p-4 ra-2P. NatorpP. RéeH. MünsterbergJ. BahnsenS. WernerJ. Baumann    
 
RUDOLF GOLDSCHEID
Grundlinien zu einer
Kritik der Willenskraft

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"Wird nun der Primat des Willens behauptet, wonach der Wille dasjenige Moment ist, welches allem Erkennen als das lebendige Agens zugrunde liegt, so ist klar, daß wir wohl allerdings erst durch die Erkenntnis zum Bewußtsein unseres Willens gelangen, daß aber tatsächlich das Wollen das unserem Erkennen Vorangehende ist."

"Die Erkenntnistheorie zeigt, daß wir von den Vorgängen ansich nichts wissen können, da wir uns ja nur der Verknüpfung von Vorstellungen gegenüber finden, und so erblickt sie so darin die einzige Aufgabe, uns das in unserem Bewußtsein gegebene Verhältnis der einzelnen Empfindungen und Vorstellungen in seiner Notwendigkeit begreiflich zu machen."

"Die Psychologie als einheitliche Disziplin auf der einen Seite, die Erkenntnis-, Wert- und Willenstheorie als zusammenhängendes Ganzes auf der anderen Seite - nur bei einer solchen Vollständigkeit der Methodologie ist zu erwarten, daß die schwierigen Probleme der Sozialwissenschaft allmählich einer Lösung angenähert werden."

"Positivisten, die mit dem Willen, d. h. mit dem Phänomen der organischen Aktivität absolut nichts anzufangen wissen, befinden sich in einem schweren Irrtum. Sie glauben, die historischen Vorgänge bloß dann exakt und metaphysikfrei zu beschreiben, wenn sie den Willen einfach ausschalten und sich zu einem Objektivismus bekennen, der nur die äußere Determination berücksichtigt, ohne der inneren irgendeine Bedeutung beizumessen."


2. Die drei Willenskritiken

Eine brauchbare, methodologische Gliederung für die Untersuchung des Willens würde sich auch sehr wohl in Anlehnung an die Einteilung, die KANT hinsichtlich unseres Erkenntnisvermögens vornahm, bewerkstelligen lassen. Wir hätten zu unterscheiden eine Kritik des praktischen Willens, die also die Eigenart des intellektuellen Wollens erörterte, und schließlich eine Kritik der Willenskraft, die dem Problem gewidmet sein müßte, was der zum höchsten gesteigerte Menschenwille sowohl als bewußte Einzelenergie, wie als Akkumulation von gleich gerichteten, summierten, intellektuellen Menschenwillen der Natur gegenüber und gegenüber den verfestigten menschlichen Organsationen zu leisten vermöchte.

Man darf sich nicht daran stoßen, daß die drei Willenskritiken, die erforderlich wären, hinsichtlich ihres Inhaltes nicht nur vollständig verschieden von den drei Vernunftkritiken zu sein hätten, sondern sich auch nach einer ganz anderen Richtung hin bewegen müßten. Während die Kritik der reinen Vernunft die weiteste Distanz von allem Psychologischen und Physiologischen einhält, und das Geistige bloß noch formal behandelt, würde die Kritik des ursprünglichen, gleichsam apriorischen Willens gerade umgekehrt beinahe ganz in das Gebiet der Physiologie fallen, so daß also hier jede äußerliche Analogie zu fehlen scheint. Und doch besteht die bedeutsamste Ähnlichkeit. Wie die Kritik der reinen Vernunft das Psychische schließlich im Formalen aufgehen läßt, so würde die Kritik des ursprünglichen Willens das Physiologische schließlich ganz ins Energetische aufzulösen streben, so daß an den äußersten Polen der Untersuchung der menschlichen Psyche: auf der einen Seite der Formalismus der Kritik der reinen Vernunft stünde und auf der anderen der Energetismus der Kritik des ursprünglichen apriorischen Willens.

