ra-2Über die Grundbegriffe in der NationalökonomieGustav CasselR. Liefmann    
 
FRIEDRICH GOTTL-OTTLILIENFELD
(1823-1900)
Die wirtschaftliche Dimension
[1/8]

    Einleitung
I. Anlauf der Kritik
II. Vom Tatbestand der Wirtschaftlichen Dimension
III. Vom Werden der Wirtschaftlichen Dimension

"Die Wertlehre spielt hier nur den Sack, den die Kritik schlägt. Was diese eigentlich meint, ist die Denkweise überhaupt, von denen alle die "Lehren" getragen sind, an denen unsere fachliche Theorie würgt; auf die ganze Grundbegriffelei ist es gemünzt, auf die  Herrschaft des Wortes! 

"Ohne sich darüber recht klar zu sein, verzichtet man neuerdings immer häufiger, noch weiterhin in der üblichen Weise nach dem  Wert  zu fragen, einfach unter dem Eindruck, daß nichts dabei herauskommt; und so versucht man es mit einer  wertfreien  Theorie der wirtschaftlichen Größen. Allein, auf diesem rein empirischen Weg gelingt die Läuterung unserer fachlichen Theorie doch nur scheinbar."

"Unter der Herrschaft des Wortes entartet alle Theorie zu wirtschaftspolitischer Stellungnahme."

"Gemeint ist, daß in der nationalökonomischen Theorie Vorurteile nicht erst dort ihr Unwesen treiben, wo ausdrückliche  Werturteile  gefällt werden, Urteile nämlich, die über das  Gesinnungsrichtige,  namentlich hinsichtlich dessen ergehen, was  sein soll:  nein, schon die  Theoreme selber,  und gleich die grundlegendsten, besagen eitel Stellungnahme!"

"Heute kann man jeden nationalökonomischen Theoretiker mit den Worten anreden: Sage mir, wie Du über  Wert  oder doch über  Kapital  denkst, über  Produktivität, Rente, Zins  und so fort und ich sage Dir, wer Du bist und wo Du hinauswillst mit der Wirtschaft!"


Einleitung

Mit den Untersuchungen, deren erste ich hier vorlege, hätte ich ebensogut schon vor Jahren hervortreten können, gleich nach meinen frühesten Schriften, über den "Wertgedanken" und über die "Herrschaft des Wortes". Damals aber predigte solche Kritik noch tauben Ohren. Inzwischen hat die Zeit ihr Werk getan und mir den Gefallen, daß ich von einer "sterbenden" Wertlehre sprechen darf, was doch einstens halb als Anmaßung, halb als toller Einfall geklungen hätte. Aber spricht nicht schon dieser Wandel dem verspäteten Beginnen das Urteil? Wozu der Aufwand an Kritik noch Dingen gegenüber, die sich ganz von selber überleben!

Diese wie bei Münchhausen eingefrorene Trompete taut allerdings nicht deshalb auf, um der nationalkönomischen Wertlehre schnell noch Halali zu blasen, bevor ein aufwachsendes Geschlecht selbst dies nicht mehr hören will. Meine persönliche Absicht dabei brauche ich nicht zu verhehlen: Mit der Reihe dieser Aufsätze suche ich  von aller fachlichen Polemik ein kommendes Buch zu entlasten, das seine Sache in voller Ruhe sagen will.  Aber diese Abrechnung mit der hergebrachten Art, nationalökonomische Theorie zu treiben, rechtfertigt sich auch für ihren eigenen Teil.

