ra-2E. BernheimO. HintzeWindelbandE. Troeltschvon Below    
 
GEORG von BELOW
(1858-1927)
Die neue historische Methode
[1/2]

"Dem 18. Jahrhundert, dem Rationalismus, ist alles geschichtlich gewordene ein Unwesentliches, Zufälliges, ja sogar ein Störendes. Wertvoll ist allein, was jenes Zeitalter das Natürliche und die Vernunft nannte. Sie galten als ein für allemal gegebene, unveränderliche Größen."
    "Wer wird einseitige Bewunderer des abgeschlossen Melodiösen eines HAYDN oder MOZART von der Schönheit und darum Berechtigung der ewigen Melodie WAGNERs überzeugen wollen?"
So LAMPRECHT in einem Referat über den zweiten Band von INAMA-STERNEGGs Deutscher Wirtschaftsgeschichte, das im Februar 1895 (1) erschien. Dieses Referat und das wenig ältere Vorwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes seiner Deutschen Geschichte haben eine große Reihe methodologischer und geschichtsphilosophischer Auslassungen LAMPRECHTs eröffnet. Durch sie hat er den Versuch gemacht, die Prinzipien der Forschung neu zu fundamentieren und so den ganzen Betrieb der Historie in andere Bahnen zu lenken. Dieser Versuch ist auch nach seiner Meinung vollkommen geglückt. Die Gegner, die gegen ihn auftraten, konnten nichts Stichhaltiges vorbringen. Ihr "Wissen" und ihr "geistiger Horizont" waren zu beschränkt. Bei ihrer "Unlust oder Unfähigkeit, überhaupt auf methodische Fragen einzugehen", vermochten sie nichts "gegen die Klarheit der methodischen Position" LAMPRECHTs und die "Unanfechtbarkeit seines Standpunktes" (2). Er hat bereits erklären können, daß er sich nunmehr zum letzten Mal über seine prinzipiellen Ansichten geäußert habe. Er ist dann freilich noch mehrmals zum allerletzten Mal aufgetreten. Aber jedenfalls betrachtet er sich als vollkommenen Sieger. Seine Gegner liegen sämtlich erschlagen auf dem Schlachtfeld. Seine "Kritik" ist "einfach tödlich" (3) gewesen.

Die Auffassung, die er von seinen Erfolgen hat, weicht allerdings von der der wissenschaftlichen Welt nicht unerheblich ab. Alle angesehenen Vertreter der deutschen Geschichtswissenschaft, die ihm überhaupt Beachtung geschenkt haben, haben gegen ihn Stellung genommen (4). Mehrere haben ihn ironisch behandelt. Wenn er den Lorbeer errungen zu haben meint, so hat er zuviel Gewicht auf Stimmen gelegt, die man sonst über wissenschaftliche Fragen nicht entscheiden läßt. Die Geschichtswissenschaft hat nächst der Wissenschaft der neueren Literaturgeschichte und der Nationalökonomie die größte Zahl solcher Mitarbeit, die auf der Grenze der wissenschaftlichen Tätigkeit und des reinen Dilettantismus stehen. Aus deren Kreis ist LAMPRECHT der lauteste Beifall zuteil geworden. (5) Hierzu gesellen sich einzelne Vertreter der Geschichtswissenschaft aus dem Ausland, deren Autorität wir an sich durchaus nicht in Zweifel ziehen, die aber doch, wie es scheint, von der Bewegung der historischen Wissenschaft in Deutschland keine ausreichende Kenntnis haben. Sie meinen, daß LAMPRECHT in Deutschland einen Kampf um hohe Güter zu führen genötigt sei. Endlich treten in Deutschland für ihn bestimmte Gruppen von Philosophen und Nationalökonomen, namentlich Soziologen ein. Es handelt sich hier um alte wissenschaftliche Gegensätze. Vertreter anderer Wissenschaften haben uns oft schon vorschreiben wollen, wie wir Geschichte treiben sollen. In LAMPRECHT glaubt man einen brauchbaren Vorkämpfer für die eigenen Tendenzen und Interessen zu besitzen.

