p-4 W. WalzMFKG. W. CampbellM. PalágyiW. EnochTh. Reid    
 
HANS RUIN
Erlebnis und Wissen
[Kritischer Gang durch die englische Psychologie]
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"Die Empfindung ist eine rein psychische Realität, die ganz und gar nichts mit der Außenwelt, die wir auffassen, gemeinsam hat. Sie bekommt jedoch dadurch eine objektive Bedeutung, daß sie uns eine Perzeption der physischen Wirklichkeit suggeriert. Wir haben z. B. eine Tastempfindung. An und für sich besitzt diese nicht die geringste Gleichheit mit dem, was wir Härte nennen. Aber nichts destoweniger gehen wir von dieser Empfindung unmittelbar dazu über, Härte aufzufassen, was ja die Perzeption einer Außenwelt mit dem unmittelbaren Glauben daran einschließt. Wie dieser Übergang vor sich geht und worauf er beruth, das ist das große Problem."


IV. Thomas Reid

BERKELEY, HUME und HARTLEY gingen alle drei in ihrer Arbeit von einer gemeinsamen theoretischen Voraussetzung aus: der Lehre LOCKEs, daß die Gegenstände des Wissens eigentlich gar nicht die Dinge, sondern die Vorstellungen sind, und daß unsere Urteile und Erkenntnisakte in den Beziehungen bestehen, die wir zwischen ihnen feststellen.

Das Eigentümliche mit dieser Voraussetzung war, daß sie drei so verschiedenen Systemen wie BERKELEYs Idealismus, HUMEs Skeptizismus und HARTLEYs materialistischer Assoziationspsychologie zu dienen imstande war (1). THOMAS REID, der der Anführer der Opposition wurde, ließ sich auch von der Einsicht leiten, daß der Widerspruch und die Absurdität der Ergebnisse die Falschheit der Prämissen beweist. Er nahm sich vor, die Hypothese LOCKEs gründlich zu revidieren, um damit die Wurzel der Auffassung selbst zu treffen, die ihn vor allem störte: den Skeptizismus mit seiner dreisten Auflösung des gesamten Daseins in subjekt- und objektlose Vorstellungen, denen jede wirkliche Verbindung untereinander fehlt und die einer Art leeren Schatten gleichen, welche über den Abgrund eines vernichteten Universums gleiten.

Das nächste Ziel von REIDs Anstrengungen ergab sich unmittelbar. Es galt zuerst, was das Perzeptionsphänomen betrifft, zu beweisen, daß die materiellen Dinge selbst, und nicht ihre Vertreter in unserer Seele, Gegenstand von unmittelbaren Perzeptionen sind.

REID leitet seine Darstellung damit ein, daß er eine bemerkenswerte Unterscheidung macht. Er scheidet scharf zwischen einer Empfindung (sensation) und einer Perzeption. Die Empfindung an und für sich, sagt er, gleicht ebensowenig der materiellen Qualität, die wir perzipieren, wie der Schmerz dem Schwert gleicht, womit er zugefügt wird. (2) Die Empfindung ist eine rein psychische Realität, die ganz und gar nichts mit der Außenwelt, die wir auffassen, gemeinsam hat. Sie bekommt jedoch dadurch eine objektive Bedeutung, daß sie uns eine Perzeption der physischen Wirklichkeit suggeriert. Wir haben z. B. eine Tastempfindung. An und für sich besitzt diese nicht die geringste Gleichheit mit dem, was wir "Härte" nennen. Aber nichts destoweniger gehen wir von dieser Empfindung unmittelbar dazu über, Härte aufzufassen, was ja die Perzeption einer Außenwelt mit dem unmittelbaren Glauben daran einschließt. Wie dieser Übergang vor sich geht und worauf er beruth, das ist das große Problem. Die einzige Lösung, die REID für annehmbar hält, ist,
    "daß, durch ein originäres Prinzip unserer Konstitution, eine bestimmte Berührungsempfindung dem Verstand beides suggeriert: einen Begriff von Härte und den Glauben daran oder mit anderen Worten: daß diese Empfindung ein natürliches Zeichen von Härte ist." (3)
Für diese Auffassung findet REID auch auf anderen Sinnesgebieten ungesucht Anwendung, so daß er zuletzt meint, den Schluß ziehen zu können, daß unsere Begriffe von Ausdehnung, Form, Bewegung und die übrigen materiellen Attribute weder Empfindungen sind, noch auch solchen gleichen und daß dies eine Tatsache ist, von der wir ebenso sehr überzeugt sein können wie davon, daß wir Empfindungen besitzen.