Die Wertlehre selber spielt hier tatsächlich nur den Sack, den die Kritik schlägt. Was diese eigentlich meint, ist die Denkweise überhaupt, von denen alle die "Lehren" getragen sind, an denen unsere fachliche Theorie würgt; auf die ganze Grundbegriffelei ist es gemünzt, auf die  Herrschaft des Wortes!  Gewiß hat es etwas Erfreuliches, daß doch wenigstens jenes der "herrschenden" Worte langsam abwirtschaftet, von dem sich zeigen soll, wie es dem theoretischen Denken einen bedeutsamen Tatbestand fast umnebelt und dafür ein Scheinproblem vorgetäuscht hat; indem es vor allem nach jenem wahnhaften "Allpreisgrund" haschen läßt, mit dem die Erklärung des ganzen Größenspiels der Wirtschaft auf einen einzigen Posten gebracht wäre. Ohne sich darüber recht klar zu sein, verzichtet man neuerdings immer häufiger, noch weiterhin in der üblichen Weise nach dem "Wert" zu fragen, einfach unter dem Eindruck, daß nichts dabei herauskommt; und so versucht man es mit einer "wertfreien" Theorie der wirtschaftlichen Größen. Allein, auf diesem rein empirischen Weg gelingt die Läuterung unserer fachlichen Theorie doch nur scheinbar. Nach wie vor wird unbeiirt danach gefragt, was "Kapital" ist, was "Grundrente", was "Produktivität" usw. Nach wie vor räumt das einem  Kreis vorgegebener Worte,  den sogenannten "Grundbegriffen", die Vollmacht ein, dem theoretischen Denken zugleich die erste Einstellung und die letzte Ausrichtung zu geben. Und hier käme es doch offenbar darauf an,  daß man anstelle dessen die grundlegendsten Probleme der Theorie in geschlossenem Zusammenhang entwickelt!  So aber stammelt man immerzu diese Worte in fragender Form. Bloße Worte vertreten die Probleme, begraben sie unter sich. Wenn also auch die Wertlehre stirbt, das "wortgebundene" Denken und Erkennen nicht mit ihr. So bliebe es auch mit allen Schäden dieser Denkweise beim Alten; darum muß Kritik eingreifen.

Weniger das Quantum, als das  Quale  der Erkenntnis, die auf so naivem Weg gesucht wird, leidet durch diese Naivität Schaden. Selbst in der Wertlehre, wo so viel redliches Streben nach Erkenntnis schuldlos in die Irre geht, weil es dem Trug des Wortes zum Opfer fällt, selbst da vermag die nachprüfende Kritik immer noch eine reiche Ernte einzuheimsen, an zum Teil schätzbarster Erkenntnis. Aber dieser Erkenntnis hier und in den anderen "Lehren", mangelt einmal schon der rechte Zusammenhang. Daran fehlt es innerhalb der eigenen Wissenschaft, fehlt es nicht minder auch nach anderen Wissenschaften hin, soweit sie gemeinsam die erlebte Wirklichkeit geistig zu bewältigen suchen. Beim Ausgang vom Wort, statt von klar entwickelten Problemen auszugehen, kommt als Ergebnis nichts heraus, was nicht als fachliche Theorie unfruchtbar, als Erkenntnis an sich aber fachwissenschaftlich verschroben wäre. Besonders darüber habe ich mich in einer kürzlich erschienenen Schrift ausgesprochen; ihr Titel sagt es, wohin der Weg ins Freie geht: "Freiheit vom Wort!" (1)

Aber es lauern noch andere Schäden hinter dieser Bindung an das Wort. Ihnen kommt man richtig nur bei, sofern man den Dingen da und dort, an einigen Stellen wenigstens, ganz auf den Grund geht. Weder vor der verzweifeltsten Haarspalterei darf man dann zurückschrecken, noch vor den weitesten Umwegen, wenn bloß diese in den Kern der Sache Einlaß gewähren. Diese Untersuchungen geben sich dazu her. Weil sie aber darüber schier ungenießbar werden, besonders die vorliegende, bedürfen sie gleichsam eines Vorschusses an Rechtfertigung. Deshalb nehme ich hier eines ihrer  letzten  Ergebnisse in Kürze vorweg, mit der Andeutung, was sich als der eigentliche Schaden wortgebundenen Denkens herausstellen soll.

