p-4 ra-2P. NatorpP. RéeH. MünsterbergJ. BahnsenS. WernerJ. Baumann    
 
RUDOLF GOLDSCHEID
Grundlinien zu einer
Kritik der Willenskraft

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"Erst, wenn die Intellektuellen sich ihrer großen Mission im Entwicklungsringen aller geistigen und physischen Gewalten voll bewußt werden und im Sinne dieser ihrer historischen Aufgabe als kämpfende Truppe wirken, dann erst werden sie zu der ihnen gebührenden Stellung in der Wissenschaft und im sozialen Leben emporsteigen und aufhören, geistig robottende Intelligenzsklaven zu sein, die man nicht befreien kann, weil sie selbst es sind, die ihrer beschämenden Knechtschaft noch Lobeshymnen singen."

"Was hat aber nun die von uns geforderte Willenstheorie eigentlich zu untersuchen? Sie muß vor allem Kritik der Willenskraft sein. Das heißt: Alle bisherige Erkenntnistheorie und Psychologie hat in erster Linie die passive Seite unseres Seins in Betracht gezogen; Aufgabe der Willenstheorie wäre es, auf die aktive Seite unseres Wesens das Hauptaugenmerk zu richten."

"Das Urteilen ist nicht nur insofern ein Wollen, als es ein Tun und Gestalten aus inneren Impulsen ist, sondern es erhält erst durch die Willensimpulse und die Erinnerung daran seine eigentümliche Form, sein Wesen, ja es wird eigentlich durch eine Verwertung der eigenen Willensimpulse erst geschaffen."

"In der Praxis des Alltags wird der Einfluß des Intellekts nicht allzu hoch bewertet. Das spöttische Belächeln der Ohnmacht der objektiven Ideen seitens der Realpolitiker aller Länder gegenüber der Macht und der Bedeutung der Interessen beweist die anti-intellektualistische Grundstimmung unserer Zeit am deutlichsten."


Einleitung

Die Philosophie, die schon die toteste Wissenschaft, die sterile Wissenschaft par excellence geworden ist, muß wieder die lebendigste, die allerfruchtbarste werden. Eine neue Leidenschaft muß die Menschen ergreifen, eine Leidenschaft, die besser Freudenschaft heißt, die Freudenschaft zu denken und denkgemäß zu wollen. In ihrer ganzen weltumschaffenden Gefährlichkeit muß die Philosophie wieder zu neuem tatkräftigen Wirken erwachen, als nicht zu unterdrückender Lebensquell aus allen Tiefen mächtig emporsprudelnd. Sie muß wieder erkannt werden von allen, die da Bildung lieben, Bildung haben, Bildung wollen, von allen Geistern und von allen Willen in ihrer ungeheuren revolutionären Kraft, und nicht länger darf sie ein Privatgut von Wenigen bleiben, die große Wahrheit: Wissenschaft ist Revolution. Ein ähnliches Gefühl, wie es den Menschen ergreift, wenn er in die Bergwelt kommt und am Fuß himmelragender Gletscherfirnen die alle Kräfte neu stählende Höhenluft atmet, muß auch die Philosophie in jedem geistig Gereiften erwecken, wenn sie die wahre Philosophie ist, wenn sie das ist, was STAMMLER in einem glücklichen Ausdruck Orthosophie nennt. Erfüllt von ihren höchsten Ideen und Imperativen muß man sich wie von einem ungeheuren, Jahrtausende alten Druck erlöst fühlen; Licht, Luft, Kraft muß es in einem jubeln, alle großen Hoffnungen verklärten Menschentums müssen aufquellen und unwillkürlich muß sich unsere Dankbarkeit für den Philosophen in die Worte drängen: Ecce homo! - Siehe da ein Mensch, frei von allen Rücksichten des Tages, frei von allen Eitelkeiten des Strebertums, erhaben über alle im Dienst der Herrschenden stehenden Lehrmeinungen, unbeirrt durch eine fehlgeleitete öffentliche Meinung von gestern, heute und vorgestern, willig untertan nur der notwendigen objektiven Erkenntnis, ein mutiger, unbestechlicher Anwalt der geheimen, allgemeinen Meinung. Die Philosophie als voranleuchtendes Licht, als frischer Lufthauch in gestockter Atmosphäre, als Sturmwind über morsches Gemäuer, als brausender Jubelruf zur Erweckung des sittlichen Willens, kurzum die Philosophie nicht mehr bloß als tote, rein formale Abstraktion, sondern zugleich als reifste, objektive Erkenntnis und kühne, lebendige Tat, das ist die wahre Philosophie. Man fordert immer in kleinlicher Verkennung der Bedeutung der Leidenschaft für allen weltgeschichtlichen Fortschritt die unbedingte Leidenschaftslosigkeit vom Philosophen. Freilich darf er sich nicht durch die Leidenschaftlichkeit vorgefaßter Urteile von der klaren Erkenntnis der gegebenen Tatsachen abdrängen lassen; mit aller erreichbaren Objektivität eines kräftig sich selbst beherrschenden Willens muß er vielmehr seine wissenschaftlichen Untersuchungen führen. Aber was er in unbeirrter eisiger und eiserner Objektivität gefunden hat, das muß der dann mit der Leidenschaft des Überzeugten offenbaren, das muß er mit unbeugsamer, leidenschaftlicher Beharrlichkeit urbi et orbi [in der Stadt und im Welktreis - wp] vertreten, indem er seine ganze, ungebrochene Energie einsetzt für die erkannte Wahrheit, und keinen Kampf scheut, nach keiner Richtung hin, und was man ihm auch zuruft, um seinen vor Aktivität strotzenden knorrigen Erkenntniswillen einzuschüchtern.