Das ist ohne Zweifel eine sehr interessante Perzeptionstheorie, die REID hiermit darstellt; wir werden bald Gelegenheit haben, zu sehen, welche weitreichende Bedeutung sie für seine ganze Philosophie besitzt. Aber es dürfte doch kaum gesagt werden, daß sie ihre eigentliche Aufgabe erfüllt - das Dasein einer unmittelbaren Erkenntnis der Dings selbst nachzuweisen. Erstens ist es unmöglich, eine Erkenntnis unmittelbar zu nennen, von der ausdrücklich erklärt wird, daß sie vermittelnde Glieder voraussetzt. Zweitens ist es auf keine Weises klargelegt, daß die Dinge selbst darum Gegenstand unserer Erkenntnis sind, weil die Perzeption eines Dings etwas anderes ist als die Empfindung, die dieses Ding verursacht. Fortgesetzt kann es nur eine Vorstellung in uns sein, so daß die Perzeption trotz all dem nur die Erkenntnis einer Modifikation im Subjekt bedeutet. Daß REID selbst gezwungen war, so zu denken, dafür liefert er reichlich Beispiele. Er schärft z. B. beständig ein, daß "die Wahrnehmung eines Objekts aus einem Konzept besteht, bzw. einen Begriff von demselben impliziert." (4) Daraus geht so deutlich wie möglich hervor, daß REIDs Perzeptionstheorie ebensosehr wie irgendeine andere "eine Repräsentationstheorie der Wahrnehmung" ist.

Noch weniger Erfolg hatte REIDs Versuch, in Bezug auf die übrigen Erkenntnisformen das Vermögen unseres Gedankens klarzulegen, den Wall der Vorstellungen zu überschreiten um im Schoß der Dinge selbst zu ruhen. Er stellte z. B. fest - teilweise ohne sich der Mühe einer näheren Prüfung zu unterziehen -, daß das Gedächtnis "ein unmittelbares Wissen der geschehenen Dinge" (5) enthält, daß der Gedanke an die Zukunft "ein unmittelbares Wissen der Dinge die kommen" (6) ist, und daß unsere Auffassung von einer nicht anwesenden Realität diese Realität selbst zum unmittelbaren Objekt hat. (7) Die Unmöglichkeit dieser Darstellung läßt sich ohne Weiteres einsehen. Wie WILLIAM HAMILTON (8) sehr richtig unterstreicht, leidet sie an einer unlösbaren contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp]. Etwas unmittelbar kennen, kann nichts anderes bedeuten, als es ansich zu kennen. Aber etwas ansich zu kennen, setzt voraus, daß dieses Etwas im gegenwärtigen Augenblick existiert. Diese Voraussetzung ist jedoch in den oben erwähnten Fällen nicht vorhanden.

Muß man somit urteilen, daß es REID nicht geglückt ist, LOCKEs Lehre von den Vorstellungen als einzigem direkten Objekt des Wissens zu widerlegen, so muß man gleichwohl beachten, daß er in einer anderen Hinsicht einen gewichtigen Einwand gegen die gemeinsame Voraussetzung der Vorgänger erhebt. Er widersetzt sich bestimmt der Auffassung, daß Erkenntnis allein in den Beziehungen besteht, die wir zwischen einzelnen Vorstellungen feststellen, und als Stütze für diese oppositionelle Haltung führt er Tatsachen an, die er nach seiner Ansicht bei der Behandlung der unmittelbaren Erkenntnis konstatiert hat. Es hat sich z. B. nach seiner Meinung herausgestellt, daß eine Perzeption in Wirklichkeit keineswegs bloß ein Begriff einer Außenwelt, sondern gleichzeitig ein unmittelbarer Glaube daran ist; daß ein Erinnerungsbild niemals bloß eine Vorstellung von etwas Vergangenem, sondern zugleich eine unumstößliche Überzeugung ist, daß dieses Etwas wirklich existiert hat; daß überhaupt jeder Begriff, der kein reines Phantasieprodukt ist, niemals bloß eine leere Vorstellung ist, sondern stets etwas, was den Glauben an eine vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Existenz einschließt. REIDs Hauptanklage gegen seine Vorgänger wurde deshalb der Vorwurf, daß sie sich in den Bann der absurdesten Ansichten begeben hätten, indem sie die Vorstellungen zu einer Art freien Vögel in der Seelenatmosphäre gemacht hatten, anstatt sie in ihrem wirklichen Zusammenhang zu betrachten: als unsere eine Wirklichkeit fassenden natürlichen und ursprünglichen Urteile.

