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Kant . . . und keine Ende? [1/2]
V o r b e m e r k u n g e n 1. Die "Kritik der reinen Vernunft" zitiere ich nach KEHRBACH durch bloße Seitenzahlen und setze, wenn es nötig erscheint, auf die Verschiedenheit oder Übereinstimmung der beiden Ausgaben Rücksicht zu nehmen, A, B oder A und B dazu. Die übrigen Werke KANTs zitiere ich nach der Ausgabe von KIRCHMANNs. 2. "Vaihinger" bezeichnet den Kommentar VAIHINGERs, Bd. I, 1881/82, Bd. II 1892. 3. "Cohen" bezeichnet COHENs Werk "Kants Theorie der Erfahrung", zweite Auflage, Berlin 1885. 4. "Riehl" bezeichnet "Der philosophische Kritizismus usw. Leipzig, Bd. I 1876, Bd. II,1 1879, Bd II,2 1887 5. Von eigenen Arbeiten zitiere ich unter - W1. Die Theorie des Gegenstandes und die Lehre vom Ding ansich bei KANT (1881); die Abhandlung wurde, nachdem sie bei meiner Habilitation (Herbst 1881) vorgelegen, Herrn VAIHINGER in Handschrift zur Verfügung gestellt, vgl. dessen Kommentar II, 7, 17, 57. - W2. Ein Säkularblatt, Braunschweiger Anzeigen, Ende 1881. - W3. Anzeige usw. und Kant-Thesen in Ulricis Zeitschrift 1881/82. - W4. Aktivität und Passivität in ihrem Verhältnis zu Freiheit und Notwendigkeit, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1882 - W5. Die Philosophie als deskriptive Wissenschaft, Braunschweig 1882. - W6. Das Prinzip der psychophysischen Korrespondenz, Kosmos 1885 - W7. Dubois-Reymonds Weltbild im Rahmen einer modernen Scholastik, Kosmos 1886. - W8. Die Grundlage der euklidischen Geometrie des Maßes, Gymnasial-Programm, Braunschweig 1887. - W9. Die asymptotische Funktion des Bewußtseins, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1886/87. - W10. Beiträge zur Theorie der zentrodynamischen Körper, Gymnasial-Programm, Braunschweig 1892. 6. Erläuterungen und Zusätze des Verfassers innerhalb zitierter Sätze sind durch Klammer von folgender Gestalt < ... > kenntlich gemacht. das Verständnis Kants? Darum sind die Männer aus der alten Ära der KANT-Forschung, denen FICHTEs aufgehender Stern die Augen geblendet hat, entschuldigt, wenn sie das Verständnis KANTs nicht erreicht haben. Für uns aber, die wir ein volles Jahrhundert nach jener Zeit (1) leben, ist es Pflicht, dem Genius KANTs wirklich gerecht zu werden. Als VAIHINGER im Jubeljahr der "Kritik der reinen Vernunft" mit den ersten Anfängen eines großartig angelegten Kommentars zu jenem vielumstrittenen (2) Buch hervortrat, da hofften Viele, mit ihnen auch ich (3), daß dieses Werk die neue Ära der KANT-Forschung zu einem gewissen positiven Abschluß bringen würde. Der Fortgang des bedeutenden Werkes, für das man, meiner Ansicht nach, Herrn VAIHINGER in jedem Fall von Herzen dankbar sein muß, hat diese Hoffnung getäuscht. Herr VAIHINGER wird in diesem Urteil kaum einen Tadel, sondern eher ein Lob sehen, denn nach seiner Ansicht hat KANT überhaupt kein festgefügtes System hinterlassen und es kann sich also nur darum handeln, die Widersprüche bei KANT selbst aufzudecken und im Einzelnen darzulegen, daß die Kärrner [die sich zu schwerer Arbeit vor den Karren spannen lassen - wp] der Interpretation, trotz ihrer gegenteiligen Meinungen, entschuldigt sind, weil sie sich alle mit Recht auf KANT berufen können. In meiner Anzeige des 2. Bandes von Vaihingers Kommentar (Deutsche Literaturzeitung, 9. September 1893) habe ich bei entschiedener Anerkennung der Arbeit eine Reihe von ebenso entschiedenen Ausstellungen gemacht, denen ich eine weitergehende Bedeutung beimesse, insofern sie VAIHINGERs Negation gegenüber auf eine feste Position zielen. Diese Ausstellungen, insofern sie auf eine feste Position zielen, sind die folgenden Blätter gewidmet. Gleichzeitig soll meine Arbeit noch einem Nebenzweck dienen. In Abhandlungen und Besprechungen habe ich des öfteren KANT erwähnen müssen, d. h. ich mußte, bei der nun einmal vorhandenen Sachlage der KANT-Forschung meine Auffassung KANTs heranziehen, ohne derselben doch dabei jedesmal in geschlossener Form Ausdruck geben zu können. So fühle ich in erster Linie Herrn VAIHINGER gegenüber, in zweiter Hinsicht aber auch Anderen (4) gegenüber die Verpflichtung, diesen einzelnen Bemerkungen die feste Grundlage hinzuzufügen, auf der sie erwachsen sind. Zu einem solchen Versuch, wie ihn die folgende Abhandlung gibt, glaube ich berechtigt zu sein, nicht, weil ältere, von mir abgebrochene (5) Arbeiten sich mit KANT beschäftigt haben, sondern weil es für mich eine innere Notwendigkeit war, mir das Verständnis KANTs gewissermaßen zu erzwingen. Der fruchtbare Boden der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaft, welcher das gewaltige Gebäude moderner Technik trägt, weist auf festgefügte, zugrunde liegende Schichten hin, aber der Bau derselben im Einzelnen ist zum Teil noch unbekannt. An der genaueren Erforschung dieses Baus mitzuwirken, betrachte ich als eine dringende und lohnende Aufgabe (6). In dieser Hinsicht habe ich mich eingehend mit Erkenntnistheorie und überhaupt mit Philosophie beschäftigt (7), aber immer in dem Gedanken, mit der dabei gewonnenen Belehrung zu den Fragen nach dem Grund der mathematisch-naturwissenschaftlichen Forschung und dessen methodischer Beziehung zur Einzelarbeit auf diesem Gebiet zurückzukehren. Daß man dabei an KANT vorüberzugehen nicht imstande ist, bedarf wohl kaum einer ausdrücklichen Erwähnung. Hat er doch, vom Streit LEIBNIZ' und DESCARTES' über das Kräftemaß ausgehend seine wissenschaftliche Laufbahn beschritten! Hat er doch als Schüler NEWTONs in jungen