Dann erst, wenn die Intellektuellen dieser ihrer großen Mission im Entwicklungsringen aller geistigen und physischen Gewalten voll bewußt werden und im Sinne dieser ihrer historischen Aufgabe als scientia militans [kämpfende Truppe - wp] wirken, dann erst werden sie zu der ihnen gebührenden Stellung in der Wissenschaft und im sozialen Leben emporsteigen und aufhören, geistig robottende Intelligenzsklaven zu sein, die man nicht befreien kann, weil sie selbst es sind, die ihrer beschämenden Knechtschaft noch Lobeshymnen singen. Aus den Intellektuellen müssen so der Erkenntnis allein dienstbare Voluntaristen werden, denen nichts höher steht, als der Wille zu einem erkenntnisgemäßen, sozialen Sein. Als Lehrer der Wahrheitskühnheit müssen sie sich fühlen; Wahrheitswille, Fortschrittskraft muß all ihr Tun atmen. Nicht vom Wesenswillen dürfen sie faseln, Wissenswille muß das innerste Prinzip ihrer gesamten Weltanschauung und ihrer gesamten Weltwollung bilden. Nur so, wenn sie mit unüberwindlicher Energie zum Ausbau der Philosophie als Wissenschaft und Willenschaft zugleich schreiten, werden sie die Philosophie wieder beleben und diese selbst wird wechselseitig sie beleben und Leben, gesundes, Großes wirkendes Leben wird aller Orten glückspendend emporschießen. Lediglich eine solcherart willensstarke Philosophie wird es verhindern, daß weiter wie bisher eine Harmonie zwischen Theorie und Praxis sich ausbildet, in der die Theorie immer unpraktischer, lebensfremder, abstrakter, die Praxis immer systemloser, widerspruchsvoller, engherzig beschränkter wird. Die evolutionistisch erforderte wahre Versöhnung von Theorie und Praxis muß als Versöhnung von Erkenntnis und Wille zustande kommen, muß der Entzweiung von Geist und Energie, von Rationalismus und Energetismus ein Ende bereiten, ein Ende, das den Anfang zu wieder erwachter, lebendiger Aktivität bedeutet und so zu einer Harmonie führt, die in nicht zu erschöpfender Fruchtbarkeit unablässig neue, vorwärts treibende Kräfte gebiert.


