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ALEXANDER WERNICKE
Die Theorie des Gegenstandes
und die Lehre vom Ding ansich
bei Immanuel Kant

[Ein Beitrag zum Verständnis des kritischen Systems]
[1/3]

"Daß die Einbildungskraft ein notwendiges Ingrediens der Wahrnehmung selbst ist, daran hat wohl noch kein Psychologe gedacht. Das kommt daher, weil man glaubte, die Sinne liefern uns nicht nur die Eindrücke, sondern setzen solche auch gar zusammen und bringen Bilder der Dinge zuwege, wozu ohne Zweifel außer der Empfänglichkeit der Eindrücke noch etwas mehr, nämlich eine Funktion der Synthesis derselben erfordert wird."

"Die allgemeine und notwendige Beziehung, welche ein gemeinsames Band um verschiedene Elementarerscheinungen und deren Komplexe schlingt, fand Jahrhunderte lang ihren Ausdruck im Ding mit seinen Eigenschaften, bei Kant findet sie ihren Ausdruck in der gesetzmäßigen Verknüpfung und ihrer Beziehung zum Selbstbewußtsein. Das ist der fundamentale Unterschied. Hier liegt das wesentlich Neue bei Kant."


V o r w o r t

Seit Jahren ist eine neue Auflage meiner Schrift "Kant ... und kein Ende?" (1894) notwendig geworden, aber es fehlte mir bisher an Zeit, dieser Forderung unter Berücksichtigung des augenblicklichen Standes der Kant-Forschung zu genügen.

Nach Vollendung meines Lehrbuches der Mechanik, Braunschweig 1900, 1901 und 1903 ging ich sofort an die erforderlichen Vorarbeiten, aber die sogenannten dunklen Abschnitte der Kritik der reinen Vernunft, welche den Kern der transzendentalen Analytik bilden, zwangen mich, wie vor Jahren, zum Verweilen. Noch immer scheint mir die neue Theorie des Gegenstandes, welche KANT dort entwickelt, dem Streit der Meinungen nicht entrückt zu sein, namentlich im Hinblick auf die viel erörterte Idee des Dings-ansich. Wenn dieses Urteil richtig ist, so wird auch die folgende Abhandlung als Versuch auf Nachsicht rechnen dürfen.

Sie entstand als Habilitationsschrift, zwecks Zulassung als Privatdozent an der hiesigen Herzoglich Technischen Hochschule (Herbst 1881), und ihr Entwurf wurde darauf Herrn VAIHINGER für seinen Kant-Kommentar (vgl. dort II, 7, 17, 57) zur Verfügung gestellt.

Mit Rücksicht auf einige neuere Erscheinungen der Kant-Literatur und auch im Hinblick auf die geplante neue Auflage von "Kant ... und kein Ende?" erscheint es mir zweckmäßig, diese Abhandlung doch noch zu veröffentlichen, und zwar, abgesehen von der Kürzung der Einleitung, genau in der Form, in der sie bei meiner Habilitation vorgelegen hat. Damals, als der Streit um den Unterschied der ersten und der zweiten Auflage der Kr. d. r. V. noch nicht zum Austrag gebracht war, glaubte ich, bei allen zweifelhaften Fragen der angeblich mehr idealistisch gehaltenen ersten Auflage die Entscheidung überlassen zu müssen; die Darstellung verliert dadurch nicht an Allgemeinheit, da die Übereinstimmung der beiden Auflagen und der zwischen ihnen gelegenen Prolegomena heute wohl als erwiesen angesehen werden darf. Die Zitate beziehen sich auf die Ausgabe von KIRCHMANNs und zwar wird die "Kritik der reinen Vernunft" kurz als Kr. d. r. V. angeführt.



E i n l e i t u n g

Auf der philosophischen Höhe, welche KANT mit der Kritik der reinen Vernunft (1781) erreicht hat, erscheint der alte Streit (1) zwischen Freiheit und Notwendigkeit geschlichtet: dieser gebührt die unbestrittene Herrschaft in der räumlich-zeitlichen Welt unserer Erfahrung, jene lebt unbeanstandet jenseits dieser Welt, im Reich der Ideen.

Wenn aber die Gegenstände der räumlich-zeitlichen Welt ein gesetzmäßiges Ganzes bilden, und zwar so, wie des den Forderungen der mathematisch-naturwissenschaftlichen Forschung entspricht, und wenn trotzdem für die Freiheit als Grundlage aller ethisch-religiösen Bestimmungen ein Platz übrig bleiben soll, so müssen diese Gegenstände etwas anderes sein, als was sie gemeinhin zu bedeuten scheinen. Darum ist die Auffassung, welche KANT von den Gegenständen der räumlich-zeitlichen Welt entwickelt, nicht bloß an und für sich beachtenswert, sondern für das ganze System des kritischen Idealismus von ausschlaggebender Wichtigkeit.

In diesem Sinne soll sich die folgende Untersuchung mit der "Theorie des Gegenstandes" beschäftigen, um von ihr aus schließlich auch einen Zugang zu der vielumstrittenen "Lehre von Ding-ansich" zu suchen.

Dabei soll es sich aber lediglich um das Geschichtlich-Gegebene handeln und nicht um eine Kritik der kantischen Leistung, d. h. um einen Beitrag zum Verständnis des Philosophen.

Bevor ich aber auf Einzelnes eingehe, sei es gestattet, meine Auffassung in einem Gesamtbild niederzulegen, das meinen Standpunkt feststellen und zugleich als vorläufige Orientierung für das Folgende dienen soll. Der Vereinigungspunkt der sogenannten idealistischen Partien der sogenannten realistischen Teile, welche sich an die Lehre vom Ding-ansich anlehnen, liegt meiner Ansicht nach in der Doktrion von der produktiven Einbildungskraft. Deren Stellung ist neuerdings (2) mehr hervorgehoben worden, obwohl sich auch bei den alten Kantianern gelegentlich (3) eine Würdigung derselben findet.

KANT hatte (4) in seiner Kritik der reinen Vernunft "das HUME'sche Problem in seiner möglich größten Erweiterung" behandelt, indem er die Frage aufgeworfen hat: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?