In noch interessanterer Weise begegnen sich Erkenntnisthroeie und Willenstheorie in ihrer Kritik der praktischen, reinen Vernunft einerseits und des praktischen, intellektuelle Willens andererseits. Während KANT in seiner Kritik der praktischen Vernunft dazu gelangt, der praktischen Vernunft den Primat zuzuerkennen, würde eine Kritik des praktischen Willens schließlich darauf hinauslaufen müssen, den Primat des Intellekts allerdings nicht zu konstatieren, wohl aber zu postulieren. Nun dürfen wir uns aber über eines freilich nicht täuschen: Der Primat der praktischen Vernunft bedeutet bei Kant nicht den Primat des Wollens vor dem Erkennen, sondern lediglich den Primat des Sollens vor dem Erkennen. Es will uns aber scheinen, daß KANT, indem er den Primat der praktischen Vernunft als einen Primat des Sollens vor dem Erkennen aussprach, eine entschieden nicht sehr glückliche Richtung eingeschlagen hat. Wenn man dem Sollen den Primat vor dem Erkennen einräumt, so hat das zur Folge, daß dann das Sollen jeglichen festen, rationalen Fundamentes entbehrt und nur mehr Dogmen zu seinen Grundpfeilern benützen kann. Aber ebenso gefährlich wie der Primat des Sollens vor dem Erkennen, ist der Primat des Wollens vor dem Erkennen, weil dann nichts näher liegt, als daß man den Willen zur Macht oder den Willen zu egoistischen Zwecken, den Willen zur Erhaltung der bestehenden Ungerechtigkeit, den Willen zur passiven Anpassung als dasjenige ansieht, dem man den Vorrang vor dem rein Ideologischen, ja sagen wir es rund heraus, angeblich ewig und immer Utopischen des Erkennens einräumt. Die Kritik des praktischen Willens wird, ausgehend vom ursprünglich gegebenen Primat des Willens, bei der Betrachtung des durch den Intellekt beeinflußten Willens immer der starken Abhängigkeit des Erkennens vom Wollen eingedenk bleiben, aber einem dem Erkennen subordinierten Willen als Postulat aufstellen und auch dem Wollen gegenüber noch das Erkennen als das ewig und immer Höhere erachten. Das Sollen bedeutet aufgrund der Kritik des praktischen Willens das dem Erkennen gemäße Wollen; die Kritik des praktischen Willens postuliert also den Primat des Sollens gegenüber dem Wollen, aber nicht den Primat des Sollens gegenüber dem Erkennen und gibt unter keiner Bedingung den evolutionistisch erforderten Primat des Erkennens gegenüber dem Wollen jemals preis.

Behandelt somit die Kritik des ursprünglichen Willens das rein physiologische Wollen, behandelt die Kritik des praktischen Willens das intellektuelle Wollen und Sollen, so untersucht die Kritik der Willenskraft das sozialenergetische Können des Menschen. Die Kritik der Willenskraft scheint wohl vorerst die dürftigste Analogie zur Kritik der Urteilskraft in dem der drei Vernunftkritiken. Die Kritik der Urteilskraft ist berufen, den Dualismus, der die Kritik der reinen und der praktischen Vernunft voneinander scheidet, zur systematischen Einheit zusammenzufassen. Sie soll, wie WINDELBAND sich ausdrückt, zwischen den Erkenntnissen a priori und den Begehrungen a priori vermitteln, sie sucht das Verbindende zwischen Erkennen und Wollen. Eine äußerst ähnliche Aufgabe ist der Kritik der Willenskraft gestellt. Sie hat ursprüngliches Wollen und intellektuelles Wollen, respektive Sollen zu versöhnen, und löst das ihr gesetzte Problem durch eine Untersuchung des Könnens. KANTs Kritik der Urteilskraft schließt ab mit einer Kritik der teleologischen Urteilskraft, welche die Annahme der Zweckmäßigkeit des Naturgeschehens als Vernunftpostulat aufstellt. Die Willenskritik müßte eine Kritik der teleologischen Willenskraft als Krönung des ganzen Gebäudes bringen, welche die Zweckmäßigkeit allen Geschehens als Postulat des teleologischen Willens errichtet und fordert, daß wir nicht eher ruhen, nicht wie die Kritik der teleologischen Urteilskraft wünscht, bis wir die Zweckmäßigkeit des Geschehens erkannt haben, sondern bis wir die Zweckmäßigkeit des Geschehens bewerkstelligt haben.