Jahren dem großen LAPLACE eine seiner fruchtbarsten Ideen vorweggenommen und im Einzelnen anschaulich ausgeführt! Hat er doch, die Erscheinungen der Körperwelt im Besonderen und im Allgemeinen stets mit regem Interesse verfolgend, für Geometrie und Mechanik und mathematische Naturwissenschaft überhaupt grundlegende Bestimmungen hinterlassen, die sich fast allgemeiner Anerkennung erfreuen! So wurde für mich das Verständnis KANTs die Bedingung für weitere Arbeit. KANT ist aber nicht zu verstehen ohne Rücksicht auf seine großen Vorgänger und auf die, welche ihm folgten, und bei diesem Gang merkte ich zu meiner Beschämung, daß mir die Geschichte jener exakten Wissenschaften, der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaft, noch viel zu wenig bekannt war, als daß ich der Frage nach ihren Grundlagen erfolgreich hätte näher treten können. (9) Daß aber die Beschäftigung mit Philosophie kein wertloses Unternehmen ist, mag es auch einer ganzen Epoche als solches erscheinen, läßt sich allein schon aus dem praktischen Nutzen ermessen, den Philosophie im Kulturleben der Völker gezeitigt hat (10). Es mag hier genügen, darauf hinzuweisen, daß die großen Klassiker der modernen Naturwissenschaft, aus deren Schoß die moderne Technik geboren ist, zugleich Philosophen, zum Teil die großen Philosophen waren, von denen die Geschichte der Philosophie berichtet. An diese Gruppe der Klassiker der modernen Naturwissenschaft schließt sich historisch und sachlich betrachtet, KANT unmittelbar an. Aber nicht, wie KANT geworden ist, was er geworden ist, will ich hier darstellen, ich will auch nicht zeigen, was er der Nachwelt hätte sein können, wenn sie seinen Spuren aufmerksam gefolgt wäre, mein bescheidener Teil soll es vielmehr nur sein, darauf hinzuweisen, daß es ein kritisches System IMMANUEL KANTs (seit 1781) gibt. Ist das aber überhaupt noch nötig, nachdem so viele bedeutende Männer ihre Kraft an das Studium KANTs gesetzt haben? So dankbar wir auch diesen Männern sein müssen, so unbefriedigend ist doch der augenblickliche Zustand der KANT-Forschung, in welchem der Eine das für das Wichtigste ansieht, was ein Anderer streichen zu müssen glaubt, in welchem der Eine das zur Voraussetzung macht, was ein Anderer als Behauptung ansieht, in welchem versteckte und offene, gegenseitige, Vorwürfe des Mißverstehens fast als durchschlagende Beweismittel gelten. Beinahe scheint es so, als ob VAIHINGER Recht hat, wenn er KANT fast auf jeder Seite seines Kommentars (II, Seite V und VI) "Unklarheiten und Widersprüche, Lücken und Irrtümer" vorwirft. Ist dem so, dann bleibt nur übrig, den Titel des Genius vor KANTs Namen zu streichen, aber auch die höflichen Verbeugungen vor der entthronten Größe einzustellen. "C'est le privilége du vrai génie, et surtout du génie qui ouvre une carriére, de faire impunément des grandes fautes." [Es ist das Privileg des wahren Genies und insbesondere des Genies am Anfang seiner Karriere, ungestraft große Fehler zu begehen. - wp] So VOLTAIRE, und mit ihm SCHOPENHAUER in Bezug auf KANT! Große Fehler darf ein Genius machen, aber diese Fehler können für den Genius, dessen Leistung auf dem Gebiet der Erkenntnis liegt, unmöglich logische Schnitzer sein. § 2. Ich habe Herrn VAIHINGER vor allem in formaler Hinsicht den Vorwurf gemacht, daß er sich nicht ernsthaft genug bemüht hat, aus der Unklarkeit der kantischen Sprache die Klarheit des kantischen Denkens hervorleuchten zu lassen. Die Unklarheit der Sprache wird also unbedingt zugegeben, ich kamm mich nicht mit COHEN (135) darüber freuen, daß KANT nicht pedantisch genug war, um seinen Ausdruck überall dem Begriff anzupassen. Zugegeben wird also, daß Definitionen an Stellen, wo sie stehen müßten, nicht vorhanden sind, daß der Periodenbau oft schwerfällig ist, daß die Beziehungen der Worte aufeinander oft nicht durchsichtig sind usw., zugegeben wird überhaupt, daß die Kritik der reinen Vernunft im strengen Sinne nicht druckfertig war, als sie gedruckt wurde, was übrigens KANT selbst (B, 30f) andeutet. Neben Abschnitten von großer sprachlicher Klarheit und Schönheit (z. B. Eingang zum Kapitel über Phaenomena und Noumena und viele Teile der Methodenlehre) stehen andere Abschnitte, welche an die Geduld des Lesers äußerst hohe Ansprüche stellen. Daß aber KANT bei seiner peinlichen Gewissenhaftigkeit die Handschrift in dieser Form veröffentlichte, ist für mich ein Beweis, daß ihm anderes mehr am Herzen gelegen war, als den beiden Nebenzwecken (11) der Kritik, welche von der grundlegenden *transzendentalen Deduktion der Kategorien* [riehl] (objektive Seite der Betrachtung) abzweigen, im Einzelnen nachzugehen. Er wollte keine "Transzendentalphilosophie" schreiben, sondern die Propädeutik [Vorschule - wp] (vgl. auch B 33) zu einer solchen und richtet zunächst sein Augenmerk auf die Feststellung der Erkenntnisgrenze, nicht zwischen Erkenntnis überhaupt und Fabelei, sondern zwischen theoretischer und praktischer Erkenntnis, zwischen Wissensgewißheit und Glaubensgewißheit. Die kritische Grundfrage gilt der Beziehung zwischen dem Begriff des Menschengeistes, welcher vorausgesetzt wird, und dem Begriff der Wissenschaft a priori, welcher vorausgesetzt wird, d. h. es handelt sich darum zu entscheiden, welches die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Wissenschaft a priori sind, gemäß der Eigenart des Menschengeistes. Die Antwort lautet: Solche Wissenschaft, insofern sie nicht bloß formale Logik sein will, sondern objektiv-gültige Erkenntnis, welche