Zu diesem Ende mußten in der gegebenen Erfahrung die apriorischen Elemente aufgesucht und die Grundsätze ihres Gebrauchs und dessen Grenzen dargelegt werden (5). So wurden aus der gegebenen Erfahrung die Bedingungen aller möglichen Erfahrung hergeleitet. Dadurch wurde sowohl die Tatsache der Erfahrung als auch die der vorhandenen Metaphysik begreiflich gemacht. Während aber die Untersuchung zugleich die Rechtmäßigkeit (6) der ersteren beklagte, vernichtete sie alle Ansprüche der letzteren, deutete jedoch zugleich den Weg an, auf dem allein Metaphysik als Wissenschaft - wenn überhaupt - möglich gemacht werden kann.

Die "Kritik" ruht - so wenig auch ihre Deduktionen im Sinne ihres Zeitalters psychologischer Natur sind - auf einer eigenartigen psychologischen Grundlage: Sinnlichkeit und Verstand sind gleichberechtigte Erkenntnisquellen, deren erstere nur rezeptiv, deren andere nur spontan ist. Diese scharfe Trennung ist charakteristisch für KANTs ganze Auffassungsweise und muß bei der Beurteilung seiner Ausführungen vor allem festgehalten werden.

Wir bestimmen die Form der Erfahrung durch die Formen unserer geistigen Eigenart, welche a priori in uns bereit liegen (nicht fertig da sind) und der obigen Unterscheidung gemäß in solche der Anschauung und solche des Denkens zerfallen. Die Untersuchung weist diese apriorischen Elemente in der gegebenen Erfahrung zunächst als ein Ursprüngliches, dann als ein dieselbe Bestimmendes und endlich als die formalen Bedingungen ihrer Möglichkeit nach (7).

So werden Raum und Zeit zum formbestimmenden Wesen unserer Sinnlichkeit, ohne welches uns gar keine Anschauung gegeben werden kann! So wird das reine Selbstbewußtsein (transzendentale Apperzeption) mittels seiner Kategorien die Bedingung alles einheitlichen Zusammenhangs, ohne welchen so etwas wie Erfahrung gar nicht möglich ist! Weil wir selbst durch unsere produktive Einbildungskraft die Erfahrung nach gegebenen Anschauungs- und Denkgesetzen aus dem formlos Gegebenen schaffen, deshalb ist a priori Erkenntnis möglich, aber mit der Einschränkung (8), daß "wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen". In der Anerkennung dieser Schranke liegt aber zugleich die Anerkennung eines aposteriorischen ELements der Erfahrung (Empfindung), welches nicht aus uns stammt.

So führt die Analyse der gegebenen Erfahrung auf ein von uns verschiedenes Etwas, auf dessen Verhältnis zu uns die Erfahrung beruth, so daß dies als dessen Erscheinung aufgefaßt werden darf. Wenn uns also auch zunächst die Erfahrung nur als unsere Vorstellung gegeben ist, so führt doch ein Pfad aus diesem Kreis heraus und leitet uns zu einem Transzendenten, denn in der Empfindung steckt ein Element, das wir nicht bewußtermaßen schaffen und von dem wir keineswegs schließen können, daß wir es unbewußt hervorbringen.

Die Gesetze der gegebenen Erfahrung gelten aber nur für unsere Vorstellungen und lassen sich deshalb nicht auf jenes (das Transzendente) anwenden; deshalb bleibt dasselbe, so bestimmt es auch ansich sein mag, für uns unbestimmbar, und jeder Versuch es zu bestimmen verwickelt uns von Neuem in all jene Streitigkeiten, deren Kampfplatz die alte Metaphysik war.

Der Gegenstand unserer Erkenntnis ist ein Geschöpf unserer produktiven Einbildungskraft, welche ihn den Verstandesgesetzen gemäß aus dem formlosen anschaulich Gegebenen herausarbeitet. Jenes Transzendente, dessen Spur wir in der Empfindung bemerken, das Ding-ansich, kann niemals Gegenstand unserer Erkenntnis werden, weil es jenseits des Kreises unserer Erfahrung steht (9); das Ding-ansich ist denkbar, aber nicht bestimmbar.

Daß aber neben der Welt der Erscheinungen eine unerkennbare Welt-ansich vorhanden ist, beweist uns das Sittengesetz, welches uns unserer Freiheit versichert und uns damit heraushebt aus der gesetzmäßig bestimmten Welt der Erfahrung, in welcher wir der "Kausalität aus Notwendigkeit" durchweg unterworfen sind.

So gibt das Sittengesetz zunächst uns selbst eine transzendente Realität; es bestätigt dieselbe auch mittelbar für jenes andere, das nicht aus uns stammt.

So ist es in einer Hinsicht das aposteriorische Element der Erfahrung (welches uns deren Analyse liefert), und andererseits die unbedingte Anerkennung von Gesetzen, was uns dem absoluten Jllusionismus entzieht, der zuerst unvermeidlich scheint, wenn wir zunächst nur Vorstellungen als gegeben annehmen. Es gibt außer den Vorstellungen, in denen selbst ein apriorischer und ein aposteriorischer Faktor zu unterscheiden ist, auch Gesetze, und zwar nicht bloß solche, welche den Zusammenhang derselben bestimmen, sondern auch solche, welche mit Entschiedenheit über den engen Kreis der Erfahrung hinausweisen. So werden die Ideen, welche die theoretische Vernunft nur duldet, zu Leitsternen unseres Handelns. Die Wissenschaft, welche bestimmen will und erkennen, findet im Heim der Ideen keine Heimat. Ihr ist der fruchtbare, aber enge Boden der Erfahrung übergeben; jenseits derselben liegt der weite Platz für den Glauben.