1. Der Gegenstand der Willenstheorie

Hat KANT sich bemüht, die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens auf das Genaueste abzustecken, so ist es heute die dringendste Aufgabe der Philosophie, die Grenzen unseres Willensvermögens klar zu umschreiben. Erst damit würde eine Kritik der Ideologie geliefert sein, die Ideologie als Metaphysik des Willens und die Teleologie als exakte Willenstheorie deutlich voneinander unterscheidet. Es ist in der Tat interessant, daß bisher noch fast gar nicht das Bedürfnis empfunden worden ist, die Willenstheorie als spezielle Disziplin auszubauen Alles, was über den Willen zutage gefördert wurde, findet sich in den verschiedenen Einzelwissenschaften verstreut, und lediglich als Zweig der Psychologie hat man es versucht, eine zusammenfassende, exakte Willenslehre anzustreben. Aber zwischen Willenslehre und dem, was hier als Willenstheorie verstanden wird, besteht ein ganz wesentlicher Unterschied.

Übersehen wir ganz flüchtig, in welcher Weise der Wille bisher philosophisch erfaßt worden ist, so ergibt sich Folgendes: Wir haben einerseits von der indischen und griechischen Philosophie her und dann besonders im Mittelalter durch die Patristiker und Scholastiker in ihren weitläufigen Streitschriften über den Primat des Willens eine Willensmetaphysik, von der man wohl behaupten kann, daß sie in SCHOPENHAUER die vollendetste Darstellung gefunden hat, und wir haben andererseits eine Psychologie des Individualwillens, welche sich entweder introspektiv an den Tatsachen der eigenen seelischen Erfahrung orientiert oder aber experimentell-empirisch vorgeht und sich von der Naturwissenschaft ihre Direktiven holt, um auf diese Weise den Willensmechanismus möglichst exakt beschreiben zu können. Insbesondere in der Gegenwart erscheinen zahlreiche philosophische Untersuchungen, die sich in der verschiedenartigsten Weise mit dem Willen beschäftigen. So ist z. B. innerhalb der Psychologie der Streit um den Primat des Willens wieder akut geworden, und einer der modernen Philosophen, WILHELM WUNDT, nennt seine ganze Philosophie, weil er überall vom Primat des Willens ausgeht, eine voluntaristische, und hat im Verein mit FRIEDRICH PAULSEN, der den Ausdruck Voluntarismus prägte, der voluntaristischen Richtung zahlreiche Anhänger geworben. Neben der Individualpsychologie ist heute auch die Sozial- und Massenpsychologie ein viel bearbeitetes Feld und auch hier wird vielfach an leitender Stelle vom Willen in seinen verschiedenen Formen und seinem Wesen überhaupt gesprochen.

In ausgiebigster Weise beschäftigt man sich in Frankreich und Italien mit derartigen Untersuchungen, weil ja in Frankreich und Italien die neue Wissenschaft der Soziologie am tiefsten Wurzeln geschlagen hat. Aber weder dort, noch auch in England, wo gleichfalls die Sozialwissenschaft einen guten Boden fand, und vielleicht am allerwenigsten in Deutschland ist man sich darüber klar geworden, was denn eigentlich die Basis aller Sozialwissenschaft [menger] sein muß, nämlich: die Willenstheorie. Wenn ich sage am allerwenigsten in Deutschland, so kann dies einigermaßen verwunderlich erscheinen. Denn in Deutschland haben wir ja neben der Soziologie, die sich vorwiegend auf der Völkerpsychologie aufbaut, die vollkommenste Form derjenigen Soziologie, welche Sozialwissenschaft als wissenschaftlichen Sozialismus begreift. Und fassen wir speziell den Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, KARL MARX, ins Auge, so müssen wir unbedingt zugeben, daß der Wille für sein System von integrierender Bedeutung ist, ja geradezu den entscheidenden Faktor seines sozialen, wenn freilich auch nicht zugleich seines ökonomischen Evolutionismus ausmacht. Aber schon aus dieser bloßen Konstatierung dürfte sich erhellen, daß doch auch MARX über die Natur des menschlichen Willens nicht zu derjenigen Klarheit vorgedrungen ist, welche zur inneren Einheit seines Systems unbedingt notwendig gewesen wäre. Bei genauer Betrachtung läßt sich allerdings nicht hinwegleugnen, daß MARX das Größte vom menschlichen Willen erwartet hat; aber hält man daneben, wie er überall vom menschlichen Willen spricht und wie er in der Formulierung der materialistischen Geschichtsauffassung als ökonomischen Historismus den Einfluß des menschlichen Willens geradezu auf ein Minimum reduziert hat, so muß man sich doch sagen: auch MARX, dieser große, praktische Willenstheoretiker, den man zweifellos als den KANT der Sozialwissenschaft bezeichnen kann, hat vom Wesen der reinen Willenstheorie keine deutliche Kenntnis gehabt.

