ra-2K. VorländerK. Marxvon Below    
 
GERHART von SCHULZE-GAEVERNITZ
Marx oder Kant?

"Marx ist Monist im Gegensatz zum Dualismus zwischen Sein und Soll (Natur und Wert), welcher Kants System durchzieht. Er ist Seinsmonist im Gegensatz zum Wertmonismus Hegels. Bei Hegel verschlingt der Wert das Sein: was nicht Wert ist, ist nicht wirklich. Bei Marx verschlingt das Sein den Wert: was nicht wirklich ist, ist kein Wert. Marxens System behauptet rein natur-wissenschaftlich zu sein."

"Marx ist im philosophischen Sinn unkritisch, wie er dann mißverständlicherweise dem kantischen Idealismus jenen Irrtum vorwirft, den Kant gegen Berkeley gerade ausdrücklich abgewehrt hat: Kant verflüchtige die Welt zum Schein, zur Phantasmagorie."

"Das Sollen über dem Sein, den Wert über der Natur, die Idee über der Erscheinung anzuerkennen ist nicht Sache des Beweises, sondern des Entschlusses. Dies ist das große Entweder-Oder, das in der einen oder anderen Form jedem Menschen gestellt wird. Insofern ist die Wahl der Weltanschauung nicht Sache des Wissens, sondern des Gewissens."


Hochansehnliche Versammlung!

KANT war der Heros der klassischen Kultur Deutschlands. Der Name KANTs, als des Umfassers und Überwinders der westeuropäischen Aufklärung, umschließt die Weltherrschaft des deutschen Geistes. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg ein anderer Deutscher, zwar in einem beschränkteren Kreis, hier aber schneller und unbestrittener, zur Weltherrschaft empor: KARL MARX. MARX verdunkelte alle früheren Sozialisten, deren "Utopismus" nunmehr belächelt wurde. In seinem Namen übte die deutsche Sozialdemokratie Jahrzehnte hindurch, viel bewundert und nachgeahmt, die Vorherrschaft über den internationalen Sozialismus (1) aus. MARXens Schriften wurden kanonisiert, seine Gedanken zur Orthodoxie gesteigert und Abtrünnige mit einem  Anathema  [Fluch - wp] belegt. Trotzdem befindet sich sein System heute in einer offenkundigen Zersetzung. Die neuaufsteigende Sonne KANTs verdunkelt das Gestirn eines MARX. Gerade im sozialistischen Lager sucht man Anschluß an KANT. Aber der Kompromiss - der Schlüssel zur Politik - erschließt nicht die Tiefen gedankenmäßiger Grundfragen. Schwächlicher Versöhnung, wie "sowohl KANT als auch MARX" sagen würde, tritt ein haarscharfes  "Marx oder Kant"  entgegen.

Erklärlich genug! MARX selbst war ein - nach KANT geborener - Vorkantianer; er war ein Adept der von KANT überwundenen englisch-französischen Aufklärung, wie er dann auch HEGELs vorkantische Form festhielt, dagegen HEGELs kantischen und zum Teil überkantischen Inhalt verwarf. Mehr noch: MARX grub den wasserreichsten jener Kanäle, durch welchen im 19. Jahrhundert westeuropäische Fluten deutsches Flachland überschwemmten. Nur derjenige, der sich des grundsätzlichen Fortschritts bewußt ist, den KANT über HUME und BENTHAM, über VOLTAIRE und ROUSSEAU hinaus bedeutet, wertet das "Zurück zu Kant!" im Munde eines BERNSTEIN und anderer sozialistischer Neukantianer in seiner vollen geistesgeschichtlichen Schwere.

Im deutschen Idealismus bejahte das empirische Ich, zum erstenmal in bewußter Freiheit, den überempirischen Wert, welcher die Kulturwelt menschlichen Denkens wie Handelns trägt. Auf ihren Höhepunkten erhebt sich diese Wertbejahung zur "Ehrfurcht". (2) MARXens innerster Kern war doch wohl jene Wertverneinung, in der das empirische Ich, empört über verschlissene Wertüberlieferungen, den überempirischen Wert selbst leugnet. In MARX flammte die Leidenschaft der Zerstörung. An dieser innerlichsten Flamme nährte sich das ungeheure Lebenswerk dieses riesigen Arbeiters. Um eine solche Grundstimmung zu verstehen, gedenken wir seiner Umgebung und seines Ursprungs.

MARX wurzelte in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts, deren Eindrücke, was nur zu oft vergessen wird, ihn zeitlebens bestimmten. Es waren die Tage einer scheinbar endgültigen Niederlage des deutschen Idealismus. Je mehr die geistige Welle abebbte, umso mehr trat die Sandwüste des vorkantischen Deutschlands zutage.

In den Tagen LORENZ von STEINs hatten gutsherrliche "Patrone" den Schulunterricht für "schädlich" erklät; Garnisonschefs hatten städtische Ratsherren mißhandelt, Offiziere den Kaufman für gut genug erklärt, um seine Kassen (mit dem Bajonett zu sprengen". Der Adel hatte die Vorteile der neuen Zeit (Wegfall des Bauernschutzes) mitgenommen, ohne auf die Vorrechte der alten Zeit zu verzichten (3). Absolutismus und Bürokratie meisterten den beschränkten Verstand "der Untertanen" und bestimmten womöglich, wie er die Suppe zum Mund zu führen hat.

Dieses System - halb Kinderstube, halb Kaserne - schien unter den Schlägen des großen Parvenüs [Emporkömmling - wp] zusammengebrochen zu sein, der "dem Talent die Karriere eröffnet" hatte, dessen Marschälle gemeine Soldaten gewesen waren. Mit Husaren hatte NAPOLEON die preußischen Festungen erobert, und sieben preußische Minister hatten dem Triumphator bei seinem Einzug in Berlin den Treueeid geschworen! Die Berliner hatten das "vive l'empereur" dem Begründer ihrer Selbstverwaltung entgegengejubelt.

