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Kants Lehre von der Einbildungskraft [mit besonderer Rücksicht auf die "Kritik der Urteilskraft"] [1/2]
Mit anderen Worten: Der Psychologe bedient sich innerhalb gewisser Grenzen mit Vorteil der Fiktion, als sei die Welt des Schönen ausschließlich ein subjektives Erzeugnis, während der Kunstbetrachter mit dem gleichen Vorteil das Kunstwerk behandelt, als ob es ausschließliche eine Gegebenheit in der sogenannten wirklichen Welt ist. Beide "Fiktionen" ergänzen einander bei der praktischen Erforschung der Natur des Schönen, - so sehr sie sich vielleicht auch theoretisch widersprechen. Die Grenzen, innerhalb deren eine solche Doppelfiktion zulässig ist, werden bestimmt durch die Arbeit des Erkenntniskritikers und nur innerhalb seiner Fragestellungen hat die Aufhebung beider Fiktionen einen Sinn, ja ihre "Entlarvung" macht eine seiner Hauptaufgaben aus. Freilich wird auch der Erkenntniskritiker wenigstens dem Sprachgebrauch nach bei seinem Geschäft selten diese beiden Fiktionen ganz entbehren können. Ich behaupte also für die ästhetische Fragestellung die Realität des Schönen innerhalb der sinnlich erfahrbaren Welt, die Erkennbarkeit, Erfahrbarkeit des Schönen auf der anderen Seite und die Idealität des Schönen, seinen Ursprung aus subjektiven, einer psychologischen Betrachtung zugänglichen Quellen auf der anderen Seite, und glaube mich hiermit genausowenig eines Widerspruchs schuldig zu machen, wie sich KANT eines Widerspruchs schuldig machte, als er den transzendentalen Idealismus mit einem empirischen Realismus gleichzusetzen für richtig gehalten hat (1). Wie bereits erkennbar, ist mit einer solchen Annäherung an KANT keine orthodoxe Abhängigkeit von seinen Positionen ausgesprochen. Ich befinde mich mit dieser Grundauffassung in einem gewissen gemäßigten Gegensatz zu jener Ansicht, welche sich darauf beschränkt, "das ganze Dasein des ästhetischen Gegenstandes nach Form und Inhalt sich auf dem Boden unseres Bewußtseins" vollziehen zu lassen (2), und spezieller zu jener Kant-Interpretation, welche KANT zum "reinen" Idealisten in Bezug auf seine Ästhetik machen zu müssen glaubt, indem sie aus der Tatsache, daß KANT die Erkenntnis des Schönen auf die beiden Erkenntniskräfte "Einbildungskraft und Verstand" und auf deren "einhellige Tätigkeit" zurückführt, schließt, daß er die reine "psychologische Struktur" des ästhetischen Urteilens "mit voller Entschiedenheit" ausgesprochen hat (3). Die besondere Funktion, welche der Einbildungskraft sowohl in der Erkenntnistheorie wie in der Ästhetik KANTs - und beide sind voneinander untrennbar - zukommt, schließt gerade diesen Verdacht des reinen Idealismus, wie sich zeigen wird, aus. Aus einer Konfrontierung der Kapitel, welche die Rolle der Einbildungskraft bei der Konstituierung des "Gegenstandes überhaupt", so auch der schöne Gegenstand nach kantischer Auffassung nicht lediglich seinen Ursprung aus dem erkennenden Subjekt allein hernimmt, sondern ein Erzeugnis unserer seelischen Struktur ist, das sich aus der Auseinandersetzung des Subjekts mit der Welt seiner Sinnesdaten ergibt, oder wie KANT diesen Sachverhalt kennzeichnen würde, daß der "schöne Gegenstand" das Resultat einer "transzendentalen Synthesis" ist. Diese Konfrontierung gehört also zu meiner Hauptaufgabe; sie wird zugleich einen weiteren Einwand (4), den man gegen KANT erhoben hat, widerlegen, daß nämlich durch seine Bindung des Ästhetischen an den Begriff der "Einbildungskraft", er der umfassenden Natur, der "vollen Sinnenfälligkeit der ästhetischen Gegenstände" nicht vollkommen gerecht wird, vor allem dann nicht, wenn er sich noch enger sogar nur auf das "Verhältnis" zurückzieht, in welches "gewisse Tätigkeiten" in uns durch die Betrachtung des Schönen gesetzt werden. - Dieser Einwand hätte eine große Berechtigung, wenn man den Begriff der Einbildungskraft im beschränkten Sinn des Gegenwartsgebrauchs (Phantasie) zu nehmen berechtigt wäre. Es ist an seiner Stelle zu beweisen, daß demgegenüber KANT mit dem Begriff der Einbildungskraft und mit dem besagten "Verhältnis der Gemütskräfte" eine Weltformel von solchem Ausmaß gegeben und gemeint hat, daß der volle ästhetische Gegenstand, die ganze volle sinnfällige Welt des Schönen darin wohl Raum hat. KANT hat mit