sich auf Objekte (Gegenstände) bezieht, ist gemäß der Eigenart des Menschengeistes nur möglich als System der Prinzipien für die Erforschung der *Sinnenwelt, darüber hinaus, d. h. in Beziehung auf das Übersinnliche ist eine solche theoretische Erkenntnis unmöglich, aber das Übersinnliche kann von uns in praktischer Erkenntnis, gegründet auf Glaubensgewißheit, erfaßt werden. So ist die *Mathematik und die Wissenschaft NEWTONs ihrem Begriff nach gerechtfertigt und diesem Ergebnis entspricht der Tatbestand dieser Erkenntnis im Einzelnen, welcher nichts zu wünschen übrig läßt. So ist die vorhandene Metaphysik als rationale Psychologie usw. ihrem Begriff nach unmöglich und diesem Ergebnis entspricht der Tatbestand dieser vermeintlichen Erkenntnis im Einzelnen, welcher alles zu wünschen übrig läßt. Um die unveräußerlichen Rechte des Übersinnlichen anzuerkennen, gilt es vor allem die ihm angemessene Erkenntnisart zu begründen und dazu muß der Platz geschaffen werden durcch Niederreißen der Pseudo-Erkenntnis der Vorgänger und Zeitgenossen. Auf dieses Werk der *Zerstörung richtet KANT, nach Feststellung der Erkenntnisgrenze, die ganze Kraft seiner Kritik, während er für die Ausgestaltung seiner Arbeit innerhalb der Grenzen theoretischer Erkenntnis den Beistand des Lesers als eines Mithelfers (A 11) erwartet. KANT war, als er die *Vorrede zur zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" schrieb, bereits ins 64. Jahr gerückt (B 33 und 34) und stand, körperlich bereits lange kränkelnd, vor der gewaltigen Aufgabe "die Metaphysik der Natur sowohl als der Sitten, als Bestätigung der Richtigkeit der Kritik der spekulativen sowohl als der praktischen Vernunft zu liefern". Nicht aus abnehmendem Interesse für das Gebiet der Mathematik und Naturwissenschaft, das seiner Kritik für die Einzelforschung nicht bedurfte, verwandte KANT die Zeit, welche ihm noch übrig blieb, fast ausschließlich auf den Ausbau der praktischen Erkenntnis, sondern weil er wohl wußte, daß er hier vor allem für die Nachwelt nicht bloß der "Alleszermalmer" sein durfte, als den ihn der größere Teil seiner Zeitgenossen ansah. Es galt vor allem die Position zu schaffen, nach welcher die Glaubensgewißheit, in gleicher Berechtigung neben der Wissensgewißheit stehend, unbedingt verlangt, und KANT wußte wohl, daß er der Einzige war, der diese Position schaffen konnte, welche für den Philosophen schließlich dieselbe ist (ROUSSEAU) wie für den gemeinen Mann (A und B, 628). Mochten Andere die begrifflich bestimmte "Wissenschaft a priori" des weiteren ausgestalten und angrenzende Fragen erledigen, ihn trieb das Pflichtgefühl unbedingt dazu, zunächst den "Glauben a priori", für den er Platz geschaffen hatte, aus seiner begrifflichen Bestimmung heraus zur Tat werden zu lassen, indem er die Erkenntnis des Übersinnlichen als praktische Erkenntnis im Einzelnen ausführte. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachte ich die Wirksamkeit KANTs und ich kann nicht finden, daß seit dem Jahr 1781 noch eine "Umkippung" stattgefunden hat, wie man immer und immer wieder behauptet. Freilich schließt sich die kantische Arbeit nur zum kritischen System zusammen, wenn man den mehr oder weniger ausgeführten Andeutungen folgt, welche KANT selbst für die weitere Ausgestaltung der theoretischen Erkenntnis gibt. Dabei erwächst aber die Einsicht, daß der Erkenntnistheoretiker KANT auch zugleich Metaphysiker in dem Sinne war, daß seinem ganzen System ein bestimmter Glaubensgrund als Träger dient. Dieser Glaubensgrund (12) ist in der kritischen Epoche kein anderer, als in der vorkritischen Zeit, nur die Erkenntnisgrenze hat sich verschoben, gemäß dem neuen Ausgangspunkt, der im Prinzip der Immanenz befestigt ist (13). Das System der Substanzen, welches in Gott seinen Ankergrund hat, ist zur intelligiblen Welt der ewigen, spontan-tätigen Noumena geworden, für welche Gott der Zweck aller Zwecke. Die Spontaneität des einzelnen Ichs kommt in doppelter Weise zur Wirkung:
2. Sie ist die autonome Deuterin des Sittengesetzes, insofern sie frei ist von jeder Affektion und nur ihren eigenen Gesetzen folgt, aber sie erkennt a priori auch hier nur das Formale. KANT steht nicht bloß, geschichtlich genommen, zwischen LEIBNIZ und *FICHTE. Die Systeme dieser drei Philosophen fassen das Sein in letzter Hinsicht als freitätige Wirksamkeit, als Spontaneität, KANT jedenfalls mit der einschränkenden Bestimmung, daß die Spontaneität das Letzte ist, was wir als Kern des Seins erkennen können. (14) Die Tätigkeit des spontanen Seins wird bei LEIBNIZ durch die äußere "Harmonie préétablie" [vorgefertigte Harmonie - wp] bestimmt und geregelt, bei KANT durch seine innere Gesetzlichkeit und durch die Affektion von außen (praeter [vor - wp] , nicht extra [außerhalb - wp] ), bei FICHTE nur durch Autonomie. Der lebendige Gegensatz zwischen *Notwendigkeit und *Freiheit, in welchem sich für KANT von früher Jugend an der Gegensatz von *Wissen und Glauben* [fries/ahnung] darstellt, muß für die Erkenntnis auf Grundlage des Theismus ausgeglichen werden, aber nicht (15) durch die Harmonie eines äußeren Zwangs und nicht durch reine Autonomie, denn erstere ist für den Erkenntnistheoretiker ein leeres Wort und letztere führt den Metaphysiker zum Pantheismus: das ist die Lebensaufgabe KANTs gewesen, deren Lösung das kritische System gibt. § 3. Ich habe Herrn VAIHINGER ferner in materialer Hinsicht den Vorwurf gemacht, daß er sich nicht bemüht hat, die von COHEN im Ganzen wohl mustergültig entwickelte "*Theorie der Erfahrung" mit einer sachgemäß dargestellten "Lehre vom Ding ansich" zu einer Einheit zu verschmelzen. Neben *KUNO FISCHERs zweibändigem Werk über KANT, das, trotz mancher berechtigter und vieler unberechtigter Ausstellungen, immer das Fahnenwerk der neuen Ära der KANT-Forschung bleiben wird, sind in dieser COHENs Arbeiten über KANT unstreitig die bedeutendsten neueren Erscheinungen. COHEN hat, im festen Glauben an den Genius KANTs, seine ganze Kraft daran gesetzt, das Verständnis KANTs zu erschließen und ist dabei vor allem durch den offenen Blick für die Bedürfnisse der Mathematik und Naturwissenschaft und für deren Geschichte und durch das lebendige Gefühl für die Notwendigkeit der Begründung einer ethischen Weltanschauung unterstützt worden. Aber COHEN begrenzt sich seine Aufgabe selbst in bestimmter Weise, indem er das alogische Moment in KANTs System vollständig streicht. Man kann a priori die beiden Stellen bezeichnen, wo COHENs Arbeit, insofern sie lediglich dem Verständnis KANTs dienen will, eine unsichere Führerin wird, an den beiden Stellen nämlich, wo er mit kühnem Schnitt das Ding-ansich von der Welt der Erscheinungen trennt. Für die Begründung dieses Urteils führe ich zunächst (16) Folgendes an: 1. KANT wiederholt oft (z. B. B 18), daß wir a priori nur das erkennen, was selbst in die Dinge legen, nämlich die allgemeine Gesetzlichkeit der Erfahrung. Alles Besondere kann nur durch Erfahrung (a posteriori) erkannt werden, die Empfindung bleibt a priori unbegreiflich, sie ist für den Erkenntnistheoretiker lediglich "gegeben" und es scheint zunächst sogar auffallend (169), daß wir überhaupt einen Grundsatz in Bezug auf Empfindung aussprechen können, er ist eigentlich eine Antizipation. An der Empfindung bricht sich der Stolz des Apriori, weil sich das Ich hier leidend fühlt, während es sonst spontan-tätig ist. In der Empfindung muß das Ich ein Fremdes anerkennen, hier steht es einem Transzendenten (praeter nos) gegenüber, obwohl die Qualität und der Grad der Empfindung aus seiner Natur fließt. Wäre dem nicht so, so müßte die Empfindung a priori begreiflich sein und damit alles Besondere, dann aber wäre der Menschengeist nichts anderes als Gottesgeist. Diese trockene Schlußkette läßt sich aus KANT vielfach belegen. In der "*Grundlegung zur Metaphysik der Sitten"* (80f) heißt es:
Daß an vielen Stellen das Ding-ansich trotzdem als Objekt (Gegenstand) bezeichnet wird, weil die Idee, durch moralische Anschauung erfüllt, zum Gegenstand praktischer Erkenntnis wird, ist andererseits zu betonen. (Vgl. den Schluß der Anmerkung auf Kr. d. r. V., Seite 23). 3. Die Ideen, welche für den Erkenntnistheoretiker nur systematische Begriffe zwecks Vervollständigung der Erfahrung sind, erhalten ihr anschauliches Korrelat zunächst nicht durch das Ding-ansich hinter der Empfindung, sondern durch das Ich-ansich, welches als Spontaneität gefaßt wird (z. B. Preisschrift 110). Von hier aus wird überhaupt den *Dingen-ansich, soweit sie als Persönlichkeiten erkennbar sind, sicher und vielleicht auch noch darüber hinaus Spontaneität zugesprochen. Daß auf der Empfindung die "Brücke" (um zum Übersinnlichen zu gelangen) ruht, gibt KANT zu (gegen Eberhard 33), aber man kann am jenseitigen Ufer nicht weiter bauen, weil es keine Anschauung des Übersinnlichen gibt. Vgl. in den Prolegomena namentlich § 57 (auf der Grenze) oder z. B. 444): "Wir können nur bis an die intelligible Ursache, aber nicht über dieselbe hinauskommen." F. A. LANGEs Gleichnis vom Fisch im Teich ist , vorsichtig interpretiert, gar nicht so übel. Übrigens ist daran zu erinnern, daß die *Kategorien bei KANT an und für sich das Übersinnliche fassen können, daß ihr Gebrauch über die Sinnenwelt hinaus aber im Gebiet theoretischer Erkenntnis zu verbieten ist, weil es keine theoretische Anschauung des Übersinnlichen gibt (vgl. z. B. 106 oder 230). 4. Die Kategorie "Ursache und Wirkung" läßt eine doppelte Veranschaulichung zu, eine Schematisierung für die Sinnenwelt als "Bedingung und Bedingtes" und eine Symbolisierung für die intelligible Welt als "Kausalität aus Freiheit". (Vgl. z. B. den Schluß der Preisschrift, dazu auch "Kritik der praktischen Vernunft" 125): es war erlaubt, zum durchgängig Bedingten in der Sinnenwelt (sowohl in Anbetracht der *Kausalität als des zufälligen Daseins der Dinge selbst) das Unbedingte, obgleich übrigens unbestimmt, in der intelligiblen Welt zu setzen und die Synthesis transzendent zu machen. 5. Daß zwischen "*Ding-ansich" und "Gegenstand des empirischen Ich" ein Drittes steht, nämlich der Gegenstand des individuellen Ich, dessen sich dieses nicht bewußt ist, aber bewußt werden kann, und daß dieser Gegenstand mit dem zusammenfällt, was man gemeinhin "Sinnenwelt" zu nennen pflegt, geht namentlich aus dem Abschnitt über die Grundsätze (A und B) hervor. (Vgl. auch A 123f) 6. "Raum und Zeit haben außer den subjektiven auch objektive Gründe, und diese objektiven Gründe sind keine Erscheinungen, sondern wahre erkennbare Dinge, ihre letzten Gründe sind Dinge-ansich." So sagt EBERHARD (27) und KANT fügt hinzu, "welches alles die "Kritik" buchstäblich und wiederholentlich gleichfalls behauptet." Wie das zu verstehen ist, zeigt dieselbe Schrift (45) bald darauf, wo es heißt, daß "vom Übersinnlichen schlechterdings keine Erkenntnis (es versteht sich hierbei immer in theoretischer Beziehung) möglich ist." Man muß sich eben daran gewöhnen, KANTs "erkennbar" stets in "theoretisch-erkennbar" und "praktisch-erkennbar" zu zerlegen. (Vgl. Vorrede B 13 und A und B 603f) § 4. Die beiden, hier hervorgehobenen, Ausstellungen an VAIHINGERs Arbeit bezeichnen zugleich meine eigene Aufgabe. Die Prinzipien, auf denen meine Auffassung KANTs beruth, sind dieselben, welche ich meinen "Vorlesungen über Geschichte der Philosophie" überhaupt zugrunde gelegt habe, und ein besonderes Prinzip, welches der besonderen Schwierigkeit in Bezug auf die Sprache KANTs gerecht werden soll. Der Hauptsache nach dürften dieselben in folgender Form angedeutet werden. 