Und doch, wie schnell waren die Lehren dieser Jahre vergessen! Kaum waren mit Hilfe des Volkes die Fremden verjagt, so war dieses "lederne geistlose Wesen" (4) wieder auferstanden, welches Preußen in Deutschland allezeit so verhaßt gemacht hat. Wieder regierten bürokratischer Dünkel, junkerliche Überhebung und nicht minder jener Unteroffizierston, der das Verhältnis zwischen Staat und Volk vergiftet. Absolutismus und Feudalität waren wieder die handgreiflichsten Mächte der deutschen Welt. Zensur und Gewissenszwang knechteten das Volk der himmelstürmenden Denker. Die STEIN und die SCHARNHORST ruhten bei den Toten, nicht anders die KANT und die FICHTE. In unerreichbar weiter Ferne aber schwebte jene deutsche Nation, die - nach innen frei, nach außen stark - der Traum der Idealisten gewesen war. Einem FRIEDRICH WILHELM IV. stand die Reinigung der evangelischen Landeskirche von den ernst religiösen, aber freier gerichteten "Lichtfreunden" unendlich höher als die Sorge um die auswärtige Politik seines Staates (5). In der Tat -  dieser  Staat schien unbelehrbar -  dieser  Staat, der nicht einmal das in der Not des Befreiungskampfes gegebene Verfassungsversprechen einlöste - dieser größte deutsche Staat, der, um den eigenen Absolutismus fortzufristen, zeitweise sogar ein "Los von Deutschland" ins Auge faßte.

Wahrlich, der deutsche Idealismus hatte sich unfähig erwiesen, die deutsche Wirklichkeit zu gestalten. Es schien an der Zeit, ihn zu Grabe zu tragen. Die HEGEL'sche  Linke  begleitete seinen Leichenzug: STRAUSS' "Leben Jesu" 1835, FEUERBACHs "Wesen des Christentums" 1842, STIRNERs "Der Einzige und sein Eigentum" 1845, schließlich MARX und ENGELS' "Das Manifest der kommunistischen Partei" 1848. Hatten die Heroen unseres klassischen Zeitalters im stolzen Gefühl ihres Eigenwertes die deutsche Kultur als eine neue und höhere Stufe des Menschentums gewertet, so sammelte man nun demütig die Brochen, die vom Tisch des Westens fielen. Französischer Liberalismus und Sozialismus waren die Mächte des Tages, letzterer vermittelt durch das Buch STEINs über den französischen Sozialismus 1842 (6), dessen Einfluß auf MARX von SOMBART mit Recht außerordentlich hoch eingeschätzt wird.

In der Anlehnung an das Ausland ging das halb französische Rheinland voran, deren fortgeschrittenere bürgerliche Zustände der bürokratisch-feudalen Struktur des preußischen Staates besonders entgegenstrebten. In der Zersetzung heimischer Kulturinhalte begann das Judentum - rechtlich erst halb emanzipiert, wie viel weniger kulturell eingegliedert - dem Gastvolk eine langjährige Unterdrückung heimzuzahlen. KARL MARX entstammte einer jüdischen Familie, die wahrscheinlich unter dem Druck anti-semitischer Bewegungen den Taufakt vollzogen hatte (7), und KARL MARX war Trierer, im Gegensatz zu LASSALLE, dem staatlich disziplinierteren Breslauer. Im Kreis der Berliner Junghegelianer wurde MARX mit den Waffen der HEGELschen Dialektik ausgerüstet, deren idealistischer Gehalt bereits ausgebrannt war. Dürstend nach dem Konkretum, das HEGEL vergewaltigt hatte, tauchte MARX noch einmal in das HEGEL'sche Meer unter, "mit der bestimmten Absicht, die geistige Natur ebenso fest gerundet zu finden wie die körperliche, nicht mehr Fechtkünste zu üben, sondern die reine Perle ans Sonnenlicht zu halten" - so schrieb der noch nicht zwanzigjährige Student (8). Bezeichnenderweise handelt MARX' Doktor-Dissertation 1841 über DEMOKRIT und EPIKUR und verrät - noch unter Festhaltung des HEGEL'schen Ausgangspunktes - bereits die Einflüsse des französischen Materialismus. Bald darauf machte MARX, der sich in Bonn zu habilitieren gedachte, die Erfahrung, daß "für ihn kein Platz an einer preußischen Hochschule" ist (9). Seitdem verfiel MARX dem Leben des politischen Flüchtlings, dem Nahrungssorgen nicht erspart blieben.

"Da die hiesige Luft leibeigen macht und ich in Deutschland durchaus keinen Spielraum für eine freie Tätigkeit sehe", schrieb MARX von Bonn aus an RUGE, gehe er nach Paris, "der alten Hochschule der Philosophie und der neuen Hauptstadt der neuen Welt" (10). In Paris und auf Betreiben der preußischen Regierung aus Paris ausgewiesen, in Brüssel verbrachte MARX die entscheidenden Jahre seiner geistigen Entwicklung 1845-47. Im "Manifest der kommunistischen Partei" 1848 steht der Marxismus in seinen Grundzügen fest. In Paris umfing den Jüngling jene rein diesseitige Kultur, welcher der Zweck des Staates gleich dem Glück des Einzelnen gleich dem Genuß ist. In Paris wehte wieder die staatsfeindliche Luft der französischen Revolution (11). Man forderte die Freiheit vom Staat, nicht im Staat und für den Staat - sondern die Freiheit, welche Gehorsam als Schande ansieht und in der Verachtung allen positiven Rechts gipfelt. War CONDORCET der leitende Kopf der französischen Revolution, so war MARX schon in dieser allgemeinen Stimmungsgrundlage sein Schüler.

In London, wo MARX schließlich eine Heimstätte fand, wurde aufgrund des ernstesten Studiums der britischen Nationalökonomie in den folgenden Jahrzehnten sein System auseinandergefaltet. England aber war für MARX der Boden des vollendeten Kapitalismus, des unverhüllten Kampfes der Reichen und der Armen - ein Kampf, der auf die soziale Revolution als "das letzte rein politische Mittel" unfehlbar hinzutreiben schien (12). Der Eindruck dieses England der vierziger Jahre hat MARX zeitlebens beherrscht. Denn MARX wurde seitem den Bücherschätzen des britischen Museums vertrauter, als der seit den sechziger Jahren aufsteigenden Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegung der britischen Arbeiter. So hat er sogar das berühmte "Zehnstundengesetz" längere Zeit zu einer "reaktionären Maßregel" erklärt (13). Zwar weisen die späteren Schriften von MARX und ENGELS gewisse Abschwächungen des ursprünglichen Marxismus auf, dessen Höhepunkt vom kommunistischen Manifest bis zum ersten Band des "Kapital" einschließlich datiert; aber erst in BERNSTEIN hat die praktische Bekanntschaft mit der sozialen Entwicklung des neuzeitigen England den Marxismus auseinander gesprengt.