Es gibt auch, wenn ich so sagen darf, eine mittlere Schicht: man bekennt sich nicht gerade zu LAMPRECHT, aber man meint doch, daß manche seiner Behauptungen wohl richtig sein müßten. Er hat seine Sätze so oft drucken lassen. Eine Schar von Jüngern, Anfänger und Dilettanten, haben sie eifrig wiederholt. Die Druckerschwärze besitzt auch heute noch eine gewisse Autorität. Aliquid haeret [Etwas bleibt immer hängen. - wp] Überdies sterben ja die Verehrer der goldenen Mittelstraße, die in jedem Fall glauben, daß die Wahrheit  zwischen  zwei Ansichten liege, nie aus. Es kommt hinzu, daß eine hinreichende Kenntnis der neueren deutschen Historiographie auch in Deutschland verhältnismäßig wenig verbreitet ist. Wer etwas Unrichtiges über sie sagt, wird nicht leicht kontrolliert. Nach unserer Meinung ist LAMPRECHTs System ganz und gar verschroben. Es sind in ihm freilich mehrere Seiten zu unterscheiden. Zunächst ist es der alte Kampf der naturwissenschaftlichen Auffassung gegen die Selbständigkeit der Geschichtswissenschaft, den er führt und dem gewisse Zeitrichtungen sehr zustatten kommen. Er führt ihn in überaus ungeschickter Form; sie wird im Erfolg nur zur Diskreditierung der von ihm vertretenen Sache beitragen; Trivialität und Oberflächlichkeit sind die Stützen des Baues, den er errichtet hat. Sodann sucht er uns über den Gang der neueren deutschen Historiographie zu belehren. Das von ihm gezeichnete Bild, das seiner Gestalt als Folie dienen soll, beruth auf vollkommener und grober Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse.

Wenn auch jener Kampf der naturwissenschaftlichen Auffassung - der bei der Betrachtung des geschichtlichen Verlaufs, wie WACHSMUTH (6) sehr wahr sagt, "recht eigentlich das Beste, Feinste und Höchste der Kultur" entgeht - nie aufhören wird, so wird doch LAMPRECHTs spezielles System nicht von langer Dauer sein. UHLIRZ (7) hat gewiß Recht mit seinem Wort, daß uns bald "manches, was wir in den letzten Jahren lesen und erleben mußten, wie ein böser Traum erscheinen" wird. Allein der Baum, selbst wenn er morsch ist, fällt gemeinhin nicht von selbst, nicht ganz von selbst. Man muß die Axt gebrauchen. Deshalb habe ich mich, obwohl widerstrebend, entschlossen, die Auslassungen LAMPRECHTs im Zusammenhang einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Mein Verfahren werde ich so einrichten, daß ich mich nach Möglichkeit auf die von anerkannten Autoritäten festgestellten Tatsachen berufe, ihre Äußerungen auch im Wortlaut anführe. (8) Es hat sich ja, Dank der fürchterlichen Beredsamkeit LAMPRECHTs und der Nachbeterei seiner Trabanten, Dank ferner der leider nun einmal in weiten Kreisen vorhandenen Unkenntnis der neueren deutschen Historiographie, über diese bereits eine kleine Legende ausgebildet. Da muß man denn den Gegenbeweis sehr bestimmt und sehr deutlich, auch etwas ausführlich erbringen. Eben deshalb werde ich manches zu sagen haben, was eigenlich allen Historikern bekannt sein sollte, was aber doch gesagt werden muß, da es offenbar nicht allen bekannt ist. Andererseits sehe ich gerade in dem, was meine Abhandlung in positiver Richtung enthält, die Befriedigung wahrer Kenntnis der neueren deutschen Historiographie beitragen und eine Anschauung von den Aufgaben und Zwecken der Geschichtswissenschaft geben zu können.


I.

Jene kurze Besprechung in den Jahrbüchern für Nationalökonomie beginnt bereits mit einem höchst merkwürdigen Urteil. LAMPRECHT bietet da allerlei Deklamationen (9) gegen die "juristische" Auffassung und behauptet in diesem Zusammenhang, die Methode von WAITZ sei "die staatsrechtliche", "systematische"; seine Mittel die des "juristischen Denkens". Überhaupt habe man es bisher nicht auf "die Darstellung permanenten Flusses", sondern auf die "juristische Methode" in der Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte abgesehen. Nun weiß jedes Kind, daß es sich bei WAITZ gerade umgekehrt verhalten hat. Wie oft und wie heftig ist ihm der Vorwurf gemacht worden, daß ihm die juristische Methode mangle! Ich begnüge mich, LAMPRECHT ein ganz neues Urteil von HINTZE (10) gegenüberzustellen: "LEO, DAHLMANN, WAITZ, TREITSCHKE haben den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit in der historischen, nicht in der systematischen Darstellung des Staatslebens gefunden." Doch dieses Urteil über WAITZ ist nur eine Folge der allgemeinen Anschauung LAMPRECHTs.