Was hat aber nun die von uns geforderte Willenstheorie eigentlich zu untersuchen? Damit wir das Ergebnis gleich in ein Schlagwort zusammengefaßt vorwegnehmen, wollen wir kurz erklären: sie muß vor allem Kritik der Willenskraft sein. Was heißt das nun? Das heißt: Alle bisherige Erkenntnistheorie und Psychologie hat in erster Linie die passive Seite unseres Seins in Betracht gezogen; Aufgabe der Willenstheorie wäre es, auf die aktive Seite unseres Wesens das Hauptaugenmerk zu richten. Ist unsere Passivität auch wesentlich mitbestimmend für unsere Aktivität, so beurteilen wir doch stets unser gesamtes Sein nach den Leistungen unserer Aktivität, welche uns unsere Stellung in der Natur erobert hat. Wenn darum die Willenstheorie die Grundbedingungen unserer Aktivität untersucht, so hat sie schon damit allein ein ungeheures Feld der Arbeit und einen Boden, wie er fruchtbarer nicht gedacht werden kann.

Die exakte Willenstheorie darf sich demnach nicht wie alle bisherige Psychologie zum größten Teil damit begnügen, festzustellen, welche Motive den menschlichen Willen von Geburt an bedingen, beeinflussen, bilden und den gebildeten fortentwickeln, sie muß weiter gehen und mit allen Mitteln, welche der moderne Wissenschaftsbetrieb den Menschen zur Verfügung stellt, prüfen, welchen Einfluß seinerseits sowohl der rohe, wie der gebildete und verbildete Wille einerseits auf das eigene geistige Sein und andererseits auf die nächste Umgebung, auf die äußere Natur, auf die ökonomischen Verhältnisse, auf die sozialen Institutionen, mit einem Wort auf die geschichtliche Entwicklung auszuüben vermag. Es muß des weiteren untersucht werden, wann er einen günstigen, wann einen ungünstigen Einfluß ausüben wird, und wie er es überhaupt anstellen muß, um im Sinne der Erkenntnis wirken zu können. Allein selbst all das sind, genau genommen, nur Vorfragen der Willenstheorie als praktischer Wissenschaft. Die Willenstheorie, welche die Basis aller Geschichts- und Sozialwissenschaft abgeben soll, hat ein weit größeres Gebiet. Nicht nur, daß die unzähligen Fragen, welche sich hinsichtlich der Willensdetermination ergeben, ihr zentralstes Problem bilden, das sie weniger in Bezug auf Freiheit und Unfreiheit, als in Bezug auf aktive und passive, äußere und innere Determination zu erörtern hat, wie wir später noch genau ausführen werden, ihr obliegt es auch, eine Analyse der gegebenen Willensverhältnisse zu schaffen, damit die Einsicht erwächst, in welcher Weise jeweils in der Gesellschaft, und zwar sowohl in einzelnen Völkern wie auch in der zivilisierten Menschheit im Ganzen die Willenskräfte nach verschiedenen Zielen hin konzentriert und akkumuliert sind, und was sich aufgrund der jeweiligen Intensität, Verteilung und Richtung der Willenskräfte im sozialen Mechanismus von der naturgemäßen Evolutioin erwarten läßt. So würde klar werden, wie Naturordnung, Menschenordnung und akkumulierte menschliche Willenskraft sich zueinander verhalten, und was der menschliche Wille angesichts der gegebenen natürlichen, ökonomischen und sozialen Existenzbedingungen nicht nur soll, nein, auch kann. Schon nach diesen wenigen Andeutungen dürfte wohl klar sein, daß geradeso wie überall eine erkenntnistheoretische Betrachtung des Gegebenen unsere Einsicht vertieft und uns zu vollständig neuen wissenschaftlichen Ergebnissen gelangen läßt, in der Sozialwissenschaft der willenstheoretischen Betrachtung neben der erkenntnistheoretischen überall eine grundlegende Bedeutung zuzusprechen ist. Ja, es wird nicht schwer fallen, im weiteren Verlauf den Nachweis zu liefern, daß auf dem Boden der Willenstheorie alle Grundfragen der pratischen Philosophie mit zu erörtern sind, und zwar namentlich deshalb, weil, wie wir zeigen werden alle Probleme der Teleologie willenstheoretischen Charater tragen.