dieser Auffassung der "transzendentalen" Einbildungskraft als der Urheberin oder besser Komponistin all dessen, was wir empfinden und fühlen, gleichgültig ob es der Beurteilung durch den Erkennenden oder den ästhetisch Beschauenden anheimfällt, in der Geschichte der Philosophie kein Vorbild. Seine Lehre von der Einbildungskraft hat sich auf eigenem Boden entwickelt. Was er in psychologischer Beziehung vorgefunden hat, war die WOLFF-BAUMGARTENsche Vermögenslehre, die er nicht dogmatisch aufnahm, sondern selbständig verarbeitete und in das großartige Maschenwerk seiner Transzendentalphilosophie hineinwebte. Es ist meine Absicht, in großen Zügen diesen Entwicklungsprozeß der Lehre von der transzendentalen Einbildungskraft: die Loslösung von der älteren Vermögenslehre, die Aufgipfelung in der Kritik der reinen Vernunft und den Ausbau nach der Gefühlsseite hin in der Kritik der Urteilskraft aufzuzeigen. Ich hoffe, mit diesem Unternehmen nicht nur der Kant-Interpretaton, sondern vor allem auch derjenigen Anschauung, welche den Eingang dieser Vorbemerkung gefärbt hat, und die man als "positivistischen Idealismus" bezeichnen kann, einen Dienst zu erweisen. Version der Einbildungskraft Eine Untersuchung über die "Einbildungskraft" in KANTs Kritiken ist nach Lage der Sache nicht eine ausschließlich psychologische Angelegenheit (worauf der psychologische Terminus und seine Herkunft aus der vorkantischen Psychologie hinzudeuten scheinen). Ebensowenig aber ist sie eine Angelegenheit rein erkenntnistheoretischer Art, so daß sie also mit den Mitteln der transzendentalen Methode allein zu bewältigen wäre. Man hat sich vielmehr, da in den Kritiken beide Tendenzen, die psychologische und die erkenntnistheoretische, sich in eigenartiger Weise durchdringen, diesem "Vermögen" von beiden Polen her zu nähern. Den geeigneten Boden für eine Voruntersuchung über die empirisch-psychologische Version der Einbildungskraft bilden KANTs Schriften und Vorlesungen, soweit sie eine psychologisch-anthropologische Tendenz haben. Es sind dies außer der in Band VII der Akademie-Ausgabe veröffentlichten "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" (1798), welche die offiziell literarisch vertretene Psychologie KANTs enthält (zu deren Ergänzung die in Band XV der Akademie-Ausgabe wiedergegebenen "Reflexionen" aus dem handschriftlichen Nachlaß herangezogen werden müssen) vor allem die von PÖLITZ überlieferten Vorlesungen Kants über Metaphysik. - Diese Vorlesungen schließen sich eng an BAUMGARTENs "Metaphysica" an und geben einen guten Einblick in die Genesis [Entstehungsgeschichte - wp] unseres Begriffs, indem sie das erste Stadium der Loslösung KANTs von seinem Vorbild BAUMGARTEN kennzeichnen. ![]() BAUMGARTEN (5) stellt dem oberen Erkenntnisvermögen (facultas cognoscitiva superior), dem Verstand (intellectus) das untere Erkenntnisvermögen (facultas cognoscitiva inferior) gegenüber. Er teilt das letztere ein in: Sensus (der Sinn), Phantasie (die Einbildungskraft), Perspicacia (Unterscheidungsvermögen), Memoria (das Gedächtnis), Facultas fingendi (das Dichtungsvermögen), Praevisio (das Vorhersehungsvermögen), Judicium (das Vermögen zu beurteilen), Praesagatio (das Vermögen, etwas zu erwarten) und Facultas characteristica (das Vermögen der Zeichenkunde) (6). Es geschieht dies in den §§ 519 - 650 des Werkes. Diese Paragraphen sind die literarische Hauptquelle, aus der KANTs Ansichten über die Einbildungskraft, ihre Stellung im System der Vermögen und ihre Funktionen geflossen sind. Die Einteilung in ein unteres und oberes Erkenntnisvermögen ist die einzige systematische Gliederung, welche BAUMGARTEN den verschiedenen "Vermögen" hier angedeihen läßt. Im Übrigen werden sie als selbständige und gleichsam voneinander unabhängige Funktionen nebeneinander abgehandelt. Für unseren Zusammenhang von besonderem Interesse sind die Vermögen der Phantasie, des Gedächtnisses und das Dichtungsvermögen, weil in ihnen spezieller die Keime zu KANTs Begriff der "Einbildungskraft" enthalten sind. Die Phantasie ist das Vermögen, Wahrnehmungen, welche einst den Sinnen gegenwärtig gewesen sind, in Abwesenheit der Objekte wieder vorzustellen. (Habeo facultatem imaginandi seu phantasiam) [Ich habe die Fähigkeit mir etwas vorzustellen, d. h. ich habe