p-4 von BechterewGeorg AdlerHans Schmidkunz    
 
THEODOR LIPPS
Suggestion und Hypnose
- eine psychologische Untersuchung -

"Was heißt es, wenn man sagt, eine Vorstellung  repräsentiert  ein Objekt der Wahrnehmung? Wie kann eine Vorstellung eine Wahrnehmung repräsentieren? In diesen Fragen liegt ein Problem, das man nicht mit einem bloßen Wort wie  Repräsentieren  oder auch  symbolische Funktion  aus der Welt schafft. Dasselbe läßt sich zusammenfassen in der Frage: Wie kann eine Vorstellung mit der ihr  inhaltlich gleichen  Empfindung  identisch  erscheinen?"

"Die  Tätigkeit  des Aufmerkens ist kein besonderer psychischer Tatbestand. Sie ist die natürliche Wirksamkeit der Beziehungen, in die Vorstellungen verflochten sind. Das Problem der Aufmerksamkeit ist entweder gar kein psychologisches Problem, oder es ist  das  Problem der Psychologie."


Ich versuche im Folgenden eine Darlegung der psychologischen Bedingungen der Suggestion oder eine Darlegung der Bedingungen der Suggestion, soweit sie psychologisch faßbar sind. Man könnte fordern, daß diese psychologischen Bedingungen zugleich physiologisch interpretiert würden. Eine solche physiologische Interpretation überlasse ich demjenigen, der meint sie geben zu können. Ich beschränke mich völlig aufs Psychologische. Auch die Hypnose kommt für mich nur in Betracht, soweit sie psychisch bedingt und psychisch wirksam erscheint.


Vorläufiger Begriff der Suggestion

Der Begriff der Suggestion kann enger und weiter gefaßt werden. Suggestion ist psychische Eingebung. Es wird mir etwas suggeriert oder eingegeben, d. h. zunächst: es wird in mir ein psychischer Inhalt oder Zustand erzeugt. Angenommen wir bleiben bei diesem allgemeinsten Sinn des Wortes "Suggestion", so ist es "Suggestion", wenn ein Tonreiz in mir eine Tonempfindung wachruft, oder wenn ich die Worte eines Menschen verstehe. Suggestion ist dann, kurz gesagt, die Erzeugung jeder Wahrnehmung oder Vorstellung durch äußeren Anlaß. Und nehme ich die "Autosuggestion" oder Selbsteingebung gleich allgemein, d. h. als den Akt, durch welchen ich in mir selbst irgendeinen psychischen Inhalt oder Vorgang erzeuge, so ist auch all mein Phantasieren, Denken, Überlegen, Wollen, kurz all mein freies geistiges Tun Suggestion. Denn immer wird hier durch mein Tun, durch irgendwelche Vorstellungen oder Gedanken, die ich vollziehe, ein weiterer psychischer Zustand in mir wachgerufen.

Ein solcher Begriff der Suggestion nun hätte keinen wissenschaftlichen Wert. Wir besäßen ein neues Wort für eine Sache, die keiner neuen Bezeichnung bedarf. Von Zeit zu Zeit freilich wird es üblich, Altes mit neuen Namen zu benennen. Die neue Benennung wird Mode. Und manche meinen dann auch wohl, mit der neuen Benennung eine neue Einsicht gewonnen zu haben. In einem solchen Fall ist die neue Benennung nicht nur wertlos, sondern schädlich. In der Tat ist das Wort  Suggestion  bei einigen zu einem solchen schädlichen Modewort geworden.

Für uns nun soll das Wort "Suggestion" nicht diese Bedeutung haben. Es soll bestimmte und eigenartige psychische Vorgänge zusammenfassend abgrenzen. Nur wenn der Begriff der Suggestion einen eigenen Geltungsbereich hat, hat er ein wissenschaftliches Recht.

Der heute Begriff der  Suggestion  ist medizinischen Ursprungs. Heilwirkungen geschehen durch Suggestion. Das heißt sie geschehen durch die Weckung von Vorstellungen. Das sind aber dann eben Vorstellungen, die nicht bloß Vorstellungen bleiben, sondern zu einem darüber hinausgehenden psychischen Tatbestand führen. Suggestion ist also die Weckung von Vorstellungen, sofern damit eine über das bloße Dasein der Vorstellungen hinausgehende psychische Wirkung verbunden ist. Nicht die Weckung der Vorstellungen, sondern diese weitergehende psychische Wirkung ist das Charakteristische der Suggestion. Diese weitere psychische Wirkung ist das eigentlich Suggerierte.

Welcher Art sind nun diese weiteren Wirkungen? Welcher über das Dasein einer Vorstellung hinausgehende psychische Tatbestand kann durch eine Weckung dieser Vorstellung suggeriert werden? Man suggeriert etwa durch Schmerz oder Schmerzlosigkeit oder man suggeriert dem, der sich einbildet der Bewegung seiner Glieder beraubt zu sein, daß er die Glieder gebrauchen kann; man suggeriert Erinnerungstäuschungen oder man suggeriert Handlungen oder Unterlassungen. Das sind alles über das Dasein einer bloßen Vorstellung hinausgehende psychische Tatbestände.

Auch damit hat doch der Begriff der Suggestion noch keinen selbständigen Inhalt gewonnen. Man sagt mir, ich solle eine Handlung vollbringen; und ich vollbringe sie. Nicht einfach darum, weil sie mir befohlen ist, sondern weil ich Motive habe, dem Befehl zu gehorchen. Die Motive können verschiedener Art sein: Furcht vor Nachteilen, wenn ich die Befolgung des Befehls unterlasse; Rücksicht auf die befehlende Person; Befriedigung an der Handlung selbst; die Einsicht, daß die Folgen der Handlung für mich wertvoll sein werden. All das kann ich in einen Ausdruck zusammenfassen: Ich habe an der Vollbringung der befohlenen Handlung ein eigenes Interesse.