Im Gegensatz zur Kritik der Urteilskraft, die also am Ende in das ästhetische Grundproblem einmündet, würde die Kritik der Willenskraft in der Weise zu den schwierigsten ethischen Grundproblemen hinführen, daß sie, nach der Beleuchtung des Wollens, Sollens und Könnens nun auch die Umsetzung des sittlichen Wollens in sittliches Handeln zu erörtern suchte. Während also die Kritik der Urteilskraft zuletzt in eine Philosophie der Passivität in deren höchster Form als Prozeß des Kontemplativen ausklingt, brächte die Kritik der Willenskraft als mächtigen Schlußakkord eine Philosophie der Aktivität in deren reinsten Gestalt als Prozeß der Transformation der blind waltenden Naturkräfte zu planvoll geleiteten, zwecktätigen Energien im Sinne unseres sittlichen Wollens.

Man darf sich dadurch nicht beirren lassen, daß bei genauer Betrachtung der Vernunftkritik und der Willenskritik neben vielfachen, formalen Übereinstimmungen ganz wesentliche materiale Verschiedenheiten ins Auge springen. Bei dem völlig verschiedenen Inhalt der beiderseitigen Untersuchungen ist dies nicht anders zu erwarten. Aber ebenso wie die Verschiedenheiten nichts Zufälliges und gegen unsere Analogie Sprechendes enthalten, ebenso sind auch die Ähnlichkeiten nichts Zufälliges. Beide stellen vielmehr ein notwendiges Ergebnis sowohl unserer Unternehmung selbst, als auch der in dieser gelegenen Absicht dar. Der Mensch ist ebensosehr ein erkennendes Wesen, wie er ein wollendes ist. Es wird daher zweifellos im höchsten Maß ersprießlich sein, wenn man die zwei Hauptfaktoren der menschlichen Psyche, das Erkennen und das Wollen, gesondert zu betrachten sucht in der Weise, daß die Erkenntnistheorie das ganze menschliche Sein von den Prinzipien des Erkennens aus betrachtet, während die Willenstheorie es von den Prinzipien des Willens aus zu beschreiben sucht. Die Erkenntnistheorie und die Willenstheorie brauchen sich deshalb ihr Gebiet in keiner Weise streitig zu machen. Jede von beiden hat ihre gesonderte Aufgabe; sie betrachten beide eine Einheit, die uns verschiedene Aspekte bietet, eben von den verschiedenen Aspekten aus und bemühen sich schließlich, ihre beiderseitigen Ergebnisse aneinander zu kontrollieren. Und weil eben die Erkenntnistheorie und die Willenstheorie sich letztlich mit demselben Objekt beschäftigen, ist es klar, warum ihre beiderseitigen Forschungsmethoden und ihre beiderseitigen Ergebnisse sowohl große Ähnlichkeiten als auch große Verschiedenheiten aufweisen müssen: sie haben dasselbe Objekt, aber unter verschiedenen Aspekten.

Es kann in diesen Darlegungen, welche vorerst darauf abzielen, die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Willenstheorie als Korrelat zur Erkenntnistheorie aufzuzeigen, nicht unsere Aufgabe sein, die Willenstheorie bereits selbst auszubauen. Das ist ein Unternehmen, welchem eine weitere, jahrelange Arbeit gewidmet sein müßte, und welches wohl erst nach langen Mühen vieler, auf das gleiche Ziel gerichteter Bestrebungen vollkommen wird erreicht werden können. Für uns kann es sich hier nur darum handeln, die Grundlinien desjenigen Gebietes, das die Willenstheorie wird urbar zu machen haben, abzustecken und mit kurzen Hinweisen anzudeuten, welche Art der Tätigkeit ihr zuzuweisen ist. Als das Wesentliche dieser vorbereitenden Schrift sei darum vielmehr als auf die Willenstheorie selbst, auf die willenstheoretische Betrachtungsweise verwiesen.