Wie er nämlich in jener Besprechung und im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Deutschen Geschichte und an vielen Stellen anderswo auseinandersetzt, haben die bisherigen Historiker überhaupt ihre Aufgabe von Grund auf verkehrt aufgefaßt. Sie haben nur immer gefragt: wie ist es gewesen? Vor allem RANKE, dem als dem MOZART LAMPRECHT sich als den RICHARD WAGNER der Geschichtswissenschaft gegenübergestellt, hat nur gefragt, wie es in der Vergangenheit gewesen sei. Dem gegenübner betont LAMPRECHT, man müsse fragen, wie es geworden sei. Der Historiker habe "genetisch" zu verfahren. "Das Zeitalter einer äußerlich beschreibenden Forschung muß durch das Zeitalter einer neuen Methode, die vom genetischen Standpunkt aus eindringt, abgelöst werden." "Ein notwendiger, grundsätzlicher Wechsel der geschichtswissenschaftlichen Methode fällt mit großen und berechtigten Neigungen der Nation zusammen." "Grundlegende Vorgänge in der Entwicklung des 19. Jahrhundert treiben eben jetzt vorwärts aus dem deskriptiven in ein entwickelndes Zeitalter." Die neue, wie man sieht, einem Weltereignis gleichkommende Entdeckung LAMPRECHTs ist auch schon - gerade im Säkularjahr RANKEs - Gegenstand einer besonderen Feier gewesen: auf dem Historikertag in Frankfurt wurde ihre hohe Bedeutung in helles Licht gestellt.

Es ist nun zunächst ein ganz grobes Mißverständnis, wenn LAMPRECHT eine Äußerung RANKEs so deutet, als ob er nicht habe darstellen wollen, wie die Dinge  geworden  seien. (11) Vor allem aber: LAMPRECHT nimmt eine neue Methode für sich als Entdeckung in Anspruch, die tatsächlich seit einem Jahrhundert allgemein geübt worden ist. Man kann nur die Gegenfrage stellen: wer ist denn seit HERDERs Zeiten nicht Evolutionist? Wer ist denn nicht von dem allgemeinen Grundsatz, daß Geschichte "Werden" ist, durchdrungen? LAMPRECHT lebt offenbar in der naiven Vorstellung, daß die Idee der Entwicklung erst neuerdings in den Naturwissenschaften aufgekommen sei, daß es nur  eine  Entwicklungstheorie, die technisch so bezeichnete Lehre DARWINs, gebe. Er weiß gar nicht, daß der Entwicklungsgedanke sehr alt ist (12) und daß er seit HERDER in der Geschichtsforschung Leben, überaus kräftiges Leben gefunden hat. Um die Verkehrtheit der Tiraden LAMPRECHTs recht anschaulich zu machen, stellen wir ihnen ein Wort HARNACKs (13) gegenüber. Er nennt als diejenigen, welche "mit steigender Klarheit" den Begriff der "Entwicklung" zur Geltung gebracht haben, HERDER und die Romantiker, HEGEL und RANKE. Und HASBACH (14) sagt von der notwendigen Reaktion gegen den Nationalismus vor hundert Jahren:
    "Instinkt, Gefühl und Phantasie mußten die ihnen zukommende Stellung gewinnen; das historisch Gewordene in Sprache, Sitte, Gewohnheit, Recht, Gesellschaft und Staat die Autorität erlangen, welche ihnen gebührte; der Begriff der  Entwicklung  mußte in seiner Reinheit erkannt, das Recht des Besonderen und des Nationalen im Gegensatz zum Staatlich-Allgemeinen und zum Kosmopolitismus verteidigt werden."
Endlich SCHERER (15): "Man drang nicht vorschnell auf das Wesen der Dinge los, sondern suchte ihr  Werden  zu erforschen. Die Geschichte trat an die Stelle der konstruierenden Vernunft. (16) ... SAVIGNY verfolgte das römische Recht in seiner geschichtlichen  Entwicklung;  er wies Vererbung, Fortbildung und Entstellung nach. ... Selbst die HEGELsche Philosophie verdankt ihre Erfolge zum Teil dem Umstand, daß sie den Drang nach der Erkenntnis des  Werdens  auf dem kürzesten Weg zu befriedigen schien."

In der Tat, der "Drang nach Erkenntnis des Werdens" war damals sehr lebhaft und ganz allgemein. Von verschiedenen Ausgangspunkten und auf allen Gebieten der Geisteswissenschaften suchte man die Entwicklung der Dinge zu erforschen. Verweilen wir im Interesse der Jünger LAMPRECHTs etwas dabei.

