" über den Klassizismus so leicht machte; wobei gar nicht geleugnet werden soll, daß der Historismus uns durch die Darbietung einer Überfülle von Tatsachen in geistvoller Gruppierung mancherlei wertvolle Aufschlüsse gebracht hat, die freilich vielleicht noch mehr bedeuten für die Geschichte, die Ethnographie, die Soziologie, die Verwaltungslehre etc. als für die Wirtschaftswissenschaft. Trotz der hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen des Historismus bleibt es doch wahr, daß er dem Klassizismus auf wissenschaftlichem Gebiet einen entscheidenden Kampf nicht einmal angeboten, viel weniger einen solchen Kampf ausgefochten hat. Sieht man von einem kleinen Zufallsgeplänkel ab, so muß man zugeben, daß die Gegner sich eigentlich nur auf politischem Gebiet fanden. Nicht die klassische Nationalökonomie als Wissenschaft wurde widerlegt, sondern die Politik, insofern sie nichts anderes sein wollte, als angewandte klassische Nationalökonomie. Das war in der Tat ein großer Fehler namentlich der Epigonen des Klassizismus, daß sie kein Verständnis dafür hatten, daß Politik etwas ganz anderes ist als angewandte Wissenschaft, daß die Politik, die nichts anderes sein wollte als die Anwendung "der natürlichen Gesetze der Nationalökonomie", mit einem Fiasko enden mußte. Gilt das allgemein, so galt es in verstärktem Maß für die eigenartige wirtschaftliche Übergangszeit, die in Deutschland mit der Zeit zusammenfiel, wo der deutsche Historismus zum Mann erstarkte. Es waren die Jahre, wo aus einem armen Deutschland ein reiches Deutschland werden sollte. Ein hartes Ringen war da notwendig. So manche schwer Blessierten mußten auf der Kampfstätte bleiben. Mit gewaltiger Energie, kühnem Schaffensmut und einer nicht gewöhnlichen Intelligenz bahnte der deutsche Unternehmer den Weg, "Ohne Sentimentalität vorwärts!" das war die Losung. Manche sanken nieder, die Vorwärtsdrängenden benutzten rücksichtslos die zu Boden Gefallenen als Stützen für ihr weiteres Vordringen. Ein wilder Konkurrenzkampf! Und wie oben so auch unten: Die Bevölkerungsziffer hatte in Deutschland rasch eine fast beänstigende Höhe erreicht; die alten Erwerbstände konnten den Überschuß nicht mehr aufnehmen. So strömten dann die Scharen in die Industrie; auf gut Glück! Manche erreichten auch dort vorübergehend hohe Löhne, aber um bald zu empfinden, daß man gleichzeitig eine früher kaum geahnte Unsicherheit der Existenz mit in Kauf nehmen mußte. Allmählich kam man ja vorwärts, aber niemand konnte sich des Sieges recht freuen, die Opfer waren zu groß. Nach außen sah man zunächst nur den Gegensatz zwischen Fortschritt und Armut, der wie ein Hohn zur Lehre von der Harmonie der Interessen paßte. Diese Tatsachen und Gedanken mußten der Generation, die nun allmählich zu Ende geht, in unauslöslicher Erinnerung bleiben. In jener Übergangszeit war es auch, wo KARL MARX seine Lehre verkündete, die den Kausalnexus zwischen Fortschritt und Armut aufzudecken schien und darüber hinaus noch das Mittel bot, "die Erkenntnis über das gegenwärtig Bestehende hinaus zu leiten, aus dem Gegenwärtigen die Keime des Zukünftigen zu erkennen und danach Forderungen zu stellen." Es war in der Tat gleichsam "das Selbstverständliche", "das Nächstliegende", das MARX in seiner Zeit entdeckte und offenbart. Das "Sein" wollte er erkennen, nicht das "Seinsollen". Gerade daraus hätten die wissenschaftlichen Sozialökonomen reiche Anregung schöpfen können, um den wissenschaftlichen Klassizismus nicht zu besiegen, aber weiter zu bilden; sie brauchten deshalb gewiß keine Marxisten zu werden. Aber man sah im Marxismus nur die "Umsturzgefahr", man las aus ihm das heraus, was eigentlich gar nicht in ihm enthalten war, die Kritik der bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Man betrachtete es als die vornehmste Aufgabe der Wissenschaft zu retten, was noch zu retten war: die Politik ließ die Wissenschaft nicht aufkommen.