Diese Kritik führt bei REID zu den bemerkenswertesten Folgerungen. Mit seiner Perzeptionstheorie als Ausgangspunkt sucht er zu zeigen, daß es in der Tat eine Menge ursprünglicher Urteile gibt, die übersehen worden sind infolge jener verhängnisvollen Methode, rein Abstraktionen die wirklichen Tatsachen des Seelenlebens verdunkeln zu lassen. REID macht geltend, daß, gleichwie wir durch unsere ursprüngliche Konstitution von Perzeptionen suggeriert werden, die wir nicht in Zweifel ziehen können, wie ebenso durch dieselbe Konstitution von Prinzipien suggeriert werden, deren Gültigkeit außer Zweifel steht. Oder wie REID selbst seinen Standpunkt präzisiert: es dürfte feststehen, daß es sogenannte natürliche Prinzipien gibt, durch welche die Empfindungen uns die Perzeption einer anwesenden Realität suggerieren, das Gedächtnis die Vorstellung einer vergangenen Existenz, unsere Empfindungen und Gedanken die Idee der Seele. Auf einem ähnlichen natürlichen Prinzip beruth es, daß eine Veränderung in der Natur oder das Auftreten einer Erscheinung uns die Vorstellung einer Ursache suggeriert und uns zwingt, an die Existenz dieser Ursache zu glauben. (9)

Diese Formulierung versetzt uns mit einem Schlag in den Brennpunkt von REIDs Philosophie. Im vollen Gegensatz zu HUME stellt er fest, daß es eine Menge notwendiger Wahrheiten gibt, sowohl logische wie auch moralische und metaphysische, die wir ganz einfach deswegen nicht bezweifeln können, weil sie unbestreitbare Urfakta in unserem Bewußtsein bilden. Diesen Gedanken findet man allerdings schon bei HUTCHESON und BUTLER ausgesprochen, aber vor REID hatte niemand einen so offenen Blick dafür, was das Hauptargument für diesen Intuitionismus bildet. Kurz und bestimmt machte er geltend, daß der notwendige Glaube an gewisse Prinzipien, die wir in uns finden, nicht - wie HUME lehrte - ein Ergebnis von Erfahrungen sein kann, d. h. von Assoziationen, die sich immer von Neuem wiederholen (10), sondern eher als unmittelbares Zeugnis des Bewußtseins dafür gelten muß, daß diese Prinzipien apriorisch sind, d. h. Voraussetzungen für die Erfahrung.

Damit hatte REID seinen wesentlichsten Einsatz in der Geschichte der Philosophie geleistet. Er antiziiert [vorwegnehmen - wp] in unzweideutiger Weise KANT, und wenn er auch eine bei weitem nicht so bindende und logisch durchgeführte Motivierung wie dieser gibt und auch die transzendente Gültigkeit dieser natürlichen Prinzipien gar nicht in Frage stellt, hat er in der Sache doch dasselbe getroffen. Beide wollten gesagt haben, daß das Subjekt nicht mit leeren Händen Zeuge ist, wenn die Dinge vor seinem geistigen Auge entstehen. Beide weisen bestimmt die Vorstellung von der Seele als einer tabula rasa zurück, auf welche die Erscheinungen ihre Umrisse automatisch einzeichnen. In "the common sense of mankind [im gesunden Menschenverstand der Menschheit - wp] fassen wir nach REID diese ersten Prinzipien, die wir gutheißen müssen ganz einfach deswegen, weil wir so sind, wie wir sind. Dieser "common sense" spottet der ganzen Artillerie der Logik, wenn sie gegen ihn selbst gerichtet wird.

Wir werden uns nicht auf eine nähere Kritik dieses Apriorismus einlassen; weiter unten, wenn wir auf HAMILTON zu sprechen kommen, soll das geschehen, wobei der interessante Gegenstand des Streites: der notwendige Glaube [humjac], die Beachtung finden wird, die er verdient. Anstatt dessen möge unsere Aufmerksamkeit hier auf den Zug bei REID gerichtet werden, der vor allem andern seiner Psychologie das Gepräge gibt: die Forderung, die Seelenvorgänge sorgfältig in ihrer unmittelbaren Wirklichkeit zu beobachten.

In wie hohem Grad REID selbst diese Forderung erfüllt, zeigt schon seine Unterscheidung von Empfindung und Perzeption. Aber noch deutlicher geht es aus der Art hervor, in der er die "moderne Entdeckung" kritisiert, daß eine Wahrnehmung, ein Gedächtnisbild und eine Phantasievorstellung, wenn sie dasselbe Objekt haben, sich nur in der Frage der Intensität voneinander unterscheiden (11). Wer da sagt, eine Vorstellung, die den Glauben an ein vorhandenes Objekt einschließt, unterscheidet sich von einer anderen Vorstellung, wo dieser Glaube fehlt, nur im Punkt der Intensität, versteigt sich nach REIDs Meinung zu der ungereimten Behauptung, etwas unterscheide sich von nichts bloß im Punkt der Intensität, nichts bezeichne einen Grad von etwas. Jeder fühlt außerordentlich wohl, was es heißen will, einen Gegenstand mit seinen Augen zu sehen oder sich bloß daran zu erinnern, oder was es bedeutet, sich ein Ding vorzustellen, das überhaupt nicht existiert. Daß hier ganz verschiedene geistige Operationen vorliegen, davon ist jeder ebenso überzeugt wie davon, daß Laute sich von Farben und beide vom Geschmack unterscheiden; ebenso leicht könnte man glauben, daß Laute und Farben und Geschmack sich nur gradweise voneinander unterscheiden, wie das Gedächtnisbild und die Phantasievorstellung es tun. (12)