Auf den geschilderten Grundlagen geistesgeschichtlicher, politischer und persönlicher Art erhebt sich der Gedankenbau des Marxismus, welcher bei überwiegend volkswirtschaftlichem Inhalt eine geschlossene Weltanschauung zu geben beansprucht: eine nationalökonomische Antwort auf die letzten Fragen des Menschendaseins.  Sozialrevolutionärer Wertnihilismus, materialistische Geschichtsauffassung, Mehrwertlehre und politischer Sozialismus  sind die vier Hauptansichten dieses allumfassenden Gebäudes, die im Folgenden an  kantischen Maßstäben gemessen werden sollen. 

I. MARX ist Monist im Gegensatz zum Dualismus zwischen Sein und Soll (Natur und Wert), welcher KANTs System durchzieht. Er ist Seinsmonist im Gegensatz zum Wertmonismus HEGELs. Bei HEGEL verschlingt der Wert das Sein: was nicht Wert ist, ist nicht "wirklich". Bei MARX verschlingt das Sein den Wert: was nicht wirklich ist, ist kein Wert. MARXens System behauptet rein "natur"-wissenschaftlich zu sein. Auch für ihn gilt das Wort seines Freundes HEINE:
    "Vernichtet ist das Zweierlei,
    Das uns so lang betöret."
In diesem Sinne ist MARX  Wertnihilist. 

"In einem rücksichtslosen Bruch mit der Vergangenheit" zertrümmert MARX, gemeinsam mit der HEGELschen Linken die geschichlich überlieferten Werte des Volkes: Gott und Staat. Jubelnd begrüßt MARX die "befreiende Wirkung" FEUERBACHs (14).

a) Zweifellos ist es das Verdienst FEUERBACHs gewesen, das Christentum einer seinswissenschaftlichen Erforschung unterworfen zu haben, obschon FEUERBACHs naturwissenschaftliche "Anthropologie" für eine kausale Erklärung historischer Eigenart weniger leistet, als die Methode eines DAVID FRIEDRICH STRAUSS und BRUNO BAUER. Aber FEUERBACH will mehr: er will sein Objekt nicht nur erklären, wie der Natur- oder Geschichtsforscher, die ihr Selbst in den Gegenstand restlos versenken. Er will das Christentum, indem er es wissenschaftlich erklärt, zugleich beseitigen. In diesem Sinne ist MARX zeitlebens "bedingungsloser Feuerbachianer".

Schon in seiner Doktordissertation 1841 erklärt MARX mit EPIKUR, daß der Atlos, auf den sich der Himmel stützt, menschliche Dummheit und Aberglaube ist (15). In der "Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" bezeichnet MARX die "Kritik der Religion" für "die Voraussetzung aller Kritik" - Religion ist das Opium, das die besitzenden Klassen dem Volk einflößen, "gleichgültig, ob die Herren daran glauben oder nicht". Auf ihren Höhepunkten streift die Bourgeoisie die religiöse "Verkleidung" ab; der  Atheismus  ist ihr wichtigstes Vermächtnis an das aufsteigende Proletariat (16).

Mit besonderem Haß bedenkt MARX den erst halbentseelten Leichnam des Protestantismus, während er den faulenden Kadaver des Katholizismus verächtlich mit dem Fuß stößt. LUTHER habe die Pfaffenherrschaft gestürzt, aber den inneren Menschen zum Pfaffen erhoben, dessen Säkularisation die schwierigere Aufgabe ist. (17) Scharfgeschliffene Pfeile des Spottes richtet MARX MALTHUS und seine Amtsbrüder, deren "gesegnete Arbeit im Weinberg des Herrn" in wahrhaft unanständiger Weise zur Vermehrung der Bevölkerung beiträgt (18). Noch in der Kritik des Gothaer Programms 1875 herrscht das "écrasez l'infâme!" [Rottet den niederträchtigen Aberglauben aus! - wp]: "Gewissensfreiheit ist eine bourgeoise Formel, unter der z. B. in den Vereinigten Staaten die Religion prächtig gedeiht; das Proletariat habt die Aufgabe, das Gewissen vom religiösen Phantom zu befreien. Nicht die Trennung der Kirche vom Staat liegt im Sinne des echten Marxismus, vielmehr eine bewußte Ausrottung religiöser Restbestände durch die weltliche Zwangserziehung. In diesem Sinne ist BEBELs atheistischer Fanatismus marxistischer als das "Religion ist Privatsache" des sozialdemokratischen Programms (19).

b) MARX wertet in einer Steigerung FEUERBACH'scher Gedanken den Atheismus vor allem als Sprengstoff gegen den bestehenden Staat (20). Die Entthronung Gottes bereitet der Entthronung der weltlichen Monarchen den Weg - den Himmel gilt es zu zertrümmern, damit sich die Kritik der Erde zuwendet. MARX ist in erster Linie doch wohl  politischer Revolutionär  (21): sein tiefster Beweggrund ist das: "Krieg den deutschen Zuständen" - "unter dem Schmettern des gallischen Hahns"! Für MARX war zeitlebens "das heuchlerische Preußen die unfreieste Tatsache der deutschen Geschichte", deren noch halb merkantilistischen Charakter er scharf durchschaute. "Die Menschen wachsen ihren Herren zu wie eine Zucht von Sklaven oder Pferden. Die angestammten Herren sind der Zweck dieser ganzen Gesellschaft." Aber auch die Idee der deutschen Nation, die von FICHTE her in dunklen Tagen unserem Volk als Leitstern vorschwebte, ist bei MARX nie vorhanden oder frühzeitig zersetzt. "Deutschland ist historisch längst zugrunde gegangen", den Völkern der Welt "nicht der überlebende Erbe, sondern die anzutretende Erbschaft." Das deutsche Bürgertum ist zu lange in den Windeln gelegen, in die es von seinen teuren Fürsten geschnürt wurde. Auch der LISTsche Schutzzoll kann diesem verkrüppelten Gewächs nicht mehr helfen. "Adieu, deutsche Zukunft!" Die politische und ökonomische Geschichte rechnet nach englisch-französischer Zeitrechnung (22). Aber auch hier im vorbildlichen Westen werden Staat und Nation - Machtmittel der aufsteigenden Bourgeoisie gegen die Feudalität - durch den Kapitalismus hinwegnivelliert. Der Freihandel enthält die "kosmopolitische Ausbeutung" und vermacht dem Proletariat den Internationalismus. "Der Proletarier hat kein Vaterland." "Der Staat stirbt ab."

