P. NatorpP. RéeH. MünsterbergJ. BahnsenS. WernerJ. Baumann | |||
Grundlinien zu einer Kritik der Willenskraft [3/3]
5. Philosophischer und ökonomischer Liberalismus Die große Bedeutung, die der willenstheoretischen Betrachtungsweise zugebilligt werden muß, wird sich am besten ersehen lassen, wenn wir nunmehr des Näheren den Streit ins Auge fassen, der sich seit mehreren Jahrzehnten zwischen den Anhängern der idealistischen und der materialistischen Geschichtsauffassung abspielt. Um die materialistische Geschichtsauffassung vollends begreifen zu können, müssen wir jedoch auf ihre Wurzel, auf ihren Ursprung zurückgehen. Als Komplementärfarbe zu HEGELs idealistischer Geschichtsauffassung kann sie nur sehr unvollkommen verstanden werden. Sie steht ebenso sehr in Abhängigkeit von den geschichtsphilosophischen Doktrinen der britischen Nationalökonomie, schon die Lehren dieser sogenanten klassischen Schule, die sich an ADAM SMITH anschloß, stellen die entschiedenste Reaktion gegen den Rationalismus dar, und zwar gegen den Rationalismus der Aufklärungsphilosophie. Wo man vom Liberalismus spricht, wird nämlich viel zu wenig darauf geachtet, daß es zwei Spielarten des Liberalismus gibt, die in diametralstem Gegensatz zueinander stehen, wenn sie sich auch zeitweilig zu gemeinsamer Aktion verbanden. Nichts kann tatsächlich einander unähnlicher sein, als der philosophische Liberalismus der Aufklärungsphilosophie und der ökonomische Liberalismus der britischen Nationalökonomie. Der philosophische Liberalismus steht auf dem Standpunkt, daß alle Mängel des Bestehenden durch schlechte und ungerechte Institutionen verursacht sind, daß nicht die Natur oder gar die menschliche Natur für alle anzutreffenden Schäden verantwortlich sind, daß vielmehr die Natur uns im Übermaß ihre Gaben zur Verfügung stellt, daß der Mensch, wenn er auch von Haus aus von tierischen Instinkten beherrscht ist, im höchsten Maß Bildungsfähigkeit besitzt, und daß also der gute Wille, wenn er erst zur Macht gelangt wäre, weitaus glücklichere Verhältnisse bewirken könnte als diejenigen, die wirklich anzutreffen sind. Ganz im Gegensatz dazu behauptet der ökonomische Liberalismus, daß wohl allerdings durch schlechte Institutionen mancherlei Übel hervorgerufen werden, daß aber ein günstiger Sozialzustand nicht durch bessere Institutionen zu erreichen ist, sondern nur dann, wenn die Staatsgewalt verzichtet, überhaupt in das freie Spiel der Kräfte einzugreifen. Der ökonomische Liberalismus ist hinsichtlich der sozialen Entwicklung nicht optimistisch. Er glaubt nicht daran, daß das Elend aus der Welt zu schaffen ist, denn er hält, darin dem philosophischen Liberalismus schnurstracks entgegentretend, die Natur für äußerst karg in ihren Gaben, und die menschliche Natur unausrottbar im Egoismus verstrickt, so daß alle Bildungsarbeit, wenn sie darauf hinausläuft, den Menschen ändern zu wollen, vergeblich ist. Auch das Freiheitsideal des philosophischen Liberalismus und des ökonomischen ist ein fundamental verschiedenes. Der philosophische Liberalismus postuliert für jeden volle Freiheit, aber nur in einem solchen Umfang, daß sie die Freiheit seines Nebenmenschen nicht gefährdet; das vollkommene Gegenteil verlang der ökonomische Liberalismus. Er fordert schrankenlose Freiheit, eine Freiheit, die die Freiheit des Nebenmenschen nicht berücksichtigt, damit überall die Tüchtigsten zur Herrschaft gelangen und die Untüchtigen unterliegen. Während es dem philosophischen Liberalismus in erster Linie auf die Freiheit der Individuen ankam, richtete sich der ökonomische Liberalismus mit Energie nur auf die Freiheit der Wirtschaft. Ihm war die Produktion das allein Wesentliche, und für die Freiheit der Individuen trat er nur insoweit ein, als sie im Interesse der Entwicklung der Produktion geboten war. Neben der Vermehrung der Produkte war ihm das persönliche Geschick der lebendigen Träger der Produktivkräfte mehr oder weniger gleichgültig. Was uns hier aber ganz besonders am ökonomischen Liberalismus interessiert, ist der Umstand, daß er den Ideen das denkbar geringste Vermögen beimaß, die soziale Entwicklung beeiflussen zu können. Hinsichtlich der Rolle der Ideen im sozialen Geschehen hebt sich der ökonomische Liberalismus zweifellos am schärfsten vom philosophischen ab. Während dieser mit Enthusiasmus die Allmacht der Ideen verficht, behauptet jener mit eisiger Nüchternheit die Ohnmacht der Ideen. Für den ökonomischen Liberalismus ist es ganz vergebliche Mühe, wenn die Menschen für bessere Existenzbedingungen, für bessere gesellschaftliche Zustände kämpfen; die Naturgesetze der Wirtschaft bestimmen das jeweilig Mögliche, und mehr als die Naturgesetze der Wirtschaft uns von selbst gewähren, können wir nicht erreichen. Wir dürfen nicht wähnen, die Natur oder die Menschen ändern zu können, sondern müssen unsere ganzen Hoffnungen auf das freie Spiel der Kräfte setzen, die immer aus sich selbst denjenigen Fortschritt bewirken, der in einer gegebenen Phase überhaupt möglich ist. Und auch noch eines erachtet der ökonomische Liberalismus für ein Naturgesetz: Jeder einzelne kann sich wohl selbst helfen, sofern er nur seinen Egoismus kräftig anstrengt, aber niemand kann durch staatliche Institutionen den Zustand der Gesellschaft verbessern: d. h. es kann wohl jeder egoistisch sich selbst, aber nicht Alle sozial Allen helfen. Diese Annahme ist für den ökonomischen Liberalismus sowohl eine notwendige Folge der Naturgesetze der Wirtschaft wie auch der Naturgesetze des menschlichen Charakters. Man braucht diese Behauptungen nur in ihr kontradiktorisches Gegenteil zu verkehren und man hat die Grundlehren des philosophischen Liberalismus. Der philosophische Liberalismus vertritt einen willenstheoretisch schlecht fundierten Individualismus, der ökonomische Liberalismus einen unhaltbar extrem-voluntaristischen Separatismus. So rationalistisch also die Aufklärungsphilosophie war, so anti-rationalistisch gebärdet sich die klassiche Nationalökonomie, und zwar setzt sie sich für einen Voluntarismus naturalistischer Spielart ein. Sucht man ihe alles in allem doch recht unklaren Behauptungen bezüglich des Ganges des historischen Geschehens exakt herauszuarbeiten, so läuft ihre Anschauung ungefähr auf folgendes hinaus: Bestimmend für den Gang des Geschehens sind nicht die Ideen der Menschen, sondern der Wille der Natur. Und soweit der Wille der Natur im Menschen zum Ausdruck gelangt, nötigt er ihn zu egoistischem Handeln. Die Natur will also die egoistischen Menschen, die egoistischen Menschen wollen die Verhältnisse wie sie sind, und gegenüber dem egoistischen Willen sind die objektiven Ideen durchaus unfähig etwas auszurichten. Danach nimmt also der naturalistische Voluntarismus der britischen Wirtschaftstheoretiker erstens der Primat des Willens der Natur vor dem Willen des Menschen an, konstatiert zweitens den Primat des menschlichen Willens vor dem Intellekt, und behauptet drittens den Primat des egoistischen Erkennens vor dem objektiven Erkennen. Daß diese Behauptungen in der klassischen Nationalökonomie keinen adäquaten Ausdruck gefunden haben, hat darin seinen Grund, daß die Nationalökonomie von Anfang an wohl mit größter Arroganz apodiktische [sichere - wp] Urteile über sozialphilosophische Probleme abzugeben sich befugt erachtete, aber in keiner Weise die sozialphilosophischen Probleme mit Gründlichkeit zu studieren suchte. ADAM SMITH kam allerdings von der Philosophie her zur Nationalökonomie, aber er hat es trotzdem unterlassen, seine ökonomischen Behauptungen philosophisch zu fundieren. Nichts ist nun interessanter, als nebeneinander die Entwicklung der philosophischen und der ökonomischen Wissenschaft von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu betrachten. Während die Philosophie mit KANT, HEGEL und in gewissem Sinne trotz FICHTE ihren rationalistischen Charakter immer mehr und mehr verschärft, vertieft sich mit SMITH, MALTHUS, SAY und RICARDO immer stärker und stärker der anti-rationalistische Charakter der Ökonomie (9). Und was noch wunderbarer ist, zur selben Zeit, wo der philosophische Rationalismus seinen glänzendsten Triumphzug durch die ganze zivilisierte Welt antritt, feiert auch der antirationalistische Naturalismus der