Eine solche Handlung ist mir nicht suggeriert oder eingegeben, sondern eben natürlicher Ausfluß meines Interesses. Im Suggeriert- oder Eingegebensein aber liegt, daß ich der Eingebung passiv unterliege. Freilich bin dann  ich  auch der Handelnde; ich bin aktiv. Aber ich bin es auch wiederum nicht. Das Eingegebene wirkt in mir; ich erlebe oder erleide diese Wirkung.

Stellen wir daneben etwa die Suggestion von Halluzinationen. Man sagt mir, daß ich eine Empfindung habe; weckt also die der Empfindung entsprechende Erinnerungsvorstellung. Und ich habe die Empfindung wirklich. Empfindungen nun pflegen zu entstehen aufgrund eines entsprechenden sinnlichen Reizes. Hier fehlt dieser sinnliche Reiz. Die in mir geweckte Vorstellung geht, ohne daß es des sinnlichen Reizes bedürfte, also von sich aus, in die Empfindung über. Man nennt solche Empfindungen Scheinempfindungen oder Halluzinationen. Psychologisch aber sind sie wirkliche Empfindungen, d. h. den durch die sinnlichen Reize erzeugten Empfindungen gleichartig.

Beide Fälle können wir unter einen einzigen Ausdruck fassen. Eine Empfindung entsteht  normalerweise  durch den sinnlichen Reiz. Eine Handlung vollbringe ich  normalerweise,  weil ich ein Interesse daran habe. Die durch Suggestion hervorgerufene Empfindung oder Handlung ist also eine unter abnormen Bedingungen erzeugte. Daraus ergibt sich eine vorläufig allgemeine Bestimmung der Suggestion: sie ist die Hervorrufung einer psychischen Wirkung, die sich normalerweise nicht aus der Weckung einer Vorstellung ergibt, durch Weckung dieser Vorstellung.


Allgemeines über Vorstellung und Halluzination

Was heißt das aber? Worin besteht die Abnormität? Wie ist das Zustandekommen des psychischen Tatbestandes, den wir suggeriert nennen, möglich? Wie wird die Suggestion verständlich ohne Zuhilfenahme eines mystischen Agens, von dem die Wissenschaft nichts weiß? Wie führen wir hier Neues auf Bekanntes zurück?

Wir wollen uns bei der Beantwortung dieser Fragen zunächst speziell an  einen  der möglichen Fälle halten. Wir wählen die Suggestion von Halluzinationen oder die "Empfindungssuggestion". Ist diese nach uns bekannten psychologischen Gesetzen verständlich? Ist es, allgemein gesagt, verständlich, daß eine Vorstellung ohne weiteres sich in die ihr entsprechende Empfindung verwandelt?

Diese Frage muß mit Ja beantwortet werden.

Wie man sich bereits überzeugt hat, unterscheiden wir hier Empfindung und Vorstellung streng voneinander. Eine Empfindung ist der von mir jetzt gehörte Ton, die von mir jetzt gesehene Farbe. Vorstellungen dagegen sind Erinnerungs- oder Phantasievorstellungen. Von den Empfindungen unterscheiden sich diese Vorstellungen in der jedermann bekannten Weise. Wir brauchen, um uns diesen Unterschied zu vergegenwärtigen, nur neben einem gehörten Ton einen anderen vorzustellen oder mit einer Farbe das Erinnerungsbild einer anderen Farbe zu vergleichen. Wir finden dann, die Empfindung hat eine eigene Qualität oder Beschaffenheit, die wir als größere sinnliche Frische oder Lebhaftigkeit oder Anschaulichkeit bezeichnen können. So eine Frische, Lebhaftigkeit, Anschaulichkeit besitzt die Vorstellung in einem minderen Grad. Sie ist also etwas qualitativ anderes.

Die Frage lautet nun: Ist es in der  Qualität  des  Vorganges,  durch welchen Vorstellungen erzeugt werden, begründet, daß Vorstellungen diese eigentümliche Qualität, d. h. dieser Mangel der sinnlichen Frische, Lebhaftigkeit, Anschaulichkeit anhaftet? Oder dürfen wir annehmen, daß der Vorgang, durch welchen Vorstellungen entstehen, seiner Beschaffenheit nach geeignet ist, einen der Empfindung gleichartigen Bewußtseinsinhalt zu erzeugen, und daß nur eine Hemmung oder Herabsetzung dieses Vorgangs die Erreichung dieses Ziels verhindert?

Vorstellungen sind reproduktive Gebilde, sie enstehen durch Reproduktion. Wir können demnach unsere Frage auch so formulieren: Liegt es in der eigenartigen Beschaffenheit des reproduktiven Vorgangs begründet, daß die Vorstellung geringere sinnliche Frische besitzt als die Empfindung, oder liegt es an der mangelnden Energie dieses Vorgangs oder einer ihm entgegenwirkenden Hemmung, wenn das Erzeugnis dieses Vorgangs, also die reproduktive Vorstellung, die geringere Frische aufweist.

Diese Frage ist nicht etwa überflüssig: ihre Beantwortung nichts weniger als selbstverständlich. Wir müssen dabei bleiben: Die Vorstellung ist etwas qualitativ anderes als die ihr "inhaltlich gleiche" Empfindung. Das vorgestellte Rot ist ein vom gesehenen Rot qualitativ verschiedener Bewußtseinsinhalt. Diese qualitative Verschiedenheit könnte zunächst eine verschiedene  Beschaffenheit  der reproduktiven Vorgänge notwendig vorauszusetzen scheinen.

In jedem Fall ist der Sinn der gestellten Frage einleuchtend. Verbietet dem reproduktiven Vorgang seine eigenartige Beschaffenheit die Erzeugung eines der Empfindung gleichartigen Bewußtseinsinhaltes, dann muß, falls auf reproduktivem Weg eine Empfindung oder Scheinempfindung zustande kommen soll, zum Vorgang der Reproduktion ein anderer, der jenen modifiziert oder ablenkt und seine Eigenart aufhebt, hinzutreten. Ist dies nicht der Fall, dann genügt es, daß der reproduktive Vorgang seine volle Energie und Freiheit gewinnt, damit dieser Erfolg eintritt.