c) In dritter Linie wendet sich MARX gegen die Philosophie, die der Religion und dem Staat eine scheinwissenschaftliche Stütze gegeben hat - auch hierin in Übereinstimmung mit FEUERBACH, dessen Philosophie bekanntlich darin besteht, "keine Philosophie zu haben". FEUERBACH hat seine jüngeren Freunde vor dem Studium der Philosophie als unnützer Zeitvergeudung gewarnt (23). Seine Nachtreter - ein MOLESCHOTT, ein BÜCHNER, ein HÄCKEL, ein ganzes unphilosophisches Zeitalter - sind diesem Rat nur zu getreulich gefolgt. Auch für MARX haben die HUME und KANT nicht gelebt. MARX ist im philosophischen Sinn  unkritisch,  wie er dann mißverständlicherweise dem kantischen Idealismus jenen Irrtum vorwirft, den KANT gegen BERKELEY gerade ausdrücklich abgewehrt hat: KANT verflüchtige die Welt zum Schein, zur Phantasmagorie. Für MARX wie für seine Zeitgenossen ist Philosophie - gleich HEGEL, der alle Vorgänger verdunkelt hat. HEGEL ist das Ende der Philosophie. HEGEL ist tot, seitdem FEUERBACH den Geist als die Natur in ihrem Anderssein durchschaut hat. Der "absolute Geist" HEGELs ist "der abgeschiedene Geist der Theologie, der in der HEGELschen Philosophie als Gespenst umhergeht".

d) Aber MARX ist Zerstörer nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen. Die Wertzersetzung, die ihm Lebensinteresse ist, will MARX auch der Mitwelt aufzwingen, und mit bloßer Verneinung ist die Mitwelt nicht fortzureißen. Zwei Mittel kommen ihm hierfür vor allem in Betracht, zunächst der Naturalismus, d. h. die zur Weltanschauung gesteigerte Naturwissenschaft, sodann das sozialrevolutionäre Proletariat.

Der  philosophische Materialismus  wird damit zur positiven Grundlage der MARX'schen Weltanschauung, welche bewußt dem Westen entlehnt ist. "Der Materialismus ist der eingeborene Sohn Großbritanniens." "Die Franzosen verliehen ihm das fehlende Temperament und Grazie. Sie zivilisierten ihn." Als Trägerin des Materialismus schätzt MARX - wie D. F. STRAUSS und FEUERBACH nicht Naturwissenschaftler - die Naturwissenschaft. Diese wirkt gegen die Religion und damit gegen den Staat, wogegen die Historie die Niedertracht von heute durch die Niedertracht von gestern beschönigt (24). Die Naturwissenschaft ist für MARX die revolutionäre Wissenschaft, der Materialismus die revolutionäre Weltanschauung.

Dieser Grundbestand der marxistischen Erbschaft wird  heute  von den Russen am treuesten verwaltet. Aus politischem Grund sind  heute  wieder zahlreiche Russen Lobredner der Naturwissenschaft und Bekenner des Materialismus, z. B. PLECHANOV, während ein DARWIN, wie bekannt, seiner Lehre Weltanschauungskonsequenzen absprach. In der deutschen Sozialdemokratie hält aus dem gleichen Grund die Linke am philosophischen Materialismus als einem Hauptstück des marxistischen Katechismus fest - vielfach Schriftsteller undeutschen Ursprungs, so KAUTSKY, ROSA LUXEMBURG u. a. (25). Dagegen rückt die offizielle deutsche Sozialdemokratie vom Materialismus als einem lendenlahmen Jugendgenossen ab und sicht sich überhaupt von der Umarmung durch ein bestimmtes philosophisches System zu lösen (26). Noch weiter ging der "Vorwärts" bei der Kantfeier 1904, der in ausgezeichneten Artikeln auf den Königsberger Altmeister zurückwies - nicht ohne daß seine Redakteure bald darauf in unsanfter Weise aus ihren Sesseln befördert wurden. In der Tat - trotz ihres Leugnens - sie waren Ketzer am Marxismus.

e) In der politischen Wendung des Naturalismus stimmt MARX mit FEUERBACH überein (27). Aber MARX ist, im Gegensatz zu FEUERBACH, ein Geist von praktischer Veranlagung. So geht er auch in einem entscheidenden Punkt weit über FEUERBACH hinaus: nicht der Gedanke, selbst nicht der Materialismus, noch weniger FEUERBACHs "Liebessalbaderei" (28) ist imstande, die Welt aus den Angeln zu heben. MARX empfindet das Hemmnis  wirtschaftlicher  Rückständigkeit besonders lebhaft bei seiner ersten politischen Tätigkeit an der Rheinischen Zeitung: Deutschland ist wirtschaftlich zur bürgerlichen Revolution noch nicht reif, obgleich seine Philosophie weit über dieselbe hinaus ist. Deutschland steht 1843 noch nicht dort, wo Frankreich 1793 stand. "Es genügt nicht, daß der Gedanke sich zur Wirklichkeit drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen." Diese Wirklichkeit sieht MARX in Frankreich und England. Hier hat die Bourgeoisie den Staat nach ihren Bedürfnissen gestaltet, und indem sie sich voll auswirkt, die schlechthin revolutionäre Klasse geschaffen, jene "Klasse", an der "kein besonderes Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin verübt wird": das  Proletariat.  Das Proletariat ist für MARX der geborene Feind Gottes und des Staates, das Werkzeug der Zerstörung von Grund aus. Die Revolution, der MARX seine unermüdliche Lebensarbeit gewidmet hat, ist keine bürgerlich-politische, sondern eine proletarisch-soziale. Das Herz des ergrauten Mannes erglüht für die  Pariser Kommune,  deren Märtyrer in seiner Seele "eingeschreint" sind. Sein Standpunkt ist - im Gegensatz zu FEUERBACH -  sozial-revolutionärer  Nihilismus. Ihm entspringt MARXens Interesse am Proletariat, nicht den humanitären Gesinnungen des deutschen Idealismus oder den karitativen Neigungen des Christentums. Dieses Interesse ist auf französischem Denken erwachsen. Auch die Ausdrücke: Bourgeoisie und Proletariat sind französischen Ursprungs. Mit Recht deutet BERNSTEIN auf den engen Zusammenhang zwischen MARX und den Blanquisten hin (29).

Auch hier sind wieder die Russen die geistigen Erben geworden. Dagegen weist der deutsche Sozialismus, bereits durch ENGELS' letzte Äußerungen geleitet (30), die proletarische Revolution im Sinne des gewaltsamen Umsturzes von sich, nicht ohne dieser verblichenen Geliebten sehnsüchtig nachzublicken. Die offzielle deutsche Sozialdemokratie, besonders die revisionistische Rechte, ist hierin bewußt unmarxistisch. Noch darf sie es nicht wagen, "zu scheinen, was sie ist". An die Stelle des unterschiedslosen Proletariats tritt zwar die vielfach gegliederte und sich verbürgerlichende Arbeiterschaft. Aber Rücksicht auf die nur langsam aus dem Proletariat aufsteigenden Massen bindet die Partei an die sozialrevolutionäre Phrase.