Ganz abgesehen von der Geschichtswissenschaft, die durch den Mangel an willenstheoretischer Durchbildung vielfach auf Abwege geraten ist, offenbaren auch die Wirtschaftswissenschaft und Ethik, wie sehr ihnen eine willenstheoretische Revision not tut, ja selbst das Verhältnis von Volkswirtschaft und Ethik ist durch das bisherige gänzliche Fehlen des willenstheoretischen Standpunktes vielfach durchaus schief aufgefaßt worden. Ganz besonders ist jedoch das Fehlen einer exakten Willenstheorie wegen der Verbreitung des Vulgärvoluntarismus von Bedeutung. Das Herrschaftsgebiet des ungeklärten Voluntarismus darf keineswegs unterschätzt werden. Sowohl die physiologische Psychologie steht heute fast durchweg auf dem Standpunkt des Voluntarismus, indem sie den Willen als das Ursprünglichere erachtet, wie sich auch die Erkenntnistheorie allmählich offensichtlich voluntaristisch zu färben beginnt. So hält WUNDT zum Beispiel die Aufmerksamkeit für den Keim des Willens und erachtet die Apperzeption, die nach ihm dasjenige ist, was alle Vorstellungen zur Einheit verknüpft, für eine Funktion des Willens. Und er steht mit dieser Auffassung durchaus nicht vereinzelt da; es hat sich ihm ganz im Gegenteil eine lange Reihe von Forschern angeschlossen, die völlig mit ihm darin übereinstimmen, daß "der Wille, weit entfernt, das Intelligenzlose zu sein, vielmehr die Intelligenz selbst ist". So erklärt zum Beispiel JERUSALEM, der in sehr interessanter Weise wenigstens ein Teilgebiet der Erkenntnistheorie voluntaristisch zu behandeln sucht, in seiner ausgezeichneten Schrift über die "Urteilsfunktion":
    "Das Urteilen ist nicht nur insofern ein Wollen, als es ein Tun und Gestalten aus inneren Impulsen ist, sondern es erhält erst durch die Willensimpulse und die Erinnerung daran seine eigentümliche Form, sein Wesen, ja es wird eigentlich durch eine Verwertung der eigenen Willensimpulse erst geschaffen." (1)
Andererseits wird in der Praxis des Alltags wieder der Einfluß des Intellekts nicht allzu hoch bewertet. Das spöttische Belächeln der Ohnmacht der objektiven Ideen seitens der Realpolitiker aller Länder gegenüber der Macht und der Bedeutung der Interessen beweist die anti-intellektualistische Grundstimmung unserer Zeit am deutlichsten. Ebenso enthält der Hinweis auf den unausrottbaren Egoismus der menschlichen Natur, wie er seit dem Aufkommen des ökonomischen Liberalismus in den letzten hundert Jahren niemals verstummt ist, ein ganz entschiedenes Bekenntnis zur voluntaristischen Weltanschauung, was freilich bisher noch bei weitem nicht genügend beachtet worden ist Voluntarismus und Egoismus tragen jedoch tatsächlich äußerst wesensverwandte Züge. - Allein auch derjenige Philosoph, in dem zumindest der Aufklärungsintellektualismus des 18. Jahrhunderts gipfelte und dessen systematisch fortgebaute Lehren über und gegen FICHTE schließlich zum hyper-intellektualistischen Panlogismus HEGELs führten, auch IMMANUEL KANT hat voluntaristischen Prinzipien, namentlich in seiner praktischen Philosophie, weitgehende Konzessionen gemacht.. Ja, es ist fraglich, ob er, indem er dem Primat der praktischen Vernunft postulierte, nicht den ganzen Unterbau seiner Kritik der reinen Vernunft bis zur Zerstörung gefährdete. Tatsache ist jedenfalls, daß die Bewegung, die sich an den Ruf: Zurück zu Kant!" wie er in der Mitte des 19. Jahrhunderts immer lauter erscholl, anschloß, nicht nur an KANTs Intellektualismus anknüpfte, sondern ganz besonders seine Forderung des Primates der praktischen Vernunft sich zu eigen machte. Und auch eben von der Behauptung des Primats der praktischen Vernunft, welche dem Handeln gegenüber dem Erkennen den Vorrang einräumt, ist augenblicklich die Machtstellung des Intellekts, die Bedeutung der Idee gegenüber den praktischen Erfordernissen des Tages auf das Nachhaltigste bedroht.