Es gibt aber keinen Zweifel, daß die letztere Annahme zutrifft. Das heißt der reproduktive Vorgang ist seiner Natur nach geeignet, eine Empfindung oder einen Bewußtseinsinhalt mit vollem Empfindungscharakter zu erzeugen. Er "zielt" als solcher auf die Erzeugung eines solchen "ab".

Daß es so ist, setzen wir im Grund schon voraus, wenn wir den Vorgang als einen Vorgang der Reproduktion bezeichnen. Ein Ton, den ich eben höre, wird von mir nach einer Viertelstunde reproduziert. Ist dieser Vorgang wirklich eine Reproduktion des vorher gehörten Tones, dann ist er auf Wiederkehr eben dessen, was vorher in meinem Bewußtsein war, also auf Reproduktion der Empfindung als solcher gerichtet.

Aber achten wir auf die Tatsachen. Ich erwähne gleich diejenige, die in dem eben Gesagten schon enthalten liegt. Wie  kommen  wir dazu,  Vorstellungen  als Reproduktionen von  Empfindungen  zu bezeichnen und sie damit diesen gleichzusetzen? Wie komme ich dazu, wenn ich ein Objekt vorstelle oder mich desselben erinnere und gleichzeitig "dasselbe" Objekt wahrnehme, jenes vorgestellte Objekt und dieses wahrgenommene Objekt für  dasselbe  zu erklären, da doch das Vorstellungs- oder Erinnerungsbild vom Wahrnehmungsbild tatsächlich verschieden ist? Was heißt es, wenn man ein andermal sagt, eine Vorstellung "repräsentiert" ein Objekt der Wahrnehmung? Wie kann eine Vorstellung eine Wahrnehmung repräsentieren?

In diesen Fragen liegt ein Problem, das man nicht mit einem bloßen Wort wie "Repräsentieren" oder auch "symbolische Funktion" aus der Welt schafft. Dasselbe läßt sich zusammenfassen in der Frage: Wie kann eine Vorstellung mit der ihr "inhaltlich gleichen" Empfindung  identisch  erscheinen?

Offenbar ist dies nur möglich, wenn beide in der Tat in gewissem Sinn identisch sind. Das Identitätsbewußtsein wäre unmöglich, wenn die Vorgänge, die dem Vorstellungsbild und dem davon verschiedenen Empfindungsbild oder Empfindungsinhalt zugrunde liegen, qualitativ verschieden wären. Es ist möglich und notwendig, wenn sie qualitativ gleich sind, wenn demgemäß der Vorgang der Vorstellung auf das gleiche Ergebnis abzielt oder seiner Natur nach gerichtet ist, fehlt der Gegensatz zwischen den beiden Vorgängen, also das, woraus das Bewußtsein der  Verschiedenheit  resultieren würde. Daß der Vorstellungsvorgang seiner Natur nach auf Empfindugn abzielt, dies ist dann auch der notwendige Sinn der Behauptung, daß eine Vorstellung eine Empfindung "meint" oder "repräsentiert", darauf symbolisch "hinweist", oder: daß  wir  mit einer Vorstellung ein wahrgenommenes Objekt "meinen". Jenes "Abzielen" ist dieses "Meinen".

Doch wenden wir unseren Blick noch nach einer anderen Richtung. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die sinnliche Frische, Lebhaftigkeit, Anschaulichkeit der Vorstellungen, etwa der Vorstellungen von räumlichen Formen, Farben, Klängen, Klangverbindungen, bei verschiedenen Personen eine verschiedene ist. Bei manchen, wie etwa bei mir, ist die sinnliche Frische aller Vorstellungen eine sehr geringe. Der vorgestellte Ton etwa entfernt sich bei mir weit vom gehörten. Andere geben an, das Farben- oder Klangvorstellen sei für sie eine Art des Sehens bzw. Hörens, das Vorgestellte sei vom Gesehenen oder Gehörten nicht sehr verschieden.

Insbesondere müssen wir gewiß annehmen, daß der Maler oder derjenige, der eine oder mehrere Schachpartien blind spielt, von räumlichen Gebilden eine sehr viel lebhaftere Vorstellung hat, als andere; daß der Musiker, der eine Partitur liest und die Wirkung des Musikwerkes, einschließlich des Klangs der Instrumente, danach beurteilt, die Musik in gewisser Weise "innerlich hört". Es wäre sonst unverständlich, daß er dabei erlebte, was wir nur beim tatsächlichen Hören erleben.

Solche Tatsachen nun wird man nicht so deuten, daß man sagt, es sei der reproduktive Vorgang, wie er etwa den Tonvorstellungen zugrunde liegt, beim einen ein  qualitativ  anderer als beim andern. Wir müßten dann ja, da die Grade der sinnlichen Frische von Vorstellungen unendlich differieren können, unendlich viele qualitativ verschiedene Arten von reproduktiven Vorgängen in den verschiedenen Personen statuieren. Sondern wir werden sagen: Ein gleichartiger Vorgang verwirklicht sich nur in den verschiedenen Personen in verschiedenen Graden. Der reproduktive Vorgang kann als solcher, oder als dieser bestimmt geartete Vorgang, Vorstellungen von größerer und größerer Frische oder Anschaulichkeit erzeugen, also Vorstellungen, die sich mehr und mehr den Empfindungen nähern; nur daß dieser Vorgang nicht jederzeit in gleicher Weise das, was in seiner Natur liegt, zu verwirklichen vermag. Kann aber der reproduktive Vorgang Vorstellungen erzeugen, die sich  mehr und mehr  der Empfindung nähern, so kann er auch, ohne daß er aufhört, dieser selbe Vorgang zu sein, Vorstellungen erzeugen, die ganz und gar Empfindungscharakter besitzen.