Vorstellungskraft. - wp] (7). Cumque imaginationes meae sint perceptiones rerum, quae olim praesentes fuerunt, sunt sensorum, dum imaginor, absentium. [Und da meine Vorstellungen Wahrnehmungen von Dingen sind, die einst da waren, sind sie Wahrnehmungen von Sinnen, die, während ich sie mir vorstelle, abwesend sind. - wp] Es wird von BAUMGARTEN bei dieser Gelegenheit in Anlehnung an ein berühmtes Vorbild die hübsche Wendung gebraucht: "Nihil est in phantasia quod non ante fuerit in sensu." [Nichts ist in der Phantasie, was nicht vorher in den Sinnen war. - wp] (§ 559). Die imaginationes unterliegen dem Gesetz der Ideenassoziation (§ 561). Freilich hat BAUMGARTENs Formulierung des Gesetzes in diesem Zusammenhang wenig Ähnlichkeit mit anderen aus jener Zeit bekannten Formulierungen (bei ihm lautet es: "percepta idea partiali recurit eius totalis" [Die wahrgenommene Teilidee kehrt zur ihrer Gesamtheit zurück. - wp], eine Wendung, die erst in neuerer Zeit von STOUT (8) als das sogenannte "Totalitätsgesetz" wieder aufgenommen wurde). Die Produkte der Einbildungskraft werden von den normalen Wahrnehmungen der Sinne unterschieden, d. h. es werden Kriterien für ihre Unterscheidung (1. gradus celeritatis, 2. status, quem sistunt usw.) angegeben (§ 567), weiter werden diejenigen Momente gezeigt, welche die Tätigkeit der Funktion zu beleben bzw. abzuschwächen geeignet sind (§§ 568-569), und es wird schließlich (§ 571) der pathologischen Formen der Einbildungskraft in wenigen Worten Erwähnung getan (phantasie effrenis). (9) Ganz unabhängig von dieser (reproduzierenden) Phantasie wird das Gedächtnis dargestellt (§§ 579-588) als dasjenige Vermögen, welches die von der Phantasie reproduzierten Vorstellungen als solche wiedererkennt, die einst im Bewußtsein gegenwärtig waren. Er spricht von einer memoria sensitiva, wenn es sich um das Wiedererkennen von Sinnesvorstellungen, von einer memoria intellectualis, wenn es sich um das Wiedererkennen begrifflicher Inhalte handelt. Das Gesetz, dem das Gedächtnis gehorcht, lautet: Representatis pluribus perceptionibus successivis, usque ad praesentem, partialem communem habentibus, partialis communis repraesentantur, ut contenta in antecedente et sequenta. [Nachdem bis zur Gegenwart mehrere aufeinanderfolgende Wahrnehmungen mit einem gemeinsamen Teil dargestellt wurden, wird dieser gemeinsame Teil als im Vorder- und im Folgenden enthalten dargestellt. - wp] (§ 580). Die facultas fingendi, das Dichtungsvermögen (§§ 589 - 594) hat nach BAUMGARTEN die besondere Funktion, reproduzierte Bewußtseinsinhalte zu zerlegen und die Teile zu neuen selbständigen Gebilden wieder zusammenzufügen. Das Gesetz, dem dieses Vermögen unterliegt, lautet: "Phantasmatum partes percipiuntur, ut unum totum." [Teile des Phantasmatums werden als Ganzes wahrgenommen. - wp] Spezieller handelt BAUMGARTEN schließlich noch von den Abarten dieses Vermögens, von der facultas fingendi poetica bis zur Phantasie des Träumers und Nachtwandlers. ![]() An diese Ausführungen BAUMGARTENs, welche KANT oft in verschiedensten Variationen seinen Hörern vorgetragen haben muß (wie aus den verschiedenen erhaltenen Vorlesungsnachschriften hervorgeht), lehnen sich nun KANTs erste Versuche, selbständig des Begriffs der Einbildungskraft Herr zu werden, unmittelbar an. Nach den "Vorlesungen über Metaphysik" KANTs tritt die Einbildungskraft oder, wie sie dort auch wohl genannt wird, die "bildende" Kraft in folgenden Formen auf:
2. Als das Vermögen der Nachbildung (facultas imaginandi), welches Vorstellungen aus der Vergangenheit hervorholt und mit denen der Gegenwart (durch Assoziation) verknüpft. 3. Als das Vermögen der Vorbildung, welches nach dem Verhältnis der Vorstellungen der Gegenwart zur Vergangenheit aus den gegenwärtigen Vorstellungen solche der Zukunft bildet. (10) Neben dieser Dreiteilung tritt in den "Vorlesungen" eine zweite, die gleichfalls drei Funktionen der Einbildungskraft ergibt:
2. Das Vermögen der "Gegenbildung", oder Charakteristik. (Die "Gegenbilder dienen dazu, "das Bild des anderen Dinges hervorzubringen". Worte sind solche "Gegenbilder", "um die Vorstellung der Sache zu konzipieren".) 3. Das Vermögen der "Ausbildung", das bestrebt ist, uns eine Idee des Ganzen zu machen und die Gegenstände mit der Idee des Ganzen zu vergleichen.