1. Die Frage nach der bleibenden Leistung eines Philosophen ist von der Frage nach dem Verständnis dessen, was er gewollt hat, vollständig zu trennen. Jeder Philosoph verlangt zunächst einen folgsamen Leser. Man muß den Philosophen, dem gegenüber man zunächst lediglich Schüler ist, gewissermaßen ausreden lassen, man darf ihn nicht fortwährend unterbrechen, um Kritik zu üben, man darf nicht widerlegen wollen, wo man erläutern soll. Erst wenn man sich klar darüber ist, welche Voraussetzungen (18) der Philosoph gemäß seiner ganzen Persönlichkeit macht (vgl. z. B. die anagke [Notwendigkeit - wp] des DEMOKRIT neben PLATOs telos [Zweck, Ziel - wp] bei gemeinsamer Anerkennung des Übersinnlichen), kann man mit der Kritik und der Frage nach dem "Bleibenden" beginnen. 2. Das Verständnis einer Persönlichkeit wird nur erreicht, wenn man die ganze Persönlichkeit zu erfassen sucht, d. h. wenn man keine Regung derselben zu gering achtet, um sie als Baustein zu verwenden. Daß unsere "exakte" Zeit für die Größe einer Persönlichkeit nur, soweit sie exakt ist, Verständnis hat, darf kein Maßstab für die Beurteilung sein. 3. Man kann keine ganze Persönlichkeit fassen, wenn man sie nur für sich betrachtet: jedes philosophische System ist ein Teil der gesamten Kultur seiner Epoche. Es ist z. B. kein Zufall, daß sich SCHILLER in KANT wiederfindet und daß dieser den Begriff von GOETHEs Dichtung bestimmt, ohne von GOETHE etwas zu wissen. 4. Kein philosophisches System ist ohne alogisches Moment, weil der Mensch selbst nicht bloß verkörperte Logik ist. Daß auf dem Gebiet der "*Philosophie als Wissenschaft"* [boutroux/wissphil] das *Alogische keine Stelle hat, das ist die Einsicht, die uns KANT gebracht hat, als Erkenntnistheoretiker der Immanenz. Als er den "deus ex machina" [Gott in Form einer verborgenen Vorrichtung auf der Bühne - wp] seiner Zeitgenossen und Vorgänger von der Schwelle der Erkenntnistheorie fortwies, da gelang es ihm einerseits, den Spuren PLATOs (Mathematik) folgend, die *Philosophie als Wissenschaft* [venar1]zu begründen und andererseits den Gott des Glaubens zum Zielpunkt seiner Untersuchung zu machen. Wir haben von KANT gelernt, daß die Philosophie als Wissenschaft beginnen muß; daraus folgt aber nicht, daß sie auch als Wissenschaft enden muß. Sie endet als Kunst (20), das Wort in jener höchsten Bedeutung genommen, in der es für GOETHE und SCHILLER Lebensgrund und Lebenszweck war. Solche Kunst ist Symbolerkenntnis. KANT selbst wäre nicht der umfassende Philosoph, wenn in seinem kritischen System das Alogische gänzlich fehlen würde, es war bei ihm die treibende Kraft und das sichtbare Ziel, aber er erhob sich über seine Vorgänger, indem er aus der Tiefe heraufdrang (21) und mit glücklichem Griff jene Mitte faßte, für welche theoretische Erkenntnis möglich ist, hinweisend auf Anfang und Ende. Daß KANT dabei von aller *Mystik frei ist, soll besonders betont werden, er hat dieselbe wohl in den "Träumen eines Geistersehers" energisch abgelehnt, als auch bei anderer Gelegenheit (z. B. 205) und zwar in einer Weise, die keinen Zweifel läßt, daß er für "spirits" und dgl. in seinem System keinen Platz hat, gemäß den Gesetzen möglicher Erkenntnis. 5. Zugegeben, daß die kantische Sprache unvollkommen ist, was nützt es darüber untätig zu klagen? Es bleibt nur übrig, die Eigenartigkeit dieser Sprache systematisch zu studieren und dieselbe auf Regeln, womöglich auf Gesetze zu bringen. Das Wäre eine lohnende Aufgabe für eine wirkliche KANT-Philologie, deren Namen ja allerdings schon bis zum Übermaß genannt worden ist. Man hat zu untersuchen, welche Gruppe von Bedeutungen die viel umworbenen Ausdrücke "Gegenstand (Objekt), Erfahrung, *transzendental usw." haben, worin der Grund dieser Vielfarbigkeit der Begriffe liegt, und welche Sonderbedeutung jeder Stelle angemessen ist. Bei einem solchen Versuch, die kantische Sprache auf Regeln zu bringen, ist meiner Ansicht nach auch die bekannte pädagogische Tendenz KANTs zu berücksichtigen, welche dem Leser nach auch die bekannte pädagogische Tendenz KANTs zu berücksichtigen, welche den Leser langsam vom Standpunkt des gemeinen Mannes (*naiver Realismus) zur Höhe emporleiten will und demgemäß vorläufige Definitionen nach und nach berichtigt. Zwar bin ich weit entfernt mit CAIRD (The critical philosophy, 1890) zu behaupten, daß KANT diesen Zweck in aller Strenge zu erreichen gesucht oder gar erreicht habe, aber die verschiedenen Anläufe zur Definition des *Gegenstandes, die vorläufige (formale) Definition des synthetischen Urteils a priori, welche erst im Abschnitt über die Grundsätze lebendig wird, die berühmte Anmerkung über die transzendentale Erkenntnis u. a. weisen auf jenen Zweck genugsam hin. Ich halte diese pädagogische Tendenz KANTs nicht für glücklich, wenigstens nicht in der Form, in welcher sie durchgeführt ist, weil sie das eigentliche Ziel der Untersuchung oft schwer erkennbar macht. Darum hat auch die Ausgabe B in Zusätzen, Anmerkungen usw. die