Nationalökonomie weiter einen glorreichen Sieg nach dem andern. Wir müssen es uns hier versagen, bis ins Detail den Ursachen nachzugehen, denen es zuzuschreiben ist, daß der philosophische und der ökonomische Liberalismus trotz ihrer abgrundtiefen Gegensätzlichkeit während der gleichen Phase zu so hohen Ehren gelangten. Nur auf das eine sei verwiesen: ihre gemeinsame Feindschaft gegen die Gebundenheit des Mittelalters, gegen die Übermacht des Dogmas, wie insbesondere ein Empfinden, das man am besten als Hang zum Dualismus bezeichnen könnte, wäre hierfür verantwortlich zu machen. Was die kantische und die unmittelbar nachkantische Zeit philosophisch wohl am treffendsten charakterisiert, ist der Umstand, daß man den Widerspruch zwischen Erkenntnis und Wirklichkeit in der Weise zur Einheit zu bringen suchte, daß Erkenntnis und Wirklichkeit ihren getrennten Weg weiter gehen konnten wie bisher, ohne daß dies eben einen Widerspruch zu bedeuten brauchte. Sowohl KANTs Versuch zwischen den naturnotwendigen Erkenntnissen der reinen Vernunft und den angeblich sittlich notwendigen Erkenntnissen der reinen Vernunft und den angeblich sittlich notwendigen Postulaten der praktischen Vernunft auf solche Art zu vermitteln, daß beide in ihrer Gegensätzlichkeit nebeneinander bestehen konnten, ohne sich zu stören, als auch HEGELs dialektische Vermittlung zwischen dem Wirklichen und dem Vernünftigen, sind, genau betrachtet, nichts anderes als - wenn auch weit großartigere - Wiederholungen des alten theologischen Prinzips von der doppelten Wahrheit. Ebenso KANTs wie HEGELs ganze Lebensarbeit läuft darauf hinaus, reale Widersprüche aufgrund formaler Prinzipien zu versöhnen, ganz im Gegensatz zu den Aufgaben, die sich heute die Philosophie zu setzen anfängt, indem sie strebt, unsere Weltanschauung so zu gestalten, daß eine Wahrheit die andere ausschließt, daß also eine realistishe Vereinheitlichung die künstliche, bloß formale Einheit sprengt. Aufgrund unserer heutigen, wissenschaftlichen Überzeugungen müssen wir deshalb unbedingt erklären: Der erkenntnistheoretische Idealismus KANTs und der naturalistische Materialismus der britischen Nationalökonomie können nicht zusammen bestehen. Wir können nicht zugleich Kants Imperativ "Du kannst, denn Du sollst!" und die Devise des ökonomischen Liberalismus, welche auf ein: Du sollst nicht, denn du kannst nicht! hinausläuft, gut heißen. Aber sowohl KANTs "Du kannst, denn du sollst!" als auch das: "Du sollst nicht, denn du kannst nicht!" des ökonomischen Liberalismus weisen mit eindringlichster Wucht methodologisch nach der gleichen Richtung, nämlich auf das Problem des Könnens hin. Schon also die bloße Betrachtung des Rationalismus der Aufklärungsphilosophie und des Kritizismus, wie auch der antirationalistische Naturalismus der britischen Nationalökonomie schieben der Willenstheorie ein ganzes Bündel schwierigster Fragen zu, die allein aufgrund der Willenskritik zureichend beantwortet werden können. Hinsichtlich des Rationalismus überhaupt hat die Willenstheorie ganz allgemein den Primat des Erkennens vor dem Willen zu erörtern. Hinsichtlich des Kritizismus hat sie zu untersuchen, inwiefern der Primat der praktischen vor der reinen Vernunft, d. h. inwiefern der Primat des Sollens sowohl vor dem Erkennen, wir vor dem Können berechtigt ist, und wie sich Erkennen, Wollen, Sollen und Können überhaupt zueinander verhalten. Und beinahe noch interessantere Probleme gibt der ökonomische Liberalismus der Willenstheorie zur Lösung auf. Sie muß, um ihm gerecht werden zu können, exakt festzustellen suchen, bis zu welchem Grad tatsächlich ein Primat des Willens der Natur vor dem Willen des Menschen besteht, und bis zu welchem Grad der Wille als egoistischer Wille den Intellekt dirigiert, d. h. inwieweit das das Handeln bestimmende Erkennen notwendig ein egoistisches Erkennen sein muß. - Weiterer reicher Stoff fließt der Willenstheorie durch die materialistische Geschichtsauffassung zu. objektivistische Geschichtsauffassung Die materialistische Geschichtsauffassung, die weit richtiger objektivistische Geschichtsauffassung heißen sollte, verdankt, soweit sie dem wissenschaftlichen Sozialismus als Basis dient, in ihren Grundlinien ganz sicherlich der Weltanschauung des ökonomischen Liberalismus ihren Ursprung. Ja es ist sogar ganz deutlich zu sehen, wie die zwei Erscheinungsformen des Liberalismus, als philosophischer und ökonomischer Liberalismus, auch zwei verschiedenen Arten des Sozialismus zum Leben verhalfen. Die erste Gestalt, in der der Sozialismus die Weltbühne betrat, ist diejenige, die heute als sogenannter utopischer Sozialismus bezeichnet wird, von der es gewiß ist, daß sie von GODWIN, SAINT-SIMON, OWEN ihre Abkunft herleitet, und man kann hinsichtlich dieses Sozialismus gar nicht im Zweifel sein, daß er einen Zweig des philosophischen Liberalismus darstellt. Der sogenannte wissenschaftliche Sozialismus, der in MARX und ENGELS gipfelt, und der sich auf den Boden der materialistischen Geschichtsauffassung stellt, ist ganz ebenso zweifellos dem ökonomischen Liberalismus entwachsen. Diese Herkunft gibt ihm sein weitaus realistischeres Gepräge, aber wir dürfen nicht vergessen, daß die vielfachen Widersprüche, die der wissenschaftliche Sozialismus darbietet, eben davon herrühren, daß der Sozialismus in seiner ersten Gestalt als Zweig des philosophischen Liberalismus zur Welt kam. Genau dasselbe Merkmal, welches den philosophischen und den ökonomischen Liberalismus, abgrundtief trennt, scheidet auch den utopischen und den wissenschaftlichen Sozisalismus fundamental voneinander. Sowohl der philosophische Liberalismus wie der utopische Sozialismus gehen in ihrem Räsonnement [Argumentation - wp] von der Allmacht der Ideen aus, während der ökonomische Liberalismus und der wissenschaftliche Sozialismus in voller Übereinstimmung mit Eifer die Ohnmacht der Ideen verfechten. Diese Übereinstimmung zwischen ökonomischem Liberalismus und wissenschaftlichem Sozialismus ist nicht allzu verwunderlich. VOn Seiten des ökonomischen Liberalismus wurde der Glaube an die Allmacht der Ideen so gründlich als utopisch verlacht, daß die Vertreter des Sozialismus allmählich erkannten, mit ihrer bisherigen Argumentation würden sie nie und nimmer reussieren [ankommen - wp]. Sie stellten sich darum auf den Boden der Gegner, akzeptierten deren Behauptung von der Ohnmacht der Ideen und wiesen nun nach, daß gerade aufgrund der natürlichen wirtschaftlichen Entwicklung die Verwirklichung des Sozialismus unaufhaltsam ist. (10) Wenn darum heute viele Gegner des Sozialismus glauben, mit der Widerlegung der materialistischen Geschichtsauffassung in ihrer extremsten Gestalt sei dem wissenschaftlichen Sozialismus das Fundament entzogen, so irren sie in der schwersten Weise. Die extreme Formulierung der materialistischen Geschichtsauffassung liegt, wenn auch nicht in Klarheit ausgesprochen, so doch tatsächlich dem ökonomischen Liberalismus zugrunde, und der wissenschaftliche Sozialismus hat sie nur von ihm übernommen. Mit der Widerlegung der extrem materialistischen Geschichtsauffassung fällt also zu allererst der ökonomische Liberalismus, der voll und ganz in ihr wurzelt (11), während der wissenschaftliche Sozialismus gleichsam nur mit einer seiner Wurzeln aus ihr Nahrung zieht. Der wissenschaftliche Sozialismus ist nämlich tatsächlich nur soweit an der materialistischen Geschichtsauffassung interessiert, wie diese wilenstheoretisch gut fundiert ist. Den Zusammenhang zwischen willenstheoretischer Betrachtungsweise und materialistischer Geschichtsauffassung werden wir nunmehr zu erörtern haben. Der wissenschaftliche Sozialismus ist ganz besonders in einer Hinsicht willenstheoretisch äußerst interessant. Der ökonomische Liberalismus hatte ehemals den utopischen Sozialismus, der auf den Einfluß von Ideen und Institutionen große Hoffnungen setzte, dadurch lächerlich zu machen gewußt, daß er die Ideen und Institutionen gegenüber der egoistischen Determination des Willens als vollkommen bedeutungslos brandmarkte. MARX bemühte sich darum, zu beweisen, daß, wenn auch der ökonomische Liberalismus darin recht hat, daß Ideen und Institutionen den Gang des Geschehens von seiner ursprünglichen Richtung nicht abbringen können, doch