Zudem wirkt heute wieder naturalistische Aufklärung in politisch-revolutionärer Richtung. HÄCKELs "Welträtsel" haben in vielen Arbeiter- und manchen Bauernstuben die Bibel ersetzt. Proletarische Unterschichten geben in abertausenden von Fällen auf die Frage nach den letzten Dingen folgende, aus dem Leben gegriffene Antworten:
    "Wissenschaft und Religion schließen sich natürlich aus."

    "Aufgrund von HÄCKEL bin ich zum Monismus gekommen."

    "Ich habe die Überzeugung, daß es ein Jenseits nicht gibt, daher mein Grundsatz: Macht euch hier das Leben schön; kein Jenseits gibts, kein Wiedersehn."

    "Hier auf Erden gilt es zu genießen."

    "Meine Hoffnung ist es, selber den Zukunftsstaat zu erleben, in dem alle Menschen gleich und gleich bezahlt werden und keine Drohnen sich von unserem Schweiß mästen."

    "Wir müssen aufstehen wie  ein  Mann, lieber heute als morgen."

    "Unsere Führer sind politische Eunuchen, Verräter am Volk; sie fürchten im Falle des Mißlingens von ihren kurulischen Sesseln zu stürzen."

    "Diese Kerle unterjochen genau wie der heutige Staat. Sie reden von Kleinarbeit und Organisation. Hat die russische Revolution so etwas nötig? -
Diese Verbindung von Materialismus und Proletariat ist gewiß höchst marxistisch; aber schwerlich haben die deutschen Gewerkschaften ein Interesse an einem solchen Marxismus, der bei einem fehltgeschlagenem Putsch und Generalstreik rückschrittlich wirken müßte. (31)

Kritik:  Obgleich politische Freiheit und wirtschaftlicher Fortschritt zur Überwindung des sozialrevolutionären Nihilismus das Beste tun müssen, so ist doch eine theoretische Kritik dieser marxistischen Grundlagen nicht überflüssig. Zunächst ist offen zuzugeben: das Sollen über dem Sein, den Wert über der Natur, die Idee über der Erscheinung anzuerkennen ist nicht Sache des Beweises, sondern des Entschlusses. Dies ist das große Entweder-Oder, das in der einen oder anderen Form jedem Menschen gestellt wird. Insofern ist die Wahl der Weltanschauung nicht Sache des Wissens, sondern des  Gewissens Selbstverständlicherweise verpflichtet die Bejahung des Wertes ansich nicht zur Bejahung irgendwelcher überkommenen, vielleicht höchst verwerflichen Wertvorstellungen. Unsere Klassiker lehnten überlieferte Religionsformen ab - "aus Religion"; sie wiesen engherzigen Schollenpatriotismus von sich - für die Nation und die Menschheit. Ihre Vernunftreligion und ihr Weltbürgertum mochten konservativen Mächten revolutionär erscheinen - sie waren Wertbejahung, durch eine Welt geschieden vom Atheismus und Internationalismus eines KARL MARX.

Folgerichtigerweise ermangelt MARX einer wissenschaftlichen Erkenntnistheorie und einer wissenschaftlichen Ethik; denn beide sind  Wert wissenschaften und liegen außerhalb des Kreises der Anthropologie, in den FEUERBACH das menschliche Denken einschließt. Unabweisbar ist dann jener  Relativismus,  der bei MARX und ENGELS des öfteren zutage tritt. Ihr theoretischer Relativismus lehnt sich an die dialektische Methode HEGELs: "Sie weist von allem und an allem die Vergänglichkeit auf; nichts besteht vor ihr als der ununterbrochene Prozeß des Werdens und Vergehens." (32) Die Dinge verändern sich; die Begriffe verändern sich; deswegen soll man bei MARX, sagt ENGELS, nicht einmal festgelegte Begriffe suchen. Hier berühren sich MARX und ENGELS mit dem modernen Historismus, welcher alle Werte hinwegnivelliert und jede eigene Weltanschauung zuerstört. Hinsichtlich des Handelns erklärt bereits FEUERBACH: "Folge unverzagt deinen Trieben und Neigungen, aber allen." (33) STIRNER, der folgerichtigste, bezeichnet das sinnlich Subjektive als das allein Wirkliche, alle Allgemeingültigkeit als Jllusion.

Aber wenn MARX eine sehr viel erheblichere Bedeutung als STIRNER erlangt hat, so liegt das an seiner großartigen Inkonsequenz. MARX  will;  er will nicht nur für sich; er will der Welt seine Empörung aufzwingen. Deswegen bejaht er Materialismus und soziale Revolution - aber er bejaht sie ohne Erkenntnistheorie und ohne wissenschaftliche Ethik. Zwei gewaltige Widersprüche sprengen damit die Grundfesten seines Gebäudes.

a) Um seinen Materialismus zu stützen, greift MARX zum Sensualismus der englisch-französischen Aufklärung. Ist für HEGEL der Denkprozeß der Demiurg des Wirklichen [Baumeister - wp], so ist für MARX das Ideelle nichts anderes als das "im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte" "Abbild" des Materiellen (34). Die Außenwelt "spiegelt sich" in Gedanken und Willensbestimmungen:  metaphysischer Empirismus.  Das Wesen der Welt ist dem Denken prinzipiell zugänglich:  Intellektualismus.  Bekanntlich ist dieser Standpunkt durch die Einsicht KANTs endgültig widerlegt, wonach alle Erkenntnis nur die Welt der Erscheinung betrifft, deren Dasein vom erkennenden Subjekt abhängt. "Das Ding-ansich ist nicht das Ding für mich."