Aufmerksamkeit und Lebhaftigkeit der Vorstellungen

Zum gleichen Ergebnis führt uns der Umstand, daß die auf Vorstellungen gerichtete  "Aufmerksamkeit die Vorstellungen den Empfindungen nähern, ja sie schließlich in Scheinempfindungen überführen kann. Dabei müssen wir im Auge behalten, daß  "Aufmerksamkeit  nicht ein neuer psychischer Vorgang ist, der zum Vorgang des Vorstellens hinzutritt, also ihn modifizieren könnte. Aufmerksamkeit ist der Grad, in dem psychische Vorgänge im Zusammenhang des psychischen Lebens zur Geltung und Wirkung gelangen. Eine Vorstellung ist in größerem Grad, als eine andere, Gegenstand der Aufmerksamkeit, das heißt: Der Vorgang, durch welchen der Vorstellungsinhalt zustande gebracht wird, repräsentiert in sich ein größeres Quantum des psychischen Geschehens, stellt in sich eine erheblichere, psychische Bewegungsgröße dar, es ist in ihm ein größeres Maß der psychischen Gesamtkraft aktuell geworden und damit absorbiert, der Vorgang besitzt, bildlich gesprochen, eine größere psychische "Wellenhöhe"; sie es, daß die "Energie", mit welcher der Vorstellungsvorgang die Kraft der Seele oder die psychische Kraft in Anspruch nimmt, größer ist, sei es daß andere psychische Vorgänge ihm die psychische Kraft in einem geringeren Maß streitig machen. Daraus ergibt sich, daß es, wenn eine Vorstellung in eine Empfindung oder Scheinempfindung überführt werden soll, nur eben dieses möglichsten zur Geltung Kommens, der möglichst vollkommenen und freien pspychischen Kraftaneignung oder "Apperzeption" bedarf.

Wie man sieht, ist, was ich hier als "psychische Kraft" bezeichne, nichts anderes, als die in einem Moment mögliche gesamte psychische Bewegungsgröße oder die in einem Moment bestehende Möglichkeit, daß überhaupt psychische Vorgänge, zu denen in einem sinnlichen oder reproduktiven Reiz der Anlaß gegeben ist, sich vollziehen, sich entfalten, zur Geltung kommen, also das in sich verwirklichen, worauf sie, nachdem einmal der Anstoß gegeben ist und sie ausgelöst oder angeregt hat, ihrer Natur nach abzielen; sie ist, kurz gesagt, die mögliche psychische Gesamtwellenhöhe. Diese psychische Kraft ist jederzeit beschränkt. Es müssen also die nebeneinander ausgelösten oder angeregten psychischen Vorgänge um diese psychische Kraft miteinander konkurrieren.

Dagegen verstehe ich unter der "psychischen Energie" die Fähigkeit des einzelnen Vorgangs in dieser Konkurrenz zu bestehen, also die im psychischen Vorgang selbst liegende Fähigkeit, die psychische Kraft anzueignen oder zu absorbieren, demnach zur Geltung zu kommen, eine bestimmte psychische Höhe zu gewinnen etc.

Es ergibt sich daraus ohne weiteres, daß das Maß, in welchem ein psychischer Vorgang psychische Kraft gewinnt, immer abhängig ist einerseits von seiner Energie, andererseits von dem Grad, in welchem ihm die psychische Kraft zur Verfügung steht.

Dem vorhin erwähnten Tatbestand füge ich gleich noch die Erinnerung daran hinzu, daß vor allem eingeübte Vorstellungen, also Vorstellungen von Objekten, mit denen man sich mehrfach und intensiv beschäftigt hat, als Halluzinationen auftreten können. Dabei kommt in Betracht, daß auch die Einübung den eingeübten Vorgang nicht ändert, sondern lediglich die Leichtigkeit erhöht, mit welcher sich derselbe die psychische Kraft aneignet.

Gegen das vorhin Gesagte könnte man einwenden: Wenn die sinnliche Frische einer Vorstellung bedingt ist durch den Grad, in welchem die Vorstellung in uns zur Geltung kommt und wenn wiederum dieser Grad mit dem Grad der "Aufmerksamkeit", die der Vorstellung zuteil wird, gleichbedeutend ist, so muß der Grad der sinnlichen Frische mit dem Maß der von uns aufgewendeten Aufmerksamkeit jederzeit Hand in Hand gehen. Dies ist aber nicht der Fall. Ich kann meine Aufmerksamkeit noch so angestrengt auf eine Farbe oder Form oder Melodie richten, die ich mir vorstelle; und diese Farbe oder Form oder diese Melodie gewinnt für mich doch nicht den Charakter sinnlicher Anschaulichkeit, die sie für den Maler, bzw. Musiker ohne weiteres besitzt.

Es spielt jedoch hier ein Doppelsinn des Wortes  Aufmerksamkeit  herein. Vorhin war die Rede von der Aufmerksamkeit als einer Weise des Daseins einer Vorstellung. Jetzt handelt es sich um die Aufmerksamkeit im Sinne einer  Tätigkeit  oder einer  Bemühung,  jene Daseinsweise einer Vorstellung  herbeizuführen.  Jene und diese "Aufmerksamkeit" sind aber nicht nur nicht identisch, sondern sie brauchen sich auch keineswegs zu entsprechen. Ich kann meine Aufmerksamkeit sehr angestrengt auf ein vorgestelltes Objekt richten, d. h. mich sehr anstrengen, das vorgestellte Objekt zum Gegenstand der Aufmerksamkeit zu machen, ohne daß doch das Objekt Gegenstand erheblicher Aufmerksamkeit wird, d. h. ohne daß sich die Vorstellung in einem hohen Grad und mit großer Freiheit psychische Kraft aneignet und behauptet. Der Grad der Aufmerksamkeit einem Objekt gegenüber ist eben nicht eine Sache, die man sich beliebig vornehmen kann. Oder vielmehr: vornehmen kann man sich dergleichen freilich; aber der Erfolg ist immer davon abhängig, ob die sonstigen psychischen Bedingungen gegeben sind.