2. die facultas characteristica (das Vermögen der Zeichenkunde) Hatte das erste Schema der "Vorlesungen" eine zeitlice, so hat diese Abweichung vom Vorbild (was bisher nie recht beachtet wurde), eine räumliche Nuance. Die scheinbare Spielerei mit den Vorsilben "Ein", "Gegen" und "Aus", die doch zweifellos räumlichen Charakters sind, hat sicherlich einen ernsten Hintergrund. Wir haben es hier offenbar mit einem Vorstadium jener Lehre der Transzendentalphilosophie zu tun, die auch den Raum zu einer Domäne der Einbildungskraft macht. Nicht systematisch, sondern sporadisch wird in den "Vorlesungen" die "bildende Kraft" auch zuweilen unter dem Gesichtspunkt der Willkürlichkeit bzw. Unwillkürlichkeit ihrer Wirkungsweisen betrachtet. Bei dieser Gelegenheit erfolgt merkwürdigerweise eine Zuordnung der unwillkürlichen Regungen der Einbildungskraft zur Sinnlichkeit als dem unteren Erkenntnisvermögen und der willkürlichen Regungen zum oberen Erkenntnisvermögen und er willkürlichen Regungen zum oberen Erkenntnisvermögen (also dem Verstand!). Man könnte auch hier von einer weiteren Ausdehnung der Domäne der Einbildungskraft über die Grenzen der Sinnlichkeit bis in das Gebiet des Verstandes hinein reden. Wir werden später sehen, bis zu welchem Grad sich dieser Übergang in KANTs Erkenntnistheorie faktisch vollzogen hat, in welchem Sinne also die Einbildungskraft schließlich von KANT gewissermaßen zum Träger und Motor des ganzen transzendentalen Prozesses der "Weltkomposition" gemacht wird, auf dem alle unsere Kenntnis von den Dingen beruth. Die "Vorlesungen" bieten, wie leicht ersichtlich, kein einheitliches und eindeutiges Bild von KANTs Psychologie der Einbildungskraft. Die verschiedenen Einteilungen und Zuordnungen (in denen man gewiß, wie es von NEUKIRCHEN (14) geschehen ist, große, immanente Widersprüche entdecken kann) sind als Zersetzungsprodukte anzusehen. BAUMGARTENs Schema wird nach verschiedenen Richtungen variiert, und dabei treten einige für den zukünftigen KANT charakteristische Züge bereits mit Entschiedenheit heraus. (Die Beziehungen der Einbildungskraft zur Zeit, zum Raum, zu Verstand und Vernunft.) Bei dieser Gelegenheit möchte ich nicht versäumen, einige Bemerkungen zu machen, zu denen die Ausführungen NEUKIRCHENs herausfordern. NEUKIRCHEN versucht, aus der allgemeinen Zuordnung KANTs der willkürlichen Funktionen der Einbildungskraft zum oberen Erkenntnisvermögen (und umgekehrt) die Konsequenzen für die einzelnen Funktionen der Einbildungskraft zu ziehen, also anzugeben, welches von den Vermögen der "Abbildung", "Nachbildung", "Vorbildung" bzw. "Einbildung", "Gegenbildung" und "Ausbildung" nunmehr ausschließlich dem unteren und welches dem oberen Erkenntnisvermögen angehört. Er vermißt diese Zuordnung bei KANT und versucht, sie durch eine eigene Gruppierung zu ersetzen. Das ist ein müßiges Unternehmen. Theoretisch gesprochen kann jedes dieser Vermögen sowohl der einen wie der anderen Seite zugerechnet werden, je nachdem es in willkürlicher oder in unwillkürlicher Aktion angetroffen wird. Daß dies die Meinung KANTs ist, geht aus der Tatsache hervor, daß er für die "willkürliche" Seite der "Einbildung" den besonderen Terminus "Dichtungsvermögen" und für die "willkürliche" Seite der "Nachbildung" den besonderen Terminus "Gedächtnis" einführt. KANT unterscheidet also die willkürliche und die unwillkürliche Seite an ein und demselben Vermögen bereits hier. Auch NEUKIRCHENs Gleichsetzung des Begriffspaares "produktiv" - "reproduktiv" mit dem Begriffspaar "willkürlich" - "unwillkürlich" und die von ihm daraus gezogenen Folgerungen scheinen mir wenigstens für die "Vorlesungen" bedenklich. (15) ![]() Während die "Vorlesungen" deutlich die Herkunft des Begriffs der Einbildungskraft aus der Psychologie BAUMGARTENs verraten und sich mit der "dogmatischen" Aufteilung des Vermögens nach verhältnismäßig äußerlichen, wenn auch eigenen Einteilungsprinzipien begnügen, wird es in der "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" entschiedener unter selbständigen psychologischen Einsichten entwickelt. Das Einteilungsschema wird gewissermaßen aus der Struktur der psychischen Funktionen gewonnen. Die Charakteristik einiger Seiten des Vermögens verrät dabei in aller Deutlichkeit den Einfluß der Transzendentalphilosophie. Im Vordergrund steht die Scheidung zwischen der produktiven und der reproduktiven Tendenz des Vermögens.