Nun kann es aber trotz all dem auf den ersten Anblick sondernbar, ja vielleicht sogar verwunderlich erscheinen, wenn wir geradezu als Korrelat zur Erkenntnistheorie den systematischen Ausbau einer Willenstheorie fordern. Wie sollte sich neben der Erkenntnistheorie eine Willenstheorie als gleichwertige Forschungsdisziplin begründen lassen? Die Erkenntnistheorie, insofern sie im Geiste ihres bedeutendsten Bearbeiters, insofern sie im Geist KANTs behandelt wird, strebt eine Kritik unseres Erkenntnisvermögens an, sie untersucht, was und wieviel kann Verstand und Vernunft frei von aller Erfahrung erkennen, und wie ist das Vermögen zu denken selbst möglich. Und KANT glaubte feststellen zu können, daß wir in Raum und Zeit anschauen müssen und alle Erfahrung nach einer bestimmten Anzahl von unserem Verstand immanenten Kategorien begrifflich zu ordnen gezwungen sind. In welcher Weise sollte zu diesen Daten der Erkenntnisthroei eine nach ähnlichen Prinzipien verfahrende Willenstheorie Korrelate liefern können? Diese Frage ist nicht ohne weiteres zu beantworten. Sie kann nur beantwortet werden unter Hinblick auf die Lehren derjenigen, die den Primat des Willens annehmen, aber vielfach nicht daran denken, welche weitgehenden Konsequenzen eine derartige Annahme nach sich zieht, und welche grundstürzende Revolution, besonders in der Erkenntnistheorie, notwendig folgen muß, wenn man diese Konsequenzen mit aller gebotenen Prinzipienstrenge zu Ende denkt.

Wir wissen, daß es KANTs größtes Verdienst war, in das menschliche Erkennen eine weitaus höhere Gesetzmäßigkeit hineingebracht zu haben, als alle Philosophie vor ihm. Und er bemühte sich besonders, zu beweisen, daß diese hohe Gesetzmäßigkeit unseres Erkennens nicht aus dem Verhältnis der Dinge zueinander hervorgeht, sondern vielmehr aus den unserer Vernunft innewohnenden Fähigkeiten selbst erwächst. Wir erkennen nach ihm kausal und logisch, nicht weil das Geschehen ansich kausal und logisch verläuft, sondern weil unsere Vernunft nur kausal und logisch zu erkennen vermag. Unter Bezugnahme auf diesen Ursprung der Kausalität, wonach aus der Gesetzmäßigkeit unseres Erkennens keine Folgerungen auf den gesetzmäßigen Verlauf des Geschehens gezogen werden dürfen, war KANT in der Lage, zugleich mit der Gesetzmäßigkeit des Erkennens eine Freiheit des Willens anzunehmen, da ja die Gesetzmäßigkeit unseres Erkennens nichts über die Verhältnisse der Dinge-ansich auszusagen vermochte. KANTs Kritik der reinen Vernunft räumte also mit einem auf, was vorher alle Philosophie in Verwirrung gebracht hatte: KANT zerstörte den Glauben an die Freiheit des Erkennens. Aber er ließ das andere Dogma, welches alle Wissenschaft gleich stark beeinflußte, er ließ das Dogma von der Freiheit des Willens bestehen, ja bemühte sich sogar, es zu befestigen. Man könnte nun zwar geneigt sein, zu meinen, daß es einen fundamentalen Unterschied ausmacht, ob man an der Freiheit des Erkennens festhält oder nur an der Freiheit des Wollens, und urteilen, daß die Annahme der letzteren der Leugnung der ersteren keinerlei Eintrag tut. Ja man könnte sogar noch weiter gehen und sagen, daß in unserer Zeit die Behauptung vom Primat des Willens doch größtenteils zusammengeht mit der Behauptung von der Unfreiheit des Willens, so daß auch diesbezüglich nicht recht ersichtlich ist, inwiefern eine Willenstheorie als Korrelat zur Erkenntnistheorie erforderlich wäre, und inwiefern insbesondere die Lehre vom Primat des Willens, namentlich wenn diese zugleich mit der Freiheit des Erkennens auch die Freiheit des Wollens negiert, revolutionierend und bei ungeklärter Sachlage verwirrend auf die Erkenntnistheorie einwirken könnte.