Der Hauptsache nach gehen alle jene Anregungen auf HERDER zurück. Nach ihm ist es in erster Linie die romantische Schule (17) mit der großen Zahl der von ihr abhängigen oder ihr verwandten Richtungen, welche den Gedanken der Entwicklung vertritt. Dem 18. Jahrhundert, dem Rationalismus, "ist alles geschichtlich gewordene ein Unwesentliches, Zufälliges, ja sogar ein Störendes. Wertvoll ist allein, was jenes Zeitalter das "Natürliche" und die "Vernunft" nannte. Sie galten als ein für allemal gegebene, unveränderliche Größen." (18) Ihren schärfsten Ausdruck fand dieser Mangel an Verständnis für die geschichtliche Entwicklung in den Theorien von der natürlichen Religion und dem Natur-, dem Vernunftrecht, dem Staatsvertrag. Aber in allen Beziehungen trat er hervor. "Die ältere pragmatische Geschichte geistiger Bewegungen erscheint" - sagt DILTHEY (19) - "uns darum heute so fremd, so äußerlich und mechanisch, weil sie jeden Gedanken wie ein festes Ding hinnimmt, aus der Übertragung durch einen überspringenden Influx [Einfluß - wp] erklärt und so einem chaotischen Aufspüren von Kausalitäten verfällt, ohne vom genetischen Aufbau und der Struktur unserer Gedankenwelt etwas zu begreifen." Unsere moderne, genetische Auffassung gelangte nun durch die romantische Bewegung zur Herrschaft.

Die Theorie vom Naturrecht wurde durch die der Romantik sehr nahe stehende historische Rechtsschule überwunden.

ADOLF MERKEL hat in seiner Abhandlung "Über den Begriff der Entwicklung in seiner Anwendung auf Recht und Gesellschaft" (Zeitschrift für Privat- und öffentliches Recht, Heft 3, Seite 625f; Heft 4, Seite 1f) eine Parallele zwischen SAVIGNY und DARWIN gezogen. Er findet, daß SAVIGNY die Lebensformen, welche den Gegenstand seiner Theorie bilden, in einem ähnlichen Sinne als Entwicklungsprodukte betrachtet, wie die neueren Naturforscher diejenigen, welche den Gegenstand ihrer Theorien bilden. Die charakteristischen Hauptmomente der SAVIGNYschen Entwicklungstheorie sind nach ihm "wesentliche Bestandteile des allgemeinen Entwicklungsbegriffs, die sich als solche überall erkennen lassen, wo dieser Begriff eine wissenschaftliche Anwendung erfährt. Überall enthält derselbe das Elemente der Veränderlichkeit und der wirklichen Umwandlung - Element der  Metamorphose -,  überall ferner das Element der  Kontinuität  und, insofern er auf die Zustände einander folgender Generationen angewendet wird, das Moment der  Vererbung.  Überall schließt er demgemäß innerhalb seiner Herrschaftssphäre einerseits den Begriff der Stabilität, andererseits den des absoluten Anfangs, bzw. der Entstehung aufgrund souveränder Schöpfungsakte oder aus einem völlig Heterogenen aus." MERKEL setzt weiter auseinander, worin die Verschiedenheit der beiden Systeme beruth. Sie liegt im Wesentlichen darin, daß bei DARWIN das Element der Metamorphose, bei SAVIGNY das der Kontinuität und bzw. Vererbung prävaliert [vorherrscht - wp]. Diese Abweichungen werden hauptsächlich dadurch hervorgebracht, daß es verschiedene Gegensätze sind, denen die eine und die andere Theorie gegenübertreten. MERKEL vergleicht dann noch mi der historischen Rechtsschule die neuere historische Schule der Nationalökonomen. "Die letztere kann als jüngere Schwester (20) der ersteren betrachten werden. ... Auch sie betrachtet die Geschichte als den Weg zum Verständnis der Gegenwart und wie sie den Zusammenhang der Zeitalter beachtet, so die Abhängigkeit des Einzelnen vom Ganzen." Sie unterscheidet sich andererseits von der historischen Rechtsschule dadurch, daß in ihren Anschauungen die Metamorphose eine größere Rolle spielt.

Ebenso wie mit der Jurisprudenz verhielt es sich mit der Sprachwissenschaft. SÜSSMILCH hatte im 18. Jahrhundert nocht die Meinung vorgetragen, daß die Sprache ein von Gott den Menschen fertig gegebenes Geschenk sei. Man sah sie als ein starres, ein für allemal fertiges Instrument, das die Grammatik beschreibt (21), an. Allein "die geschichtliche Betrachtungsweise, die um die Wende des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluß des großen und allgemeinen Rückschlags gegen den starren Rationalismus sich erhob und der auf dem Gebiet der Sprachforschung durch Männer wie WILHELM von HUMBOLDT, BOPP, die beiden GRIMM, die Bahn gebrochen ist" (22), hat gelehrt, daß eine allmähliche Entwicklung und Umbildung der Sprachformen stattgefunden hat.