Beim Versuch, die verschiedenen Arten des "sinnlichen Dichtungsvermögens" der produktiven Einbildungskraft darzustellen, findet KANT deren drei Arten (vgl. § 23):
2. Das sinnliche Dichtungsvermögen der Beigesellung (imaginatio associans), beruhend auf einer "Angewohnheit" im Gemüt, empirische Vorstellungen, die oft nacheinander folgen, nach dem "Prinzip der benachbarten Vorstellungen" durcheinander wieder zu erzeugen. 3. Das sinnliche Dichtungsvermögen der Verwandtschaft (affinitas), wobei unter Verwandtschaft "die Vereinigung aus der Abstammung des Mannigfaltigen von einem Grund" verstanden wird. "Das Spiel der Einbildungskraft folgt hier den Gesetzen der Sinnlichkeit, welche den Stoff dazu hergibt, dessen Assoziation gemäß, obgleich nicht als aus dem Verstand abgeleitet, verrichtet wird." Ich übergehe die zahlreichen, höchst lesenswerten Beispiele, durch welche KANT seine Einsicht in die Wirkungsweisen der produktiven Einbildungskraft belegt und wenden uns der reproduktiven Komponente des Vermögens zu. Die reproduktive Seite der Einbildungskraft wird abgehandelt unter dem Titel: "Das Vermögen der Vergegenwärtigung des Vergangenen und Künftigen durch die Einbildungskraft" (§ 26). Das Vorhersagen des Künftigen wird also seltsamerweise aufgefaßt als ein umgekehrtes Erinnern des Vergangenen. Das Vermögen der Vergegenwärtigung des Vergangenen (Erinnerungsvermögen, Vermögen der Respizienz [nochmalige Überprüfung - wp]) wird, wenn es "unwillkürliche" tätig ist, schlechthin "reproduktive Einbildungskraft" genannt; für die willkürliche "vorsätzliche" Seite des Vermögens reserviert KANT dagegen den Terminus "Gedächtnis". Das Gegenstück dazu (Devinationsvermögen, Vermögen der Prospiciens [Vorausschau - wp]) heißt auch "Vorhersehungsvermögen" (praevisio) und findet sich (wie auch schon bei BAUMGARTEN) in besonderen Fällen bis zur "Wahrsagergabe" (facultas divinatrix) gesteigert. Das Zwischenglied zwischen beiden wird gebildet durch ein zwischen Vergangenheit und Zukunft vermittelndes Vermögen, das "Bezeichnungsvermögen" (facultas signatrix). Das Vermögen der Erkenntnis des Gegenwärtigen dienst als Mittel der Verknüpfung der Vorstellung des Vorhergesehenen mit der des Vergangenen (§ 28). Wir sehen also in der Anthropologie, soweit sie nicht bereits in die Transzendentalphilosophie hineinragt (17), eine deutlichere Durchbildung des Begriffs der Einbildungskraft, wie in den "Vorlesungen". Bei aller Berücksichtigung der Terminologie BAUMGARTENs finden wir auch hier eine ausgesprochene Wendung zur Selbständigkeit. Um die Ablösung vom Schema BAUMGARTENs, wie sie hier vorliegt, recht zu verdeutlichen, stelle ich beide Stadien einmal schematisch nebeneinander:
Kants Anthropoligie sieht so aus: seine Unterteilung des Erkenntnisvermögens ist, wie bei Baumgarten, in ein oberes und unteres und auch auch bei ihm dominiert das obere der Verstand. Das untere Erkenntnisvermögen jedoch teils sich bei Kant in die Einbildungskraft und den Sinn, wobei dann lediglich die Einbildungskraft weiter unterteilt wird in eine produktive und reproduktive und die produktive in Bildung (unwillkürliche = Phantasie), Beigesellung und Verwandtschaft, die reproduktive in 2.Erinnerung (willkürliche = Gedächtnis), Bezeichnung und Vorhersehung.