Diese energische Betonung des spezifischen Charakters der drei Seelenvorgänge verrät deutlich, wogegen die Spitze gerichtet ist. Das ist der analysierende und abstrahierende Gedanke, mit dem ins Gericht gegangen wird. Wenn man geltend machte, daß eine Wahrnehmung, ein Gedächtnisbild und eine Phantasievorstellung sich nur im Punkt der Intensität unterscheiden, da nahm man sich nach REID eigentlich vor, eine reine Abstraktion - das, was für die drei Vorgänge gemeinsam ist, nämlich den Begriff des Objekts - mit der unmittelbaren psychischen Realität zu identifizieren, die jeder für sich repräsentiert. REIDs Hinweis auf die Unmittelbarkeit des Seelenlebens scheint also stets auf ein und dasselbe hinaus zu laufen. Er will betonen, daß Gedanken-Distinktionen und reelle Distinktionen nicht ein und dasselbe bedeuten und daß es deshalb gilt, der Prätension des Denkens, es könne mit seinen diskursiven Operationen die Fakta unfehlbar richtig wiedergeben, mit einem gesunden Mißtrauchen zu begegnen. Das unmittelbare Zeugnis des Bewußtseins müsse als entscheidende Instanz der Seelenerkenntnis gelten.

Es dürfte kaum geleugnet werden, daß REID an und für sich ein gutes Werk verrichtete mit seiner bestimmten Forderung einer gewissenhaften Beobachtung des unmittelbaren Seelenlebens. Die spätere schottische Philosophie empfing auch in dieser Hinsicht von ihm ihr bestes Erbe. Als beschreibende Psychologie gelangte sie am weitesten und hat als solche bis hinein in unsere Tage eine bemerkenswerte Bedeutung gehabt. Aber nichtsdestoweniger liegt in REIDs Forderung eine Tendenz, die aller wissenschaftlichen Psychologie ziemlich feind ist. Wenn REID der vorhergehenden Psychologie z. B. vorwarf, sie habe mit einem rein abstrakten Perzeptionsbegriff gewirtschaftet statt auf das unmittelbare Zeugnis des Bewußtseins zu lauschen und ihm zu entnehmen, es liege hier keineswegs eine einfache und isolierte Vorstellung vor, sondern etwas, was zu gleicher Zeit sowohl die Beziehung zu einem Objekt wie auch zu einem Subjekt besitzt, - so richtete er im Grunde einen Tadel gegen die gesamte analytische Psychologie. Denn es ist klar, daß alle Fakta dieser Psychologie mehr oder weniger Abstraktionen sein müssen; analysieren bedeutet eben, das, was in Wirklichkeit zusammengesetzt ist, zu zerlegen. Das unmittelbare Erlebnis und der analysierende Gedanke sind natürliche Antagonisten. Es ist kein Zufall, daß REID es uns mehr als einmal einschärft, es gelte gegen "jeden ohne Ausnahme, der reflektiert", (13) sich zusammenzuschließen.

REIDs Hinweis auf die Unmittelbarkeit des Seelenlebens bezeichnet also eine deutliche Reaktion gegen die immer tiefer dringende psychologische Analyse. Und es war umso mehr eine Reaktion, als REID es hierbei kaum über ein bloßes Negieren brachte. Er sucht nirgends sich in das Wesen unseres analysierenden Gedankens zu vertiefen, d. h. er versäumt überhaupt, die Art und Bedingung unserer Erkenntnis festzustellen. Das rächte sich auch in auffallender Weise an seiner eigenen Psychologie. REID war natürlich selber gezwungen, in gewissem Umfang zu analysieren - ohne das zu tun, ist Erkenntnis nicht möglich - ja, er mußte sogar dieses Verfahren zuweilen warm empfehlen (14). Die Folge war, daß auch er sich nicht vor den unmöglichen Problemstellungen in acht zu nehmen verstand, welche die Analyse schafft. Das geht eigentümlicherweise besonders deutlich aus der Behandlung des Problems hervor, wo REIDs Gegensatz zu HUME seine schärfste Form annimmt: bei der Behandlung des Ich.