Zu diesen psychischen Bedingungen gehört aber allerlei, beispielsweise und vor allem die ursprüngliche Veranlagung, die ursprüngliche Abgestimmtheit oder Adaptiertheit der individuellen oder allgemeinen psychischen Organisation auf den Vollzug einer bestimmten Vorstellung. Und diese können wir uns nicht geben. Dem geborenen Musiker ist ein solche ursprüngliche Abgestimmtheit auf Tonvorstellungen eigen. Seine psychische Organisation wirkt für den Vollzug der Tonvorstellungsvorgänge als ein förderlicher Boden. Tonvorstellungen besitzen darum in ihm von Haus aus eine erhöhte psychische Energie, d. h. eine erhöhte Fähigkeit, sich die psychische Kraft oder die Aufmerksamkeit anzueignen und zu absorbieren. Eben darum bedarf es bei ihm geringer "Aufmerksamkeit", ich meine geringer Bemühung des Aufmerkens, damit Töne Gegenstand seiner "Aufmerksamkeit", deren er bedarf, wenn bei ihm Tonvorstellungen und Verbindungen von solchen nicht nur im Bewußtsein sein, sondern darin einigermaßen frei sich behaupten und herrschen sollen der deutlichste Beweis dafür, daß bei ihm jene Bedingung der Aufmerksamkeit auf Töne in einem geringeren Maß gegeben ist. Eben die Anstrengung der Aufmerksamkeit weist auf ein nur mühsames, also mit geringerem Erfolg geschehenes Aufmerken hin.

Ich bestimme dies noch etwas genauer. Auch die "Tätigkeit" des Aufmerkens ist kein besonderer psychischer Tatbestand. Sie ist die natürliche Wirksamkeit der Beziehungen, in die Vorstellungen verflochten sind. Das Problem der Aufmerksamkeit ist entweder gar kein psychologisches Problem, oder es ist  das  Problem der Psychologie.

Jene Wirksamkeit der Beziehungen nun ist von einem Gefühl der Tätigkeit oder der Spannung begleitet, nicht jederzeit, sondern in dem Maße, als sie gehemmt ist. Je größer die Hemmung, umso stärker ist, unter im übrigen gleichen Umständen, dieses Spannungs- oder Tätigkeitsgefühl. Und nur in diesem Spannungsgefühl kommt uns die  "Tätigkeit"  der Aufmerksamkeit unmittelbar zu Bewußtsein. Je stärker also die Hemmung, umso mehr sind wir uns einer Tätigkeit der Aufmerksamkeit bewußt. Die Hemmung aber ist das Gegenteil der Freiheit. In jedem Fall also ist das Aufmerken oder das Zur-Geltung-Kommen eines psychischen Inhaltes, da wo das Gefühl einer "Spannung" oder "Tätigkeit" der Aufmerksamkeit besteht, kein freies. Die vollkommen freie Aneignung der psychischen Kraft oder das vollkommen freie Aufmerken ist nur möglich als Auftauchen der Vorstellung ohne mein bewußtes Zutun.

Im übrigen ist dann noch folgendes zu bedenken. Ich richte etwa meine Aufmerksamkeit gespannt auf die Worte eines Redners. Ich meine wenigstens, daß ich das tue. In Wahrheit ist Gegenstand meiner Aufmerksamkeit der  Sinn  der Worte. Und dieser Sinn der Worte, ja der Sinn eines einzigen Wortes, kann in einem Komplex von gar vielen Vorstellungen bestehen und hineinreichen in die allermannigfaltigsten Vorstellungszusammenhänge. Das Wort ist der Mittelpunkt dieses Komplexes. Das Wort ist darum zunächst im Bewußtsein. Demgemäß oder einzig auf das Wort bezogen. Dies hindert aber nicht, daß der ganze große und vielverzweigte Komplex von Vorstellungen, der den Sinn des Wortes ausmacht, den eigentlichen Gegenstand der Aufmerksamkeit bildet, d. h. daß er dasjenige ist, was mich absorbiert oder meine psychische Kraft in Anspruch nimmt. Ist es aber so, dann ist meine scheinbar auf Worte konzentrierte Aufmerksamkeit in Wahrheit geteilt unter die Elemente des Komplexes, oder: Die Aufmerksamkeit ist gerichtet auf den Komplex als Ganzes, also nicht speziell auf die einzelnen Elemente, auch nicht auf das Wort.

Dies können wir verallgemeinern. Alles, was wir wahrnehmungen und vorstellen mögen, hat seinen Sinn oder seine Bedeutung, d. h. es ist in weniger enge oder engere, schließlich in sehr enge Beziehungen mit allerlei anderen Vorstellungen verflochten. Alles ist Element in mannigfachen und sich mannigfach verzweigenden Vorstellungszusammenhängen. Und immer, soweit dies der Fall ist, ist die Aufmerksamkeit, die wir auf einen Punkt gerichtet glauben, in Wahrheit verteilt auf viele Punkte.

Soweit aber die Aufmerksamkeit in solcher Weise zerteils ist oder einem Ganzen als Ganzem zugute kommt, können wir nicht erwarten, daß der einzelne Vorstellungsinhalt in einer den Grad der Aufmerksamkeit entsprechenden Weise in seiner sinnlichen Frische gesteigert erscheint.

Dagegen wir die Aufmerksamkeit allerdings eine erhöhte sinnliche Frische bedingen müssen, wenn sie sich auf einzelne Vorstellungsinhalte als solche konzentriert, wenn es uns also gelingt, in unserem Aufmerken die Vorstellungszusammenhänge, in welche die einzelnen Elemente verflochten sind, zurücktreten zu lassen oder von ihnen "abzusehen". Aber das ist wiederum nicht Sache unseres Entschlusses. Wir können die Aussoziationen zwischen einem Vorstellungsinhalt und dem, was sich daran heftet und mit ihm zu einem einzigen Vorstellungskomplex verbunden ist, nicht durch einen Akt unseres Wollens einfach verschwinden lassen. Wir können sie auch nicht beliebig außer Kraft setzen.