Der Sinn teilt sich in a) Apprehension des inneren, b) des äußeren Zustandes, c) seiner selbst (apperceptio) Die Einbildungskraft in a) facultas reproducendi, b) praevidendi, c) fingendi. Das Vergleichungsvermögen in a) ingenium, b) acumen, c) facultas signandi. Es läßt sich jedoch aus dem Schwanken KANTs und aus dem Auftauchen transzendental-philosophischer Gedankengänge im anthropologischen Zusammenhang noch ein Weiteres erkennen. Das vielfache Durchdenken der Eigenschaften jener Vermögen, der immer erneute Versuch, sie voneinander abzugrenzen, im Widerstreit mit Tendenzen, die auf eine Vereinheitlichung des Stammbaums der Vermögen abzielen, wurde durchkreuzt von jener ganz neuen und eigenartigen Problemstellung der Transzendentalphilosophie, die erst eigentlich KANTs Namen so groß gemacht hat. Ein ganz neuer Aspekt, in dem eigentlich diese halb überwundene Vermögenslehre überhaupt keinen Raum hat, tat sich dem Genie auf in der Frage nach dem logischen Apriori, nach der Gültigkeit unseres Erkennens. Das veränderte Problem hat die Auseinandersetzung mit der Vermögenspsychologie nicht abgebrochen, sondern sie auf ein neues Gleis geschoben. Es galt nunmehr, die Errungenschaften der anthropologischen Überlegungen mit den Denkweisen der Transzendentalphilosophie zu vereinigen, neben die Transzendentalphilosophie so etwas wie eine Transzendentalpsychologie zu stellen. Und so hat sich dann jenes anthropologische Bemühen um die "schöpferische" Funktion der Seele an den Resultaten der Transzendentalphilosophie hinaufgerankt, das Suchen nach einer Organik der Seele, nach derjenigen inneren Einheit, deren Äußerungen all jene Vermögen nur sein können, hat sich in das neue Strombett der Transzendentalphilosophie ergossen. Diese nämlich versprach zu bieten, was keine empirische Psychologie bieten konnte; einen Blick hinter die Kulissen des Bewußtseins, einen Gang zu den "Quellen" bzw. zu der Quelle. Die Fragestellung der anthropologischen Psychologie ist nicht so weittragend, um einen solchen Tiefenblick zu gestatten. Die empirische Seelenforschung muß sich an die Gegebenheiten des Bewußtseins halten, sie kann zwar diese Bewußtseinsinhalte äußerst feinsinnig miteinander vergleichen, voneinander abgrenzen, sie kann die bewegenden Kräfte charakterisieren, welche zwischen diesen Elementen tätig sind, kann diese klassifizieren und beschreiben. Sie vermag auch empirische Gesetze aufzustellen, nach welchen die bewußten Vorgänge sich vollziehen. Immer aber ist es nur das Bild der Epidermis [äußere Haut - wp] der Seele, was sie zu schildern vermag. Ihre Aufgabe ist an der Grenze der Bewußtheit erledigt. Eine Methode jedoch, in der das beobachtende Subjekt sich selbst über die Schultern schaut, wie sie KANT in der transzendentalen Fragestellung gefunden zu haben glaubte, konnte wohl über die Grenzen der Bewußtseinsimmanenz hinausführen, konnte wohl einen Blick hinter die Erscheinungen des Bewußtseins in die Werkstatt des Bewußtseins gestatten, denn Vorbewußtes, Vorlogisches, Vorsinnliches, das Apriori versprach sie zu erschließen. Für unser Problem bedeutet das: die Seelenvermögen, von denen innerhalb der empirischen Psychologie KANTs die Rede ist, die innerhalb der Bewußtseinsgrenze nicht weiter analysiert, nicht mehr miteinander verglichen, nicht mehr aufeinander bezogen werden konnten, als es dort geschah, können gelegentlich der Fragestellung der transzendentalen Methode unter einem neuen weittragenden Gesichtswinkel gesehen werden. Es ergibt sich die Möglichkeit, ihre Wirksamkeit bis zu den Wurzeln zu verfolgen, in welchen unsere ganze einheitliche psychische Aktivität verankert ist. Sie erscheinen allerdings unter diesem Aspekt einfacher, urtümlicher, elementarer. Sie lassen sich zwar noch benennen mit den in der Empirie geläufigen Namen, lassen sich noch unter