Man hat im Laufe der Zeit den "Überwindern des Klassizismus und des ökonomischen Liberalismus" eine Fülle von Vorwürfen gemacht, man hat ihren unermeßlichen Stoffhunger getadelt, ihren grenzenlosen Expansionsdrang, der fast alle Gebiete der menschlichen Wissenschaften heranziehen wollte, damit sie helfen sollten, bei den Vorarbeiten, die erforderlich sind, um der Volkswirtschaftslehre "endlich auch einmal" ein wissenschaftliches Fundament zu geben. Man wies tadelnd hin auf die Unklarheit der Begriffsbildung, auf die mangelhafte Systematik, die sich die Gegner der klassischen Schule zuschulden kommen ließen und lassen. All diesen Fehlern, glaube ich, stehen schließlich aber auch entsprechende Vorzüge gegenüber, nur eine "Todsünde" bleibt ungesühnt: die zu weitgehende Verquickung der Wissenschaft mit der praktischen Politik. Man tadelte es mit Recht an den Manchesterleuten, daß sie ihre subjektiven Ansichten über das Seinsollen als Wissenschaft ausgaben, um dann im selben Atemzug die Irrlehren der Gegner zum Dogma für die eigenen Jünger zu machen. Die wissenschaftliche Sozialökonomie kann allgemeingültige Urteile über das Seinsollen im praktischen und politischen Leben nicht abgeben; eine ethische Sozialökonomik in diesem Sinne ist also abzulehnen. Insofern bietet uns die Wissenschaft weniger als manche ihrer Vertreter heute versprechen. Sie kann und muß aber mehr geben als sie bisher gegeben hat, dadurch, daß sie die Ursachen der Erscheinungen nicht verdunkeln läßt durch den Schatten der Wirkung. Das ist ein Hauptvorwurf, den MAURICE LAIR in seinem Buch "L'impérialisme Allemand" (Paris 1902) dem neuen deutschen Geist allgemein macht. Das hindert ihn nicht, sarkastisch kurz vorher zu sagen:
Wenn ich mich gegen eine ethische Sozialökonomik ausspreche, so bitte ich mich nicht mißzuverstehen. Nichts liegt mir ferner, als die Ethik und die Moral aus der praktischen Volkswirtschaft und aus der Politik eliminieren zu wollen. Auch daß die Ethik ein wesentlicher Bestandteil der Sozialökonomie als Kunstlehre sein muß, leugne ich nicht. Ich will nur, daß aus erkenntnistheoretischen und praktischen Gründen eine Ausscheidung vorgenommen wird "zwischen dem, was wir zwingend beweisen können und dem, was wir wollen, wünschen, hoffen, glauben" (36). Es ist nicht einmal notwendig, daß diese Ausscheidung räumlich zum Ausdruck kommt, so vielleicht, daß in dem einen Buch über das, was man beweisen kann berichtet wird, und im anderen, über das, was man nur will und wünscht. Nur möchte ich mit aller Schärfe betonen, daß der Sozialökonom stets die Grenze sehen muß, innerhalb welcher er im Namen seiner Wissenschaft urteilen kann und urteilen darf. Man hat die Volkswirtschaftslehre eine praktische Wissenschaft genannt, behauptet daß sie Wissenschaft und lehrende Kunst zugleich sein muß. Das erstere gebe ich insofern zu, als die Wirtschaftslehre gerade dadurch, daß sie ihre eigenen Zwecke als Wissenschaft verfolgt, das heißt "den bloß intellektuellen Besitz der Wahrheit erstrebt" in ganz hervorragender Weise dem praktischen Leben nutzt, was noch näher zu belegen sein wird; die Richtigkeit der zweiten Behauptung leugne ich, wenn damit gesagt sein soll, daß eine theoretische Scheidung zwischen der Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft und als lehrende Kunst unmöglich ist. Ich halte es mit PELLEGRINO ROSSI, der sagt:
Das materielle Gemeinwohl, so wie PESCH es auffaßt, soll gewiß Ziel der Volkswirtschaft sein, aber es kann darüber nicht vom Sozialökonomen allgemeingültig geurteilt werden; denn das Urteilen über Ideale, über Weltanschauungen gehört nicht zum Ressort der sozialökonomischen Wissenschaft. Das führt uns unmittelbar zu den Betrachtungen über die politischen Aufgaben der Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft.