Die Naturwissenschaft, weit entfernt, die materialistische Weltanschauung zu stützen, ist ohne die erkenntnistheoretische Begründung im Sinne KANT allen Einwänden HUMEs ausgesetzt, zu dessen Widerlegung sich weder bei MARX noch bei HÄCKEL auch nur eine Zeile findet. Ohne diese Begründung mündet sie unrettbar in einen Skeptizismus: Glaubensmeinungen und wissenschaftliche Überzeugungen sind "Anpassungserscheinungen"; was sich "Wahrheit" nennt, ist eine Waffe im Kampf ums Dasein, vielleicht zum Sieg. Aber auch der Sieger findet seinen Stärkeren. Die Wahrheit von heute ist also der Irrtum von morgen. Das Weltbild des Menschen ist verwickelter als das des Sauriers; ist es wahrer? Was aber, wenn der Tuberkulosebazillus den Menschen auffrißt? Auf einem winzigen Stäubchen des Weltalls ist in einem flüchtigen Augenblick - einem Nichts gegen die ungezählten Millionen von Jahren, die allein schon das Sonnensystem durchkreist hat - in einigen menschlichen Gehirnen ein Gedanke gefaßt worden - eine Gedanke höchst vergänglicher Art. Sein Träger, der Mensch, wird aussterben, spätestens, wenn das Stäubchen Erde etwas weiter abkühlt. Dieser Gedanke - welchen Inhalts er auch immer ist - beansprucht Gültigkeit für die Ewigkeiten und Unermeßlichkeiten des Weltalls?

b) MARX ermangelt nicht nur der Erkenntnistheorie, sondern ebenso auch der wissenschaftlichen Ethik. Im Gegensatz zu PROUDHON und RODBERTUS will er als Naturforscher lediglich kausale Notwendigkeiten feststellen (35). Er hütet sich ängstlich vor einer Moralinvergiftung und spottet der bourgeoisen Idee von der ewigen Gerechtigkeit (36).

Ist in der Tat alles Natur, auch der Mensch nichts als Natur, so ist alles gleich wertvoll und gleich wertlos. Man kann dann alles Historische rechtfertigen; denn es ist naturnotwendig entstanden. Aber wir wissen: Vieles Historische ist wertlos, ja, schlimmer als wertlos. Auch der Dreck des AUGIAS war leider nur allzu historisch, und doch war es eine Wohltat, daß HERAKLES den reinigenden Strom hindurchleitete. Ebenso kann man alles Historische verurteilen; denn alles Seiende wird vom Werdenden entthront. Das Werdende also ist das, was sein soll. Aber wir wissen: Nicht jede Veränderung ist ein Fortschritt. Man rät uns, das Notwendige von den zufällig begleitenden Mißständen zu unterscheiden (37) Aber das Naturgesetz kennt keinen Zufall und keinen Mißstand. Um zu erkennen, was ein "Mißstand" ist, bedürfen wir der Maßstäbe, die uns keine Naturwissenschaft an die Hand gibt. Der handelnde Mensch muß wählen. Seine Pflicht ist es, "die Tendenzen der Entwicklung" zu bejahen oder zu verneinen, sich ihnen unter Umständen auch dann entgegenzustemmen, wenn die natürliche Entwicklung über ihn hinwegrollt. Wir bewundern das.  Victrix causa diis placuit, sed victa Catoni  [Die siegreiche Sache gefiel den Göttern, aber die besiegte dem Cato. - wp] Hierzu bedarf der Mensch eine Weltanschauung, welche wie die KANTs mehr Naturwissenschaft ist, obgleich sie die Naturwissenschaft in sich schließt. "Wissenschaftlicher Sozialismus" ist solange sinnlos, wie man - mit BERNSTEIN - unter Wissenschaft Naturwissenschaft und unter Sozialismus eine - wie immer gestaltete - Politik versteht (38). Durchaus folgerichtig ist SOMBARTs unpolitischer Marxismus: Man kann die reaktionären Gewalten ruhig wirken lassen, da gegenüber der ehernen Gewalt der ökonomischen Entwicklungsgesetze politische Bemühungen, selbst Revolutionen, nichts Wesentliches bedeuten (39).