A. Die Theorie des Gegenstandes

Gegeben ist uns Erfahrung. Ihrem Inhalt nach ist sie die Gesamtheit aller Dinge, welche jemals Gegenstände unserer Erkenntnis werden können, in gesetzmäßiger Verknüpfung, denn sie beruth auf der "synthetischen Einheit der Erscheinungen nach Begriffen". (10) Ihrem Ursprung nach ist die "Produkt des Verstandes aus Materialien der Sinnlichkeit", (11) d. h. die Gegenstände unserer Erkenntnis (die Erscheinungen) sind nicht ein Fremdes, das uns gegenübersteht, sie sind vielmehr von unserem Verstand (12) gebildet aus dem, was ihm unsere Sinnlichkeit darbietet.

Der neue Begriff der Erfahrung, den KANT gefunden hat, spricht sich in den beiden Sätzen deutlich aus.

Dem naiven Realismus, welcher den ansich bekannten Dingen ein ansich bekanntes Ich gegenüberstellt und dessen Vorstellungswelt als ein (mehr oder weniger getreues) Abbild derselben auffaßt, wird entgegnet: Es ist uns zunächst - und vielleicht überhaupt - nichts gegeben als unsere Vorstellungen und Gesetze, denen sie unterliegen. Wir haben es überall mit
    "Erscheinungen zu tun, mit bloßen Vorstellungen, welche gar nicht gegeben sind, wenn ich nicht zu ihrer Kenntnis (d. h. zu ihnen selbst, denn sie sind nichts als empirische Kenntnisse) gelange." (13)
Dem Idealismus aber, welcher alles im Schein aufzulösen bestrebt ist, wird entgegnet: Trotzdem bleiben wir auf festem Boden, denn alle "Erscheinungen stehen in einer durchgängigen Verknüpfung nach notwendigen Gesetzen" (14) und "alle empirischen Gesetze sind nur besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes." (15)

Wir können aber unsere Vorstellungen noch Dinge genannt werden? Tatsächlich unterscheidet man doch die Vorstellung sehr bestimmt von ihrem Gegenstand, während uns nur Vorstellungen, nichts als Vorstellungen gegeben sein sollen. Diesen Skrupeln tritt KANT entgegen mit seiner neuen Theorie des Gegenstandes. Es sind uns auch Gesetze gegeben und in der Gesetzmäßigkeit der Vorstellungen liegt eine Gewährleistung; zudem bleibt die Analyse der Erfahrung bei einem aposteriorischen Element stehen.

§ 1. Ich werfe zunächst, der Terminologie wegen, einen Blick auf die Dissertation vom Jahr 1770. Hier wird von einem doppelten Gebrauch des Verstandes gesprochen, dem realen und dem logischen. In letzter Beziehung bearbeitet der Verstand selbsttätig das Material, welches ihm die Sinnlichkeit darbietet, und macht daraus Erfahrung. Es heißt dort:
    "In diesem Sinnlichen und Erscheinenden heißt das, was dem logischen Gebrauch des Verstandes vorhergeht, die Erscheinung, dagegen die Erkenntnis, welche aus der durch das Denken geschehenen Vergleichung mehrerer Erscheinungen hervorgeht, heißt als reflektiert die Erfahrung. Der Weg von der Erscheinung zur Erfahrung führt daher nur durch die Überlegung in Gemäßheit des logischen Gebrauchs des Verstandes."
Diese Bezeichnungen muß man auch für die Kritik in gewissem Sinn festhalten. Das anschaulich Gegebene wird durch den Verstand nach eigenen Gesetzen geordnet und bestimmt und heißt im strengen Sinn nur Erscheinung, wenn man von jeder, durch die Tätigkeit des Verstandes hervorgebrachten Bestimmung absieht; in übertragener Bedeutung wird dann allerdings "Erscheinung" (weish) nicht bloß für das Rohmaterial, sondern auch für alles, was aus ihm gebildet worden ist, als Bezeichnung verwandt. In ähnlicher Weise wird nun auch das Wort "Gegenstand" [wbgeg] in der Kr. d. r. V. doppeldeutig benutzt, indem es bald als "unbestimmter Gegenstand", d. h. als Material zu Gegenständen mit Erscheinung äquivalent ist, bald als "bestimmter Gegenstand" dieser gegenüber gestellt wird (16). Man muß stets beachten, daß in der Empfindung, welche uns infolge der Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit sofort als ein Anschauliches in der Zeit (eventuell auch im Raum) gegeben wird, nur der Stoff zu Gegenständen zu suchen ist, während diese selbst nach Verstandesgesetzen durch eine Synthese konstruiert werden. Daß außerdem dem Wort "Gegenstand" in der Kr. d. r. V. noch eine dritte Bedeutung zukommt, in welcher es für das Ding-ansich steht, mag hier nur bemerkt werden. Der Ausdruck "Erfahrung" zeigt gleichfalls dieselben Unbestimmtheiten, obwohl er an jeder einzelnen Stelle einen scharf abgegrenzten Sinn hat.

§ 2. Ihrem Ursprung nach ist die Erfahrung ein Produkt des Verstandes aus Materialien der Sinnlichkeit. Es handelt sich darum den Anteil zu bestimmen, den jeder der beiden "Stämme der Erkenntnis" an der Bildung der Erfahrung hat. Jeder liefert Vostellungen, und nach ihrem Ursprung unterscheiden wir dieselben als Anschauungen und Begriffe.
    "Durch bloße Anschauung wird gar nichts gedacht, und, daß diese Affektion der Sinnlichkeit in mit ist, macht gar keine Beziehung von dergleichen Vorstellung auf irgendein Objekt aus." (17)
Wir lernen zunächst, daß diese Beziehung durch den Verstand geliefert wird. Worin besteht sie aber?
    "Wenn wir untersuchen, was denn diese Beziehung auf einen Gegenstand unseren Vorstellungen für eine neue Beschaffenheit gibt, und welches die Dignität ist, die sie dadurch erhalten, so finden wir, daß sie nichts weiter tut, als die Verbindung der Vorstellungen auf eine gewisse Art notwendig zu machen und sie einer Regel zu unterwerfen." (18)
Damit ist bereits einige Klarheit gegeben: Der Verstand muß eine gesetzmäßige Verbindung herstellen, um aus dem Material einen Gegenstand zu machen.
    "Das sinnliche Anschauungsvermögen ist eigentlich nur eine Rezeptivität, auf gewisse Weise mit Vorstellungen affiziert zu werden, deren Verhältnis zueinander eine reine Anschauung des Raumes und der Zeit ist (lauter Formen unserer Sinnlichkeit), und welche, sofern sie in diesem Verhältnis (dem Raum und der Zeit) nach Gesetzen der Einheit der Erfahrung verknüpft und bestimmbar sind, Gegenstände heißen." (19)
Also: Die Vorstellungen heißen Gegenstände, sofern sie nach gewissen Gesetzen verknüpft und bestimmbar sind. Diese Gesetze werden hier als solche der Einheit der Erfahrung eingeführt ... oben aber erwähnte ich, daß alle Erfahrungsgesetze nur als besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes anzusehen sind. Damit ist nun allerdings gesagt, daß der Verstand den Gegenstand als solchen nach seinen Gesetzen schafft und zwar aus den Vorstellungen, welche ihm die Sinnlichkeit liefert.