Eine höchst umfassende Anwendung fand der Begriff der Entwicklung sodann in der Theologie und Kirchengeschichte. Wie unendlich oft ist hier z. B. gegenüber den Vertretern des kurialistischen [katholischen - wp] Standpunktes einerseits und den Rationalisten andererseits hervorgehoben worden, daß die kirchliche Verfassung, die theologischen Lehrmeinungen etwas historisch gewordenes seien! Wie unendlich oft hat man auf dem Gebiet der alttestamentarischen und der neutestamentlichen Theologie das Prinzip der Entwicklung verteidigt! Man nehme etwa F. CH. BAURs "Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung" (1852) zur Hand: durchweg ist hier als Maßstab der Beurteilung in erster Linie die Frage aufgestellt, wie sich dieser oder jener Historiker zum Begriff der Entwicklung verhält. BAUR wendet sich gegen die kurialistische Auffassung von der Stabilität der katholischen Kirchenverfassung und des katholischen Lehrbegriffs, konstatiert, daß sich auch bei den altprotestantischen Theologen Anklänge an die Anschauung von einer Stabilität der kirchlichen Verhältnisse finden, polemisiert aber auch zugleich gegen den Rationalisten HENKE (Seite 195f), der sich "so wenig in andere Zeiten und Individualitäten hineinzufinden" wußte, dem es so sehr "an dem Sinn und Interesse für die Entwicklungsgeschichte des Dogmas fehlte" (23). Mit den Theologen haben die politischen Historiker des 19. Jahrhunderts gewetteifert, gegen die Ansicht von der Stabilität der Verfassungen den Entwicklungsgedanken zur Geltung zu bringen.

Gerade die kirchliche Geschichtsschreibung, vor allem die BAURs, jedoch nicht sie allein, zeigt uns besonders den Einfluß der Philosophie der Zeit, auf den wir schon kurz hinwiesen. Einige Sätze aus HARNACKs Rede auf NEANDER (24), die dies Verhältnis prägnant hervorheben, mögen unseren Überblick schließen: "HEGEL und seine Schüler haben gelehrt, die Geschichte als die Entwicklung des Geistes zu verstehen, jede einzelne Phase in ihr als notwendig zu begreifen und hinter dem Individuellen das Allgemeine zu ermitteln ... Die Aufgabe der  genetischen  Entwicklung, die NEANDER sich geschichtlichen Problemen gegenüber stets gestellt hat und die Freigiebigkeit, mit welcher er noch in seinen spätesten Schriften den Begriff  des geschichtlichen Gesetzes  ausgespielt hat, beweisen, daß er sich dem Einfluß HEGELs nicht hat entziehen können." (25)

So verhält es sich also mit LAMPRECHTs Behauptung, daß die deutsche Geschichtsschreibung bis zu seiner Zeit von Entwicklung nichts gewußt hat, nur "deskriptiv" verfahren ist. (26)

Gegenüber dieser haarsträubenden Behauptung hat es ein anderer Historiker der Leipziger Fakultät denn doch für seine Pflicht gehalten, LAMPRECHT sehr höflich, aber bestimmt daran zu erinnern, daß ja seit HERDER die deutsche Geschichtsschreibung gerade "entwickelnd" tätig gewesen sei (27). Das war für LAMPRECHT peinlich; aber er merkte sichs und schrieb - wie das nun seine Art ist - eine Abhandlung über HERDER (28). Der Kern seiner Ausführungen war, daß HERDERs Auffassung von der technisch sogenannten Entwicklungstheorie DARWINs und von der LAMPRECHTs verschieden sei. Nun, das wußte man freilich auch vorher; das Gegenteil hat niemand behauptet. Natürlich vermied LAMPRECHT sorgfältig, zu konstatieren, daß sein Debut verunglückt, daß die deutsche Geschichtsschreibung des ganzen 19. Jahrhunderts von bloß "deskriptiver" Geschichtsschreibung weit entfernt gewesen sei. (29) Er wußte vielmehr auch ferner seine Anhänger in der Meinung zu erhalten, als ob wirklich die Historiker bis zur jüngsten, bis zu seiner Zeit von "genetischer" Geschichtsschreibung nichts gewußt hätten. (30)