 Unter der Herrschaft des Wortes entartet alle Theorie zu wirtschaftspolitischer Stellungnahme.  Sie verfällt der strengen Bindung an den  "Standpunkt"!  Mit voller Absicht wähle ich den Ausdruck "wirtschaftspolitischer Standpunkt", um nicht dem lächerlichen Schwulst des Alltags zu folgen, der hier sofort von "Weltanschauungssache" reden ließe. Gemeint aber ist es so, daß in der nationalökonomischen Theorie Vorurteile nicht erst dort ihr Unwesen treiben, wo ausdrückliche "Werturteile" gefällt werden, Urteile nämlich, die über das  Gesinnungsrichtige,  namentlich hinsichtlich dessen ergehen, was "sein soll": nein, schon die  Theoreme selber,  und gleich die grundlegendsten, besagen eitel Stellungnahme! Der Zwang zu einer innerlichen, ungeprüften, unerschütterlichen Einstellung lastet auf ihnen. So wurzelt die Theorie, auf deren Grundlage man überhaupt erst urteilt, selber schon im logisch Verantwortungslosen der  Gesinnung;  gleichviel, was wieder zu dieser verwoben ist, Seelenstimmung, Interessenlage oder was immer, bestenfalls auch soe etwas wie Lebensanschauung überhaupt. Kurz, alle nationalökonomische Theorie der hergebrachten Art ist gleichsam schon in der Wolle gesinnungstreu gefärbt!

Logisch genommen, führt zwar selbst das grundlegendste Theorem wieder auf Urteile zurück, im Sinne seiner Gestaltung als Begriff. So müßte man zugeben, daß hier abermals "Werturteile", Urteile über das Gesinnungsrichtige in Frage kämen; freilich unausgesprochen, nur mittelbar damit gefällt, daß man das Theorem so und nicht anders gestaltet. Wie aber in das Gestalten der Theoreme immer schon Gesinnung hineinredet, wird sich auch anders und greifbarer erläutern lassen:  durch die unbefugte Rolle, die beim Vollzug des Erkennens das Wort spielt!  Wo eben nicht das Problem das erkennende Denken bewegt, das aus dem Zusammenhang mit seinesgleichen klar entwickelte Problem, da drängt sich das problemvertretende, das "herrschende" Wort ein und entfaltet insgeheim die geistigen Kräfte, die ihm für den Bereich der fachlichen Theorie so eigentümlich zugewachsen sind. Daraufhin rollt sich das Problem nur so weit auf, daß der Theoretiker die Eingebung vom Wort her und über das Wort hinweg, gleich als Lösung empfindet. Die transverbale [übersprachliche - wp] Intuition, um es so zu nennen, entscheidet dann an letzter Stelle über die Erkenntnis; und sie ist es, was die Erkenntnis dem logisch Verantwortungslosen der Gesinnung ausliefert. So wird das Wort zum Kuppler dafür, daß sich unser Denken unserem Wollen und Fühlen schlechterdings preisgibt.

Und die Folge davon! Die ganze nationalökonomische Theorie, bis zu ihren letzten, grundlegendsten Inhalten zurück,  spaltet sich rein gesinnungsmäßig auf;  eigentlich von Theoretiker zu Theoretiker, fürs Grobe aber von Schule zu Schule, mit einem ganz unüberbrückbaren Abstand zwischen ihnen. Heute kann man jeden nationalökonomischen Theoretiker mit den Worten anreden: Sage mir, wie Du über "Wert" oder doch über "Kapital" denkst, über "Produktivität", "Rente", "Zins" und so fort und ich sage Dir, wer Du bist und wo Du hinauswillst mit der Wirtschaft! Allerdings, man braucht es bloß auf diese Formel bringen und sofort verliert es das Ansehen des Ungehörigen. So gewendet, wird man mir die geschilderte Verfassung unserer Theorie bereitwillig zugeben und dem nur mit zweierlei Einrede begegnen: die Einen wohl mit der Frage:  Kann es denn anders sein?  Die Anderen mit der Frage:  Soll es denn anders sein?  Beiden sei nun kurz erwidert.