Verstand und Sinnlichkeit können bei uns nur in Verbindung Gegenstände bestimmen (20). Das Verhältnis, in welchem beide an der Bestimmung mitwirken, wird so festgestellt: "ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden". (21) Die Sinnlichkeit liefert uns eben das Material, aus dem der Verstand seine Gegenstände herausarbeitet. Im kantischen Sinn heißt aber "einen Gegenstand bestimmen" ihn "als solchen schaffen", d. h. den sinnlichen Stoff in eine solche Gesetzmäßigkeit bringen, daß etwas allseitig Bestimmtes, ein Gegenstand, entsteht. So heißt es:
    "Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts; ... durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben" (aber nur als anschaulicher Stoff), durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht: Anschauungen und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntnis aus."
Unsere Anschauungen sind stets sinnlich, d. h. sie setzen eine Affektion voraus, "dagegen ist das Vermögen den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand". (22) Überhaupt ist das Denken die Handlung, gegebene Anschauungen auf einen Gegenstand zu beziehen. (23)

§ 3. Nachdem ich so die fragliche Theorie in groben Zügen angedeutet habe, gehe ich dazu über, den Gegenstand selbst nach KANT entstehen zu lassen.

Gegeben sind uns Empfindungen als Affektion unserer Sinnlichkeit; "die Empfindungen ordnen sich und können in gewisse Form gestellt werden in einem Etwas, das selbst nicht wieder Empfindung sein kann" (24), und treten so als empirische Anschauung auf. Einmal werden nämlich
    "gewisse Empfindungen auf etwas außerhalb von mir (d. h. auf etwas in einem anderen Ort des Raumes, als darinnen ich mich befinde) (25) bezogen und als außer- und nebeneinander, folglich nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorgestellt"; (26)
andererseits aber werden alle Empfindungen so geordnet, daß sie entweder "zu ein und derselben Zeit (zugleich) oder in verschiedenen Zeiten (nacheinander)" (27), jedenfalls aber in zeitlich bestimmter Weise vorgestellt werden. Raum und Zeit sind - dies hat die transzendentale Ästhetik bewiesen - die reinen Formen unserer Sinnlichkeit, welchen alle empirischen Anschauungen zugrunde liegen, sie bestimmen, ja dieselben überhaupt erst möglich machen. Durch sie erscheinen die Empfindungen als ein Mannigfaltiges, ausgedehnt in Raum und Zeit. Wenn nun auch der Sinnlichkeit, insofern sie das Mannigfaltige a priori in ihren Formen begreift, eine gewisse Synopsis [vergleichende Zusammenfassung - wp] zukommt, so fehlt doch eine Handlung, welche "die Elemente zu Erkenntnissen sammelt und zu einem gewissen Inhalt vereinigt." (28)

Hier tritt nun eine spontane Funktion unseres Gemüts ein, welche im Mannigfaltigen der Anschauung gewissermaßen einzelne Gruppen abgrenzt und diese in sich und mit anderen Gruppen verbindet. Diese Funktion heißt Einbildungskraft; sie ist die Kraft etwas in einem Bild zu vereinigen. Durch sie kommt erst Bestimmung in das Unbestimmte, sie schafft aus dem Rohmaterial die Gegenstände, sie arbeitet dabei unter den Gesetzen des Verstandes. Das ist nun nicht etwa so zu denken, daß die Sinnlichkeit Zeit und Raum erst ganz und gar mit Empfindungen besetzt (oder diese, wie HERBART es verstehen will, in jene beiden "unendlichen Gefäße" hineinschüttet) und daß dann die Einbildungskraft herantritt, um das in jenen Formen Ausgedehnte zu ordnen. Nein! Ohne diese spontane Funktion würde selbst die reine Anschauung von Raum und Zeit nicht zustande kommen. (29) Es soll vielmehr damit ausgedrückt sein, daß neben der rezeptiven Wirksamkeit unserer Erkenntnis stets die spontane tätig sein muß, wenn überhaupt "so etwas wie bestimmte Anschauung" möglich sein soll. Die Sinnlichkeit ist gar nicht spontan und vermag deshalb nur Mannigfaltiges, aber nicht Zusammengesetztes zu liefern.
    "Daß die Einbildungskraft ein notwendiges Ingrediens [Zutat - wp] der Wahrnehmung selbst ist, daran hat wohl noch kein Psychologe gedacht. Das kommt daher, weil man glaubte, die Sinne liefern uns nicht nur die Eindrücke, sondern setzen solche auch gar zusammen und bringen Bilder der Dinge zuwege, wozu ohne Zweifel außer der Empfänglichkeit der Eindrücke noch etwas mehr, nämlich eine Funktion der Synthesis derselben erfordert wird." (30)
Diese Einbildungskraft tritt nun an die Vorstellungen heran, welche (zum Teil auf den Raum und) durchweg auf die Zeit bezogen sind und deshalb "alle in dieser geordnet, verknüpft und in Verhältnisse gebracht werden müssen." (31)

Die Einbildungskraft macht aus dem Mannigfaltigen einheitliche Bilder, verknüpft dieselben untereinander und bringt sie in Beziehung zum Selbstbewußtsein.