Positionen, welche auch die Ausgabe A hat, von vornherein verdeutlicht, wozu auch die Vorrede von B wesentlich beiträgt. Hierin sehe ich den wesentlichen Unterschied der beiden Auflagen von A und B, abgesehen von der klärenden Umarbeitung der beiden Abschnitte Transzendentale Deduktion und Paralogismen) und abgesehen von der gleichfalls klärenden Streichung einiger Sätze, in welchen der Begriff des transzendentalen Objekts lediglich als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungswelt auftritt (231f). Über die Sprache KANTs mache ich folgende Bemerkungen: a) Die Sprache KANTs will oft zugleich seinem erkenntnistheoretischen Standpunkt und seinem metaphysischen Glauben gerecht werden. So wird z. B. das transzendentale Objekt, dessen Begriff zunächst nur die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungswelt, insofern diese im Objekt liegt, bezeichnet, zum Vorstellungsrepräsentanten eines transzendentalen Dings-ansich. Wenn COHEN, RIEHL u. a. KANTs "*a priori" lediglich als Bedingung fassen und es von jeder zeitlichen Beziehung lösen, so haben sie vollständig recht, solange es sich um die rein begriffliche Grundfrage der Transzendentalphilosophie handelt. Dasselbe "a priori" bekommt aber 1. als Vorstellungsrepräsentant einer im Ich-ansich gegründeten Gesetzmäßigkeit eine vorzeitliche Beziehung zur ganzen Zeit des irdischen Lebens der Erfahrung und 2. als Bestandteil der unbewußten Bauwerke des Ich in der Zeit eine zeitliche Beziehung zu den Nachschöpfungen des bewußten Ich. Am Interessantesten ist diese Amphibolie [Doppelsinn - wp] (Erkenntnistheorie und Metaphysik) bei dem Wort "Gegenstand". b) KANT braucht oft einen Gattungsbegriff, um die Arten, welche unter ihm enthalten sind, zu bezeichnen und zwar selbst da, wo die genaueste Bestimmung der Art notwendig ist. So steht "Erfahrung" stets in irgendeiner Beziehung zur Empfindung, welche selbst die einfachste und ursprüngliches Erfahrung ist. Das Wort "Erfahrung" umfaßt alle Arten der Erfahrung von der Empfindung bis zu jener Erfahrung, welche im Geist NEWTONs zum Weltsystem (vgl. W10) geworden ist. Hier gibt KANT selbst einen Fingerzeig durch die später eingeführte Trennung der Wahrnehmungsurteile und der Erfahrungsurteile und durch die Erläuterung der Prolegomena (§ 22, Anmerkung) Am Unangenehmsten tritt diese Eigenart KANTs bei dem Wort "Objekt" (Gegenstand) auf. c) Damit hängt zusammen, daß ein Wort im Besonderen eine Kette von Begriffen umspannt, welche sich im Laufe der Untersuchung aneinanderreihen. So ist "a priori" zunächst lediglich "unabhängig von Erfahrung" und steht im Gegensatz zu "Empfindung". Später wird es zur grundlegenden Bedingung der Erkenntnis und damit (nicht umgekehrt) auch zur Bedingung der Gegenstände der Erkenntnis. d) Ein Teil der Worte auf "ung" hat bei KANT ständig eine dreifache Bedeutung. Soe bedeutet Empfindung 1. den Zustand des empfindenden Subjekts, 2. das Empfundene, und 3. den Vorgang, in welchem 1. und 2. gleichzeitig verbunden und getrennt erscheinen. So spricht KANT vom Realen der Empfindung (163) und charakterisiert dabei die Empfindung selbst als Vorgang, während sie gelegentlich das Material zu Gegenständen ist usw. Wenn er die Empfindung, welche objektiviert werden kann, vom Gefühl, welches nie objektiviert werden kann, unterscheidet, so bezieht sich diese Unterscheidung auch auf den Vorgang. Analoges gilt für "Anschauung" usw., auch die Mehrdeutigkeit des Wortes "Erfahrung" hängt hiermit zusammen. e) Neben sprachlichen Mängeln sind bei KANT große sprachliche Schönheiten vorhanden, welche meist auf klaren und anschaulichen Bildern beruhen. Bei deren Gebrauch gibt sich eine große Neigung zur Peronifizierung der Begriffe kund, welche in anderer Hinsicht wieder störend ist. Wenn ich einen Menschen einerseits als Richter, andererseits als Vater und drittens als Stadtverordneten bezeichne, so habe ich nicht drei Menschen vor mir, ich habe vielmehr nur drei Seiten an einem Mann hervorgehoben. Das ist eine Binsenwahrheit! Wenn aber KANT den Menschengeist einerseits als Rezeptivität und andererseits als Spontaneität bezeichnet und die Spontaneität, sofern sie bildend wirkt, als *Einbildungskraft, sofern sie bei diesem Bilden im Einzelnen gesetzlich schafft, *Verstand und sofern sie überhaupt zu einem systematischen Abschluß strebt, *Vernunft nennt, so sollen bei KANT plötzlich vier oder gar fünf Menschengeister vorhanden sein! f) Von bemerkenswerten Bedeutungen einzelner Worte bei KANT hebe ich hervor, daß "vor" und "ehe" oft die Bedingung bezeichnen, während diese Worte gelegentlich auch zeitlich gebraucht werden. (vgl. z. B. 207) "daß der Begriff vor der Wahrnehmung vorhergeht, bedeutet dessen bloße Möglichkeit." Leider steht nicht immer (wie z. B. 647,) wo es nötig ist, "der Zeit nach" dabei. g) Die kantische Sprache will in jeder Stelle gewissermaßen gelebt sein. "Unerkennbar" bedeutet oft nur "theoretisch unerkennbar", "möglich" bedeutet oft "denkbar" oft "denkbar und anschaulich gegeben" usw. Hier kann äußerlich angewandte lexikalische Arbeit nichts nutzen. Bei einer solchen findet man, daß "transzendental" = "formal" ist und bald darauf, daß "transzendental = "material" ist und dann wieder, daß "transzendental" = "subjektiv" ist und endlich, daß es das Objektiv-Gültige kat exochen [schlechthin - wp] bezeichnet usw. § 5. Wenn ich nun unter Berücksichtigung der vorstehenden Gesichtspunkte den Versuch mache, "die Aufgabe der Kritik der reinen Vernunft" zu bestimmen, so bin ich