Kein Zweifel, auch unser erkennendes Denken bleibt stets im Kampf gegen all das verstrickt, was wir fühlen und wollen. Aber dieser Kampf wird in Gestalt der Wissenschaft immer um einen Preis geführt; und der ist Erkenntnis, die für jedermann ihrer selbst gewiß und ihrer inneren Einheit sicher bleibt. Dieser Kampf ist  praktisch  bloß den Wissenschaften  unseres  Kreises aufgezwungen, bei denen das erfahrende Denken die erlebte Wirklichkeit nicht ihres erlebten Zusammenhanges beraubt. Drüben, bei den Naturwissenschaften, auf ihrem ganz anderen Horizont der Erfahrung, da ist nach dem KANTschen Wort allemal soviel an eigentlicher Wissenschaft vorhanden, als in Wissenschaft Mathematik enthalten ist. Für unsere Gebiete verliert dieses Wort jeglichen Sinn. Bei uns ist an Wissenschaft soviel vorhanden, als jener Kampf zum Sieg ausklingt, das will sagen, soweit das  erkennende Denken nicht doch wieder in Bekenntnis stecken bleibt,  vielmehr sich durchringt zu echter Erkenntnis, im Walten  gesinnungsfreien  Denkens! Dahinzu ringt wohl auch die "mathematische Methode" in unserer Wissenschaft, als ein verzweifelter, aber hoffnungsloser Vorstoß. Die Rechnung stimmt. Aber in ihren Ansätzen steckt, zugleich mit allen Fehlern und Vorurteilen des wortgebundenen Denkens, auch die Gesinnung! Wie ja überhaupt dabei nichts herauskommt, was nicht hineingesteckt wäre und allein schon das Rechnen auf solchen Gebieten selber das Urteil fällt: Gute Rechner vielleicht, schlechte Mathematiker sicher!

Die volle Läuterung vom Vorurteil mag uns ewiglich verwehrt bleiben; sicher nur im ewigen Streben danach erfüllt sich Wissenschaft. Daher verknüpft es sich schon mit der Idee der Wissenschaft, daß alle Urteile über das Gesinnungsrichtige, alle "Werturteile" ausscheiden; sie führen ja immer nur zu Bekenntnissen. Der Kampf aber gegen die Herrschaft des Wortes geht noch einen Schritt folgerichtig weiter. Gilt er doch jenen  verhohlenen  "Werturteilen", die schon in den Theoremen selber stecken, solange das Wort über das Denken ungebührlich Gewalt übt,  Erkenntnis umbeugend zu Bekenntnis.  Freilich werden sich niemals alle Wurzeln glatt zuschneiden lassen, an denen unser Denken auch insgeheim emporwächst aus dem logisch Verantwortungslosen der Gesinnung. Selbst dann nicht, sobald der Ausgang vom Wort vermieden bleibt. Auch die offene und klare Entfaltung der Probleme, in ihrem alles entscheidenden Zusammenhang, wird immerzu im Schatten unserer Vorurteile stehen. So wird vermutlich um diese Problem nicht minder heftig gestritten werden. Aber gerade dieser Streit demaskiert die Vorurteile, bevor noch die Lösungen vorweg und blindlings auf sie eingeschworen sind. Das Vorurteil mauert sich da nicht so verbissen ein, wie in der Form der transverbalen Intuition, die ja logisch ungreifbar ihr dunkles Werk besorgt. Es liegt auf der Hand, in dieser Hinsicht ist das Wort der Feind des Denkens und seine erkenntnisbeugende Macht will immer erst gebrochen sein.