Zur Erläuterung erinnere ich an Folgendes: Wir  sehen  die im Raum sich ausbreitenden Linien und Formen in einer  Fläche.  Wir sehen insbesondere die in die Tiefe sich erstreckenden Linien und Formen so, wie sie sich im flächenhaften Sehfeld  projizieren.  Aber hiermit verbindet sich, von allem anderen abgesehen, die Vorstellung der Beschaffenheit, die den Linien und Formen im Raum von drei Dimensionen wirklich zukommt. Wir übersetzen das Flächenbild in das entsprechende Körperbild. Dieses Übersetzen ist ein so zwingendes, daß wir meinen, das Resultat desselben gleichfalls zu sehen.

Nun wollen wir perspektivisch zeichnen, d. h. wir wollen zeichnen, was wir tatsächlich sehen. Dies setzt voraus, daß wir uns von jener dreidimensionalen Umdeutung frei machen, also das Gesehene vom Hinzugedachten isolieren und isoliert zum Gegenstand unserer Aufmerksamkeit machen. Dazu nun genügt, wie jeder weiß, wiederum nicht ein bloßer einfacher Entschluß. Es gehört dazu Übung und auch ursprüngliches Talent. Fehlt uns beides, dann merken wir auf das und halten das fest, was wir zu sehen  meinen,  nicht das, was wir sehen.

Jenes eben bezeichnete Talent muß der zeichnende Künstler haben. So ist überhaupt die Fähigkeit des beachtenden Isolierens oder Heraushebens, der bestimmten und sicheren Auffassung der einzelnen Formen als solcher, ein Hauptstück in der Begabung des Form wiedergebenden Künstlers. Es genügt nicht, daß er lebhafte Totaleindrücke gewinnt. Er muß auch wissen, woran es im Einzelnen liegt. Es muß also das Einzelne für ihn heraustreten. Das Einzelne muß für sich, in voller Isolierung, die Kraft seiner Seele oder seine Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen und festhalten können. Auch diese isolierte Auffassung und Festhaltung wird, je sicherer sie sich vollzieht, umso weniger eine Bemühung der Aufmerksamkeit in sich schließen. Ohne weiteres "fällt" das Einzelne, der einzelne charakteristische Zug "auf" und fesselt. Diesem isolierten, sicher abgegrenzten Beachten und Festhalten entspricht dann auch ein gleichartiges Haften im Gedächnis und nachheriges Reproduzieren. Ohne diese Fähigkeit ist recht wohl eine sichere Beurteilung der fertigen Wiedergabe von Formen im Ganzen möglich, ein sicherer Eindruck von der fertig vorliegenden künstlerischen Leistung, aber nicht die künstlerische Leistung selbst; da diese nun einmal sukzessive, also  Teil für Teil, Zug für Zug  vollbracht werden muß.

So ist es dann auch aus  diesem  Grund nicht verwunderlich, wenn sich der zeichnende Künstler oder der künstlerische Zeichner einer besonderen sinnlichen Anschaulichkeit seiner Gesichtsvorstellungen erfreut. Daß die einzelnen Elemente oder Züge der Gesichtsobjekte ihm auch als einzelne auffallen oder für ihn bedeutsam heraustreten, die muß diese sinnliche Anschaulichkeit begünstigen.

Daß der künstlerische Zeichner eine ursprüngliche, dann freilich gewiß auch durch Übung gesteigerte besondere Auffassungsfähigkeit für Formen hat, dies können wir auch so ausdrücken, daß wir sagen, die Vorstellungen von Formen besitzen in ihm ansich eine besondere "Energie". Die Energie der Vorstellungen ist ja, wie wir sahen, nichts anderes als die Fähigkeit der Auffassung der Vorstellungsinhalte oder die in den Vorstellungsvorgängen liegende Möglichkeit derselben, zur Geltung zu kommen oder psychische Kraft zu gewinnen und als das, was sie sind, sich zu behaupten. Eine Vorstellung hat ansich eine solche Energie, was heißt: sie hat sie von Haus aus oder unabhängig von den Zusammenhängen, in welche Vorstellungen verflochten sind, demnach auch unabhängig von der Bemühung des Aufmerkens. Im gleichen Sinn müssen wir auch vom geborenen Musiker sagen, die Tonvorstellungen haben bei ihm ansich eine besondere Energie.

Aus dem bisher Gesagten sind auch sonstige Unterschiede der sinnlichen Frische oder Anschaulichkeit von Vorstellungen begreiflich. Manche, vor allem wissenschaftliche Tätigkeit erfordert in besonderem Maße die Fähigkeit, mit Begriffen, die vielerlei zumal umfassen, zu operieren; oder sie macht es nötig, daß wir in einem und demselben Moment vielerleit verschiedenartige Tatsachen und Zusammenhänge von solchen zumal in uns wirken lassen. Denen nun, welche speziell die Fähigkeit zu einer solchen geistigen Tätigkeit besitzen, stehen überall solche gegenüber, die das charakteristische Einzelne, das Individuelle, das Bestimmte und eng begrenzte Jetzt und Hier fesselt und geistig beschäftigt. Man wird nicht fehlgehen, wenn man bei denen, die ihrer Natur nach zu jener Weise geistiger Betätigung neigen, im allgemeinen ein besonders geringes Vermögen sinnlich frische und anschauliche Vorstellungen zu haben voraussetzt, dagegen denen, die in dieser Weise begabt sind, ein solches zuschreibt. Wenn wir dem abstrakten und ins Allgemeine gehenden Denken die Lebhaftigkeit der "Phantasie" entgegensetzen, so pflegen wir uns im letzteren Begriff schon im gewöhnmlichen Leben beides zu vereinigen, die Fähigkeit, das Einzelne und Konkrete für sich zu vergegenwärtigen, und zugleich die Fähigkeit, es zu einer besonderen sinnlichen Anschaulichkeit zu erheben.