der Verfall des ökonomischen Liberalismus und mit ihm des industriellen Kapitalismus nicht aufzuhalten ist. Und gerade in der egoistischen Determination des Willens erblickte er die treibende Kraft, die die Verwirklichung des Sozialismus bewerkstelligen muß. Indem MARX betonte, daß die Lösung der sozialen Frage nicht durch eine Organisation der Arbeit, wie LOUIS BLANC dachte, sondern allein durch eine Organisation der Arbeiter zustande gebracht werden kann, stellte er fest, daß die soziale Frage als Erkenntnisproblem praktisch erst in Angriff zu nehmen war, wenn sie zuvor als Willensproblem ihre Lösung erfahren hatte. Und in der Tat: hatte der ökonomische Liberalismus darin recht, daß der menschliche Wille egoistisch determiniert ist, so konnte niemals erwartet werden, daß die herrschenden Klassen aus eigener Initiative das Los der arbeitenden Bevölkerung nachhaltig verbessern werden, sondern nur durch die organisierte Macht des Proletariats, zu der die unaufhaltsam fortschreitende Konzentration der Produktion hindrängte, konnten sie dazu gezwungen werden. Was darum zuerst als notwendig erschien, war die Aufgabe, in jedem einzelnen Proletarier die egoistische Determination des Willens dergestalt zu modifizieren, daß dieser im Sinn ihres eigenen und nicht im Sinn eines fremden Egoismus funktioniert. Nicht also durch eine ethische Erweckung der oberen Klassen, die nach der Behauptung des ökonomischen Liberalismus angesichts der egoistischen Determination des Willens unmöglich war, sondern allein durch die egoistische Erweckung der unteren Klassen konnte somit ein günstiger Sozialzustand erzielt werden. Diese Rektifikation [Berichtigung - wp] des Egoismus der unteren Klassen vermochte aber nach MARX nur zu gelingen, wenn das Proletariat durch die fortwährend zunehmende Konzentration der Produktion zu einer homogenen Masse zusammengeschweißt, zum Bewußtsein seiner Lage gelangte und damit erkannte, nach welcher Richtung es seinen Willen einstellen muß, um zumindest dem eigenen Egoismus gerecht werden zu können. Nicht MARX war es also, der, fußend auf einem objektivistischen Materialismus, die objektive Ethik in Acht und Bann erklärte, sonder er übernahm den objektivistischen Materialismus ebenso wie die Inachterklärung der objektiven Ethik vom ökonomischen Liberalismus. Sein Verdienst war es nur, daß er den objektivistischen Materialismus mit philosophischer Systematik konsequent zu Ende dachte und zugleich dem Naturalismus der britischen Wirtschaftstheoretiker eine voluntaristische Umbiegung gab. Ob der Sozialismus auf diesem Weg so große Fortschritte machte, weil die allseits geleugnete, aber trotzdem bestehende Wirksamkeit objektiver Ideen und altruistischer Instinkte ihn dabei unterstützte, ob tatsächlich die Macht der objektiven Verhältnisse, ob wirklich die Determination des Intellekts durch dem egoistischen Willen eine so weitgehende ist, wie der ökonomische Liberalismus und im Anschluß an ihn der wissenschaftliche Sozialismus erklärte, werden wir im weiteren Verlauf ausführlich darlegen. Augenblicklich wollen wir vor allem die materialistisch-objektivistische Geschichtsauffassung als Ganzes einer näheren Betrachtung zu ziehen. Die materialistische Geschichtsauffassung kann auf zweierlei Art interpretiert werden. Sie kann zum Ausdruck bringen, daß wir bei der Verwirklichung unserer ethischen Ideale stets im weitesten Umfang von den jeweiligen wirtschaftlichen Produktionsverhältnissen abhängig sind, und so nur dann einen sozialen Fortschritt zu bewerkstelligen vermögen, wenn die Technik die Macht des Menschen über die Natur in einem solchen Maß gesteigert hat, daß er seine Bedürfnisse in immer reicherem Maß zu befriedigen imstande ist. Oder aber, die materialistische Geschichtsauffassung hat folgenden Sinn: sie nimmt an, daß nicht objektive Ideen, sondern ökonomische Interessen alles Handeln der Menschen leiten, weshalb nur aus den jeweiligen Wirtschaftsverhältnissen, die einerseits den menschlichen Egoismus inspirieren, andererseits auch die Nichtegoisten zwingen, bei Gefahr des Unterganges sich den gegebenen ökonomischen Bedingungen anzupassen, der Gang der Entwicklung zu erschließen ist. Die materialistische Geschichtsauffassung tritt bald in der einen, bald in der anderen Gestalt auf. In der ersteren postuliert sie ganz offensichtlich eine Kritik der Willenskraft als Kritik des menschlichen Könnens und hat nach dieser Richtung hin äußerst fruchtbar gewirkt. Aber auch in der letzteren ist sie entschieden willenstheoretisch gefärbt. Sie leugnet hier eine Entwicklung gemäß der Ideen, weil ihr das Gegebene auf das Deutlichste eine Entwicklung gemäß der Interessen zu zeigen scheint; und das Interesse, ganz besonders, wenn es als ökonomisches Interesse aufgefaßt wird, hat einen viel engeren Zusammenhang mit dem Willen als mit der Erkenntnis. Auch diese Beurteilung des Geschehens fordert somit auf das Entschiedenste eine Erörterung des Verhältnisses von Erkenntnis und Wille heraus, und kann nur dann in ihren berechtigten Grenzen exakt bestimmt werden, wenn sowohl das gegebene als auch das mögliche Verhältnis zwischen Erkenntnis und Wille einer gründlichen Prüfung unterzogen wird. Sehr bemerkenswerte ist in dieser Hinsicht auch folgends: Für den ökonomischen Liberalismus vollzieht sich aller soziale Fortschritt am raschesten durch das freie Spiel der Kräfte, und kann, wenn der menschliche Wille dasselbe durch staatliche Institutionen zu beeinflussen sucht, höchstens verlangsamt, aber nicht beschleunigt werden. Gerade umgekehrt betont der wissenschaftliche Sozialismus, daß durch das freie Spiel der Kräfte ein die Realisation der sozialistischen Gesellschaftsordnung bewirkender Auflösungsprozeß geschaffen wird, der durch menschlichen Einfluß zwar beschleunigt, aber nicht aufgehoben werden kann. Genau genommen behauptet also die materialistische Geschichtsauffassung, indem sie erklärt, daß nicht objektive Ideen, sondern objektive Verhältnisse den Gang des geschichtlichen Geschehens bestimmen, daß nicht unsere vernünftigen oder sittlichen Zwecksetzungen die soziale Entwicklung bewirken, sondern die jeweilige äußere Ursachenverknüpfung. Und nur hinsichtlich der jeweiligen Ursachenverkettung spezifizierend hebt sie hervor, daß in dieser die Verhältnisse der ökonomischen Produktion einen überwiegenden und vielfach geradezu entscheidenden Faktor ausmachen. Unsere Zwecksetzungen sind danach also zum größten Teil lediglich Reflexe der jeweiligen ökonomischen Zustände, die Rechtsordnung erscheint als die abhängig Variable der Wirtschaftsordnung und die Wirtschaftsordnung ihrerseits als die abhängig Variable der jeweiligen Eigenart und Gruppierung der Produktivkräfte. Veränderte Produktivkräfte erzwingen also veränderte Produktionsformen und diese wiederum eine veränderte Rechtsordnung. Es ist danach leicht einzusehen, daß die oberste These der materialistischen Geschichtsauffassung eigentlich eine Aussage weit weniger über das Verhältnis von Sein und Denken, als eine Aussage über das Verhältnis von Sein und Wollen ausmacht. Die Frage, ob das Sein das Denken bestimmt oder umgekehrt das Denken das Sein, ist ja auch eine uralte, und hat bereits in KANTs Versuch einer Widerlegung HUMEs [kahu] einen weit reicheren Ausdruck gefunden, als in der Polemik von MARX und ENGELS gegen HEGEL. Wird darum die materialistische Geschichtsauffassung nur einer erkenntniskritischen Prüfung unterzogen, so kann sie unmöglich in ihrer vollen Eigenart begriffen werden, denn zweifellos steht in ihrem Mittelpunkt nicht das Denken, sondern das Wollen. Die voluntaristische Färbung ist es also, welche die materialistische Geschichtsauffassung von allen ideologischen Geschichtsauffassungen auf das Fundamentalste scheidet. Alle ideologischen Geschichtsauffassungen forschen in erster Linie nach den bewußten Motiven, die die historische Entwicklung bedingen, die materialistische Geschichtsauffassung setzt sich zur Aufgabe, die das historische Geschehen bestimmenden unbewußten Motive in systematischer Klarheit herauszuarbeiten. Stellt man aber die Frage, ob ideale Zwecksetzungen oder ob äußere Ursachen den Gang des Geschehens überwiegend beeinflussen, so ist klar, daß diese Frage vor allem ein Problem der