Den wirtschaftspolitischen Kampf selber schafft natürlich auch die reifste Theorie nicht aus der Welt. Überhaupt nur so weit, als dieser Kampf von Überzeugung zu Überzeugung auch mit geistigen Waffen ausgefochten wird, berührt er sich mit der Wissenschaft; denn nur diese weiß ihm solche Waffen zu liefern. Aber diese Waffen sind vergiftet, solange der Gegensatz der Gesinnung noch im Herzen der Wissenschaft selber nistet. Dann wähnt man, um Erkenntnis zu streiten und gleich mit den grundlegendsten Theoremen wirft man sich gegenseitig eitel Bekenntnisse an den Kopf. Diese giftigen Waffen verbittern bloß den Kampf im Leben draußen. Was aber hätte denn eine gesinnungsmäßig zerrissene Wissenschaft dem Leben sonst noch zu bieten? Allerdings, das Amt des Richters im Streit, das käme der Wissenschaft überhaupt nie zu, ebensowenig die Rolle des Führers. Beides ist praktische Tat, gleich aller schöpferischen Gestaltung, liegt mithin jenseits der Wissenschaft. Dieser aber bleibt selbst in Sachen des wirtschaftspolitischen Kampfes genügend viel zu leisten übrig. Dem Leben gegenüber muß sich die Wissenschaft als das große geistige Arsenal bewähren, dem der Kampf der Gesinnungen ehrliche Waffen zu entnehmen vermag, der Richter richtige Maßstäbe, der Führer klaren Überblick und vollen Aufschluß, der schöpferisch Gestaltende aber Vorbild und Richtschnur. Das sind Ansprüche, die vom Leben selber an die Wissenschaft gestellt werden und ihnen kommt sie gewiß nur in dem Maß nach, als sie sich frei ringt von den Vorurteilen der Gesinnung. Je wilder bewegt die Wirtschaft einer Zeit, desto bedürftiger ist sie eines solchen geistigen Arsenals, desto mahnender die Forderung, es zu schaffen.

Wäre damit nicht gleich auch der zweiten Einrede begegnet? Wenn das Leben selber nach Wissenschaft verlangt, Wissenschaft sich aber an Erkenntnis, Erkenntnis an gesinnungsfreies Denken bindet, darf man da weiter noch fragen, ob es anders auch sein  soll,  als es heute unter der Herrschaft des Wortes ist? Allein, als ein vernehmbare Stimme unserer Zeit ist diese zweite Einrede keineswegs von so einfachem geistigen Klang, um die Dissonanz zu ihr so eins zwei durch ein logisches Räsonnement aufzulösen. Wenn es bloß der Vorwurf wäre, daß Wissenschaft umso farbloser und innerlich kälter wird, je geflissentlicher sie sich von aller Gesinnung löst, dem würde man leicht begegnen können. Dieser Vorwurf träfe doch nur die Persönlichkeit, die Wissenschaft zu treiben hat, nicht aber die Art, in der Wissenschaft zu treiben ist! Persönlichkeit ohne Gesinnung, nein! Das wissenschaftliche Denken aber wäre ein armselig Ding, stünde es in Farbe und Wärme stets nur einer Gesinnung zu Lehen. Je gesinnungsfreier das Denken, um so mehr ist es etwas schwer Erkämpftes, dieser Kampf aber ohne Leidenschaft kaum zu führen. Ist diese Leidenschaft wahrhafter Erkenntnis noch gar nicht erwacht, gibt sich das Denken noch blindlings dem Wort preis, dann freilich muß es Farbe und Wärme von der Gesinnung erborgen, der es ausgeliefert bleibt. Je hinreißender sich naive Theorie aufspielt, desto mehr zahlt sie mit dieser falschen Münze. Just in unserer Wissenschaft ist es immer noch der sicherste Weg zum "Namen", daß man irgendeiner gesinnungsmäßigen Entwicklung laut schreiend vorausläuft. Bald dem "Freihandel", bald dem "Schutzzoll", bald der "Hebung der unteren Klassen", bald der "Erhaltung der Substanz". Mit Wissenschaft hat das nichts zu schaffen. Wissenschaft steht zu hoch, um bloß das Megaphon der Gesinnungen zu spielen.

Die zweite Einrede, richtig verstanden, führt übrigens viel zu sehr in die letzten Tiefen der Zeit, unmöglich läßt sich ihr hier Rede stehen. Was aus ihr spricht, ist innere Abkehr von der Wissenschaft, wie sie ist oder gar von Wissenschaft überhaupt. Gerade nur soviel in diesem Zusammenhang, daß weder das eine, noch das andere ganz unverständlich erscheint.