Doppelte "Energie" der Vorstellungen

Die Kraft und Freiheit, mit der die einzelne Vorstellung in der Seele zur Geltung kommt, so sagten wir, sei Bedingung der sinnlichen Frische oder Anschaulichkeit der Vorstellungen. Zugleich haben wir bereits den Unterschied zweier Möglichkeiten angedeutet: Daß das Einzelne ansich die Energie besitzt, kraftvoll zur Geltung zu kommen, und daß ihm die Möglichkeit dazu eignet, weil es die psychische Kraft in einem geringeren Maß mit anderen zu teilen genötigt ist. Diesen Unterschied werden wir festhalten müssen.

Beide Möglichkeiten können wiederum verschiedene Gründe haben. Die erstere Möglichkeit hat auch solche Gründe, die wir nicht näher beschreiben können. Wir wissen schon nicht zu sagen, wie es zugeht, daß die Seele des musikalisch Veranlagten von Klängen in so besonderem Maß in Anspruch genommen wird. Wir wissen ebensowenig genauer anzugeben, worin die  krankhafte  Reizbarkeit oder Erregbarkeit für gewisse einzelne Vorstellungen besteht, die dann vorzuliegen scheint, wenn - ohne Suggestion - einzelne Vorstellungen als Zwangsvorstellungen auftreten. Haben dieselben halluzinatorischen Charakter, so beruth dieser Charakter auch hier gewiß auf dieser Weise des Auftretens, d. h. auf der besonderen Energie und Ungehemmthei des Vorstellungsvorganges, nicht auf einem qualitativ eigenartien Vorgang. Aber wir wissen, wenigstens psychologisch, nicht zu sagen, was jene besondere Erregbarkeit, soweit nämlich eine solche angenommen werden muß, verschuldet.

Indessen mit all dem haben wir in diesem Zusammenhang, ich meine im Zusammenhang der Suggestionsfrage, nicht eigentlich zu tun. Was uns speziell interessiert, das ist die zweite Möglichkeit, d. h. diejenige, die darin besteht, daß Vorstellungen die psychische Kraft in besonderem Maße und mit besonderer Freiheit in Anspruch nehmen und damit zugleich eine erhöhte sinnliche Frische gewinnen, nicht weil sie ansich eine besondere Energie besitzen, oder genauer gesagt, weil der ihrem Dasein zugrunde liegende reproduktive  Vorgang  diese besondere Energie besitzt, sondern weil ihnen der Zusammenhang des seelischen Geschehens die vollkommenere und freiere Aneignung der psychischen Kraft  verstattet. 

Freilich schließen diese beiden hier unterschiedenen Möglichkeiten sich nicht aus. Auch in Fällen, wo wir zunächst die erstere als gegeben ansehen müssen oder können, muß das Hinzutreten der zweiten die Wirkung erhöhen. Oder es würde sich wohl auch der Erfolg, d. h. die erhöhte sinnliche Anschaulichkeit oder die Halluzination, gar nicht einstellen, wenn nicht beide zusammenwirkten.

Ich nahm soeben an, daß den Halluzinationen geistig Gestörter eine besondere Reizbarkeit für die bestimmten Vorstellungen zugrunde liegt. Angenommen aber, bei einem sonst normalen Individuum bestände aus irgendeinem Grund eine solche erhöhte Reizbarkeit, so würde doch die mit besonderer Energie auftretende Vorstellung sich in den Zusammenhang seiner sonsitgen Vorstellungen und Wahrnehmungen eng einordnen. Die psychische Bewegung würde vermöge dieses Zusammenhangs mit einer gewisen Energie zu etwas anderem  fortgeleitet.  Die der Zwangsvorstellung widersprechenden Wahrnehmungen und Erfahrungen würden auf  Unterdrückung  derselben hinwirken. So beständen allerlei Gründe für die Verminderung der Kraft jener Vorstellung den halluzinatorischen Charakter zu nehmen.

Umgekehrt können dann, wenn solche halluzinatorische Zwangsvorstellungen  auftreten, Hemmungen  ableitender und entgegenwirkender psychischer Erregungen wenigstens einen Teil der Schuld tragen. Die Vorstellung kann als Zwangsvorstellung und damit zugleich als Halluzination auftreten auch darum, weil sie relativ isoliert ist, weil dem Individuum die beim Normalen vorhandenen Wege fehlen, darüber hinwegzukommen oder sie zu überwinden. Ja es könnte dieser negative Grund der einzige sein, so daß jene abnorme Reizbarkeit gar nicht angenommen zu werden brauchte.

Oder man nehme einen Fall, der vorhin nicht erwähnt wurde. Ich habe mich länger mit bestimmten ornamentalen Formen beschäftigt. Nun geschieht es mir, daß sich mir beim Eintritt in einen dunklen Raum ein solches Ornament mit voller sinnlicher Frische, also halluzinatorisch aufdrängt. Hierbeit ist mir zunächst auffällig, daß mir dies  jetzt  geschieht, während ich sonst dergleichen nicht zu erleben pflegte. Ich sage mir: Die längere Beschäftigung mit solchen Formen hat der Vorstellung solcher Formen eine größere Energie verliehen. Aber da ich mich auch sonst schon mit Formen länger beschäftigt hatte, ohne daß dergleichen geschehen ist, so muß ich außerdem eine besondere jetzt zufällig stattfindende Reizbarkeit oder Empfänglichkeit für die fragliche Vorstellung voraussetzen.

Andererseits übersehe ich aber auch den Umstand nicht, daß mir beim Eintritt ins  Dunkle,  also bei plötzlichen Verschwinden der optischen Wahrnehmungsbilder, die sich vorher aufdrängten und einen Teil meiner Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, diese Halluzination entsteht. Ich muß also annehmen, daß dieses Zurücktreten der optischen Wahrnehmungsbilder, also die größere Freihei, mit der sich die Reproduktion jener ornamentalen Formen vollziehen kann, an der Halluzination mitbeteiligt ist. - Nebenbei bemerkt berichte ich hier ein eigenes Erlebnis. Jedermann kann allerlei Berichte anderer über völlig gleichartige Erlebnisse.