Man kann daher an ihrer Tätigkeit drei Seiten unterscheiden (32). Einmal muß sie gewisse Elemente des sinnlich Gegebenen in einer Vorstellung vereinigen (Synthesis der Apperzeption) können und dabei imstande sein, Element auf Element zurückzurufen (Synthesis der Reproduktion). Was für einzelne Elemente gilt, gilt auch für bereits zusammengesetzte Komplexe von solchen Elementen. Dabei muß aber die Einbildungskraft die zurückgerufenen - einen oder zusammengesetzten - Vorstellungen in den verschiedensten Zeiten als identisch ansehen, d. h. dieselben wiedererkennen und dies setzt voraus, daß ihr gewissermaßen ein fester Maßstab für die Vergleichung gegeben ist. Dieser wird ihr in der Tat, wie wir noch sehen werden, im reinen Begriff gegeben. Sie muß denselben zwecks Anwendung schematisieren. So wird ihre Tätigkeit zu einer Synthesis der Rekognition im Begriff. Wenn nun die Einbildungskraft nach wandelbaren Regeln die Elemente zur Bildung von bestimmten Anschauungen aus dem unbestimmt Anschaulichen herausnähme und die so gebildeten Anschauungen, welche nun schon Bestimmungen in sich tragen, wiederum nach wandelbaren Gesetzen, welche auf diese Bestimmungen keine Rücksicht nehmen, verknüpfte, so würde aus mehrfachen Gründen ein "regelloser Haufen" von in sich bestimmten Anschauungen, aber keine "Erkenntnis entstehen. (33)

Nun sind wir uns aber
    "a priori der durchgängigen Identität unseres Selbst in Anbetracht aller Vorstellungen, die zu unserer Erkenntnis jemals gehören können, bewußt, als einer notwendigen Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen (weil diese in mir doch nur dadurch etwas vorstellen, daß sie mit allem Andern zu einem Bewußtsein gehören, folglich darin wenigstens müssen verknüpft werden können). Dieses Prinzip steht a priori fst und kann das transzendentale Prinzip der Einheit alles Mannigfaltigen unserer Vorstellungen (folglich auch in der Anschauung) heißen. Nun ist die Einheit des Mannigfaltigen in einem Subjekt synthetisch; also gibt die reine Apperzeption ein Prinzipium der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in aller möglichen Anschauung an die Hand." (34)
Dieser Einheit muß die einheitliche Verknüpfung der Vorstellungen entsprechen, welche durch die Einbildungskraft erzeugt wird.
    "Denn diese Einheit des Bewußtseins wäre unmöglich, wenn nicht das Gemüt in der Erkenntnis des Mannigfaltigen sich der Identität der Funktion bewußt werden könnte, wodurch sie dasselbe synthetisch in einer Einheit verbindet." (35)
In der Beziehung dieser a priori gegebenen Einheit des Selbstbewußtseins zur einheitlichen apriorischen Tätigkeit der verknüpfenden Einbildungskraft liegt das Wesen des Verstandes (36). Das stehende und bleibende Ich (die reine Apperzeption) ist es, welche zur reinen Einbildungskraft hinzukommen muß um ihre Funktion intellektuell zu machen (37), denn ansich ist sie blind, und ihr Schaffen kommt uns nicht zu Bewußtsein (38).
    "Wir haben also eine reine Einbildungskraft, als ein Grundvermögen der menschlichen Seele, das aller Erkenntnis a priori zugrunde liegt. Mittels deren bringen wir das Mannigfaltige der Anschauung einerseits (in sich und) (39) mit der Bedingung der notwendigen Einheit der reinen Apperzeption andererseits in Verbindung." (40)
So wird die Tätigkeit der transzendentalen Einbildungskraft geregelt durch die Verbindungscharaktere des Mannigfaltigen, welche in der reinen Apperzeption begründet sind. Sie bestehen lediglich in dem Bewußtsein einer bestimmten Einheit der Synthesis (41) und begreifen ein Mannigfaltiges in sich, indem sie es zugleich zum Selbstbewußtsein in Beziehung setzen. Als solche Begriffe des reinen Verstandes, dessen Wesen ja lediglich im Urteilen besteht, sind aber schon früher die Kategorien nachgewiesen worden (42), folglich sind sie es, die als "Arten der Einheit der transzendentalen Apperzeption" (43) - denn "die Einheit der Handlung der Synthesis ist zugleich die Einheit des Bewußtseins" - die Tätigkeit der reinen Einbildungskraft bestimmen.

Das reine Selbstbewußtsein ist a priori als Einheit gegeben und als solche die transzendentale Bedingung aller Einheiten, welche das Mannigfaltige a priori verknüpfen, d. h. der reinen Verstandesbegriffe (oder Kategorien). Man darf es deshalb ist echt kantischem Geist (44) die Form der Kategorien nennen, zumal diese ja später als Arten seiner Einheit bezeichnet werden. So bestehen die Begriffe lediglich im Bewußtsein einer einheitlichen Verknüpfung und "dieses Bewußtsein ist es, was das Mannigfaltigste, nach und nach Angeschaute, und dann auch Reproduzierte, in eine Vorstellung vereinigt". (45) Eine jede solche Verknüpfung im Bewußtsein ist aber ein Urteil, und deshalb können die reinen Begriffe aus einer Urteilstafel entnommen werden, bei deren Aufstellung man von jedem Inhalt abgesehen und nur auf die Arten aller möglichen Verknüpfung, auf die Verbindungscharaktere des Mannigfaltigen Gewicht gelegt hat. Die formale Logik stand bei KANT im Ansehen einer Wissenschaft, ebenso wie die reine Mathematik, und deshalb glaubte er auf ihre Urteilstafe seine Kategorien gründen zu dürfen, ebenwo wie er sich anderwärts mit gutem Recht auf die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit geometrischer Sätze stützen zu dürfen glaubte. Hier ist ein Punkt, wo KANT in erster Linie angreifbar ist; deshalb spricht LANGE (46) mit einem gewissen Recht von der "vermeintlich unanfechtbaren Klassifikation des Gegebenen in Logik und Psychologie". Darum behauptet COHEN (47) nicht die Apriorität der einzelnen Kategorienm, sondern der Kategorie als solcher; darum darf TRENDELENBURG - abgesehen von dem gewählten Ausdruck (48) - mit gutem Grund fragen, wie sich die Einheit in ihre Äste verzweigt. Die Untersuchung, für welche sich hier ein Feld eröffnet, ist keine historische an der kantischen Kr. d. r. V., sondern eine erkenntnistheoretische im Anschluß an dieselbe. Wie man auch die transzendentale Deduktion auffassen mag, ihr Wert wird nicht davon berührt, ob wir die eine oder andere Kategorie aufgeben müssen oder eine neue hinzubekommen, sie steht und fällt auch nicht mit den psychologischen Ansichten KANTs, die hie und da als Einkleidung erscheinen (49).