Willensdetermination in sich schließt. Es wird damit gefragt: Steht die Willenshandlung mehr unter der Herrschaft der Postulate des abstrakt logischen Erkennens oder ist sie zuallererst in einer Abhängigkeit von den Zwecken, welche die äußeren Verhältnisse unserer angeborenen Anlage zwangsgemäß setzen. MARX' Auffassung der historischen Entwicklung ist nun ein äußerst interessantes Gemisch des ökonomischen Liberalismus der britischen Wirtschaftstheoretiker und des Panlogismus HEGELs. Man könnte sagen, MARX nimmt einen ökonomischen Panlogismus an, und seine materialistische Geschichtsauffassung bildet darum keinen vollkommenen Gegensatz zur ideologischen. Müssen wirklich die jeweiligen ökonomischen Produktionsbedingungen sich im Verlauf mit Naturnotwendigkeit die ihnen entsprechende Rechtsordnung erzwingen, muß sich also der politische Überbau schließlich jederzeit im Geist eines ökonomischen Unterbaus gestalten, dann zeigt die Geschichte zweifellos nicht das Bild einer alogischen, sondern vielmehr dasjenige einer entschieden logischen Entwicklung. Nur daß diese logische Entwicklung - und darin unterscheidet sich eben die materialistische Geschichtsauffassung fundamental von der ideologischen - keine solche ist, die in der Richtung unserer objektiv sittlichen Zwecke, sondern lediglich eine, die in der Richtung der jeweiligen Wirtschaftszwecke verläuft. Auf diesem ökonomischen Panlogismus begründen MARX und ENGELS auch die Naturnotwendigkeit der Entwicklung zum Sozialismus hin. Nicht weil erkenntnistheoretisch-ethische Postulate den Sozialismus logisch erfordern, wird er zur Herrschaft gelangen, sondern weil die ökonomischen Verhältnisse ein ihm entsprechende Wirtschafts- und Rechtsordnung naturgemäß nach sich ziehen, ist sein Vormarsch nicht aufzuhalten. Die sozialistische Gesellschaftsordnung ist somit derjenige Zweck, den die äußeren Verhältnisse uns innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft mit Notwendigkeit setzen und welche andere Zwecke immer etwa unsere Ideologie dem menschlichen Willen vorenthält, sie sind zur Ohnmacht verurteilt gegenüber der Determination unseres Willens durch die bestehenden Produktionsbedingungen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß MARX in dieser Auffassung der Dinge sich von weitaus zu optimistischen Anschauungen hinsichtlich der naturgemäßen Entwicklung leiten ließ. Wenn tatsächlich stets mit ökonomischer Notwendigkeit, wie dies MARX vollends im Geist des Liberalismus der britischen Wirtschaftstheoretiker behauptet, die Produktivkräfte solche Produktionsformen naturgemäß erzeugen müssen, wie sie im Interesse des Gedeihens Aller zugleich zu fordern wären, so hätte der Mensch wirklich niemals mehr zu tun, als die Geburtswehen der Entwicklung abzukürzen und das wäre eine verhältnismäßig leichte Aufgabe. Aber ebensowenig wie der rationalistische Panlogismus [Lehre vom logischen Aufbau der Welt - wp] HEGELs den Tatsachen entspricht, ebensowenig spiegelt MARX' ökonomischer Panlogismus die wirkliche Entwicklung in voller Treue wider. (12) Die Zwecke, die wir uns in passiver Anpassung an die Determination durch die äußeren Umstände setzen, entfernen sich himmelweit von denjenigen Zwecken, die unser teleologischer Wille, sowie er bewußt geworden und kausal und logisch zu erkennen vermag, unter genauester Berücksichtigung der Naturkausalität zu realisieren strebt. Gerade die gegenwärtige Wirtschafts- und Rechtsordnung ist diejenige, welche als die am reinsten den bestehenden Produktionsverhältnissen, wenn allerdings auch nicht den verfügbaren Produktivkräften angepaßte Produktionsform erscheint. Nur weil nun diejenigen Zwecke, welche uns die Wirtschaft setzt, den allgemein menschlichen Zwecken der überwiegenden Mehrheit widerstreiten, nur deshalb wird für eine neue Wirtschaftsordnung gekämpft, und diese neue Wirtschaftsordnung wird, wenn sie zustande kommt, eine solche sein, wo wir weit weniger einer Determination durch die äußeren Umstände erliegen, als wir unsererseits eine Determination dieser äußeren Umstände durch unser zwecktätiges Wollen geschaffen haben. Die materialistisch-objektivistische Geschichtsauffassung hat also soweit mit ihrer Behauptung von der Determination unseres Wollens durch die äußeren Umstände und insbesondere durch die ökonomischen Verhältnisse recht, als sie hervorhebt, daß wir solche Zwecke, die auch bei vernunftgemäßer Gestaltung der Wirtschaft aufgrund der verfügbaren Produktivkräfte nicht realisierbar wären, uns nicht mit Hoffnung auf Erfolg setzen können. Aber wenn sie andererseits wähnt, daß der wirtschaftliche Unterbaue die unserer menschlichen Teleologie entsprechende Rechtsordnung geradezu naturgemäß nach sich zieht, so verirrt sie sich in das dickste Gestrüpp der Ideologie und nimmt einen Logismus der Entwicklung an, der angesichts der natürlichen Dysteleologie [Entwicklung ist nicht von vornherein zweckmäßig ausgerichtet - wp] des Geschehens in den Tatsachen durchaus nicht anzutreffen ist. Die Übersetzung von HEGELs Panlogismus ins Ökonomische bildet darum sicherlich die größte Gefahr für das ganze System von KARL MARX. Seine Lehre vom Überbau und Unterbau enthält eine so starke Zutat von falschem Rationalismus, ein so großes optimistisches Vertrauen auf die natürliche Entwicklung, daß sie nur allzu geeignet ist, unseren Willen im entscheidenden Augenblick zu lähmen, und diejenigen Aufgaben, die uns tatsächlich gestellt sind, zu unterschätzen. Hier erfordert der Marxismus bei weitem weniger eine erkenntnistheoretische, als eine willenstheoretische Überprüfung, eine Überprüfung, die sowohl untersucht, welche Rolle der menschliche Wille im realen Geschehen spielt, wie auch in welchem Verhältnis Ursachenverkettung und Zwecksetzung überall stehen, und die ganz besonders klar zu machen strebt, unter welchen Bedingungen es die ideale Zwecksetzung und namentlich die intellektuelle Zwecktätigkeit vermag, sich über die äußere Ursachenverkettung zu erheben. Mit anderen Worten, es ist das Problem in den Mittelpunkt zu stellen, welche äußeren und inneren Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine für den Fortschritt günstige Willensdetermination zustande kommt. Der reine Rationalismus führt hier nur allzu leicht in die Irre, weil er übermäßig geneigt ist, lediglich die Determination durch Gründe, respektive bewußte Motive in Betracht zu ziehen, statt auch genau festzustellen, inwieweit Ursachen, das heißt unbewußte Motive und Zwecke, die die augenblicklichen äußeren Verhältnisse uns zwangsgemäß setzen, den Willen bestimmen. In dieser Hinsicht verfährt die materialistisch-objektivistische Geschichtsauffassung weitaus realistischer, als jede ideologische, indem sie eben neben den Gründen auch die äußeren Ursachen und selbst noch die Ursachen der Gründe zur Klärung des Geschehens heranzieht. Aber nach einer Seite hin geht die materialistische Geschichtsauffassung, soweit sie einen dialektischen Charakter trägt, doch in einer Weise ideologisch vor, daß sie damit sogar den Rationalismus der ausgesprochensten Kantianer überbietet. STAMMLER legt ja die materialistische Geschichtsauffassung sicherlich ganz falsch aus, wenn er meint, sie besage im Kern: "Die Rechtsordnung ist ein Mittel zur Förderung der Produktion und hat darin ihren letzten Zweck." (13) der konsequente Marxist würde ihm erwidern, sie besagt unzweideutig: "Die jeweiligen Produktionsverhältnisse erzwingen sich früher oder später notwendig das ihnen entsprechende Recht." Die Rechtsordnung ist danach nicht das Produkt vorgesetzter objektiver Zwecke, sondern in der Hauptsache das Ergebnis von außen her wirkender ökonomischer Ursachen. Eine derartige Auffassung erscheint auf den ersten Blick weitaus materialistischer als die von STAMMLER. Allein sie ist tatsächlich im Gegenteil viel rationalistischer. Während nach STAMMLERs Auffassung die jeweilige Rechtsordnung in ihrer Vernünftigkeit das Produkt menschlicher Zwecksetzung ist, ergibt sie sich nach MARX als das natürliche Resultat der gegebenen Verhältnisse. Der ökonomische Evolutionismus von MARX ist also ein ökonomischer Panlogismus, nach dem die natürliche Entwicklung als identisch erscheint mit der durch das teleologische Wollen bewirkten Entwicklung. STAMMLER (14) wie auch MARX