Auch schon bevor er auf den Entwicklungsbegriff HERDERs hingewiesen wurde, scheinen ihm einige Bedenken - inwieweit sie von außen her geweckt worden sind, mag dahingestellt bleiben - an der Richtigkeit seiner ersten Behauptungen gekommen zu sein. Er hatte schlechthin behauptet, daß die Historiker bis zu seiner Zeit (31) nur "deskriptiv" verfahren seien. Das war doch ein zu abenteuerlicher Vorwurf. Wir sehen jedenfalss, daß er sehr bald, ohne seine allgemeine Behauptung zurückzunehmen, sich mehr und mehr bemüht, im einzelnen Unterschiede zwischen der bisherigen und seiner Geschichtsschreibung zu konstruieren. Bei diesem Verfahren (32) unterstützte ihn ebensosehr seine Unkenntnis der Geschichte der Historiographie wie der Umstand, daß er im Anfang über das Wesen der genetischen Geschichtsschreibung, die er begründen wollte, nichts gesagt hatte. (33) Wir haben das eigentümliche Schauspiel vor uns, daß zuerst die Phrase da ist daß ihr erst im Laufe der Zeit etwas Inhalt gegeben wird.
LITERATUR Georg von Below, Die neue historische Methode, Historische Zeitschrift, Bd. 81, München und Leipzig 1898
    Anmerkungen
    1) Jahrbücher für Nationalökonomie 64, Seite 294f
    2) KARL LAMPRECHT, Zwei Streitschriften (Berlin 1897), Seite 3f, 32, 58 Anm. Zukunft, Bd. 18, Seite 32
    3) Zukunft vom 5. März 1898, Seite 449
    4) Mehrfach ist es so dargestellt worden, als ob die "Historische Zeitschrift" die besondere Gegnerin LAMPRECHTs sei. Das trifft nicht zu. Auch die "Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft hat sich, soweit es sich wenigstens um Äußerungen des Herausgeber, G. SELIGERs, handelt, deutlich gegen LAMPRECHTs System ausgesprochen. Vgl. z. B. Monatsblätter Nr. 2, Seite 210; Historische Vierteljahrsschrift Heft 1, Seite 152
    5) Vgl. MATHIEU SCHWAN, Zukunft vom 18. April 1896, Seite 125: "Die Franzosen und Engländer, ja selbst die Amerikaner sind nahe daran, uns den Vorsprung abzugewinnen. Wir blieben zulange, viel zulange, auf demselben Fleck und erst LAMPRECHT hat uns ein tüchtiges Stück vorwärts geführt."
    6) Über Ziele und Methoden der griechischen Geschichtsschreibung, Leipziger Rektoratsrede vom 31. Oktober 1897, Seite 3
    7) Deutsche Literaturzeitung, 1897, Spalte 1979
    8) Auch LAMPRECHTs Ansichten werde ich möglichst im Wortlaut vorführen, um sie in ihrer unmittelbaren Nacktheit wirken zu lassen.
    9) Über ihre Ursache siehe weiter unten
    10) Jahrbuch für Gesetzgebung 1897, Seite 810
    11) Vgl. MAX LENZ, Historische Zeitung, Nr. 77, Seite 387, Anmerkung 1
    12) Vgl. L. MARINPOLSKY, Zur Geschichte des Entwicklungsbegriffs, Berner Dissertation von 1897. Siehe auch F. EULENBURG, Deutsche Literaturzeitung 1894, Spalte 1554, H. WÄNTIG, Auguste Comte, Seite 30 und 247 - Es kann gar kein Zweifel sein (wie dies auch kürzlich OTTOKAR LORENZ, Lehrbuch der Genealogie, Seite 26 und 29 mit Recht hervorgehoben hat), daß die Anwendung des Entwicklungsbegriffs in der Geschichtswissenschaft älter ist als die in der Naturwissenschaft. Man darf sogar behaupten, daß DARWIN in seiner Entwicklungslehre von Vertretern der Geisteswissenschaften abhängig ist. Vgl. KNAPP, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. Bd. 18, Seite 236 und 244; BERNHEIM, Lehrbuch der historischen Methode (2. Auflage) Seite 6 und 113. Aber eben deshalb, weil die Historiker den Entwicklungsbegriff früher als die Naturforscher gehabt haben, brauchen sie ihn sich nicht erst heute von diesen zu holen und brauchen ihn auch nicht, wenn sie ihn haben wollen, in der krassen und einseitigen Ausbildung zu übernehmen, die er in der modernen Deszendenztheorie [Abstammungslehre - wp], zumal in deren extremer Formulierung, gefunden hat.