Wie immer aber es sich in diesem und dem vorher erwähnten Fall verhalten mag; in jedem Fall ist die bezeichnete negative Bedingung der Halluzination entscheidend bei weiteren jedermann bekannten Fällen der Halluzination. Ich meine die Halluzination beim Einschlafen und die Traumhalluzinationen.

Daß hier eine abnorm gesteigerte Erregbarkeit für die halluzinatorischen Vorstellungen vorliegt, dies anzunehmen besteht kein Grund. Eine solche Annahme wäre auch schwer verständlich. Es ist schwer einzusehen, wie die allgemeine Ermüdung, die der Grund des Einschlafens zu sein pflegt, einerseits eine Abstumpfung der Fähigkeit zum Vollzug von Empfindungen und Vorstellungen, andererseits eine besondere Reizbarkeit für bestimmte reproduktive Vorgänge in sich schließen sollte. Wir werden vielmehr überhaupt eine Herabminderung erfahren hat, daß aber von dieser Herabminderung nicht oder nicht sofort alle Punkte der Psyche in gleichem Maß betroffen werden. Gewisse Vorstellungen bleiben zufällig, d. h. aus Gründen, die wir hier nicht näher bezeichnen können, relativ erregbar.

So sehen wir ja auch beim Einschlafen tatsächlich das Empfindungsleben eine Herabsetzung erfahren. Zugleich verwirren sich die Vorstellungen. Auch diese Verwirrung der Vorstellungen kann man nicht deuten wollen auf eine besondere verwirrende Kraft. Sondern sie ist die natürliche Folge davon, daß nur jene "zufällig" noch erregbareren Vorstellungen auftauchen, dagegen die Wahrnehmungen und die allgemeinen und umfassenden Vorstellungszusammenhänge, insbesonder die Zusammenhänge von Erfahrungen, in welche sich im wachen Leben die einzelnen Vorstellungen einordnen, und durch deren Wirkung in der Verlauf unseres wachen Lebens Ordnung und sinnvoller Zusammenhang kommt, nicht mehr zur Wirkung gelangen, also nicht mehr lenkend und korrigierend, damit auch ablenkend und unterdrückend, eingreifen können. Soweit immerhin noch ein genügendes Maß an psychischer Kraft, oder von Fähigkeit überhaupt vorstellend tätig zu sein, besteht, wird dann diese Kraft diesen zufällig auftretenden einzelnen Vorstellungen zuteil oder in ihnen aktuell; und sie wird ihnen als einzelnen zuteil. Und damit ist ihr halluzinatorischer Charakter völlig unbegreiflich. Umgekehrt muß man dann auch den halluzinatorischen Charakter der Vorstellungen aus diesen Tatsachen zu begreifen  suchen. 

Das bisher Gesagte wird nachher noch weiter auszuführen sein. Schon jetzt aber können wir zusammenfassend erklären: In der Natur oder Beschaffenheit der reproduktiven Vorstellung allein liegt der genügende Grund für einen beliebig hohen Grad der sinnlichen Frische der Vorstellungen, also auch der genügende Grund für einen halluzinatorischen Charakter derselben. Es ist dazu nur erforderlich, daß der reproduktive Vorgang sich mit seiner vollen Energie und mit genügender Freiheit, nämlich Freiheit vom Gegeneinanderwirken der psychischen Vorgänge, vollziehen kann. Nicht daß wir zuweilen Halluzinationen unterliegen, sondern, daß wir ihnen nicht immer unterliegen, ist das eigentlich der Erklärung Bedürftige oder das positiv zu Begründende. Der Grund dafür liegt aber im Aufgehen oder relativen Untergehen der einzelnen Vorstellungen im Ganzen des gleichzeitigen psychischen Lebens. Das Ganze wirkt hemmend oder aufhebend für das Einzelne. Oder anders ausgedrückt: Nicht das Vorstellen mit dem Mangel der sinnlichen Frische des Vorgestellten, sondern Halluzinieren ist für die einzelne Vorstellung das eigentlich Normale. Die Halluzination ist die volle Vorstellung; sie ist das Ideal derselben; wenn wir nämlich die einzelne Vorstellung für sich betrachten. Andererseits ist doch wiederum die Vorstellung mit ihrem Mangel an sinnlicher Frische das Normale, sofern die Einordnung der einzelnen Vorstellungen in den Kontext und Fluß einer umfassenden und einheitlichen, psychischen Bewegung, und damit die Teilung der Aufmerksamkeit oder der psychischen Kraft, vor allem auch das Zurücktreten der Vorstellungen hinter den von der Wirklichkeit unmittelbare Kunde gebenden Empfindungen und Komplexen von solchen für uns das Normale ist.

Es wird nicht dieser ganze Sachverhalt, wohl aber eine Seite desselben getroffen und zugleich das Wesentliche an ihm anerkannt in der Erklärung HOBBES', "that mental imagery is obscured by sense impressions, as the light oft the sun obscured the light of the stars, and that the vivacity of the mental imagery in dreams is comparable with the appearance of the stars at nigt, when the sun has set." [daß geistige Bilder durch Sinneseindrücke verdunkelt werden, wie das Licht der Sonne das Licht der Sterne verdunkelt und die Lebendigkeit der geistigen Bilder in Träumen ist vergleichbar mit dem Erscheinen der Sterne in der Nacht, wenn die Sonne untergegangen ist. - wp]

Die Sterne haben in der Nacht keine größere Leuchtkraft als am Tag. So haben wir keinen Grund, dem reproduktiven Vorgang, durch welchen die Gebilde der Traumphantasie für uns entstehen, ansich eine größere Energie zuzuschreiben, als sie auch im wachen Leben haben würden. Aber wie die Sterne in der Nacht der sinnlichen Wahrnehmung
LITERATUR - Theodor Lipps, Suggestion und Hypnose, Sitzungsberichte der philos.-philol. u. d. histor. Klasse der königl.-bayer. Akademie der Wissenschaften zu München, Jahrgang 1897, zweiter Band, München 1898 [vorgetragen am 6. März 1897]