der Analogie jener begreifen, doch sind es nun die Vermögen in aller Nacktheit, frei von den Gesetzen und Isolierungen, die der Empiriker an ihnen zu konstatieren vermochte. Bei einem solchen Gang ins "Transzendentale" mochte dann wohl auch jenes Motiv der kantischen Anthropologie, der Vereinheitlichung der Vermögen, der Aufzehrung anderer Seelenvermögen durch die Einbildungskraft zur weiteren Auswirkung kommen mit dem Endeffekt, daß schließlich die transzendentale Einbildungskraft (die dann freilich mit dem empirischen Vermögen nur noch den Namen gemeinsam hat) sich als der letzte bewegende Faktor unserer Seele, sich als diese Seele selbst in ihrer nackten Spontaneität, etabliert. Sie ist es schließlich, aus deren Reaktionen auf das Chaos der Empfindungen sich der ganze Kosmos unserer Erfahrungen und Erkenntnis entwickelt; und eine ästhetische Formel, welche sie enthält, ist nicht mehr bloß bezogen auf den geringeren Aktionsradius eines der vielen empirischen Einzelvermögen, sondern auf die Fassungskraft der ganzen Seele. transzendental-philosophische Problem Vorausgeschickt muß werden, daß KANTs Bemühungen um den Begriff der Einbildungskraft innerhalb seiner Erkenntnistheorie nicht zum eisernen Bestand dieser Theorie gehören. Das Problem der Kritik ist vielmehr die Herausarbeitung des Systems der apriorischen Vernunftgesetzlichkeiten, welche die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der Erkenntnis bedingen und begründen. Es wurde von KANT auf die Lösung der Kernfrage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori reduziert und ist weit davon entfernt, sich mit einer Beantwortung aus psychologischen Registern zu begnügen. ALOIS RIEHL (18) übertreibt zwar ein wenig, wenn er es als "ungehörig" bezeichnet, den in den Kritiken enthaltenen psychologischen Reflexionen und Deduktionen für den Gang des kritischen Geschäfts irgendeinen Wert beizumessen. Er trifft aber den Kern der Sache, wenn er schreibt:
Das will besagen: wenn KANT gelegentlich seiner eigentlichen Untersuchung über die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit unseres Erkennens versucht, die Psychologie seiner Zeit in der Richtung über das Empirische hinaus zu vertiefen und zu vereinheitlichen, wenn er versucht, bis zu der letzten seelischen Einheit vorzudringen, aus der die ganze Mannigfaltigkeit der Bewußtseinsvorgänge gespeist wird, so treibt er nach seinem eigenen Geständnis eine Art unverbindlicher Metaphysik. Das Resultat ist hypothetischen Charakters. Eine Hypothese ist selten nur das Produkt eines eindeutigen logischen Zwanges. Hypothesen verdanken ihren besonderen Habitus häufig einer ganzen Gruppe von Motiven. Auch für KANT hat es sich nicht lediglich darum gehandelt, eindeutig "zu einer gegebenen Wirkung die Ursache zu suchen", ihm lag vielmehr daran, seine psychologische Hypothese mit seinen erkenntnistheoretischen Resultaten in Einklang zu bringen. Den hypothetischen Vermögen seiner Seelenmetaphysik wird eine ganz bestimmte Rolle innerhalb seiner Erkenntnistheorie zuteil. So enthält seine Transzendentalpsychologie gewisse Züge, die sie als rein psychologische Theorie nicht unbedingt hätte aufweisen müssen, die aus dem psychologischen Zusammenhang nur schwer oder gar nicht zu verstehen sind, und die nur im Zusammenhang mit den Resultaten der Erkenntnistheorie einen Sinn ergeben. KANT hat von der "Freiheit zu meinen" in Sachen dieser Hypothese eben zugunsten seiner Erkenntnistheorie, zugunsten des logischen Apriori, Gebrauch gemacht. Damit hat er freilich eine Lage geschaffen, die zwar nicht für ihn selbst, aber doch für eine Reihe seiner Nachfolger, für die Psychologisten innerhalb der Kant-Interpretation, verhängnisvoll geworden ist. Der Weg, der zur Aufdeckung des Apriori in der Erkenntnis führt, ist nicht der gleiche, wie der Weg, der