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ALEXANDER WERNICKE
Rezension des 2. Bandes von Vaihingers
Kommentar zu Kants "Kritik der reinen Vernunft"


"Vaihinger bringt von vornherein nicht den Glauben an die innere Einheit der »Kritik der reinen Vernunft« mit und findet gelegentlich Widersprüche, wo man nach meiner Ansicht nach nur Unklarheiten des Ausdrucks sehen sollte, Unklarheiten, die sich zunächst dadurch erklären, daß Kant auf dem Boden der Leibniz-Wolffischen Schulsprache eine neue, den neuen Begriffen entsprechende und von ihm erst zu schaffende Art zu reden erwachsen lassen mußte."

"Wir wissen, daß Kant es liebte, in seinen Vorlesungen vorläufige Definitionen zu geben und diese nach und nach zu berichtigen und zu vertiefen, und daß er mit Recht der Ansicht war, daß eine erschöpfende Definition an das Ende einer Untersuchung gehört und nicht an den Anfang, falls die Untersuchung gerade dieser Definition mit gewidmet ist. Wir werden entsprechende Verhältnisse auch in den Schriften Kants voraussetzen dürfen und demgemäß die einleitenden Definitionen oft als vorläufige, dem Standpunkt des Lesers angemessene, anzusehen haben, deren schärfere Bestimmung sich im Lauf der Untersuchung ergibt."

Der lange erwartete zweite Band des groß angelegten Werks ist hiermit erschienen, er behandelt die "Transzendentale Ästhetik". Während der erste 1881/82 ausgegebene Band die bekannte Aufforderung F. A. LANGEs zum erneuten Studium des kantischen Systems als Motto getragen hat, ist diesem zweiten Band ein Wort von WILHELM von HUMBOLDT vorgedruckt: "Die Schriften Kants sind doch einmal der Kodex, den man nie in philosophischen Angelegenheiten, so wenig als der corpus juris in juristischen, aus der Hand legen darf." Dem Vergleich dieses Mottos entsprechnd ist die Behandlung der kantischen Gedankenarbeit, welche in diesem Kommentar vorliegt: es handelt sich nicht daru, KANT zu "retten", sondern unter Anerkennung seiner Größe mit ihm zu rechten. Die eigenen Urteile VAIHINGERs werden natürlich von verschiedenen Seiten aus verschieden beurteilt werden. Was aber überall ungeteilten Beifall finden wird, ist die umfassende, ja man wohl sagen vollständige Verwertung der einschlägigen Literatur in ihrer zweckmäßigen Verteilung und in ihrer übersichtlichen Anordnung. Ich betrachte es als einen großen Gewinn, daß der Herausgeber auf SIGWARTs Rat hin zusammenhängende Erörterungen, die den Charakter von geschlossenen Abhandlungen haben, eingeschoben und beigefügt hat. Sie bilden das belebende Element in dem Ganzen, welches ja als Kommentar, der Natur der Sache entsprechend, dem Text der "Kritik" Zeile um Zeile, ja Wort für Wort folgen muß. Von den eingestreuten Abhandlungen mögen folgende Titel erwähnt werden: Die affizierenden Gegenstände. Wie verhältnis sich Kants Apriori zum Angeborenen? Der Raum als eine unendlich gegebene Größe. Der Streit zwischen Trendelenburg und Fischer usw. Jeder dieser Titel ruft dem Kenner KANTs und seiner Ausleger eine Fülle von Namen und von Begriffen, die mit diesen Namen verknüpft sind, ins Gedächtnis. Ein Anhang behandelt das "Paradoxon der symmetrischen Gegenstände", welches sich bekanntlich in der Prolegomena (1783), nicht aber in einer der beiden Auflagen der Kritik (1781 nund 1787) findet, und setzt dasselbe, den Spuren FISCHERs folgend, in Beziehung zu KANTs Kampf gegen das principium identitatis indiscernibilium [Prinzip der nichterkennbaren Identität - wp] von LEIBNIZ.