An der Abkehr von der Wissenschaft, wie sie ist, trägt diese wohl auch selber und nicht zuletzt unser Fach die Schuld. Wie schwer wiegt allein schon der Umstand, daß sich mit der Naivität des wortgebundenen Erkennens eine weitere Kinderkrankheit verbindet: die unselige Sucht unserer Wissenschaften, es der mechanistischen Naturwissenschaft gleichtun zu wollen, um nur ja der Technik des Geschäftes nachlaufen zu können. Dem Leben, das eitel Gestaltung und Schicksal ist, sind diese Disziplinen Erkenntnis schuldig und spotten ihrer selbst, indem sie Größenprobleme allen voransetzen und so nicht minder in der Rechnung das letzte Wort suchen. Was macht schließlich der durchschnittliche Theoretiker unseres Faches aus der Wirtschaft? Eine  Welt des autonomen Objekts,  eine "Güterwelt" und ihr gegenüber setzt er eine Puppe, den "Hampelmann des Erwerbs"; so muß man es wohl nennen, was sich da als Ersatz aufspielt für die repräsentativen Subjekte der Gebilde, aus denen sich die Wirtschaft als Leben aufbaut. Damit ist das Szenarium gestellt, um nun mit einer platten Mechanik des Größenspiels in der Wirtschaft aufzuwarten. Wenn solche Dinge als Lösung dort geboten werden, wo man Erkenntnis des Lebens sucht, soll das etwa auf Wissenschaft erpicht machen? Soll dieses Puppentheater denen Respekt einflößen, die sich in einer, auch geistig so schwer ringenden Zeit der Wissenschaft nähern?

Kein Eindruck aber ist so nachhaltig und verhängnisvoll zugleich, als der, daß in unserer Theorie, von der ersten Grundlegung bis zur "letzten Wahrheit", nichts gesagt werden kann, was nicht vom "Standpunkt" abhinge. Nur der Fachmann stumpft gegen diesen Eindruck ab und hilft sich so der so darüber hinaus. Entweder rettet er sich auf eine "mittlere Linie" oder er täuscht sich "Übereinstimmungen", "feststehende Wahrheiten" vor, die im Grunde nur seine  eigene  Stellungnahme widerspiegeln. Aber die Tatsache schroffer und eben auch gesinnungsmäßiger Zerklüftung unserer Theorie bleibt aufrecht, ihre förmliche Selbstverneinung. Wo ist da nun Wahrheit? Nichts kann erschütternder sein, als diese völlige Erschütterung alles Glaubens an unerschütterliche Erkenntnis. Was geboten wird, gibt sich für Erkenntnis aus, ist letzten Endes jedoch nur Bekenntnis, als das aber von einer  ungewollten Unaufrichtigkeit!  Gut, dann lieber gleich ein Bekenntnis offen und frei, man folgt der Fahne, die frisch voranweht - statt nur über ihre Fetzen intellektuell zu stolpern. Ist dieses Räsonnement so unberechtigt? Kein Zweifel, es treibt im Unterbewußtsein der Zeit sein Wesen. Ein Zustand aber, wo ehrliches, wahrheitsuchendes Denken, wie es aufgerüttelt ist von der Unruhe dieser Zeit, sich schon  gefühlsmäßig  abkehren muß von der Wissenschaft, kann unmöglich ein gesunder sein. Dies, so will es mir scheinen, gibt erst recht der Kritik das Wort.
LITERATUR Friedrich Gottl-Ottlilienfeld, Die wirtschaftliche Dimension - eine Abrechnung mit der sterbenden Wertlehre, Jena 1923
    Anmerkungen
    1) Berlin 1923. Bei ihrer gleichzeitigen Herausgabe im Rahmen des Sammelwerkes "Hauptprobleme der Soziologie" ist dieser Schrift ihr Untertitel abhanden gekommen: "Über das Verhältnis einer Allwirtschaftslehre zur Soziologie".