zur Hypothese von dem so und so beschaffenen "transzendentalen" Vermögen führt. Die Bedingungen der Möglichkeit einer Erkenntnis (des logischen Apriori) sind nicht zugleich Elemente ihrer psychologischen Entstehung. Die Erdichtung hypothetischer Seelenkräfte, welche den Verkehr zwischen den "logisch apriorischen" Elementen der Erkenntnis vermitteln, bzw. die Beanspruchung der aus der empirischen Psychologie geläufigen Vermögen für diesen Zweck wäre ein Unternehmen, welches das ganze kritische Geschäft gefährden würde, wenn ihm innerhalb dieses Unternehmens selbst mehr als eine illustrative Bedeutung zukäme. Die Bedeutung der psychologischen Einstreuungen innerhalb der Kritik KANTs darf also für die kritische Hauptabsicht nicht überschätzt werden. Auf der anderen Seite liegt die Gefahr vor, daß die psychologische Hypothese deshalb, weil sie gewisse Züge lediglich dem logischen Apriori zuliebe angenommen hat, für die psychologische Nebenabsicht, wenn man sie als ein selbständiges Gebilde aus der Kritik herauslöst, teilweise unbrauchbar wird. Es ist also auch vom psychologischen Standpunkt aus eine gewisse Vorsicht den transzendental-psychologischen Wendungen gegenüber innerhalb der Kritik geboten. Ich bin entschlossen, diese Transzendentalpsychologie als das zu nehmen, was sie ist, als eine Seelenmetaphysik ohne bündige Beweiskraft für das transzendentale Hauptgeschäft, von großer illustrativer Bedeutung für die Gedankengänge der schwierigsten Partien der Kritik, von eigentümlicher selbständiger Schönheit, und auch (wenn man von den Schwankungen und Umkippungen absieht, denen KANT oft genug verfallen ist) von einer gewissen Eindeutigkeit und Geschlossenheit, die sich bis in die Kritik der Urteilskraft hineinverfolgen läßt. Mit einem solchen Vorbehalt wende ich mich nun der Rolle zu, die das Vermögen der Einbildungskraft in der kantischen Kritik spielt. ![]()
1) vgl. Kr. d. r. V., Ausgabe B, Seite 745. 2) vgl. Volkelt, System der Ästhetik, Bd. 1, München 1905, Seite 15. 3) vgl. Volkelt, a. a. O., Seite 14 4) vgl. Volkelt, a. a. O., Seite 15 5) Die von Kant benutzte 4. Ausgabe der "Metaphysica" von 1757 (wenigstens die psychologischen Paragraphen derselben) sind mit Kants Erläuterungen abgedruckt in Band XV der Akademie-Ausgabe seiner Werke. 6) Kants Übersetzung in seinem Exemplar. 7) Kant bemerkt zum Wort phantasiam: "unwillkürlich". 8) George Frederick Stout, Analytic Psychology, Vol. 1, London 1896, Seite 270f 9) Kant übersetzt: "eine ausschweifende Phantasie". 10) vgl. Pölitz, a. a. O., Seite 149. 11) vgl. Pölitz, a. a. O., Seite 151 12) vgl. Pölitz, a. a. O., Seite 152 13) Im Vermögen der Ausbildung (man vergleiche es mit dem Vermögen der Phantasie bei Baumgarten) jedoch haben wir es bereits mit einem Vorstadium jener Lehre von der Einbildungskraft zu tun, die Beziehung unterhält zum obersten aller Vermögen, zur Vernunft (als dem Vermögen der Ideen, der "Totalität"). Ich werde von diesen Beziehungen im geeigneten Zusammenhang sprechen (vgl. "Einbildungskraft und Vernunft"). 14) Aloys Neukirchen, Das Verhältnis der Anthropologie Kants zu seiner Psychologie, Bonn 1914, Seite 82f. 15) Neukirchen, a. a. O., Seite 81 16) Das Verfahren Kants, der wie wir sehen werden, aus seiner Kenntnis des empirischen Vermögens die Eigenschaften des transzendentalen ableitet, ist freilich umgekehrt. 17) Es ist nicht leicht, bei der Arbeitsweise Kants, der seine Schriften aus den Notizen von Jahrzehnten zu komponieren pflegte, die zu verschiedenen Zeiten entstandenen Ausführungen, sowohl in der Anthropologie wie auch in der Kr. d. r. V., so voneinander zu trennen und zeitlich nebeneinander zu ordnen, daß eine "Entwicklung" gezeigt und geschildert werden könnte. 18) Riehl, Der philosophische Kritizismus, Bd. 1, zweite Auflage, Seite 503f. 19) von mir (RS) gesperrt. |