REIDs Auffassung dieses Problems kann am besten und kürzesten mit seinen eigenen Worten wiedergegeben werden:
    "Ich bin nicht meine Gedanke, meine Handlungen, meine Gefühle; ich bin etwas, das denkt, das handelt, das leidet. Meine Gedanken, meine Handlungen, meine Gefühle wechseln jeden Augenblick - sie haben keine kontinuierliche, sondern eine sukzessive Existenz; aber jenes Selbst oder Ich, zu dem sie gehören, ist bestehend und hat dieselbe Beziehung zu all den aufeinander folgenden Gedanken, Handlungen und Gefühlen, die ich die meinigen nenne."
Und weiter:
    "Meine persönliche Identität schließt die kontinuierliche Existenz jenes unsichtbaren Dings ein, das ich mein Selbst nenne. Was dieses Ich auch sein mag, so ist es jenes Etwas, das denkt, überlegt, beschließt, handelt und leidet." (15)
Man kann sich keinen entschlosseneren Versuch denken als diesen, die Hoheit des Ich gegenüber den ephemären [kurzzeitigen - wp] Bewußtseinszuständen zu wahren. Gleichwohl muß gesagt werden, daß kein wirksamerer Versuch unternommen werden konnte, dieses selbe Ich ums Leben zu bringen. REIDs Ichbegriff ist eine vollkommen inhaltslose Bestimmung; das ist so offenbar, daß sogar VICTOR COUSIN, der REIDs einflußreichster Verkündiger auf dem Kontinent wurde und nur selten seine Lehre kritisiert, Anlaß nimmt, darüber zu klagen, wie "une entité abstraite" [ein abstraktes Wesen - wp] REIDs Geist umdüstert und ihren Schatten mit dem klaren Licht der gesunden Vernunft vermengt hat (16). REID hat das seelische Einheitsprinzip ohne Erbarmen aus dem Gebiet ausgewiesen, das allein Anspruch darauf machen kann, eine psychische Wirklichkeit zu vertreten: das Bewußtsein.

Die Ursache dieser Ausweisung liegt offen zutage. Als REID den Inhalt des Bewußtseins musterte, konnte er nicht umhin, unfreiwillig ein Bild davon zu erhalten, das in gewisser Weise HUME recht gab. Das Bewußtseinsleben bekam wirklich, je mehr er sich in ihm orientierte, d. h. je mehr sein analysierendes Denken sich geltend machte, das Gepräge einer Serie freistehender Seelenelemente. Er konnte es nicht verhindern, daß jeder von ihm gemachte Unterschied im Grunde eine Zerbrechung einer vorhandenen Realität enthielt. Denn wenn auch die hierbei entstandenen Teile in Wirklichkeit nicht getrennt waren, so bezeichneten sie doch nunmehr als Erkenntnisobjekte verschiedene Größen. Auf diese Weise unterlag das Seelenleben vor REIDs Augen einer schnellen Veränderung. Die Kontinuität wurde in Diskontinuität verwandelt, das Identische mußte lauter Verschiedenheiten weichen. Und REID war gezwungen, gleiche HUME zu erklären, das Ich, das ja etwas Bestehendes und für jeden Seelenmoment Charakteristisches sein sollte, könen nicht in einem unaufhörlich wechselnden Inhalt verborgen liegen, der von unserem Bewußtsein repräsentiert wird.

REID ließ sich mit einem Wort willenlos in dasselbe Labyrinth führen, in dem sich auch HUME verirrt hatte. Und man wird kaum sagen können, daß der Ariadnefaden, mit dem er sich wieder herauszufinden hoffte, besser war als derjenige, nach dem HUME griff. Die beiden Philosophen erprobten sehr einfache Mittel. Wie LESLIE STEPHEN sagt.
    "Wenn Reid einen unerklärlichen Glauben findet, spricht er von einem göttlichen Instinkt, während Hume nur sagt, daß da eine Fiktion vorliegt." (17)
Hier wenn überhaupt irgendwo hätte REID jene glückliche Einsicht nötig gehabt, die seinen philosophischen Gedanken ursprünglich in Bewegung setzte, die Einsicht, daß die Absurdität der Ergebnisse die Falschheit der Prämissen beweist. Aber vergebens forscht man bei ihm nach einer solchen Einsicht in diesem Punkt. Es fiel ihm nicht ein, die Richtigkeit seiner Problemstellung in Frage zu stellen; er hatte allzuwenig über das Wesen der Erkenntnis reflektiert, um den richtigen Blick für die Behendigkeit zu gewinnen, mit der unser Denken verwirrende Probleme aus einem Nichts schafft. Natürlich ist das Subjekt etwas anderes als seine Prädikate, das Ich etwas anderes als seine Zustände, aber diese Verschiedenheit ist nur eine logische, keine wirkliche Verschiedenheit, ist eine Analyse auf Kosten der Synthese.