weit entfernt davon zu behaupten, daß damit das "einzig-richtige" Bild des kantischen Systems gegeben wird. Ich behaupte nur, daß es in der "Kritik der reinen Vernunft" und in den späteren Schriften keine Stelle gibt, welche der hier gegebenen Darstellung widerspricht, daß ich nicht nötig habe, die Hälfte des von KANT Gesagten zu unterdrücken, daß ich auch von keiner Stelle bei KANT zu sagen brauche, daß sie ihm "entschlüpft" ist (22) Der *Brief an Herz vom Jahr 1772 gibt die eine, die Streitschrift gegen Eberhard und die Preisschrift über den Fortschritt der Philosophie seit Leibniz für die Berliner Akademie gibt die andere Seite des Rahmens, in welchen die "Kritik der reinen Vernunft eingepaßt erscheint. Dort äußert er sich seinem Freund gegenüber über seine Ziele, hier tritt er für seine Leistung ein, das eine Mal, um zu einem wuchtigen Streich gegen den Hauptgegner auszuholen, das andere Mal um vor einem hohen Gerichtshof über sich selbst zu berichten. Es ist nicht anzunehmen, daß KANT dabei im Ausdruck sorglos verfahren ist. Was den "Glaubensgrund" anlangt und die ersten Ansätze zum Programm des "Kritischen Systems", so halte ich, wie ich öfter betont habe, die "Träume eines Geistersehers" für sehr wichtig. KANT äußert in dieser Schrift mehr von seinem Glauben als in anderen Schriften, er steht dabei im Anfang der vierziger Jahre, d. h. in einem Lebensalter, wo man gemeinhin mit seinem inneren Menschen fertig geworden ist. Die KANT-Literatur habe ich bis in die neueste Zeit hinein möglichst berücksichtigt. Mit besonderem Dank erwähne ich wegen der Belehrung, die ich dadurch empfangen habe, die Werke von KUNO FISCHER, F. A. LANGE, COHEN, RIEHL, STADLER und die bezüglichen Abschnitte in der "Geschichte der Philosophie" bei ZELLER (Spontaneität), WINDELBAND (kulturelles Moment) und FALCKENBERG (objektive Erscheinung). Ein Punkt bedarf noch besonderer Erwähnung: ich habe schließlich fast alle Hinweise auf "Kants Reflexionen" gestrichen. Die Bearbeitung von BENNO ERDMANN, dem die KANT-Forschung in geschichtlicher Hinsicht so viele Anregungen verdankt, ist meiner Ansicht nach äußerst gelungen, aber die innere Unsicherheit des Stoffs mahnt zu großer Vorsicht. Schließlich betone ich, daß ich lediglich Gesichtspunkte feststellen, aber auch wirklich feststellen will. So weit es der Platz zuläßt, füge ich in einem dritten Abschnitt auch für Einzelheiten ausgedehntere Belege bei, welche gelegentlich entstanden sind und für diese Abhandlung von Neuem durchgesehen wurden. Vor allem aber bitte ich zu berücksichten, daß der Zweck der ganzen Arbeit darin besteht, einen Beitrag zum Verständnis KANTs zu liefern, und nicht darin, das System KANTs zu kritisieren. ![]()
1) vgl. Vaihinger II, 535f 2) vgl. W2. 3) Herr Zeller hatte mir für mein Staatsexamen (1878/79) die Aufgabe gestellt, den "Zusammenhang zwischen Kants praktischen Prinzipien und seinen erkenntnistheoretischen Ansichten" zu untersuchen. Ich behandelte das Thema auf der Grundlage, welche ich im 2. Kapitel meiner Schrift "Die Religion des Gewissens usw.", Berlin 1880, veröffentlicht habe. (Vgl. auch W2 und W5, sowie meine Abhandlungen "Zur Religionsphilosophie" in den Jenaer protestantischen Jahrbüchern, 1881/82 und "Das Bewußtsein im Lichte einer kritischen Naturbetrachtung" in der Gaea, 1882) Vgl. in dieser Abhandlung *Seite 7* [#s7] und Reflexion 1479. - - - Die Frage nach den Grundlagen der Mathematik und Naturwissenschaft führte mich zu einer erneuten Beschäftigung mit Kant, als mir das Sommer-Semester 1881 in Göttingen noch einmal Muße bot, nachdem ich in Berlin meine Universitätsstudien abgeschlossen hatte. Die Ergebnisse dieser weiteren Vertiefung in Kant, welche durch die Arbeiten von Riehl und Cohen und durch die Kolloquien bei Herrn Baumann wesentlich beeinflußt wurde, legte ich in drei Abhandlungen nieder, über welchein W3 kurz berichtet wird, während ich in W4, Seite 100f meine eigene Stellung, gegenüber Riehl und Cohen, bestimmt habe. Von einer Veröffentlichung der erwähnten drei Abhandlungen sah ich schließlich ab, weil Vaihingers Kommentar die kantische Frage auf umfassender Grundlage zu behandeln versprach. Ich begnügte mich zunächst damit, eine abgerundete Skizze meiner, beim erneuten Studium Kants erwachsenen, philosophischen Ansichten (W5) herauszugeben, und wandte mich dann anderen Arbeiten zu. Später stellte ich die eine (W1) der bezeichneten Abhandlungen, welche bei meiner Habilitation vorgelegen hatte, Herrn Vaihinger gelegentlich zur Verfügung. - - - In Bezug auf meine erste Darstellung des kantischen Systems (1878/79) muß ich einen, in der vorstehenden Abhandlung nicht berührten Punkt berichtigen, zumal diese Berichtigung für mich eine weitergehende Bedeutung hat. Kants System schien mir, folgerichtig entwickelt, zum Pantheismus zu führen, es schien mir keinen Platz zu lassen für Kants lebendigen, auf streng-theistischer Grundlage erwachsenen, Gottesglauben. Besonders interessant war es mir daher, daß Kant selbst in theoretischer Hinsicht sowohl in den "Träumen etc." als auch in der Schrift von 1770 (Scholion zu § 22) Ansätze zu einer pantheistischen Anschauung zeigt und noch in der "Kritik" und zwar in dem (in B umgearbeiteten) Abschnitt von den Paralogismen (A 305) die Möglichkeit erwähnt, daß "Ding-ansich" und "Ich-ansich" sowohl "Eins" sein könnten, während andererseits die Besorgnis "in Spinozismus zu verfallen" und der Wunsch "die Freiheit zu retten" (431) für Kant fast die Kraft von Beweismitteln haben. Wie ist das