Der oberste Grundsatz aller "synthetischen Urteile", d. h. der gesamten Erfahrung ist, daß alles Mannigfaltige unter der einheitlichen Bedingung der transzendentalen Apperzeption steht (50). Der Einheit des Bewußtseins muß aber die Einheit der Verknüpfung entsprechen und, insofern wir Kategorien nennen, was "eine synthetische Einheit in der Verknüpfung des Mannigfaltigen a priori enthältt", sind diese - ob nun Kausalität, Realität oder auch, wie z. B. BONA-MEYER will, Zweckbestimmung zu ihnen gehört oder nicht - transzendentale Bedingungen der Erfahrung.

§ 4.
    "Beide äußersten Enden, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, müssen mittels dieser transzendentalen Funktion der Einbildungskraft notwendig zusammenhängen; weil jene sonst zwar Erscheinungen, aber keine Gegenstände einer empirischen Erkenntnis, folglich keine Erfahrung geben würden." (51)
Durch die transzendentale Einbildungskraft wird in der Tat
    "das ursprüngliche und notwendige Bewußtsein der Identität seiner Selbst zugleich ein Bewußtsein einer ebenso notwendigen Einheit der Synthesis aller Erscheinungen nach Begriffen, d. h. nach Regeln, die sie nicht allein notwendig reproduzibel machen, sondern dadurch auch ihrer Anschauung einen Gegenstand bestimmen, d. h. den Begriff von etwas, darin sie notwendig zusammenhängen." (52)
Gäbe es keine Einheit der Synthesis nach Begriffen, so würde ein
    "Gewühle von Erscheinungen unsere Seele anfüllen, ohne daß doch daraus jemals Erfahrung werden könnte. Alsdann fiele aber auch alle Beziehung der Erkenntnis auf Gegenstände weg, weil ihr die Verknüpfung nach allgemeinen und notwendigen Gesetzen mangelte, folglich würde sie zwar gedankenlose Anschauung, aber niemals Erkenntnis, also für uns soviel als gar nichts sein." (53)
Die notwendige und allgemeine Verknüpfung der Vorstellungselemente untereinander und ihre Beziehung auf das "Ich" macht die Vorstellung zum Gegenstand; gedankenlose Anschauung wäre auch ohne jene Beziehungen möglich. Mit anderen Worten: Wenn wir uns die Vorstellungselemente, welche zu einem Gegenstand vereinigt worden sind, ohne jede Verknüpfung gegeben denken, so haben wir keinen Gegenstand, nicht einmal eine bestimmte Anschauung, wohl aber Material zu all dem vor uns. Wenn wir uns aber dieselben Elemente in irgendeiner willkürlichen Verbindung denken, so haben wir eine bestimmte Anschauung und zwar eine Vorstellung vor uns, welche in demselben Augenblick zu einem Gegenstand wird, wo wir uns bewußt werden, daß die willkürlich gedachte Verbindung eine allgemeine und notwendige ist, die als solche in einheitlicher Beziehung zum Selbstbewußtsein steht.

Die allgemeine und notwendige Beziehung, welche ein gemeinsames Band um verschiedene Elementarerscheinungen und deren Komplexe schlingt, fand Jahrhunderte lang ihren Ausdruck im Ding mit seinen Eigenschaften, bei KANT findet sie ihren Ausdruck in der gesetzmäßigen Verknüpfung und ihrer Beziehung zum Selbstbewußtsein. Das ist der fundamentale Unterschied. Hier liegt das wesentlich Neue bei KANT.

§ 5. Die Einbildungskraft schafft aus dem anschaulich gegebenen Mannigfaltigen einheitliche Bilder, und zwar konstruiert sie jedes einzelne nach einem bestimmten Schema, welches nichts anderes ist als die Versinnlichung einer bestimmten Kategorie. Auf diesem Punkt muß ich noch zurückkommen, hier sei nur ein Vergleich gestattet: Wie dem Künstler eine Idee zum bestimmten Ideal wird, das er in dem seiner Kunst eigenen Stoff wiedergibt, so wird der Einbildungskraft ein reiner Begriff zum bestimmten Schema und nach diesem konstruiert sie die sinnlichen Bilder.