    13) Das Christentum und die Geschichte (4. Auflage) Seite 5
    14) Die allgemeinen philosophischen Grundlagen der von FRANCOIS QUESNAY und ADAM SMITH begründeten politischen Ökonomie (Leipzig 1890), Seite 175
    15) Geschichte der deutschen Literatur, Seite 629. Ich zitiere absichtlich vorzugsweise allgemein bekannte Bücher, um darzutun, daß LAMPRECHT sehr gut das, was ich sage, auch hätte wissen können und müssen.
    16) Das letztere würde etwa die Methode sein, die Lamprecht WAITZ vorwirft.
    17) Daß LAMPRECHT vom Einluß der Romantik nichts weiß, ist teilweise wohl dadurch verschuldet worden, daß diese Verhältnisse in der ersten Auflage von BERNHEIMs Lehrbuch der historischen Methode (Seite 144) nicht richtig dargestellt waren. In der 2. Auflage, Seite 170, hat BERNHEIM meinen in den Göttingische Gelehrten Anzeigen 1892, Seite 280f, gemachten Feststellungen Rechnung getragen. Freilich will ich hiermit nicht behaupten, daß LAMPREHT auch nur die erste Auflage von BERNHEIM zusammenhängend gelesen hat. - Über die Anregungen, die die Romantiker für die wissenschaftliche Forschung gaben, vgl. DILTHEY, Leben Schleiermachers, Seite 1, 206, 264f. Auch SCHLOSSER, Seite 18, steht doch schon teilweise unter dem Einfluß der Romantik. Er gesteht: "Daß ich den früheren Arbeiten der Brüder SCHLEGEL sehr viel, mehr als allen meinen anderen Lehrern verdanke, halte ich für Pflicht öffentlich einzugestehen." Hierzu bemerkt DILTHEY, Preußische Jahrbücher 9, Seite 387: "Neben die Nachrichten über den Einfluß der SCHLEGEL auf BÖCKH und SAVIGNY, auf GRIMM und RAUMER stelle man diese Äußerung SCHLOSSERs, um die Breite, in welcher diese beiden Männer in die deutsche Wissenschaft eingriffen, recht zu erkennen." Vgl. ebenda, Seite 386 und 396.
    18) ADOLF HARNACK a. a. O., Seite 4
    19) WILHELM DILTHEY, Leben Schleiermachers 1, Seite 229. Ähnlich drückt DILTHEY in seiner Abhandlung über SCHLOSSER (Preußische Jahrbücher 9, Seite 396) den Gegensatz des Alten und des Neuen aus: "An die Stelle einer geistlosen Reproduktion der Schriften oder im besten Fall einer logischen Anordnung der Gedanken, wie sie die ältere historische Schule gab, soll Charakteristik, Reproduktion der inneren Form, in welcher die Gedanken im Geiste verknüpft sind, treten, wie das die SCHLEGEL gelehrt hatten." Ich erwähne diese Sätze DILTHEYs, weil sie recht anschaulich zeigen, daß der Gegensatz, den LAMPRECHT für die Gegenwart konstruiert, vielmehr um die Wende des 18. Jahrhunderts vorhanden war.
    20) Vgl. auch LUDWIG STEIN, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie, Stuttgart 1897, Seite 419 (Anm.) und 430
    21) Vgl. LAMPRECHTs "deskriptives" Verfahren
    22) FRIEDRICH PAULSEN, Einleitung in die Philosophie (4. Auflage), Seite 201. Ich verweise auf dieses Buch, weil es LAMPRECHT, nach seinen Zitaten zu schließen, bekannt sein müßte.
    23) LAMPRECHT sollte die historischen Schriften von F. CH. BAUR einmal studieren; er würde dann erkennen, daß Probleme, die ihm ganz neu zu sein scheinen, längst eifrig erörtert worden sind.
    24) Preußisches Jahrbücher 63, Seite 191
    25) Über die Herrschaft des Entwicklungsgedankens seit Anfang unseres Jahrhunderts siehe auch M. REISCHLE, Christentum und Entwicklungsgedanke (1898), Seite 7f; DILTHEY, Schleiermacher Seite 227. LUDWIG STEIN, a. a. O. Seite 41, Anm. 1 bezeichnet als Vertreter der "evolutionistischen" Richtung der Geschichtswissenschaft BERNHEIM und LAMPRECHT. Hierzu ist erstens zu bemerken, daß BERNHEIMs Standpunkt vom LAMPRECHTschen himmelweit verschieden ist, zweitens, daß BERNHEIM die genetische Geschichtsschreibung nicht erst seit der jüngsten Zeit, gar erst seit LAMPRECHT datiert, sondern selbstverständlich seit der Wende des letzten Jahrhunderts. Er sagt (Seite 22): "Unsere hervorragendsten Historiker bekennen sich gleichmäßig zur genetischen Auffassung". Als solche nennt er RANKE, SYBEL, DROYSEN, WAITZ usw.