befinden sich in einem schweren Irrtum. STAMMLER erachtet die Entwicklung viel zu sehr bereits in aller bisherigen Geschichte als von objektiven menschlichen Zwecksetzungen bestimmt, und MARX überschätzt weitaus die Teleologie der natürlichen Entwicklung, indem er annimmt, daß die jeweiligen Produktionsbedingungen sich das ihnen entsprechende Recht, wie immer an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten die Willensbedingungen auch liegen mögen, auf die Dauer unabwendbar erzwingen müssen. Die wirklichen Tatsachen zeigen uns im Gegensatz zu diesen Annahmen jedoch folgendes: Zwischen der relativ minimalen, natürlichen Teleologie der historischen Entwicklung und zwischen der relativ hohen Zweckmäßigkeit der künstlichen Entwicklung besteht ein ungeheurer Abstand. Die Naturordnung, in der die Menschheit nur einen einzelnen Faktor darstellt, und die Kulturordnung, die eben die notwendig teleologisch wollenden Menschen zu verwirklichen trachten, sind in so weitem Umfang wesensverschieden, daß ein enormer Kraftaufwand, ein enormer Aufwand von zwecktätig wirkender Energie erforderlich ist, damit die Naturordnung im Geist der von uns gewünschten Kulturordnung funktioniert. (15) Die natürliche Dysteleologie, die dem Ideal unserer menschlichen Teleologie gegenübersteht, ist aus unzähligen Ursachen äußerst schwer im Geist dieser zu transformieren. Jeder einzelne Organismus hat wohl das naturgemäße Bestreben, zwischen den äußeren Reizen und den inneren Bedürfnissen die Gleichgewichtslage herzustellen, aber die Herstellung dieser Gleichgewichtslage, zu der unser Anpassungsverlangen hindrängt, gerät erstens in der Regel nicht vollkommen, und zweitens funktioniert die Zwecktätigkeit der Einzelnen nicht so, daß die Summierung der Einzelzwecke und Anpassungen zugleich die relativ höchste Zweckmäßigkeit, die die natürliche ökonomische Entwicklung zustande bringt, ist also stets eine solche, wo die Zwecktätigkeit der einen die Zwecktätigkeit der anderen hemmt und damit die Zwecktätigkeit der Gesamtheit auf ein Minimum beschränkt. Es ist darum als eine unleugbare Tatsache zu erachten, daß angesichts des Bestehenden die jeweiligen Produktionsverhältnisse das ihnen entsprechende Recht, wie es im Interesse der Gesamtheit erforderlich wäre, sich nicht erzwingen, sondern daß sie sich nur eine solche Rechtsordnung erzwingen. Wir werden im weiteren Verlauf auf die nahe Verwandtschaft des ökonomischen und des biologischen Evolutionismus hinweisen können und zeigen, wie der eine und der andere übersehen, daß nur unter der Voraussetzung intensivster sozialer Zwecktätigkeit, die ihrerseits wieder abhängig ist von einer hohen physischen und psychischen Kultur der einzelnen, die großen Massen konstituierender, Individuen, die natürliche Entwicklung notwendig eine fortschrittliche sein muß. Marx war somit entschieden zu optimistisch in den Hoffnungen, die er auf seinen Pessimismus hinsichtlich der natürlichen, ökonomischen Entwicklung setzte, wenn er glaubte, daß die allmähliche Verelendung der breiten Massen schließlich gleichsam ganz von selbst zu einer vollkommenen Gesellschaftsordnung hinzudrängen evolutionistisch genötigt wäre. Allerdings hat er vielfach seinem ökonomischen Evolutionismus eine starke willenstheoretische Färbung gegeben, indem er von der durch die ökonomischen Verhältnisse bewirkten Steigerung der Macht des Proletariates schließlich die große Tat erwartete, welche einer neuen Gesellschaft zum Leben verhelfen würde; aber er hat seine Lehre nicht konsequent als ökonomisch-willenstheoretischer Evolutionismus ausgebaut und dadurch die Bedeutung der Zwecktätigkeit neben der Ursachendetermination ganz beträchtlich unterschätzt. Der Mensch als bloß getriebene Willenskraft, nicht auch als intellektuell treibende, wird niemals jene großen Leistungen vollbringen, welche erforderlich sind, damit ein kontinuierlicher Fortschritt zustande kommt. Der kontinuierliche Fortschritt ist vielmehr in erster Linie davon abhängig, daß in allen Einzelnen ein möglichst intensives, teleologisches Wollen mit einem möglichst korrekt arbeitenden, kausalen und logischen Erkennen verbunden ist. Wo immer solche Verhältnisse herrschen, daß in vielen Individuen entweder ein unzureichendes kausales und logisches Erkennen den Willen dirigiert, oder wo sich selbst das kausal und logisch ausreichende Erkennen an einen gebrochenen, gelähmten oder seiner natürlichen Anlage nach schwach teleologisch funktionierenden Willen wendet, da werden die für den Fortschritt notwendigen Bedingungen nicht erfüllt sein. Der ökonomische Historismus hat insbesondere als kollektivistische Geschichtsauffassung sehr richtig hervorgehoben, daß die unbefriedigenden gesellschaftlichen Verhältnisse nur bei gesellschaftlicher Zusammenarbeit gebessert zu werden vermögen, aber er hat die natürliche Dysteleologie der Entwicklung nicht mit genügender Klarheit ins Auge gefaßt, ja er hat sogar, wie wir gesehen haben, vielfach einen ökonomischen Panlogismus angenommen und darum nicht zu erkennen vermocht, in wie hohem Maß alle Zweckmäßigkeit von menschlicher Zwecktätigkeit abhängt, und wie sehr diese ihrerseits wieder auf der richtigen Zwecksetzung beruth. Die Ideologen freilich, die sich stets von Neuem damit abmühen, die Vernunft im geschichtlich Gegebenen nachzuweisen, sind dadurch auf die gefährlichsten Abwege geraten, daß sie dort eine Wirksamkeit objektiver Vernunftideen vorfinden wollten, wo nur die Wirksamkeit egoistischer Zwecktätigkeit anzutreffen ist. Und tatsächlich läßt sich ja auch nicht leugnen, daß zu allen Zeiten in den wirklichen Verhältnissen bloß soviel an Vernunft anzutreffen ist, wie die egoistische Vernunft nicht der Vernünftigsten, sondern der jeweils Mächtigsten dem natürlichen Geschehen abzutrotzen vermochte. Aufgrund der willenstheoretischen Betrachtungsweise werden wir deshalb HEGEL, der behauptet, alles Wirkliche sei vernünftig, keineswegs beistimmen, wir werden aber die Vernünftigkeit des Wirklichen auch nicht vollständig ableugnen. Wir werden vielmehr sagen: Alles Wirkliche ist vernünftig - aber nur im Sinne der egoistischen Vernunft der jeweils Herrschenden. Prüfen wir die Geschichte der Jahrtausende in ihren Urgründen, so sehen wir, je weiter wir zurückgehen, um wieviel stärker der egoistische Wille die Verhältnisse beeinflußt hat als der objektive Intellekt, und auch in unserer Zeit ist der erstere im sozialen Geschehen der weitaus mächtigere geblieben. Alle leitenden Staatsmänner, alle Realpolitiker, alle diejenigen Persönlichkeiten, welche im Kampf des Parteilebens stehen, zweifeln keinen Augenblick daran, daß Machtfragen bis jetzt weder mit Rechtsmitteln, noch mit Erkenntnisgründen gelöst werden können. Was heißt das aber anderes, als daß in allen Kämpfen, wo größere Gruppen in Betracht kommen, intellektuelle Momente gegenüber den Willensmomenten eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle spielen, und daß also das geschichtliche Geschehen weit mehr als von der jeweiligen, logischen Verkettung geistiger Prinzipien von der jeweiligen, alogischen Zusammensetzung und Richtung akkumulierter Willensenergien abhängig ist (16). - Wir werden auf alle diese Punkte noch eingehender zurückkommen. Hier handelt es sich uns vorerst nur darum, zu zeigen, daß die natürliche, ökonomische Evolution von selbst nicht zu befriedigenden sozialen Zuständen führt, sondern daß befriedigende Sozialzustände nur das Produkt einer zwecktätigen Revolution der breiten Volksmassen sind, auf deren Kosten ohne ein Eingreifen in das natürliche Geschehen die natürliche ökonomische Entwicklung ihren Gang nimmt. Würden also nur die äußeren Umstände unser Wollen bestimmen, nicht in weit höherem Maß auch unser Wollen die äußeren Umstände, dann käme aufgrund des ökonomisch Gegebenen bloß eine durchaus unbefriedigend ökonomische Entwicklung zustande. Die jeweiligen Produktionsverhältnisse sind mithin wohl bestimmend für die Richtung der jeweiligen Zwecktätigkeit, aber das ihnen entsprechende Recht erzwingen sie sich nur, wenn sie die Vorbedingungen für eine Zwecktätigkeit der überwiegenden Majorität liefern, die eine so große ist, daß diese mit ihrer akkumulierten Energie von der passiven Anpassung an die drängenden Ursachen zu einer aktiven