Es ist von vornherein klar, daß die willenstheoretische Betrachtungsweise ein viel engeres Feld umfaßt als die erkenntnistheoretische. Die erkenntnistheoretische Methode kann ohne Ausnahme auf allen Gebieten des Wissens mit Erfolg wirksam sein und vermag überall dort, wo es sich um mathematisch formulierbare, naturwissenschaftliche Probleme handelt, des willenstheoretischen Korrelats vollständig zu entraten. Die willenstheoretische Betrachtungsweise ist hingegen nur da anwendbar, wo organische Existenzen handelnd in das natürliche Geschehen eingreifen, und kann, wo immer man sich ihrer bedient, des erkenntnistheoretischen Korrelats niemals entbehren. Die erkenntnistheoretische Methode ist also in den organischen Naturwissenschaften allein herrschend und bedarf nur in den organischen und in den Sozialwissenschaften der willenstheoretischen zu ihrer Ergänzung. In den Sozialwissenschaften besonders wird die erkenntnistheoretische Methode ohne Zusatz der willenstheoretischen unzulänglich, und darum läßt es sich sagen, daß die willenstheoretische Betrachtungsweise die eigentliche Basis aller sozialwissenschaftlichen Untersuchung bedeutet.

Auch wo die psychologische Methode der Sozialwissenschaft und der Geschichtsforschung sich bemächtigt, kommt es ihr in erster Linie nur darauf an, festzustellen, inwieweit seelische Motive das Geschehen beeinflussen. Aber wenn sie neben den Ideen und neben den Gefühlen auch den Willen berücksichtigt, so geschieht dies nur in einem verhältnismäßig untergeordneten Maß; die Idee steht überall im Vordergrund des Interesses. Ganz anders geht die willenstheoretische Methode vor. Sie stellt überall in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen die jeweiligen Willensbedingungen des Geschehens, sie erachtet einen geschichtlichen Vorgang nur dann als einigermaßen vollkommen beschrieben, wenn es ihr gelungen ist, die Willenswurzeln eines Ereignisses aufzufinden, wenn sie es in die gegebene Willensverkettung lückenlos einzugliedern vermochte. Gerade derjenige Umstand jedoch, der sonst überall dazu zwingt, die Erkenntnistheorie als das der Willenstheorie weitaus übergeordnete anzuerkennen, macht in der Sozialwissenschaft und Geschichtsforschung die willenstheoretische Methode zu demjenigen Prinzip, das sich produktiver erweist als das erkenntnistheoretische. Erst durch die Erkenntnis kommt der Wille zum Selbstbewußtsein. Die Erkenntnis findet den Willen in sich vor. Die Vorstellung ist es, welche dem Willen ein Sonderdasein gegenüber dem Intellekt anweist. Aber eben darum, weil erst die Vorstellung aus dem Ganzen ihres Bewußtseinsinhaltes den Willen als integrierenden Teilfaktor heraushebt, ist sie auch in der Lage, von dem dermaßen ausgesonderten Willen gänzlich zu abstrahieren, und die ganze lebendige Aktivität des Willens in einen Vorstellungsinhalt aufzulösen. Auf diese Weise kann es dann geschehen, daß sowohl die erkenntnistheoretische, wie die psychologische Auffassung des geschichtlichen Geschehens den Willen in seiner Eigenart und Eigenkraft nicht ausreichend berücksichtigt und so, indem sie die Welt als Wille vollkommen in der Welt als Vorstellung aufgehen läßt, die Welt als Wille und Vorstellung nicht vollkommen begreift. Auf diese Weise wird der erkenntnistheoretischen Methode gerade ihre Superiorität zur größten Gefahr.