Aber MARX selbst ist kein Quietist - dieser glühende Tatenmensch mit starkem Nacken und wallender Mähne. Im Marxismus schlägt eine starke ethische Ader, welche der Politik einen gewaltigen Blutstrom zuführt. Der Marxismus "fordert" die Aufhebung des Privateigentums. Da er indessen den kantischen Dualismus ablehnt, ist er Politik seiner theoretischen Grundlage zum Trotz, was, wir wir sehen werden, praktisch nicht ohne Bedeutung ist. Zunächst jedoch werfen wir einen Blick darauf, wie der Marxismus seine seinswissenschaftlichen Bestandteile weiter entfaltet.
LITERATUR Gerhart von Schulze-Gävernitz, Marx oder Kant? Rede gehalten bei der öffentlichen Feier der Übergabe des Prorektorats, Freiburg i. Br. und Leipzig, 1909
    Anmerkungen
    1) MICHELS, Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 25, Heft 1, Seite 151f.
    2) Goethes Wanderjahre, pädagogische Provinz
    3) LEHMANN, Stein, Bd. II, Leipzig 1903, Seite 32, 33, 59, 64, 335, 486. KURT MORITZ-EICHBORN, Soll und Haben von Eichborn in 175 Jahren, Breslau 1903. Vgl. insbesondere den Brief von J. W. MORITZ-EICHBORN Anfang 1808 an einen Geschäftsfreund: ZU einem so wichtigen Geschäft (die Anleihe von 18 Millionen Francs) gehört ein Gemeingeist, ich möchte sagen, ein Nationalsinn aller Stände. Das uns betroffene Unglück hätte allerdings dazu beitragen müssen, uns klüger und vertrauter miteinander zu machen, wenn es nicht schnurgerade das Gegenteil bewirkt hätte. Sind je die Stände gegeneinander gespannt, voneinander abgesondert gewesen, so ist es wohl seit einem kurzen Zeitraum in einem sehr hohen Grad der Fall, statt daß alle diese traurigen Ereignisse nur dazu beitragen sollten, einen mit dem anderen fester zu verbinden. Ich will nicht von den persönlichen Lächerlichkeiten sprechen, wenn ein gewisser höherer Stand es für eine mirakulöse Erscheinung hält, einen Kaufmann oder eine sogenannte Kaufmannsfrau in vornehmen Zirkeln neben sich versetzt zu sehen, ich will noch weniger den erniedrigenden Ton und die Verworfenheit, mit der man den Kaufmann belegt, erwähnen, sondern ich will nur bei Attentaten stehen bleiben, die man von seiten eines Schuldensystems so oft und so planmäßig auf die Kassen, mithin auf das private Eigentum des Kaufmanns anlegte: "mit Bajonetten muß man sie sprengen, die Kassen der reichen Kaufleute"; dieses und das memorable Benehmen bei denen auf die ganze Provinz ausgeschriebenen Lieferungen hat einen unauslöschlichen Haß erzeugt, und es wird und kann der Kaufmannschaft eine solche Behandlungsart nie vergeßlich werden. Dieses offenherzige Gemälde wird Euer Wohlgeboren einen tiefen Einblick in die Gesinnung der Kaufmannschaft tun lassen und es schmerzt mich, in unseren so sehr fortgeschrittenen Zeiten und nach denen uns alle gewiß sehr drückenden Ereignissen noch so wenig Harmonie, noch eine so große Kluft zwischen Menschen und Menschen bemerken müssen."
    4) Worte HEGELs. Vgl. DILTHEY, Hegels Jugendgeschichte, Seite 144.
    5) TREITSCHKE, Deutsche Geschichte, Bd. V, vierte Auflage, Seite 353.
    6) Vgl. folgende Stelle aus STEIN, um sich des Einflusses dieses Buches auf MARX bewußt zu werden: LORENZ von STEIN, Der Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich, Leipzig 1842, Seite 73/74. "Kehren wir zurück zu dem Satz, daß es eben jene Arbeit ist, der sich nach der Revolution das französische Volk hingab, so stehen wir hier vor dem Erfolg, den jene Arbeit im wirklichen Leben haben mußte. Die ganze Masse des Volkes teilt sich in Besitzer und Nichtbesitzer, oder in solche, die mit ihrer Arbeitskraft das Kapital verbinden und solche, die nichts sind als Arbeiter. Die ersteren siegen unbedingt auf dem Gebiet des Erwerbs; die letzteren unterliegen. Damit erscheint dann als Ergebnis dieses Kampfes im Wesen des Besitzes selbst die Trennung von Kapital und Arbeitskraft, eine Trennung, die eben aus jenen Gründen erst in der neueren Zeit ihre wahre Bedeutung erhalten hat. Als die Vertreter des ersten aber stellt sich die Klasse der Bürger hin, die wir als Bourgeoisie bezeichneten; der bloße Besitz der letzteren ist das Eigentum und die Eigentümlichkeit des Peuple." - - - "Die strengere, ernste Scheidung zwischen beiden Klassen beginnt sich nun langsam zu bilden, gleichen Schritt haltend mit der wachsenden Bedeutung des materiellen Lebens überhaupt; Umstände treten ein, die sie in den Hintergrund drängen, andere, die sie befördern; stets aber schreitet sie selber vorwärts und erfüllt sich schließlich als entschiedener, materiell ausgebildeter und innerlich bewußter Widerspruch."
    7) Gesammelte Schriften von MARX und ENGELS, hg. von MEHRING 1902, Bd. 1, Seite 5
    8) Gesammelte Schriften, a. a. O., Bd. 1, Seite 19
    9) ENGELS, Marx im "Handwörterbuch der Staatswissenschaften", Bd. IV, Seite 1130.
    10) MARX an RUGE, Deutsch-französische Jahrbücher, "Ein Briefwechsel" von 1843, Seite 379/80.
    11) WAHL, Zur Vorgeschichte der französischen Revolution, Seite 112, besonders Seite 149f.
    12) Vgl. Gesammelte Schriften, a. a. O., Bd. 2, Seite 44 und 459. Vgl. auch ENGELS' berühmte Schrift über "Die Lage der arbeitenden Klassen in Enland", 1845.
    13) Gesammelte Schriften, a. a. O., Bd. 2, Seite 76
    14) ENGELS, Ludwig Feuerbach, 1845, vierte Auflage 1907, Seite 11
    15) "Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie," Teil 2, Kap. 5 (Gesammelte Schriften, a. a. O., Bd. 1, Seite 106)
    16) Aus den deutsch-französischen Jahrbüchern (Gesammelte Schriften, a. a. O., Bd. 1, Seite 384/85). Vgl. auch ENGELS, "Ludwig Feuerbach", sowie "Die Lage Englands". Past and Present by THOMAS CARLYLE, London 1845, in den deutsch-französischen Jahrbüchern (Gesammelte Schriften, Bd. 1, Seite 461f).
    17) In der Kritik der HEGELschen Rechtsphilosophie (Gesammelte Schriften, Bd. 1, Seite 384): "Luther hat die Knechtschaft aus Devotion besiegt, aber die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt. Er hat den Menschen von der äußeren Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat." "Es galt nun nicht mehr den Kampf des Laien mit den Pfaffen außer ihm, es galt den Kampf mit seinem eigenen inneren Pfaffen, seiner pfäffischen Natur."
    18) Kapital, Bd. 1, 23. Kapitel, Abschnitt 1.
    19) Neue Zeit 1891, Seite 575. Höchst "marxistisch" in diesem Sinne z. B. die Mannheimer "Volksstimme" vom 13. September 1903: "Der Religion können wir nur dadurch zuleibe rücken, daß wir die Religion des einzelnen ruhig Religion sein lassen - ihm aber Wissenschaft beibringen. Die Wissenschaft ist das beste Mittel gegen Kirche und Religion. Richtige Erziehung beseitigt Religion! Die Schule muß gegen die Kirche, der Lehrer gegen die Pfaffen mobilisiert werden." Vgl. CATHREIN, Der Sozialismus, Freiburg 1906, Seite 253 aus dem "Vorwärts": "Die Furcht und der Grimm der protestantischen wie der katholischen Kleriker bestätigen es, daß die Sozialdemokratie sie in ihrem innersten Kern bedroht. Der Erfolg ist uns sicher. Ob sich das Pfaffentum noch so eng dem Gendarm und dem Geldsack anschließt, es kann dies seine Niederlage höchstens beschleunigen." Seite 263: ELLENBOGEN bezeichnet es als Aufgabe, "den Kampf gegen den volksverdummenden Klerus zu führen", und PERNERSTORFER: "Der römische Fetischismus ist keine Religion".