Anpassung dieser drängenden Ursachen an die obersten sittlichen Zwecke überzugehen vermag. Immer ist deshalb wieder hervorzuheben, daß man dann stets den Motor allen Fortschritts in seiner Energieentfaltung hindern wird, wenn man, sei es gleichviel von welchen Gesichtspunkten aus, zu großen Hoffnungen auf die Teleologie der natürlichen Entwicklung setzt und nicht berücksichtigt, daß sowohl die natürliche, biologische, wie die natürliche, ökonomische Evolution im weitesten Umfang dysteleologischen Charakter trägt, und nur kraft der Teleologie des intellektuellen Wollens zweckmäßig transformiert zu werden vermag. Besonders soziale Teleologie kommt nicht etwa schon zustand, wenn sich die Einzelnen rein passiv in ihrer Zwecksetzung und Zwecktätigkeit den jeweiligen Augenblickstendenzen anpassen, sondern nur, wenn jeder Einzelne in einem sozialen Sinn teleologisch zu funktionieren strebt. Und gerade die sozialteleologische Funktion, auf die für die Erhaltung und Höherentwicklung der Gesellschaft alles ankommt, ist keine angeborene Eigenschaft des teleologischen Wollens, sondern kann nur durch äußerst künstliche, menschliche Institutionen geschaffen und höher entwickelt werden. Es bedeutet trotzdem aber auch einen sehr verhängnisvollen Irrtum, darum etwa schon annehmen zu wollen, daß die geschichtliche Entwicklung durchaus ein Produkt logischer Zwecksetzung und Zwecktätigkeit darbietet. Die geschichtliche Entwicklung ist vielmehr ein Ergebnis sowohl der passiven Anpassung an die von außen her wirkenden Strömungen, als ein solches egoistischer, irriger, ja perverser Zwecksetzung, wie schließlich ein solches individueller und sozialer Zwecktätigkeit, welche in guter wie in böser Hinsicht ihre Absichten verfehlte, und so das Erstrebte bloß durchaus mangelhaft zu realisieren vermochte. Auch das SPENCER-WUNDTsche Gesetz von der Heterogenität [Verschiedenartigkeit - wp] der Zwecke, wonach durch irrationale Widerstände stets etwas anderes erreicht als gewollt wird, spielt hier eine große Rolle. Niemals war jedenfalls, wie dies STAMMLER irrtümlich annimmt, die Rechtsordnung in erster Linie ein Mittel zur Realisierung höchster Zwecke, sondern sie war stets nur ein Mittel zur Realisierung der egoistischen Zwecke der Willensmächtigsten, d. h. derjenigen Minorität, die durch Jahrtausende alte, verfestigte Institutionen und besonders Organisationen die Macht besaßen, den Willen der großen Massen, sofern er in deren eigenem Interesse funktionieren wollte, zu paralysieren. Aus allen diesen Gründen darf auch bezüglich der jeweiligen Produktionsverhältnisse nicht angenommen werden, daß sie sich früher oder später mit Naturnotwendigkeit ein ihnen entsprechendes Recht in der Weise erzwingen würden, daß das ihnen entsprechende Recht zugleich die jeweils erforderte soziale Gerechtigkeit befördert. Die kapitalistische Gesellschaftsordnung ist vielmehr dasjenige Recht, welches die gegebenen Produktionsverhältnisse sich im Verlauf ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der breiten Volksmassen erzwungen haben, und sollen die herrschenden Produktionsverhältnisse mit der Zeit zu einer anderen Gesellschaftsordnung führen, so ist dies nur dann möglich, wenn diejenigen Klassen, zu deren Ungunsten die bestehende Rechtsordnung funktioniert, mit neu erweckter Willenskraft einen Sozialzustand zu erkämpfen vermögen, der weitaus mehr ihren notwendig evolutionistischen Vernunftzwecken entspricht, als den für eine menschliche Höherentwicklung total gleichgültigen ökonomischen Produktionsverhältnissen. MARX hat dies wohl vielfach auch selbst behauptet, aber in seinen rein ökonomischen Darlegungen stets auch selbst wieder umgestoßen; sein sozialer Evolutionismus steht in einem diametralen Gegensatz zu seinem ökonomischen Evolutionismus. Es sei darum nochmals nachdrücklich betont: Nicht die natürliche, ökonomische Evolution ist es, die mit Naturnotwendigkeit zum Sozialismus führt, sondern diese wirkt, unbekümmert um den drohenden Verfall, mit größter Intensität auf die Erhaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung hin, und nur, wenn diejenigen großen Volksmassen, die die natürliche, ökonomische Entwicklung zur Entartung drängt, in so hohem Maß zwecktätig reagieren, daß sie dieser Entartungstendenz eine ausreichende Summe planmäßig organisierter, akkumulierter Willensenergien entgegensetzen können, nur dann wird diese künstlich ökonomische Entwicklung mit willenstheoretischer Notwendigkeit den Sozialismus zur Folge haben. Freilich soll keineswegs geleugnet werden, daß erst die veränderten Produktionsbedingungen des 19. Jahrhunderts die Vorbedingungen für jene Willensakkumulation und Organisation geschaffen haben, welche es gestattete, mit Hoffnung auf Erfolg eine höhere Zweckmäßigkeit der sozialen Verhältnisse anzustreben. Aber gerade so, wie wir später bezüglich des Waltens des Daseinskampfes zeigen können werden, daß nicht von der Schärfe des Daseinskampfes die Höherentwicklung abhängt, sondern von der Intensität der Zwecktätigkeit, gerade so müssen wir hier auf das Nachdrücklichste hinweisen, daß es nicht die ökonomischen Verhältnisse sind, die von selbst den zweckmäßigen Sozialzustand bewerkstelligen, sondern daß dieser in erster Linie ein Produkt der durch die ökonomischen Verhältnisse begünstigten Willensentfaltung darstellt und in seinem Verlauf am stärksten eben von dieser Willensentfaltung abhängig ist. Wo immer die Willensentfaltung erlahmt, wo man lediglich auf das Walten der ökonomischen Verhältnisse ansich alle Hoffnung setzt, da wird darum die natürliche ökonomische Entwicklung mit Naturnotwendigkeit zum Verfall führen, und zwar zu einem Verfall, auf den niemals mehr eine Erhebung folgt. (17) Jeder unendlich kleinste Bruchteil von Willensenergie, der für die soziale Entwicklung verloren geht, jedes Willens-Erg, das nicht in entsprechender Richtung sozial wirksam wird, ist deshalb ein nicht wieder einzubringender Verlust für den Fortschritt unserer Stellung in der natürlichen und in der sozialen Welt. Alle Sozialphilosophie hatte bisher nur in allzu hohem Maß die Neigung, die natürliche Dysteleologie des Geschehens in weitestem Umfang zu unterschätzen. Unzählige irrationale Momente im natürlichen, organischen, ökonomischen und sozialen Geschehen stellen sich jedoch unserem bewußten telelologischen Wollen entgegen, und die natürliche Verkettung von allem und jedem, das Verwachsensein von Personen und Institutionen, von Ideen und Interessen, von schlechtem Wollen und scharfem Erkennen, von gutem Wollen und schwacher Einsicht, all diese natürlichen, auf traditioneller, individueller und sozialer, teils Selbstsucht, teils Dummheit, erwachsenden Disharmonien, halten den Gang der fortschrittlichen Entwicklung auf und bewirken jene Diskrepanz zwischen blinder Naturkausalität und menschlicher Teleologie, die das historische Geschehen so unheilvoll beeinflußt. Auf der geistigen Disziplinierung unserer teleologischen Willensenergien beruth also die Möglichkeit und die Gewähr allen Fortschritts und die Richtung der jeweiligen Entwicklung hängt so zuvörderst, soweit sie die durch die ökonomischen Tatsachen beeflußte Entwicklung betrifft, von der jeweiligen Verteilung, Intensität und Richtung der gegebenen Willensenergien ab. Man kann darum höchstens sagen, die kapitalistischen Produktionsbedingungen müssen auf die Dauer Willensverhältnisse schaffen, welche auf eine Rechtsordnung hinwirken, die den Untergang der kapitalistischen Wirtschaftsordnung mit Notwendigkeit nach sich zieht, aber sicher ist, daß nur die willenstheoretisch notwendige Revolution gegen die natürliche, ökonomische Evolution unter Anspannung des ungeheuersten Kraftaufwandes, den die Weltgeschichte jemals gesehen hat, eine Rechtsordnung herbeizuführen vermag, die das Eigennutzprinzip durch das soziale Prinzip ersetzt. Die Entwicklung dahin ist also eine ganz und gar nicht natürliche, sondern eine überaus künstliche und schwierige, die aber allerdings, worin der materialistischen Geschichtsauffassung beizustimmen ist, nur aufgrund der gegebenen ökonomischen Verhältnisse überhaupt zustande kommen kann. (18) Aus allem Vorangehenden ist so gewiß mit Deutlichkeit zu ersehen, daß der MARXsche Objektivismus, der uns in unserer