Wir sehen hier, wie REID sich von den gefährlichen Problemphantomen der Analyse übermannen ließ. HUMEs warnendes Beispiel hatte im Grunde keinen größeren Eindruck auf ihn gemacht, als daß er glaubte, alles lasse sich heilen mit allgemeinen Ermahnungsworten wie Vorsicht, Beherrschung usw., gerade wie ein wilder Traber sich vom Pfeifen des Kutschers beruhigen läßt. Man wird vielleicht einwenden, daß REID eine viel wirksamere Abhilfe suchte, wenn er die unmittelbare Wirklichkeit des Bewußtseins als die Realität aufstellte, die keine Analyse aus dem Gesicht verlieren darf; man wird an seine verdienstvolle Betonung einer strengen und methodischen Selbstbeobachtung erinnern. Doch all das macht den Fall bloß umso interessanter. Hier sehen wir deutlich, wie wenig ein solcher Hinweis auf die Unmittelbarkeit des inneren Lebens hilft, wenn man doch ebensowenig wie seine Antagonisten die Augen für den innersten Grund der Absurditäten offen hat. Es ist übrigens unmöglich, sich selbst zu beobachten, ohne schon zu analysieren, und es ist ausgeschlossen, daß man nach unmittelbarem Selbsterlebnis streben kann, ohne im Voraus das zarte Gewebe des Unmittelbaren entzwei zu schneiden.

Aber um an REIDs Lösung des Ich-Problems wieder anzuknüpfen: als er das seelische Einheitsprinzip "behind the scene" [hinter den Kulissen - wp] (18) verwies, brachte das mit sich, daß es ein für allemal außerhalb der aktuellen psychologischen Untersuchung blieb. Diese mußte ihren ruhigen Gang haben, unabhängig davon, ob die Fakta des Bewußtseins als "exertions" [Anstrengung - wp] oder als "operations" eines unbekannten Vermögens zu betrachten sind oder nicht. REID bietet mit einem Wort einen eigentümlichen Anblick: er hält eigensinnig an einem seelischen Einheitsbegriff fest, ohne daß gleichzeitig seine Untersuchung irgendeine Rücksicht darauf zu nehmen braucht; er betont, wie wichtig es ist, im Kreis der unmittelbaren Realität des Seelischen stehen zu bleiben, nimmt aber gleichzeitig den Kurs daran vorbei.

Diese in die Augen springende Doppelheit bei REID ist in der Tat charakteristisch für seine ganze Philosophie. Er bedient sich in seinem Denken zweier verschiedener Methoden: auf der einen Seite der intuitiven Methode, die mit ihrem Hören auf das unmittelbare Zeugnis des Bewußtseins zum Appellieren an den "common sense" wurde; auf der anderen Seite der analytischen Methode, die nicht umhin konnte, auf die Thesen HUMEs zu weisen. REIDs Philosophie ist ein Kreuzungsprodukt dieser verschiedenen Methoden - es kam darauf an, immer auf irgendeine Weise ihre abweichenden Ergebnisse zu kombinieren. In dieser Hinsicht ist gerade die Behandlung des Ich-Problems lehrreich. REID hatte das Zeugnis der intuitiven Methode: den unverrückbaren Glauben an ein Ich, mit dem negativen Resultat, das die analytische Methode ergab, in Übereinstimmung zu bringen. Das konnte nicht anders geschehen als durch die Errichtung einer doppelten Seelenhaushaltung: unter dem aktuellen Bewußtsein mußte eine tiefere seelische Wirklichkeit angenommen werden, unantastbar für die Manipulationen unseres destruktiven Denkens.

Es dürfte doch zu beachten sein, daß REIDs hartnäckiges Festhalten an einem Ich auch einen anderen Grund hatte als den unverrückbaren Glauben daran, den er in seinem Bewußtsein zu finden meinte. Er hatte eine besondere Anwendung für das einheitliche, beständige Ich: er erklärte ganz einfach, daß alles, was in unserem Bewußtsein vorgeht, im Namen dieses Ichs vorgeht. So spielte in seinem System das Ich dieselbe Rolle wie zur Heidenzeit die Bilder, zu deren primitiven Füßen abergläubische Leute Gaben und Opfer niederlegten.

Auf solche Weise also wollte REID das Problem "lösen", das vor allem anderen HUME zu Fall brachte: das Problem, wie eine Serie von freistehenden Seelenelementen zusammenhält und einen geordneten Anblick zu zeigen vermag. Daß seine Lösung eine Kapitulation war, das ging ihm niemals auf.