    26) LAMPRECHT hätte sich nur etwas in der Literatur umzusehen brauchen, um sich von dem zu überzeugen, was die deutschen Historiker als Aufgabe des Geschichtsschreibers ansehen. Vgl. z. B. EDUARD MEYER, Geschichte des Altertums I, Seite 18f: "... den Zusammenhang der Entwicklung darzulegen ..."
    27) BUCHHOLZ, Zur Lage der Geschichtswissenschaft, Akademische Rundschau, Bd. 1, Leipzig 1896, Seite 238f. Er sagt: "Wir verwahren uns gegen die Behauptung, daß die neue Richtung uns auch eine neue und höhere Methode beschert habe und daß von dieser Entdeckung ein neues Zeitalter der geschichtlichen Wissenschaft zu erwarten sei." Übrigens hätte LAMPRECHT sich von seinem Irrtum schon aus einem älteren Aufsatz von BUCHHOLZ (Quiddes Zeitschrift, Bd. 2, Seite 17f) unterrichten können.
    28) HERDER und KANT als Theoretiker der Geschichtswissenschaft, Jahrbücher für Nationalökonomie 69, Seite 161f
    29) Köstlich ist die Art, wie BARGE, Entwicklung der geschichtswissenschaftlichen Anschauungen in Deutschland, Seite 33, darüber reflektiert. Statt einfach zu sagen, daß es LAMPRECHTs Pflicht gewesen wäre, die Geschichte der Historiographie zu studieren, bevor er mit dem Anspruch auftrat, ein neues Zeitalter der Historiographie zu eröffnen, betont er, daß "durch Herder Lamprecht kaum beeinflußt, vielmehr erst später Herders Anschauung als eine der eigenen verwandte von ihm wieder aufgedeckt worden ist." Wir empfehlen dieses Verfahren allen Höflingen zur Nachahmung.
    30) Noch in seinen "Zwei Streitschriften" (Seite 39), deren Inhalt er noch heute (Zukunft vom 5. März 1898) vollkommen aufrecht hält, setzt er seiner Auffassung die "deskriptive" entgegen.
    31) In der Rezension über den 2. Band von INAMA-STERNEGG hatte LAMPRECHT bemerkt, daß auch schon in diesem Buch (es ist 1891 erschienen) einige Kapitel die genetische Methode zeigten. Sie müßte danach so ganz jung nicht mehr sein. Im Jahre 1897 (Zwei Streitschriften, Seite 39) scheint er die neue Zeit "seit einem Jahrfünft" zu datieren. Das würde auf ein Ereignis des Jahres 1892 weisen. Ich wüßte hier nur das Erscheinen des 2. Bandes von LAMPRECHTs "Deutscher Geschichte" zu nennen. In jener Rezension hatte er ferner nicht gesagt, wer der RICHARD WAGNER der Zukunftshistorie sei. Inzwischen hat er es mit Trompetenstößen urbi et orbi [der Stadt und dem Weltkreis - wp] verkündigt.
    32) LAMPRECHT nennt es seine "historisch-methodischen Studien" (Jahrbücher für Statistik 69, Seite 161, Anm. 1).
    33) Ein Mißgeschick ist G. WINTER zugestoßen, der in der "Zeitschrift für Kulturgeschichte", Heft 1, Seite 195f (hg. von STEINHAUSEN) "Die Begründung einer sozialistischen Methode in der deutschen Geschichtsschreibung durch Karl Lamprecht" LAMPRECHTs neue Entdeckung pries, ehe dieser sein spezielles Programm veröffentlicht hatte. Von den spezifisch neuen Gedanken des Entdeckers erfahren wir hier nun natürlich nichts. Da WINTER etwas genaueres über die neue Entdeckung offenbar nicht sagen kann, so konstruiert er einen höchst merkwürdigen Gegensatz der LAMPRECHTschen Methode zu der bisherigen. Zum Beispiel erzählt er, daß die Geschichtsschreibung, solange sie vorwiegend die großen politischen, diplomatischen und kriegerischen Begebenheiten erforschte, die historischen Schriftsteller als Quellen "bevorzugte", nicht die Urkunden! Die Frage, welchen Zwecken die Regestenwerke [Zusammenfassung des rechtsrelevanten Inhalts geschichtlicher Urkunden - wp] bisher gedient haben, hat sich WINTER gewiß nicht vorgelegt.