Die willenstheoretische Methode kann auf diesem Abweg nicht leicht geraten. Das heißt, sie kann auf diesen Abweg nicht geraten, wenn sie die geschichtlichen und lebendigen, sozialen Vorgänge methodologisch von der Willensseite aus betrachtet. Solange es, wie in der Gegenwart, keine willenstheoretische Methode gibt, solange sich die berechtigten Ansprüche des Willens nur gleichsam ohne offizielle Anerkennung theoretisch revolutionär geltend machen müssen, wird es nur allzu häufig vorkommen, daß die weit hinter den Tatsachen zurückbleibende Inferiorität [Unterordnung - wp] zu der man die Willenstheorie widerrechtlich herabdrückt, ihre Anhänger verführt, übertreibend Gebiete für sie zu reklamieren, die ihr gleichfalls nie und nimmer gebühren. Also nur die unsystematische, chaotische Willenstheorie enthält die Gefahr, die Ansprüche des Willens gegenüber dem Intellekt zu überspannen. Die systematische Willenstheorie dagegen kann einer ähnlichen Gefahr, der auch die Erkenntnisthroei gerade ihrer Superiorität [Höherstellung - wp] wegen nicht entging, kaum verfallen. Die Erkenntnistheorie vermied den Fehler nicht, die Welt als Wille ganze in der Welt als Vorstellung aufgehen zu lassen. Eine Willenstheorie, welche die Welt als Vorstellung vollkommen in der Welt als Wille verschwinden lassen wollte, wäre von vornherein absurd. Nicht einmal das tierische Leben würde den Tatsachen entsprechend beschrieben werden können, wenn man es lediglich aufgrund der physiologischen Willensvorgänge betrachten wollte, umso haltloser wäre darum der Versuch, das menschliche Getriebe in seinen Tiefen erfassen zu können, ohne neben dem Einfluß des Willens auf die Vorstellung den Einfluß der Vorstellung auf den Willen in eingehender Weise zu berücksichtigen. Kann also Gegenstand der Erkenntnistheorie sehr wohl das willenlose Erkennen sein, so wird niemals Gegenstand der Willenstheorie das erkenntnislose Wollen bilden können. Vielmehr wird die Willenstheorie ihr Hauptaugenmerk immer auf das intellektuelle Wollen richten, und eben vom intellektuellen Wollen aus, wobei sie freilich auf das Wollen besonders achten wird, das ganze historische und lebendige Geschehen zu begreifen suchen.


3. Erkenntnistheorie, Werttheorie und
Willenstheorie in ihrem Verhältnis
zur Psychologie

Man kann sich nun freilich auch auf den Standpunkt stellen, daß die Psychologie die Grundlage aller Wissenschaften ist, und dann demgemäß zum Ausdruck bringen, daß die Erkenntnistheorie auf der Psychologie aufgebaut werden muß. Die Erkenntnistheorie ist dann nichts anderes als ein Zweig der Psychologie und würde ebensogut Erkenntnispsychologie benannt werden können. Bei einer derartigen Auffassung der Dinge kann nicht als zweifelhaft erscheinen, daß auch die von uns geforderte Willenstheorie lediglich als Zweig der Psychologie anzusehen und exakter als Willenspsychologie zu bezeichnen wäre. Da nun aber selbst diejenigen, die einer psychologischen Begründung der Erkenntnistheorie das Wort reden, den Ausdruck der Erkenntnistheorie beibehalten und es für gut erachten, alle diejenigen Untersuchungen, die sich in der Hauptsache mit dem Erkennen beschäftigen, als erkenntnistheoretisch zu bezeichnen, so ist es sicherlich vollkommen berechtigt, auch unter der Voraussetzung, daß die Probleme der Willenstheorie nur auf Basis der Psychologie erörtert werden können, nicht von einer Willenspsychologie, sondern von einer Willenstheorie zu sprechen.

Die Notwendigkeit der Willenstheorie neben der Erkenntnistheorie gründet sich aber eigentlich hauptsächlich darauf, daß die Erkenntnistheorie den Anspruch erhebt, außerhalb der Psychologie eine selbständige Existenzberechtigung zu besitzen und sich auf ein Gebiet zu erstrecken, das weit über dasjenige der Psychologie hinausgeht. Wollte man darum die Willenstheorie nur als Willenspsychologie und damit also als Zweig der Psychologie ausbauen, so hätte dies wahrscheinlich zur Folge, daß die Vertreter der Erkenntnistheorie eine Kontrolle ihrer Aussagen von seiten der Willenspsychologie als methodisch unzulässig ablehnen würden. Gegenüber der systematischen Willenstheorie könnte eine derartige Haltung jedoch nicht eingenommen werden. Die Erkenntnistheorie behandelt dieselben Fragen, die die Psychologie auch erörtert, aber sie behandelt sie unter anderen Gesichtspunkten. Und genau das Gleiche, was die Erkenntnistheorie hinsichtlich des Erkennens tut, würde die Willenstheorie hinsichtlich des Wollens unternehmen. Die Erkenntnistheorie leitet ihren Anspruch, der Psychologie voranzugehen, daraus ab, daß sie erklärt, wir seien, bevor wir irgendeine Aussage, über welchen Gegenstand auch immer, machen, genötigt, unser Erkenntnisvermögen selbst einer Prüfung zu unterziehen. Wird nun der Primat des Willens behauptet, wonach der Wille dasjenige Moment ist, welches allem Erkennen als das lebendige Agens zugrunde liegt, so ist klar, daß wir wohl allerdings erst durch die Erkenntnis zum Bewußtsein unseres Willens gelangen, daß aber tatsächlich das Wollen das unserem Erkennen Vorangehende ist. Und wenn also ausgesagt wird, daß die Erkenntnistheorie die Basis aller Psychologie bildet, so ist unabweisbar, daß vom Standpunkt des Voluntarismus aus, sofern dieser Anspruch nicht bestritten wird, neben der Erkenntnistheorie eine systematische Willenstheorie ausgebaut werden muß, sollen nicht alle Daten des Willens bloß eine metaphysische Untersuchung erfahren.