Zwecktätigkeit nur als Marionetten der jeweiligen, von außen her drängenden Ursachen erscheinen läßt und die Brechung, die die Reize der äußeren Umstände durch die in uns aufgespeicherte Willensenergie erfahren, soviel wie gar nicht berücksichtigt, ein interessantes Gegenstück zum rationalen Objektivismus von KANT bildet. Nach MARX sind die Grundfaktoren der Entwicklung nur objektive Verhältnisse, nach KANT sollen die Motive unseres Handelns nur aus objektiven Ideen bestehen. Nur wenn man sowohl den ökonomischen Objektivismus von MARX wie auch den rationalen Objektivismus von KANT und insbesondere den naturhistorischen Objektivismus der Darwinisten in das richtige Verhältnis zueinander setzt, nur wenn man die Determination des Willens durch natürliche und ökonomischen Ursachen einerseits und durch logische Motive andererseits in exakter Weise den Tatsachen entsprechend miteinander in Beziehung setzt und die Kräfteproportion der einzelnen Einflüsse, soweit es geht, energetisch betrachtet, wird man derjenigen Probleme allmählich Herr zu werden vermögen, von deren Lösung der gedeihliche Fortschritt der Sozialwissenschaft abhängt. (19) Und ganz besonders wird es hierbei Aufgabe der Kritik der teleologischen Willenskraft sein, das Verhältnis von Naturordnung, Menschenordnung und Menschenwille einer eingehenden Prüfung zu unterziehen.
9) Über diese Tatsache darf man sich nicht durch den egoistischen Rationalismus, den der ökonomische Liberalismus durchweg zum Ausdruck bringt, noch durch den Umstand hinwegtäuschen lassen, daß der ökonomische Liberalismus vielfach zwecks besserer Verteidigung seiner Positionen Argumente des philosophischen Liberalismus mit in sein Programm aufnahm. Zu allen Zeiten hat es der ökonomische Liberalismus verstanden, sobald er in die Enge kam, sich hinter dem philosophischen Liberalismus zu verschanzen und so zu tun, als ob er, der den Menschen nur als Mittel, nie zugleich als Selbstzweck betrachtet wissen wollte, identisch mit jener großartigen Ausgestaltung des philosophischen Liberalismus wäre, der in Kant gipfelnd, die Betrachtung des Menschen überall und stets als Selbstzweck zum kategorischen Imperativ des sittlichen Individuums machte. In dieser zweideutigen Politik sich in Augenblicken der Gefahr stets hinter dem sonst auf das Gründlichste verhöhnten philosophischen Liberalismus zu verstecken, gleicht der ökonomische Liberalismus auf ein Haar dem kirchlichen Christentum, das auch immer in den Momenten, wo die unreinen Praktiken der Kirche scharf angegriffen werden, die reinen Grundsätze der christlichen Evangelien als Schutzmantel über sich breitet. 10) Was machen die Vertreter der bürgerlichen Nationalökonomie der sozialistischen Theorie in erster Linie zum Vorwurf? Sie behaupten, daß es nicht zuvörderst die Produktionsverhältnisse sind, welche das geschichtliche Geschehen bestimmen. Und wie lauten ihre eigenen Positionen hinsichtlich der gleichen Probleme? Wo immer der ökonomische Liberalismus sich zur Theorie der Politik ausspricht, argumentiert er damit, daß er erklärt, das Schicksal eines Staates hänge in erster Linie von der Prosperität seiner Wirtschaft ab. - Das Gleiche können wir bezüglich der Behauptung vom egoistischen Interesse als dem Zentralmotor allen menschlichen Handelns beobachten. Der ökonomische Liberalismus brandmarkt den Sozialismus als materialistisch, weil er an den Egoismus der Massen appelliert und den Egoismus der Herrschendem als die Triebkraft ihres gesamten Tuns ansieht. Es gibt aber nur zwei Möglichkeiten: Entweder man nimmt an, objektiv geistige Momente können keine Macht über das rein Egoistische im Menschen gewinnen, oder man glaubt, der Mensch kann dazu gebracht werden, immer mehr im Sinne höherer Ideen zu wirken. Ist man aber der ersteren Ansicht und erklärt dementsprechend, daß das Selbstinteresse den alleinigen Zentralmotor allen Vorwärtsstrebens ausmacht, ja geht sogar so weit, den Egoismus aus diesem Grund zu glorifizieren, dann hat man kein Recht, den Sozialismus anzugreifen, weil er an das Selbstinteresse der Massen appelliert und muß vielmehr zugeben, daß auch das Erwachen des Selbstinteresses in der Masse als Fortschrittsfaktor anzusehen ist. Den Eigennutz der Einen loben und das Selbstinteresse der Anderen als Begehrlichkeit brandmarken, das ist eine Inkonsequenz, die alle Logik über den Haufen wirft. 11) Was man als Krisis im Marxismus erklärt, ist nichts anderes als der Sieg der Kampfeslehren des wissenschaftlichen Sozialismus und die definitive wissenschaftliche Niederlage des ökonomischen Liberalismus. Muß heute die materialistische Geschichtsauffassung bis zu einem gewissen Grad aufgehoben werden, so bedeutet das also, daß die in ihrer Zeit begründeten Lehren von MARX nunmehr ihre Mission, den Materialismus des ökonomischen Liberalismus ad absurdum zu führen, erfüllt haben und deshalb so weit vergänglich sind, vom Schauplatz abtreten können. Aber mit der übertriebenen materialistischen Geschichtsauffassung wird nur der falsche Materialismus der britischen Ökonomie und der falsche Naturalismus des Mittelalters abgetan sein, nicht die materialistische Geschichtsauffassung als ökonomischer Materialismus in dem Sinne, daß wir lernen, bei allem geschichtlichen Geschehen die ökonomischen Faktoren gebührend zu berücksichtigen und überall zu bedenken, in wie hohem Maß unser geistiges Wollen von ökonomischen Bedingungen abhängig ist. Die Herrschaft des ökonomischen Liberalismus, soweit er noch lebensfähig ist, wird jedoch an seinen älteren, unsterblichen Bruder, den philosophischen Liberalismus, übergehen und die liberals Beimischung, die der Sozialismus erfordert, darf so sicherlich nur im Geist des philosophischen Liberalismus erfolgen. 12) MARX hat den großen Fehler begangen, nachdem er nachgewiesen hatte, daß die Naturgesetze der Liberalen nur Wirtschaftsgesetze sind, von diesen Wirtschaftsgesetzen dann doch so zu sprechen, als ob sie Naturgesetze wären. Er untergrub das Fundament des Gegners - und baute dann sein eigenes Gebäude darauf auf. 13) RUDOLF STAMMLER, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, Leipzig 1896 14) Wenn ich auch in diesem Punkt gegen STAMMLER polemisiere und überhaupt seine allzu einseitig im Geist einer erkenntnistheoretischen Methodik geführten Untersuchung durch eine Anwendung der willenstheoretischen Methode vervollständigen möchte, so ist es mir doch ein Bedürfnis hervorzuheben, wie sehr meine höchsten Ziele, mit den von ihm aufgestellten allgemeinen obersten Zwecken übereinstimmen. Nur über den theoretischen und praktischen Weg zur Erreichung derselben gehen unsere Ansichten weit auseinander. Nicht verschweigen möchte ich auch, wieviel Anstrengung ich von der neukantischen Richtung überhaupt, wie sie STAMMLER, COHEN, NATORP, VORLÄNDER, STAUDINGER u. a. vertreten empfangen habe, und wieviel Wertvolles ich besonders bei STAMMLER selbst in seinen tiefgründigen Werken "Wirtschaft und Recht" (Leipzig 1896) und "Die Lehre vom richtigen Recht" (Berlin 1902) zu finden Gelegenheit hatte. 15) Sollte das Problem der sozialen Evolution einer genauen Untersuchung unterzogen werden, so müßte natürlich auch der naturgemäße Verlauf der künstlichen Entwicklung eine ins Detail gehende Berücksichtigung erfahren. Ebenso wie die Tatsache des Kampfes ums Dasein gewisse naturgemäße Tendenzen offenbart, ebenso hat auch jede einzelne künstliche Organisation und die Summe der künstlichen Organisationen als Ganzes eine aufgrund der Daten des Kampfes ums Daseins und der Tatsachen des menschlichen Charakters eine augenfällige Tendenz der Entwicklung. Es würde uns aber weit über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinausführen, wollten wir hier etwa den überaus schwierigen Versuch wagen, jene, aus einem Gemisch von Elementarkräften, sozialen Institutionen und individuellen menschlichen Charaktereigenschaften entstehenden, äußerst komplizierten natürlichen Verlaufstendenzen aller künstlich beeinflußten Evolution auch nur in den Grundlinien aufzuzeichnen. 