Was nunr ihre verschiedenen Bilder zu verschiedenen Gegenständen macht, ist überall dasselbe (54), es ist der Gedanke, daß was in ihnen vereinigt ist, nach allgemeinen und notwendigen Gesetzen in ihnen vereinigt ist, und daß diese Gesetze selbst in einheitlicher Beziehung zu unserem Selbstbewußtsein stehen. Diese Beziehung wird treffend durch den Begriff vom Gegenstand überhaupt bezeichnet, und man kann infolgedessen sagen, daß dieser Begriff zu jedem, in sich bestimmten anschaulichen Bild hinzukommen muß, um dasselbe in einen Gegenstand zu verwandeln. Dieser Begriff ist natürlich in jedem einzelnen Fall seiner Anwendung derselbe und kann gar nicht dazu dienen, empirische Gegenstände voneinander zu unterscheiden, weil ja ihre Verschiedenheit nicht durch ihn, sondern durch die verschiedenen Bilder gegeben wird, welche er "objektiviert" hat. Dieser Gegenstand überhaupt ist nun in KANTs Sprache als ein transzendentaler zu bezeichnen, insofern sein Begriff es erst möglich macht, daß in der Erfahrung so etwas wie ein bestimmter Gegenstand (im Gegensatz zu einem bestimmten Bild) vorhanden ist. Ein empirischer Gegenstand kann jederzeit angeschaut werden, weil er durch die Vereinigung eines (aus dem Mannigfaltigen der Anschauung nach reinen Begriffen produzierten) Bildes der Einbildungskraft und dem Begriff des transzendentalen Gegenstandes erwachsen ist. Dieser selbst kann natürlich nicht angeschaut werden, weil er nichts ist als der Ausdruck für eine apriorische Beziehung des Mannigfaltigen zu unserem Selbstbewußtsein. Wollte man ihn abgesehen von dieser Beziehung als ein für sich Gegebenes betrachten, so wäre zu bemerken, daß wir es überhaupt nur mit dem Mannigfaltigen unserer Vorstellung und ihren Gesetzen zu tun haben und daß der transzendentale Gegenstand deshalb, "weil es etwas von all unseren Vorstellungen Unterschiedenes sein soll, für uns nichts ist." Die Einheit, welche der Gegenstand notwendig macht (d. h. der empirisch gegebene für sich zu fordern scheint) ist nichts anderes, als die formale Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen. Alsdann sagen wir, wir erkennen den Gegenstand, wenn wir im Mannigfaltigen der Anschauung eine synthetische Einheit bewirkt haben (55). So rechtfertigt sich, was ich oben gesagt habe: einen Gegenstand erkennen heißt bei KANT ihn als solchen schaffen. Um einen in der Erfahrung gegebenen Gegenstand gewissermaßen zu analysieren, haben wir zunächst den Begriff vom transzendentalen Gegenstand sozusagen davon abzuziehen. Wir behalten dann ein, nach reinen Verstandesgesetzen durch die Einbildungskraft aus dem Mannigfaltigen gemachtes Bild übrig. Wenn wir von diesem Bild alles fortnehmen, was durch die spontane Funktion unseres Gemüts bewirkt ist, so behalten wir ein Mannigfaltiges in der Anschauung übrig ohne jede einheitliche Bestimmung. Wenn wir von diesem noch das Apriorische unserer Sinnlichkeit abziehen, so behalten wir Empfindung übrig. Woher die Empfindung kommt, ist noch gar nicht gefragt worden; jedenfalls sieht man zunächst gar keine Beziehung zwischen dieser Frage und dem Begriff vom transzendenten Gegenstand. Dieser ist zwar die Bedingung der Möglichkeit empirischer Gegenstände, aber keine transzendentale Ursache der einzelnen Empfindung. Das ist zunächst in aller Schärfe festzuhalten. Ob die angedeutete Analyse einer in zeitliche Momente zerlegbaren Synthese entspricht oder ob der transzendentale Gegenstand doch etwa mittelbar bei KANT die Rolle einer transzendenten Ursache spielt, das sind ganz andere Fragen. Ich konstatiere hier nur die Tatsachen, welche vorliegen, und enthalte mich zunächst aller weitergehenden Schlüsse.

§ 6. Wie die Gegenstände der Erfahrung in ihrer gesetzmäßigen Beziehung untereinander entstanden gedacht werden müssen - nicht, wie sie auf psychologischem wirklich entstehen - ist nun hinlänglich betrachtet worden. Tatsächlich tritt uns aber die Erfahrung als ein Gegebenes entgegen, dessen Erkenntnis wir uns unter unsäglichen Mühen schrittweise erkämpfen müssen. Wenn wir dabei in der Tat die Gesetze unseres Geistes herauslesen, ja wenn wir dabei eigentlich die ganze Erfahrung nach unseren Verstandesgesetzen aus einem irgendwie Gegebenen machen, so setzt dies voraus, daß wir dabei nicht bewußt tätig sind. Darüber ist sich auch KANT sehr klar gewesen:
    "Die Synthesis überhaupt (d. h. daß überhaupt eine solche zustande kommt) ist die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würde, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind." (56)
Ich habe schon angedeutet, welche Rolle dabei das Schema spielt als eine Versinnlichung des Begriffs. In Bezug darauf sagt unser Philosoph:
    "Dieser Schematismus unseres Verstandes, in Anbetracht der Erscheinungen und ihrer bloßen Form, ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen werden." (57)
Wenn es uns aber nicht bewußt wird, ja nicht bewußt werden kann, wie die Affektion unserer Sinnlichkeit, welche wir Empfindung nennen und die uns wegen der Beschaffenheit unseres Gemüts stets als ein Zeitliches (das außerdem auch ein Räumliches sein kann) entgegentritt, und wie ferner die Einbildungskraft den Verstandesgesetzen gemäß das anschaulich Gegebene zu Gegenständen verarbeitet, wer bürgt uns dafür, daß die Deduktion das Richtige getroffen hat? Wenn wir der fertigen Erfahrung entgegentreten, um derselben ihre Beziehungen und Gesetze abzulauschen, so kommen wir auf dem Weg der Empirie höchstens zu einer sehr großen Wahrscheinlichkeit. Wir dürfen nie von Allgemeingültigem und Notwendigem sprechen und können nur sagen, daß wir ein gewisses "Zusammen" in einer gewissen Anzahl von Einzelfällen stets beobachtet haben. Damit ist aber der Wissenschaft nicht gedient, und wir stellen auch de facto Gesetze auf, welche Anspruch erheben auf Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit. Was gibt uns aber diese Berechtigung? Diese liegt - und das ist der springende Punkt der kantischen Kritik - in dem Umstand, daß wir in einem empirischen Gesetz, das sich in einzelnen Fällen bestätigt hat, ein allgemeines Gesetz unseres Verstandes wiedererkennen, das a priori gegeben war und das wir selbst in die Erfahrung hineinlegten, als wir dieselbe (d. h. aber nich auch den Stoff derselben) als solche unbewußt geschaffen haben.