    20) GRÜN, Ludwig Feuerbach in seinem Briefwechsel und Nachlaß, Leipzig, Bd. 2, 1874, Seite 324
    21) "Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den  gewaltsamen Umsturz  aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor eine kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen." (Kommunistisches Manifest 1848) "Es gibt nur ein Mittel, die mörderischen Todeswehen der alten Gesellschaft, die blutigen Geburtswehen der neuen Gesellschaft abzukürzen, zu vereinfachen, zu konzentrieren, nur ein Mittel - den revolutionären Terrorismus." (Neue Rheinische Zeitung, 7. November 1848) Im Rundschreiben des Kommunistenbundes (1850) will MARX die Revolution permanent machen und verlangt sogar, die Exempel der Volksrache an verhaßten Individuen und öffentlichen Gebäuden nicht nur zu dulden, sondern sogar ihre Leitung selbst in die Hand zu nehmen. - - - In seiner Hauptschrift ist MARX durchaus revolutionär: Die Gewalt sei die Geburtshelferin jeder alten Gesellschaft, die mit der neuen schwanger geht.
    22) Vgl. hierzu vor allem die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, die Briefe an RUGE in den deutsch-französischen Jahrbüchern. Gesammelte Schriften, Bd. 1, Seite 360, 384f, sowie Schutzzoll oder Freihandelssystem II, Seite 427 und Kapital, Bd. 1, vierte Auflage, Seite 728.
    23) Brief an RAU vom 28. Februar 1861, zuerst veröffentlicht in "Menschheitsziele" 1908, Heft 1/2, Seite 5f, Leipzig.
    24) MARX, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (am Anfang).
    25) KAUTSKY, Ethik und materialistische Geschichtsauffassung, z. B. Seite 42, 76: Materialismus, Philosophie des Kampfes - proletarische Weltanschauung. PLECHANOV, Neue Zeit 1898/99, Bd. 1, Seite 145. Politischer Verteidiger des Materialismus gegen sozialistische Neukantianer. Die Naturwissenschaftler selbst wehren sich gegen die ihnen zugedachte Rolle, so ZIEGLER. Naturwissenschaft und die sozialdemokratische Theorie, Stuttgart 1893. Berechtigterweise lehnen sie praktisch-nihilistische Tendenzen aber nur insofern ab, als sie selbst Weltanschauung zu geben ablehnen.
    26) vgl. hierzu u. a. STAMPFER: "Religion ist Privatsache", 1906, Seite 7/8. "Indem der Materialismus sich auf seine Weise bemüht, die Welt mit Brettern zu vernageln, berührt er sich eng mit den geoffenbarten Religionen"; dagegen: "Alle Philosophie ist undogmatisch."
    27) vgl. FEUERBACHs Aufsatz über MOLESCHOTT. GRÜN, Ludwig Feuerbach, Bd. 2, Seite 73. "So ist auch MOLESCHOTTs Schrift über Essen und Trinken revolutionär." "Die Naturwissenschaft führt zum Demokratismus, Sozialismus und Kommunismus."
    28) MARX 1846 im "Westphälischen Damfboot"  gegen  FEUERBACH für  Klassenkampf:  "Es ist bekannt, daß alle früheren und viele neuere soziale Bestrebungen einen christilichen, religiösen Anstrich hatten; man predigte eben der schlechten Wirklichkeit, dem Haß gegenüber das Reich der Liebe. Für den Anfang läßt man sich das gefallen. Wenn aber die Erfahrung lehrt, daß diese Liebe in 1800 Jahren nicht werktätig geworden ist, daß sie die sozialen Verhältnisse nicht umzugestalten, ihr Reich nicht zu gründen vermochte, so geht daraus doch deutlich hervor, daß diese Liebe, die den Haß nicht besiegen konnte, nicht die zu sozialen Reformen nötige, energische Tatkraft verleiht. Diese  Liebe  verliert sich in sentimentalen Phrasen, durch welche keine wirklichen, faktischen Zustände beseitigt werden;' sie erschlafft den Menschen durch den warmen Gefühlsbrei, mit dem sie ihn füttert. Aber die Not gibt dem Menschen Kraft; wer sich selbst helfen muß, der hilft sich auch. Und darum sind die wirklichen Zustände dieser Welt, der schroffe  Gegensatz  in der heutigen Gesellschaft von  Kapital und Arbeit, von Bourgeoisie und Proletariat,  wie sie im industriellen Verkehr am entwickeltsten hervortreten, die andere, mächtiger sprudelnde Quelle der sozialistischen Weltanschauung, des Verlanges nach sozialen Reformen. Diese Zustände schreien uns zu: Das kann nicht so bleiben, das muß anders werden, und wir selbst, wir Menschen, müssen es anders machen. Diese eiserne Notwendigkeit schafft den sozialistischen Bestrebungen Verbreitung und tatkräftige Anhänger, und sie wird den sozialistischen Reformen durch eine Umgestaltung der gegenwärtigen Verkehrsverhältnisse eher Bahn brechen als alle Liebe, die in allen gefühlvollen Herzen der Welt glüht."
    29) EDUARD BERNSTEIN, Die Voraussetzungen des Sozialismus, Stuttgart 1906, Seite 27, 28, 35, 141.
    30) ENGELs 1895, Einleitung zu MARX' Aufsätzen: "Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850". "Machen wir uns keine Jllusion darüber; ein wirklicher Sieg des Aufstandes über das Militär im Straßenkampf, ein Sieg zwischen zwei Armeen, gehört zu den größten Seltenheiten. Die modernen, geraden, weiten Gassen sind für die Geschütze wie gemacht. Der Revolutionär müßte verrückt sein, der sich die neuen Arbeiterdistrikte im Norden und Osten von Berlin zu einem Barrikadenkampf selbst aufsuchte." Vgl. auch - als entschieden parlamentarisch, antirevolutionär - BERNSTEIN. Das vergrabene Pfund und die Taktik der Sozialdemokratie, Sozialistische Monatshefte 1906 ,Seite 287.
    31) Reiches Material in dieser Richtung enthält eine zur Zeit noch ungedruckte Untersuchung des Herrn A. LEVENSTEIN.
    32) ENGELS, Feuerbach Seite 4
    33) Tagebuch 1834-36, Ludwig Feuerbachs sämtliche Werke, Bd. II, Leipzig 1846, Seite 394.
    34) Abbildtheorie, z. B. bei ENGELS, Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Seite 24. Auch WOLTMANN, Der historische Materialismus, Seite 285-294, verfällt der Theorie der Spiegelbilder trotz Darlegung der Erkenntnistheorie Kants, Seite 41f.
    35) KARL DIEHL, Proudhon und seine Lehre, zweite Abteilung, Jena 1890, Seite 303
    36) Kapital, Bd. 1, Anmerkung 38. Ähnlich auch noch Abweisung der Forderung einer "gerechten Verteilung" in der Kritik des Gothaer Programms, Neue Zeit 1891, Seite 565
    37) LUJO von BRENTANO, Rektoratsrede 1901
    38) Neuerdings bestreitet EULENBURG (Gesellschaft und Natur, Archiv für soziale Gesetzgebung 1905) die Möglichkeit "wissenschaftlicher Politik" mit der Begründung, daß es Werte von allgemeiner Verbindlichkeit nicht gibt - aber die logische Norm?
    39) SOMBARTs Vortrag in Salzburg über Revolution und Sozialismus, 1906