16) Der Wille zur Macht ist der Schöpfer des Rechts. Die jeweiligen Produktionsverhältnisse schaffen bloß die Bedingungen, denen sich der Wille zur Macht anpassen muß. Inwieweit auch die Furcht vor übermenschlichen Naturgewalten den Willen zur Macht beeinflußt, ist gleichfalls zu berücksichtigen. Die Sozialisation haben aber jedenfalls die Produktionsbedingungen nicht genügend als Bedingungen erkannt, den Willen zur Macht nicht in seiner vollen Bedeutung als Ur-Sache gewürdigt. 17) Das will Folgendes besagen: Von dem Augenblick an, wo man anfängt den Wert des Menschen als Arbeitskraft zu entdecken, nimmt auch das Interesse am einzelnen Menschen überhaupt zu. Ja, es ist leider als eine Tatsache zu bezeichnen, daß die sittliche Würde des Menschen beinahe genau in demselben Maß steigt, als sich sein Marktpreis hebt. Als die veränderten Produktionsbedingungen den Wert der menschlichen Arbeitskraft in einem neuen Licht erscheinen ließen, begann gleichsam eine neue Teilung der Erde: die Okkupation [Eroberung - wp] des freien Menschenmaterials. Diese Okkupation war es auch, welche im Verlauf das Heraufkommen einer neuen Klasse begünstigte, nämlich der industriellen Bourgeoisie. Je mehr der Industrialismus auf Kosten der Agrikultur Raum gewann, von umso ausschlaggebender Bedeutung wurde im internationalen Konkurrenzkampf die kulturelle Höhe des Arbeiterstandes. Der industrielle Arbeiter muß, um einen genügenden Nutzeffekt zu ergeben, eine intellektuelle Qualifikation besitzen, welche, wie gering sie auch ist, jedenfalls über dem intellektuellen Minimum des Landarbeiters steht. In dieser, durch den ökonomischen Wettkampf, aufgenötigten Steigerung des intellektuellen Minimums liegt der Keim der gegenwärtig so gigantisch emporgewachsenen sozialen Kraft der breiten Volksmassen. Ökonomische Verhältnisse zwingen bei Gefahr des Verfalls einen intelligenteren Arbeiter heranzuzüchten und der intelligentere Arbeiter zwingt seinerseits wieder bei Gefahr der Revolution zu einer Sozialisierung und Demokratisierung der ganzen Gesellschaftsordnung. In diesem Sinne kann man also allerdings sagen, daß die ökonomischen Verhältnisse mit Naturnotwendigkeit zum Sozialismus hinführen, darf dabei aber nicht vergessen, daß tatsächlich nicht die ökonomischen Verhältnisse selbst, sondern nur die durch sie beförderte Steigerung der Intelligenz, sofern diese ihrerseits wieder eine mächtige Belebung der Willenskraft anregt, den unaufhaltsamen vorwärts drängenden Motor der sozialen Höherentwicklung abgibt. Eine derartige Ausführung mag überflüssig erscheinen, jedenfalls ist aber sicher, daß die Sozialisten in der Sprache des Alltags die natürliche Entwicklung und die durch ihre Macht beeinflußte Entwicklung in weitestem Umfang verwechseln und nicht genügend berücksichtigen, daß lediglich eine glühende Leidenschaft zu eiserner Erkenntnisenergie diszipliniert, das allein zuverlässige Triebrad des Fortschritts darstellt. 18) Auf die feineren Einzelheiten der materialistisch-objektivistischen Geschichtsauffassung konnten wir innerhalb des Rahmens dieser Schrift nicht eingehen. Eine im Lauf der nächsten Zeit erscheinende Arbeit wird sich jedoch mit all den hier bloß angeregten Fragen ausführlich beschäftigen und besonders Folgendes darlegen: Sie wird den Nachweis führen, wie viele faule Bestandteile des ökonomischen Liberalismus im wissenschaftlichen Sozialismus einen dauernden Unterschlupft gefunden haben, die diesen nun auf das Nachhaltigste in seinem Bestand gefährden, so daß in vieler Hinsicht eine Revision des Sozialismus nichts anderes bedeutet, als das Bestreben die unbrauchbaren Rückstände des Liberalismus aus dem wissenschaftlichen Sozialismus zu eliminieren. Sie wird weiter zeigen, wie leicht viele Widersprüche aus dem Sozialismus zu beseitigen sind, wenn man MARX' doppelte Argumentationsweise - die ökonomische und die willenstheoretische - streng auseinanderhält und die doppelten Konturen überall, wo sie notwendig störend werden, zu entfernen sucht. Außerdem soll dort dargelegt werden, welche Konsequenzen sich bei einer willenstheoretischen Kritik der Verelendungstheorie ergeben, und zu wie weitgreifenden Resultaten man gelangt, sowie man die Verelendungstheorie durch eine Meliorationstheorie [Verbesserungstheorie - wp] zu ersetzen sucht. Die Meliorationstheorie würde die denkbar günstigste Basis abgeben, um die willenstheoretische Notwendigkeit des Sozialismus angesichts der gegebenen Produktionsbedingungen zu beweisen und würde weiterhin gestatten, der Zusammenbruchstheorie diejenige Fassung zu verleihen, welche durch die Tatsache geboten wird, daß der Kapitalismus, selbst aufgrund der materialistischen Geschichtsauffassung, wie immer er sich im Verlauf auch entwickelt haben mag, von Anbeginn zumindest, kein Zersetzungs-, sondern ein Regenerationsprozeß gewesen sein mußte. Alle diese Darlegungen werden zugleich von dem Gedanken getragen sein, wie es die größte Lücke in MARX' System ausmacht, daß er die Modifikationen, die seine Thesen durch die Tatsachen der Konkurrenz erhalten, absichtlich aus seinem Werk auszuschalten für gut befand. (Auch bis heute ist leider noch gar kein Versuch gemacht worden, diese Lücke auszufüllen, obwohl klar ist, daß es das dringendste Desiderat [das Fehlende - wp] der ökonomischen Wissenschaft darstellt, die Thesen von MARX in der Hinsicht zu revidieren, daß man untersucht, bis zu welchem Grad sie durch den Einfluß der wirtschaftlichen Konkurrenz notwendig eine Abänderung erfahren müssen.) Zuvörderst wird sich aber das künftige Buch den Zweck setzen, nachzuweisen, um wieviel kräftiger und zielsicherer die Hauptpositionen des sozialen Evolutionismus verteidigt werden können, wenn man statt aufgrund der materialistisch-objektivistischen aufgrund einer idealistisch-objektivistischen Geschichtsauffassung operieren würde, indem man dabei besonders die ökonomisch-willenstheoretischen Momente in den Vordergrund rückt. Der konsequent zu Ende gedachte Psychologismus ist das revolutionärste Prinzip, das sich überhaupt vorstellen läßt. Ihm gegenüber erscheint der Materialismus geradezu wie eine schwächliche, willenslähmende Friedensschalmei. Und es kann auch keinem Zweifel unterliegen, daß die großen Erfolge, die der praktische Sozialismus errungen hat, nur zustande kamen, weil er vielfach in der praktischen Agitation hauptsächlich idealistisch-objektivistisch argumentierte und den extrem ökonomischen Materialismus bloß dazu benützte, um die Lehren der Gegner ad absurdum zu führen. - Natürlich ist es nicht zu vermeiden, daß all die hier gegebenen Anregungen notwendig ganz dunkel und wie eine recht ferne Zukunftsmusik klingen müssen; es war aber auch nicht beabsichtigt, mit denselben schon hier irgendetwas Positives zu geben. Sie sollten nur klar zum Ausdruck bringen, wie sehr die in der vorliegenden Schrift dargebotenen Erörterungen über die materialistische Geschichtsauffassung und den wissenschaftlichen Sozialismus durchaus aphoristischen Charakter tragen. 19) Die dringende Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen passiver und aktiver, bzw. subjektiver und objektiver Anpassung illustrieren am deutlichsten die Preisschriften, die unter dem Titel "Natur und Staat" augenblicklich in Jena erschienen sind. So viel Wertvolles sie auch bringen, geraten sie doch dadurch auf die gefährlichsten Abwege und in die verhängnisvollsten Irrtümer, daß sie durchweg nur die Anpassung unserer inneren Funktionen an die äußeren Lebensbedingungen und nicht auch umgekehrt die Anpassung der äußeren Lebensbedingungen an unsere inneren Funktionen in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stellen. Besonders das in der Hauptsache vorzüglich angelegte und an gehaltvollen Ausführungen reich Werk von SCHALLMAYER, "Vererbung und Auslese" würde bei einer Berücksichtigung dieser Unterscheidung äußerst gewonnen haben, ja wäre durch sie davor bewahrt geblieben, so extrem naturalistische Behauptungen aufzustellen, wie sie namentlich seine Erörterungen über den Mechanismus der Naturauslese zum Schaden des ganzen Werkes enthalten. Durch diese Übertreibungen wird SCHALLMAYERs so eifriges Bestreben, seine Anschauungen mit den denknotwendigen Postulaten der Ethik in Übereinstimmung zu bringen, total unfruchtbar, indem es ihn haltlos zwischen zwei Extremen hin- und herpendeln läßt. Wer SCHALLMAYERs Werk jedoch mit willenstheoretisch geschärftem Blick liest, wird von demselben trotz all dem mannigfache Anregungen erfahren. |