Wir finden mit anderen Worten in der Erfahrung auch allgemeingültige und notwendige Erkenntnisse, die also a priori gegeben sein müssen. Diese Tatsache ist nach KANT nur zu erklären, wenn wir annehmen, daß wir selbst das Apriorische in die Erfahrung gelegt haben, und daraus erwächst eben die Aufgabe der Kritik, dieses vom a posteriori Gegebenen zu unterscheiden. Indem wir nun in der Tat das Apriorische, welches durch das Merkmal der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit kenntlich ist, in der Erfahrung aufsuchen, erscheint uns dasselbe als ein Ursprüngliches in der fertigen Erfahrung, es vertieft sich uns zu einem die Erfahrung Bestimmenden, ja es geht schließlich in die einzig mögliche Bedingung der Erfahrung über (58). So wird die Erfahrung, wenn überhaupt Wisenschaft möglich sein soll (59), gegründet auf die Gesetze des Subjekt, dem sie gegeben ist, und so fordert die Abwendung der Skepsis, die ja höchstens zur Wahrscheinlichkeit kommt, einen Idealismus, der weit entfernt, allein in Schein zu verwandeln die Gesetzmäßigkeit der gegebenen Dinge in vollem Maße anerkennt, ja die einzige Bedingung ist, unter der wir dieselbe anerkennen können. Dieser Idealismus setzt sich aber selbst eine Schranke. Die Analyse der gegebenen Erfahrung bleibt bei einem Element stehen, das trotz aller Abhängigkeit von unserer Beschaffenheit als ein aposteriorisches aufzufassen ist, es ist die Empfindung, die bisher als ein schlechthin Gegebenes angesehen und als Affektion unseres Gemüts eingeführt wurde.

LITERATUR: Alexander Wernicke, Die Theorie des Gegenstandes und die Lehre vom Ding ansich bei Immanuel Kant, Braunschweig 1904
    Anmerkungen
    1) Man kann diesen Streit, der für Kant zuerst am Gegensatz der Forderungen der rationalen Erkenntnis und des pietistischen Glaubens zum Bewußtsein gekommen war, als das treibende Moment seiner ganzen philosophischen Entwicklung ansehen. Vgl. das zweite Kapitel in "Die Religion des Gewissens als Zukunftsideal" und Kant-Thesen in Ulricis "Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik", Bd. 79, Halle/Saale 1881.
    2) Jakob Froschammer, Über die Bedeutung der Einbildungskraft in der Philosophie Kants und Spinozas, München 1879.
    3) z. B. bei Maaß
    4) Prolegomena, 8.
    5) Prolemomena, Seite 130
    6) Kuno Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, Bd. III, Seite 301.
    7) Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, Seite VII.
    8) Vorrede zur zweiten Auflage der Kr. d. r. V., Seite 29.
    9) Vgl. meine Kant-Thesen in Ulricis Zeitschrift, a. a. O.
    10) Kr. d. r. V. Seite 181 und 668.
    11) Prolegomena, § 34; vgl. auch Einleitung zur Kr. d. r. V. (A)
    12) Er ist schöpferisch als produktive Einbildungskraft (vgl. Kr. d. r. V. Deduktion).
    13) Kr. d. r. V., Seite 413
    14) Kr. d. r. V., Seite 670
    15) Kr. d. r. V., Seite 680.
    16) Damit erledigt sich der Einwand von Harms in "Die Philosophie seit Kant", Seite 187. Vgl. Cohen, Kants Begründung der Ethik, Seite 22.
    17) Kr. d. r. V., Seite 263
    18) Kr. d. r. V., Seite 214
    19) Kr. d. r. V., Seite 409
    20) Kr. d. r. V., Seite 266
    21) Kr. d. r. V., Seite 100.
    22) Kr. d. r. V., Seite 99 und 100.
    23) Kr. d. r. V., Seite 257
    24) Kr. d. r. V., Seite 72
    25) nicht bloß als ein von mir Verschiedenes angesehen.
    26) Kr. d. r. V., Seite 74
    27) Kr. d. r. V., Seite 81f
    28) Kr. d. r. V., Seite 119
    29) Kr. d. r. V., Seite 663
    30) Kr. d. r. V., Seite 675, Anm.
    31) Kr. d. r. V., Seite 661. Die Einbildungskraft ordnet und verknüpft die Elemente.
    32) Vgl. die transzendentale Deduktion in der Kr. d. r. V.
    33) Kr. d. r. V., Seite 675
    34) Kr. d. r. V., Seite 672
    35) Kr. d. r. V., Seite 667
    36) Kr. d. r. V., Seite 674
    37) Kr. d. r. V., Seite 677
    38) Kr. d. r. V., Seite 119
    39) Konjektur
    40) Kr. d. r. V., Seite 678
    41) Kr. d. r. V., Seite 664
    42) Kr. d. r. V., Seite 112 usw.
    43) Kant selbst nennt sie später auch Arten der synthetischen Einheit der Apperzeption.
    44) vgl. Cohen, Theorie der Erfahrung, Seite 144f und 183.
    45) Kr. d. r. V., Seite 664
    46) F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, Bd. II, Seite 124.
    47) Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, Seite 101. vgl. Cohen, Kants Begründung der Ethik, Seite 57.
    48) Cohen, a. a. O., Seite 183.
    49) vgl. Stadler, Grundsätze der reinen Erkenntnistheorie in der kantischen Philosophie, Seite 47f.
    50) vgl. Stadler, a. a. O., Seite 139.
    51) Kr. d. r. V., Seite 678
    52) Kr. d. r. V., Seite 667
    53) Kr. d. r. V., Seite 669.
    54) Kr. d. r. V., Seite 663f
    55) Kr. d. r. V., Seite 665
    56) Kr. d. r. V., Seite 119
    57) Kr. d. r. V., Seite 171
    58) Das ist jenes von Cohen so scharf bestimmte dreifache Apriori Kants.
    59) vgl. die Fragestellung der Prolegomena.