Auf den ersten Blick hat es jedenfalls den Anschein, als ob die Annahme vom Primat des Willens nur weitgreifende Folgen für das Erkennen selbst haben könnte, nicht aber solche für die Theorie des Erkennens. Doch es verhält sich in Wirklichkeit nicht so. Die Annahme vom Primat des Willens greift vielmehr in ihren Folgen auch sehr wesentlich auf die ganze Erkenntnistheorie über. Nach KANT sind Raum und Zeit die Anschauungsformen unserer Sinnlichkeit, während unser Erkennen sich nach den Kategorien vollzieht. Der Wille hat in seiner "Kritik der reinen Vernunft" beinahe gar keine Berücksichtigung erfahren. Wenn man nun mit SCHOPENHAUER annimmt, daß der Wille die Wurzel unseres Intellekts bildet, ja daß unser Intellekt durchweg im Dienst unseres Willens erkennt, so muß die jeweilige Willensrichtung auch den Intellekt dominieren, und unter den vier Hauptarten der Kategorien kommt dann neben der Quantität, Qualität und Modalität der Relation eine weit größere Bedeutung zu, als KANT ihr beimaß. Die Relation begreift unter sich nicht nur die Kausalität, der SCHOPENHAUER einen so hohen Rang einräumte, daß sie ihm alle übrigen Kategorien zu subsumieren schien, die Relation schließt auch die Kategorie der Gemeinschaft ein, welche KANT als Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und dem Leidenden definierte. Ist nun tatsächlich der Wille der Beherrscher des Intellekts, wie dies die Lehre vom Primat des Willens behauptet, so ist evident, daß die kantische Frage: Was und wieviel kann Verstand und Vernunft frei von aller Erfahrung erkennen, und wie ist das Vermögen zu denken selbst möglich? ohne Berücksichtigung des Willens unmöglich eine zulängliche Beantwortung erhalten kann. - Der Intellektualist, der den Willen als mehr oder weniger integrierenden Bestandteil seiner Vorstellungswelt ansieht, kann somit bei einer kritischen Untersuchung seines Erkenntnisvermögens vom Willen als eines bloß empirisch Gegebenen abstrahieren. Der Voluntarist, für den der Wille die Wurzel des Intellekts ist, für den das ganze Vorstellungsleben unter der Herrschaft des Willens steht, der kann seine Kritik des Erkennens nicht exakt ausarbeiten, ohne vorher das Wesen des Willens untersucht zu haben, ohne vorher klargestellt zu haben, bis zu welchem Grad der Wille alles Erkennen färbt.