Was VAIHINGERs eigenen Standpunkt anlangt, so kann ich mich an dieser Stelle nicht auf Einzelheiten einer Polemik einlassen, ich möchte nur einer allgemeinen Bemerkung Platz gönnen. VAIHINGER bringt von vornherein nicht den Glauben an die innere Einheit der Kritik der reinen Vernunft mit und findet gelegentlich Widersprüche, wo man nach meiner Ansicht nach nur Unklarheiten des Ausdrucks sehen sollte, Unklarheiten, die sich zunächst dadurch erklären, daß KANT auf dem Boden der LEIBNIZ-WOLFFischen Schulsprache eine neue, den neuen Begriffen entsprechende und von ihm erst zu schaffende Art zu reden erwachsen lassen mußte. Außerdem wissen wir, daß KANT es liebte, in seinen Vorlesungen vorläufige Definitionen zu geben und diese nach und nach zu berichtigen und zu vertiefen, und daß er mit Recht der Ansicht war, daß eine erschöpfende Definition an das Ende einer Untersuchung gehört und nicht an den Anfang, falls die Untersuchung gerade dieser Definition mit gewidmet ist. Wir werden entsprechende Verhältnisse auch in den Schriften KANTs voraussetzen dürfen und demgemäß die einleitenden Definitionen oft als vorläufige, dem Standpunkt des Lesers angemessene, anzusehen haben, deren schärfere Bestimmung sich im Lauf der Untersuchung ergibt. In diesem Sinn habe ich vor Jahren (Die Religion des Gewissens, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 79, 1882) eine Reihe von Thesen zusammengestellt, welche für die innere Einheit des kantischen Systems zeugen sollten. Eine weitere Ausführung und eine Begründung dieser Thesen wurde u. a. einer, bisher nicht veröffentlichten Abhandlung vorbehalten, welche ich Herrn VAIHINGER gelegentlich zur Verfügung gestellt habe (vgl. Kommentar, Bd. II, Seite 7 und 17). Dieselbe sucht unter dem Titel ("Die Theorie des Gegenstandes und die Lehre vom Ding ansich") zu zeigen, daß die kantische "Kritik" nicht in zwei locker verbundene Teile auseinanderklafft, daß dieselbe vielmehr ein höchst kunstvoll gegliederter Organismus ist. Wir verdanken bekanntlich COHEN die begeistertste und im Ganzen wohl auch glücklichste Erschließung der "Kritik", soweit dieselbe eine "Theorie der Erfahrung" ist, dagegen scheint uns COHEN in Bezug auf die Frage nach dem "Ding ansich" mehr ein Fortbildner als ein Erläuterer kantischen Denkens zu sein. Die soeben wieder in den Philosophischen Monatsheften angeregte Frage nach der Stellung der, von PÖLITZ herausgegebenen bzw. anderer, diesen entsprechenden Vorlesungen KANTs kann meiner Ansicht nach, wenn nicht eine falsche Datierung der Hochschule vom Jahr 1788 nachweisbar sein sollte, nur von einem Gesichtspunkt aus beantwortet werden: KANT hat den Glauben an eine transzendente Welt von seiner Kindheit an, über die Epoche der "Träume eines Geistersehers" hin, bis an sein Ende festgehalten, wenn auch dieser Glauben in der kritischen Epoche andere Formen annehmen mußte, als er vordem besessen hat. Daß diese transzendente Welt der theoretischen Vernunft verschlossen ist, hatte KANT seinen Zeitgenossen gegenüber zu behaupten und zu beweisen, er mußte deren vermeintliches Wissen aufheben, um Platz zu schaffen für den Glauben, wie er selbst sagt, und darum wurde er nicht müde in vielfachen Wendungen zu versichern, daß die "Vernunft vergeblich ihre Flügel ausspannt, um über die Sinnenwelt durch die bloße Macht der Spekulation hinauszukommen". Daß man ihm, der sich über die Bedeutung seines Vornamens "Immanuel" [Gott ist mit uns - wp] in tiefster Seele freute, den Glauben an eine transzendente Welt absprechen würde, konnte er bei der Veröffentlichung der Kritik (1781) nicht ahnen, und darum tritt in der ersten Auflage derselben die Betonung dieser ihm selbstverständlichen Tatsache seines inneren Lebens zurück, zumal spätere Arbeit auf dieselbe zurückgreifen sollte. KANTs Glauben an eine transzendente Welt ist auch für VAIHINGER eine feste Voraussetzung seiner Beurteilung, ich vermisse aber in seinem Kommentar das Bestreben, die von COHEN im Ganzen wolhl mustergültig entwickelte "Theorie der Erfahrung" mit einer sachgemäß dargestellten "Lehre vom Ding ansich" zu einer inneren Einheit zu verschmelzen. Ich vermisse das umso mehr, als VAIHINGER im ersten Band (Seite 70) geschrieben hatte: "Kants System ist ein gegliederter, zweckmäßig geordneter Organismus, wo alle Teile sich gegenseitig bedingen und stützen und aufeinander gegenseitig als Mittel und Zweck bezogen sind". Ich hätte mich gefreut, wenn VAIHINGER, der gewiß dazu berufen war, den Gang, welchen er in der Anmerkung zu Seite 7, Bd. II andeutet, wirklich gemacht hätte und ernstlicher bestrebt gewesen wäre, unter Berücksichtigung der oben erwähnten Eigentümlichkeit KANTs zu reden und zu schreiben, überall aus den Unklarheiten des sprachlichen Ausdrucks die Klarheit des kantischen Denkens hervorleuchten zu lassen.

Gerade weil uns jüngst GIDEON SPICKER (1892) in seinem Buch "Über die Ursachen des Verfalls der Philosophie in alter und neuer Zeit" wieder einmal gezeigt hat, wie wenig man der bleibenden Bedeutung KANTs gerecht werden kann, glaubte ich auf den Weg hindeuten zu müssen, auf welchem meiner Ansicht nach eine in sich einheitlich geschlossene Auffassung der "Kritik" gewonnen werden kann, ohne welche natürlich eine Würdigung ihrer bleibenden Bedeutung unmöglich ist. Wie weit das eben erschienene Werk EDUARD von HARTMANNs "Kants Erkenntnistheorie und Metaphysik in den vier Perioden ihrer Entwicklung" die angeregten Fragen beantwortet, vermag ich im Augenblick noch nicht zu beurteilen.

VAIHINGERs fleißige und umfassende Arbeit, die mir allerdings in ihrem Verlauf mehr und mehr zu einer Zerstückelung des kantischen Systems zu führen scheint, wird für Alle, die sich mit KANT beschäftigen, ein unbedingt notwendiges Hilfsmittel werden: - das ist ihre bleibende Bedeutung.

KANTs Genius wird nur der gerecht werden, der uns, im Geiste COHENs, auch das Gemüt des seltenen Mannes in allen seinen Regungen mit der treuen Hingabe zu schildern versteht, welche eine große und ganze Persönlichkeit zu verlangen berechtigt ist.

LITERATUR: Alexander Wernicke, Rezension des 2. Bandes von Vaihingers Kommentar zur Kants Kritik der reinen Vernunft, Deutsche Literaturzeitung, XIV. Jahrgang, Nr. 27 vom 8. Juli 1893