1) > So sehr groß sind die Meinungsverschiedenheiten gerade hinsichtlich der finanzpolitischen Fragen der Gegenwart unter den Nationalökonomen nicht. Sie stehen, soweit sie ernst zu nehmen sind, namentlich "den bekannten bisher vereinbarten parlamentarischen Kompromissen", wie BIERMER mit Recht meint, geschlossen als Gegner gegenüber, und zwar nicht nur aus finanzwissenschaftlichen und finanztechnischen, sondern wohl noch viel mehr aus politischen und nationalen Gründen" (Der Kampf umd die Nachlaßsteuer, 1909, Seite 8). Die von mir unterstrichenen Worte möchte ich betonen. Es handelt sich tatsächlich weit mehr um einen Kampf der materiellen und parteiischen Sonderinteressen gegen die vaterländischen und sozialen Gesamtinteressen als um tiefgehende wissenschaftliche Meinungsverschiedenheiten. Daher greifen ja auch nicht-nationalökonomische Gelehrte (H. DELBRÜCK, HARNACK, STIER-SOMLO) so nachdrücklich in den Kampf ein. 2) "Die Lehrfreiheit der Universitäten", Hochschulnachrichten, Januar 1909, Seite 91 3) Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Bd. VIII, Seite 777 4) Das Lebenswerk von Karl Marx, 1909, Seite 37f. 5) Vgl. HEINRICH DIETZEL, Theoretische Sozialökonomik, 1895, Seite 27 6) a. a. O., Seite 51f 7) Grundriß zur Vorlesungen über praktische Nationalökonomie, 1. Teil, Seite 9. 8) PHILIPPOVICH, in "Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre im 19. Jahrhundert" (Schmollerfestgabe) II. Teil, XXX, Seite 51. 9) Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, 1895, Seite 22. 10) Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. XXII, Seite 191. 11) Handbuch der Volkswirtschaftslehre, übersetzt von EPHRAIM und SALZ, 1905, Seite 70. 12) Es zeugt von sehr mangelhaftem Kennen der Klassiker, wenn man behauptet daß sie bei ihren Argumentationen nur rein wirtschaftliche Ideen und Vorgänge berücksichtigt hätten. So weist z. B. RICARDO auf die natürlichen Neigungen hin, welche jedermann gegen das Verlassen seines Landes, wo er geboren und bekannt ist; "diese Gefühle, deren Schwinden ich nur bedauern würde, bestimmen die meisten Kapitalisten, sich lieber mit einer niedrigen Profitrate in der Heimat zu begnügen, als nach einer vorteilhafteren Anlage ihres Vermögens bei fremden Nationen zu suchen." - RICARDO, Grundsätze, Kap. VII 13) Schmoller-Festgabe, Teil I, Seite 39 14) Marx oder Kant? 2. Auflage 1909, Seite 29 15) a. a. O. Seite 73 16) Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, 1908, Seite 596 17) Veröffentlicht in den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik, 1909, Seite 289f. 18) Über "volkswirtschaftliche Gesetze" orientiert am besten NEUMANN in seinen Aufsätzen "Natur- und Wirtschaftsgesetz" (Zeitschrift für die gesamten Staatswissenschaften, 1892 und "Wirtschaftliche Gesetze nach früherer und jetziger Auffassung" (Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 1908), vgl. ferner MARSHALL, a. a. O., Seite 87f, PESCH, Nationalökonomie I, Seite 443f, LIFSCHITZ, a. a. O., Kap. V: "System und Gesetz". Sehr beachtenswert sind auch die Ausführungen, die SOMBART (Lebenswerk von Karl Marx, Seite 42f) den "Gesetzen" für Naturwissenschaft einerseits, für Menschenwissenschaft andererseits widmet. 19) PLENGE, System der Verkehrswirtschaft, 1903, Seite 25 20) "Güterverzehrung und Güterhervorbringung", 1906. 21) Das wurde schon früher häufiger betont, so nennt z. B. LEXIS in SCHÖNBERGs Handbuch (2. Auflage, Bd. 1, Seite 698) die Konsumtion, die Funktion, "welche die Produktion und somit den volkswirtschaftlichen Prozeß überhaupt in Gang hält." Vgl. auch PLENGE, a. a. O., Seite 19 22) "Zur Lehre von der Produktion und ihrem Zusammenhang mit der Wert-, Preis- und Einkommenslehre", 1904 23) "Nationalökonomie als exakte Wissenschaft", 1908, Seite 15f. 24) a. a. O., Seite 116 25) LUJO BRENTANO, Die klassische Nationalökonomie (Vortrag gehalten beim Antritt des Lehramts an der Universität Wien), 1888, Seite 3. Vgl. dazu SCHÜLLER, Die klassische Nationalökonomie und ihre Gegner, 1895 26) Dieser Optimismus hinsichtlich der wissenschaftlichen Möglichkeiten ist umso erstaunlicher, weil die Führer der in Rede stehenden Richtung selbst die ungeheuer großen und dauernden Variationen der "empirischen Welt" hervorhoben; ich zitiere zum Beleg nur zwei Sätze aus SCHMOLLERs Streitschrift gegen TREITSCHKE: "Ehe und Eigentum sind äußere Formen des positiven Rechts, in welchen sich die sittliche Idee darstellt; aber es sind Formen, die selbst in ewiger Umbildung begriffen sind." ... "Jede Zunahme der Bevölkerung, jede große Änderung der Technik, des Verkehrs erzeugt notwendig eine andere volkswirtschaftliche Lebensordnung" ... Grundfragen, Seite 41, bzw. 53. 27) "Über den wissenschaftlichen Charakter der Nationalökonomie", Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. XX, Seite 477 28) "Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis", Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. XIX, Seite 70 und 82. 29) "Marx oder Kant", Seite 30 30) "Klassische Nationalökonomie", Anm. 20 31) "Staatliche Theorie des Geldes", Seite VII. 32) Grundfragen, Seite 336 33) 15. Juni 1907 34) Nur der Kürze halber wird dieses allgemein übliche Wort hier gebraucht, es ist sehr wenig präzise, namentlich für die Vorstellung, wie der Verfasser sie sich vom Wesen und der Bedeutung der "Antiklassiker" in Wissenschaft und Leben zurechtgelegt hat. 35) Grundfragen, Seite 335 36) COHN, a. a. O., Seite 464 37) HEINRICH PESCH, Lehrbuch der Nationalökonomie, Bd. 1, Seite 411 |