Und nicht nur durch den Voluntarismus erfährt die ganze rein intellektualistische Erkenntnistheorie eine veränderte Beleuchtung, sondern auch durch eine eingehende Berücksichtigung des menschlichen Wertens. Das Werten ist zweifellos die ursprünglichste Fähigkeit aller organischen Existenzen. Schon die rein vegetativen Prozesse im pflanzlichen Organismus geben auf das Deutlichste einer ganz bestimmten Wertung Ausdruck, die sich dann bei den tierischen Vorgängen als Automatismus, als Reflex, als einfachste Triebhandlung in einer höheren Differenzierung wiederholt. Das Vermögen aller Organismen, auf fördernde Reize anders zu reagieren als auf schädigende, stellt also eine ursprüngliche Wertungsanlage dar, welche aller Entwicklung von intellektuellen Fähigkeiten lange vorangeht, weshalb man es als axiomatisch sicher hinstellen kann, daß aller Intellekt nur dort eine Entstehungs- und Entwicklungsmöglichkeit vorfindet, wo bereits ein Wertungsvermögen vorhanden ist. Und tatsächlich hat sich in jüngster Zeit der Erkenntnistheorie als selbständige, neue Disziplin die Werttheorie angeschlossen. Erst wenn die Erkenntnistheorie und die Werttheorie durch eine ihnen adäquate Willenstheorie vervollständigt würden, käme Klarheit in unser ganzes Wissen, und ganz besonders für die Sozialwissenschaft würde die Willenstheorie die größte Bedeutung gewinnen. Wie man darum unter der erkenntnistheoretischen Betrachtung eines bestimmten Gegenstandes versteht, daß man bei seiner Erörterung bis auf die Bedingungen des Erkennens überhaupt zurückgeht, so hätte man unter willenstheoretischer Erörterung eines Problems zu begreifen, daß man dabei bis zu den Grundbedingungen des Wollens überhaupt zurückgreift.

Ein wie notwendiges Korrelat zur Erkenntnistheorie die Willenstheorie bildet, zeigt sich auch sehr deutlich, wenn man versucht, in einer Anknüpfung an anerkannte Definitionen der Erkenntnistheorie die Bedeutung der Willenstheorie zu definieren. Sehr interessant sind in dieser Hinsicht besonders die Begriffsbestimmungen, die WUNDT und SIGWART in ihren ausgezeichneten Logiken darbieten (2). Namentlich SIGWART, der das Denken konsequent überall als Denkenwollen betrachtet, gibt allen seinen erkenntnistheoretischen Darlegungen eine solche Fassung, daß der Ausbau einer Willenstheorie neben der Erkenntnistheorie geradezu unabweisbar erscheint, wenn er selbst auch eine solche noch nicht fordert. Zur Jllustration sei nun auch direkt ein Beispiel angeführt. Der Inhalt der Willenstheorie kann gar nicht klarer herausgearbeitet werden, als wenn wir diesen im Anschluß an eine Definition WINDELBANDs (3) hinsichtlich der Erkenntnistheorie zu bestimmen suchen. WINDELBAND erklärt:
    "Die Probleme ..., welche sich aus den Fragen über die Tragweite und die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und ihrem Verhältnis zu der zu erkennenden Wirklichkeit erheben, bilden den Gegenstand der Erkenntnistheorie."
Anknüpfend daran wäre über die Willenstheorie zu sagen: Die Probleme, welche sich aus den Fragen über die Tragweite und die Grenzen der Fähigkeit des menschlichen Willens und seinem Verhältnis zu der zu beeinflussenden Wirklichkeit erheben, bilden den Gegenstand der Willenstheorie. - Diese Gegenüberstellung offenbart mit Evidenz, wie eng Erkenntnistheorie und Willenstheorie zusammenhängen, wie sehr sie aufeinander als Korrelate hinweisen.
LITERATUR Rudolf Goldscheid, Grundlinien zu einer Kritik der Willenskraft, Wien und Leipzig 1905
    Anmerkungen
    1) WILHELM JERUSALEM, Die Urteilsfunktion, Wien 1895.
    2) siehe WUNDT, Logik, Bd. I, Einleitung (zweite Auflage, Stuttgart 1893) und SIGWART, Logik, Bd. II, § 104 (zweite Auflage, Freiburg i. Br. 1893).
    3) WILHELM WINDELBAND, Geschichte der Philosophie, Zitat nach RUDOLF EISLER, Wörterbuch der philosophischen Begriffe (Berlin 1895).