HUME und REID sind von unserem Gesichtspunkt aus sicherlich die interessantesten Denker, die wir bisher betrachtet haben. Beide sind die äußersten Exponenten für verschiedene Anschauungen. Sie unterschieden sich unwiderruflich voneinander darin, daß der eine die Erfahrung, d. h. die Assoziation der Vorstellungen, als einzigen Grund der Erkenntnis annahm, während der andere auf die inneren Notwendigkeiten hinwies, indem er erklärte, daß unser Wissen in der Luft schweben würde, wenn nicht dessen prima principia apriorisch gewiß wären. In dieser erkenntnistheoretischen Meinungsverschiedenheit tritt eine psychologische Meinungsverschiedenheit deutlich zutage. Es ist klar, daß REIDs Hervorhebung des menschlichen Denkens als eines irreduktiblen Elements in aller Erkenntnis eine Hervorhebung des aktiven Charakters unseres Wesens in sich birgt. In voller Übereinstimmung hiermit stand die Art, in der er auf die Forderung der Einheit in der Seele reagierte. HUME ließ diese Forderung fallen, REID hielt sie für unausweichlich. Fragt man nach der entscheidenden Ursache der Radikalität dieser Meinungsverschiedenheit, so dürfte es keine bessere Antwort als folgende Äußerung von HUME geben:
    "Wenn ich von irgendeinem Prinzip überzeugt bin, so ist dies nur eine Idee, die einen stärkeren Eindruck auf mich macht. Wenn ich die eine Reihe von Argumenten einer anderen vorziehe, so tue ich nichts anderes, als daß ich von meinem Gefühl aus hinsichtlich der Überlegenheit ihres Einflusses entscheide." (19)
Kurz gesagt: HUMEs und REIDs entgegengesetzte Haltung hatte letztlich ihren Grund in Umständen, die tiefer lagen als alle logischen Motivierungen: in einem unüberwindlichen Gegensatz der Persönlichkeiten. REID und HUME hatten ein für alle Mal zwischen einer selbständigen, aktiv bestimmenden Seele und einer passiven, mechanisch gebundenen Folge von Seelenmomenten zu wählen; sie hatten eine Entscheidung zu treffen, ob die Seele Subjekt, Ich, Wille ist, oder nur Objekt, eine Sammlung von Seelenelementen, ein Verlauf von verschiedenen Wesenheiten. Jeder ging den Weg, der für ihn natürlich war. Natürlich für jeden wurde damit auch die Verschiedenheit der Beweisketten, die sie schmiedeten, um ihre Beschlüsse zu rechtfertigen.

Was von HUME und REID gilt, gilt auch von den anderen. Die Auffassung vom Seelenleben, die schon BACON angab und die mit HOBBES, HUME und HARTLEY in ihre Konsequenzen verfolgt wurde, war von einem apriorischen Mißtrauen gegen alles, was seelische Aktivität heißt, gekennzeichnet. Dieser Blick auf die Sache hatte die zwei Sätze zur unmittelbaren Folge: jede Vorstellung muß ihren Ursprung in den Sinnen haben; der Unterschied zwischen einer Empfindung und einer Vorstellung ist nur ein Intensitäts-Unterschied. Aber noch ein dritter Satz wurde dadurch in die Welt gesetzt: das Axiom, daß das, was unterschieden werden kann, auch als allein für sich existierend gedacht werden kann. Denn wenn das Seelenleben einmal durchweg als Passivität aufgefaßt wird, so ist es klar, daß es in die Teile auseinanderfällt, welche die Analyse voneinander sondert. Mit anderen Worten: der Psychologe bekam die ganze Begriffsrüstung fertig in seine Hand, deren rechter Gebrauch HUMEs und HARTLEYs Psychologie ausmachte.

Auf der anderen Seite haben wir die Gegenpole BERKELEY und REID. BERKELEY biß sich in etwas fest, was sogar der Materialist HOBBES anerkannte: in den subjektiven Charakter unserer Wahrnehmungen. Das eröffnete eine seltene Perspektive. Die Seele vertauschte wie mit einem Zauberschlag ihre Gestalt und präsentierte sich als Aktivität, in deren Machtbereicht die Welt selbst ihren Ursprung nahm. Aus dieser seelischen Szenenveränderung ging dann BERKELEYs System hervor, das scharf von dem der Vorgänger und Nachfolger abwich. REID zeigt eine verwandte Physiognomie. Er stand stark unter der Suggestion der Aktivitätsmomente des Seelenlebens, d. h. der Fakta wie etwa der notwendige Glaube, das Ichbewußtsein, das Willenserlebnis usw. Er wurde mit einem Wort von einer Grundanschauung beseelt, welche die Behauptung dieser Faktoren unnachsichtlich forderte. Das genügte, um die Hauptthesen der Passivisten als unhaltbar erscheinen zu lassen. Die Kritik ergab sich von selbst.