zu erklären? - - - Unter der Voraussetzung, daß man es ablehnt, beliebige Seinsarten willkürlich zu erdichten, kann man jedenfalls vom Prinzip der *Immanenz aus folgendermaßen schließen: Alles, was ist, ist entweder als Sein des bewußten Ich (Subjekt) oder als Sein des, dem Ich im Bewußtsein Gegenüberstehenden (Objekt). Schreibe ich letzterem ein Sein zu, welches unabhängig ist vom gegebenen Sein in meinem Bewußtsein, - und das tun Alle, ob auch dieser oder jener erkenntnistheoretische Jllusionist es leugnen mag - so muß es in einem Bewußtsein gegeben sein, welches nicht das Bewußtsein dieses oder jenes vergänglichen Einzelwesens ist, d. h. es muß ein ewiges und allumfassendes Bewußtsein vorhanden sein, welches von uns natürlich nur nach Analogie unseres Ich aufgefaßt werden kann. Unser Ich zeigt aber in Bezug auf seine Welt den dreifachen Charakter der Transzendenz, der Immanenz und der gegenseitigen Beziehung von transzendentem Sein und immanentem Wirken, folglich muß jenes Ich der Sinnenwelt gegenüber als transzendent gedacht werden, und doch dabei als in ihr wirksam und damit als immanent. Vgl. die hierunter in Note 2 erwähnte Anzeige. - - - Dieser erkenntnistheoretische Beweis für das Dasein Gottes, welcher sich, unter Voraussetzung der Gleichung "Esse = aut percipere aut percipi [entweder wahrnehmen oder wahrgenommen werden - wp], vor allem auf die Tatsache stützt, daß Niemand die Objekte seines Bewußtseins lediglich für Objekte seines Bewußtsein hält, führt, falls man das Ich in letzter Hinsicht als spontan-tätig bestimmt, zum Glaubensgrund des kantischen Systems. - - - Deismus und Pantheismus sind Abstraktionen, welche je eine Seite im lebendigen Ganzen des Theismus bezeichnen und gelegentlich nach einer unberechtigten Verselbständigung ringen, wie die Geschichte der christlichen Kirche und die Geschichte einzelner Denker (z. B. auch Kants) hinlänglich zeigt. 4) = Namentlich auch gegenüber Herrn Tilman Pesch. Vgl. meine Anzeigte in der Deutschen Literaturzeitung vom 10. Juni 1893. 5) Die Übernahme von lehrplanmäßigen Vorlesungen, namentlich von Technischer Mechanik, führte dazu, daß die, seit meiner Habilitation (1881) regelmäßig von mir an der Herzoglich-Technischen Hochschule gehaltenen Vorträge über Philosophie mit Beginn des Studienjahres 1891/92 eingestellt werden mußten. 6) Als Muster solcher Arbeiten gelten mir, nach Absicht und Ausführung, vor allem die Schrift Dedekinds "Was sind und was sollen die Zahlen?", zweite Auflage Braunschweig 1893) und Schröders "Vorlesungen über die Algebra der Logik" (Leipzig 1890 und 1891), der Absicht nach auch Cohens Werk "*Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte" (Berlin 1883). Namentlich Schröders Werk wünschte ich einen weiteren Kreis von Lesern, auch aus der Zahl der Philologen altsprachlicher und neusprachlicher Richtung; vgl. meine Anzeige in der Deutschen Literaturzeitung, 7. Februar 1891. 7) Über die Art dieser Probleme gibt § 7 in dieser Abhandlung hinlänglich Auskunft. 9) Die volle Bedeutung eines fruchtbaren Begriffs kann auf diesem Gebiet nur gefaßt werden, wenn man auch die Bedingungen kennt, welche ursprünglich zu seiner Bildung gezwungen haben. Solche Begriffe sind Mittel, um die Fülle der Erscheinungen zu bändigen (uno fasciculo colligare [zu einem Bündel zusammenfassen - wp], sagt Kepler), und dienen zur ökonomischen Beherrschung der Sinnenwelt. 10) Ich habe diesen Gedanken unter dem Titel "Philosophie und Technik" in einem Aula-Vortrag der Herzoglich Technischen Hochschule (Wintersemester 1889/90) ausgeführt. 11) "Ausführung einer Theorie der äußeren Erfahrung" und "Verbindung des Ausgangspunktes der Transzendentalphilosophie mit der Erfahrung des inneren Sinnes (empirische Psychologie)". 12) Nicht um Privatmeinungen handelt es sich, sie Riehl (I, 229) u. A. wollen, sondern um die treibenden Kräfte, welche hinter der Szenerie der kritischen Werke liegen. (Vgl. auch hier Anmerkung 1) 13) Dasselbe findet eine allgemeine verständliche Behandlung in Julius Baumanns äußerstem Werk "*Philosophie als Orientierung über die Welt*"[ih/baubegphil], Leipzig 1872. 14) vgl. W4, Seite 100f. 15) Darum die Ablehnung der harmonie préétablie in jeder Form, welche sich durch die Schriften der vorkritischen und kritischen Zeit hindurchzieht, darum die heftige Gegnerschaft zu Fichte, der zum Pantheismus übergegangen ist (vgl. hier Anmerkung 1) 16) Weitere Belege in Teil III dieser Abhandlung. 17) Weiter a. a. O.: "Die Vernunft zeigt unter dem Namen der Ideen eine so reine Spontaneität" und "weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, folglich auch die Gesetze derselben enthält" usw. 18) Daß überhaupt Voraussetzungen gemacht werden müssen, wenn etwas deduziert werden soll, gibt Jeder in der Theorie zu, aber in der Praxis der Kant-Forschung scheint gerade diese Voraussetzung oft vergessen zu werden. 20) Als Mitarbeiter an der "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie" hatte ich besondere Veranlassung, meinen Standpunkt, "Die Philosophie beginnt als Wissenschaft und endet als Kunst (im höchsten Sinn des Wortes)" genauer zu bestimmen. Vgl. W5 und W7. 21) vgl. Goethes "Faust", klassische Walpurgisnacht. Kant (Seismos) und der Generalissimus ("Jenaer Allgemeine") Schütz. 22) So muß meiner Ansicht nach auch das berühmte, hineingesetzte Komma im zweiten Raumargument wieder entfernt werden, denn nicht jede Vorstellung a priori (z. B. die Prophezeiung des Schäfer Thomas) ist eine notwendige Vorstellung a priori. |