Wir sehen, kurz gesagt, daß das Seelenleben unter zwei verschiedenen Aspekten betrachtet wurde: bald als Passivität, bald als innere, selbständige Kraft. Jeder Aspekt entschleiert sich als Ausgangspunkt für seinen besonderen Motivkreis, seine besonderen Beweisketten; so geschieht es, daß das Denken unrettbar auseinander geht, indem verschiedene Ziele gesteckt werden. Aber wir sehen noch etwas dazu, und hier ist der Fall REID aufklärend. Es will nämlich scheinen, als ob der erste Aspekt in einem besonders nahen Verhältnis zum Wesen der Erkenntnis steht. REID war stark in der Kritik, aber sobald er dazu schritt, die eigene Theorie positiv auszugestalten, wollten die erworbenen Gewinste aus seinen Händen gleiten (20). Am deutlichsten trat das bei der Frage des Ich hervor; hier blieb nur der Name übrig von der Größe, um derentwillen er seine große Schlacht geliefert hatte.
LITERATUR - Hans Ruin, Erlebnis und Wissen, Helsingfors 1921
    Anmerkungen
    1) Es könnte wohl jemanden stutzig machen, daß Voraussetzungen, die in eine spiritualistische Richtung hineinpassen, wo von Gegenständen außerhalb der Vorstellung gänzlich abgesehen wird, auch einer materialistischen Anschauung genehm sein können, die doch, das spezifisch Geistige verneinend, nur Gegenständliches gelten läßt. Die Erklärung findet sich jedoch unschwer, sei es daß man sie von der spiritualistischen oder von der materialistischen Seite her sucht. Indem der Spiritualismus die Erkenntnisakte auf die Vorstellungen gerichtet sein läßt und damit den Unterschied zwischen Vorstellung und Gegenstand (im gewöhnlichen Sinn) aufhebt, scheidet er die Vorstellungen aus dem Ganzen der eigentlichen geistigen Tätigkeit aus und gibt ihnen zugleich jene scharfe Abgrenzung gegeneinander, deren Muster nur der gegenständlichen Welt entnommen sein kann: er materialisiert dadurch gleichsam die Vorstellungen. Indem andererseits der Materialismus, oder doch der rohe Realismus, uns die Gegenstände unmittelbar fassen läßt, stellt er gewissermaßen die Vorstellungen den Gegenständen gleich, wobei es dann schließlich wenig Unterschied macht, ob man sich die Erkenntnisakte als auf die Gegenstände oder auf die Vorstellungen bezogen denkt. Das analysierende, scharf scheidende Verfahren, das der gegenständlichen Welt gegenüber am Platz war, erhält eo ipso [schlechthin - wp] Geltung für das psychische Gebiet. So kommen hier in der Tat Spiritualismus und Materialismus einander weit entgegen.
    2) REID, Inquiry into the Human Mind, Works I, Seite 128
    3) REID, Inquiry a. a. O., Seite 121
    4) REID, ebd. Seite 183. Essays on the Intellectual Powers of Man (Works I, Seite 258, 318, 319 etc.)
    5) Inquiry, Seite 106; Intellectual Powers, Seite 339, 351, 357.
    6) Intellectual Powers, Seite 340
    7) Inquiry, Seite 106; Intellectual Powers, Seite 374.
    8) In den Kommentaren zu REIDs Works II, Seite 810.
    9) REID, Inquiry etc. Seite 111
    10) Diese Beweisführung bildet noch heute das Hauptstück in der Verteidigung des Intuitionismus und Logismus. Siehe z. B. HUSSERLs Kritik des Psychologismus in "Logische Untersuchungen", Bd. I, Seite 62.
    11) Inquiry, Seite 107
    12) Intellectual Powers, Seite 359
    13) Siehe hierüber u. a. HENRY LAURIE, Scottish Philosophy in its national development, Seite 136.
    14) siehe Inquiry, Seite 98, 99; Intellectual Powers, Seite 232.
    15) Intellectual Powers, Seite 345
    16) COUSIN, Cours de l'histoire de la Philosophie moderne, Premiére série, Tome IV, Seite 448
    17) STEPHENS, History of English Thought in the eighteenth century, Vol. I, Seite 63.
    18) REID geht keineswegs nur mit dem Ich auf diese Weise zu wege. Er tut es jedesmal, wenn die Rede auf einen seelischen Einheitsfaktor kommt. Siehe z. B. was er über das aktive Vermögen unseres Wesens sagt in "Essays on the active Powers of Man" (Works II, Seite 512-513).
    19) HUME, Treatise I, Seite 403
    20) REIDs Perzeptionstheorie ist ein Beispiel hierfür. In seiner Kritik der Lehre seiner Gegner betont er, daß man nicht den Glauben vom Perzeptionsinhalt unterscheiden darf. Indessen unterscheidet er unwillkürlich später zwischen zwei Momenten im Perzeptionsakt: zum einen die Vorstellung oder den Begriff vom wahrgenommenen Objekt; zum anderen die strenge und unabweisbare Überzeugung und der Glaube an seine gegenwärtige Existenz." (Intellectual Powers, Seite 258)