Und in der Tat können wir beobachten, daß gerade so wie bis zum systematischen Ausbau der Erkenntnistheorie alle Probleme des Erkennens bloß in der Metaphysik erörtert wurden, heute noch alle Probleme des Wollens, soweit sie nicht psychologisch unzureichend erörtert werden, lediglich in der Metaphysik eine ihrem ganzen Umfang entsprechende Behandlung erhalten. Ganz besonders sehen wir, daß bisher das grundlegende Problem der Willensdetermination teilweise in der Erkenntnistheorie, teilweise in der Psychologie und in der Metaphysik, ja teilweise auch in der Ethik erörtert wird, während es doch von vornherein klar ist, daß es in allen diesen Disziplinen nur eine fragmentarische Bearbeitung finden kann, und namentlich, wenn die Erkenntnistheorie eine Kontrolle seitens der Psychologie ablehnt, durch die lediglich erkenntnistheoretische Erörterung bloß ganz einseitig beleuchtet zu werden vermag. Sicherlich muß, da jede Aussage über den Willen eine Urteilsfunktion ist, der Erkenntnistheorie gegenüber der Willenstheorie der Primat zugestanden werden, aber andererseits kann auch kein Zweifel darüber bestehen, daß, wenn dem Willen wirklich der Primat vor dem Erkennen zukommt, eine willenstheoretische Überprüfung des erkenntnistheoretisch Gewonnenen unter keiner Bedingung abgelehnt werden darf. Welche Mißstände bisher daraus erwuchsen, daß der Erkenntnistheorie ihr willenstheoretisches Korrelat fehlte, läß sich am deutlichsten eben beim Problem der Willensdetermination beobachten. Die kantische Philosophie suchte zu zeigen, daß das Problem der Willensdetermination zu denjenigen Antinomien der reinen Vernunft gehört, die nur von seiten der praktischen Vernunft eine Entscheidung erfahren können. Diese Entscheidung von seiten der praktischen Vernunft ist aber unbedingt als eine metaphysische zu bezeichnen, und würde für ausgeschlossen erachtet werden müssen, wenn das Problem der Willensdetermination, wie es dessen Eigenart erfordert, neben der erkenntnistheoretischen auch eine willenstheoretische Behandlung erfährt.

Seine erkenntnistheoretischen Untersuchungen leitete KANT mit der Frage ein: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" Aber ebenso wichtig wie die Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, ist die Frage, wie sittliche Wollungen a priori möglich sind, bzw. ob es überhaupt sittliche Wollungen a priori gibt. Die Existenz kategorischer, sittlicher Imperative, die a priori in uns wirksam sind, hat KANT jedoch einfach dogmatisch behauptet, nie bewiesen. Die Erörterung über deren Existenz wurde bis jetzt außer in der Metaphysik entweder auf dem Boden der Erkenntnistheorie selbst oder auf dem der Psychologie in Angriff genommen, während es keinem Zweifel unterliegen kann, daß entweder auch die Erkenntnistheorie selbst mit in das Gebiet der Psychologie gehört, oder wenn nicht, dann die Frage, ob es sittliche Wollungen a priori gibt, weit mehr in den Rahmen einer systematischen Willenstheorie hineingehört, als lediglich etwa in den der Erkenntnistheorie, wo sie stets in allzu rationalistischer Weise beantwortet werden wird.

Die Tatsache nun, daß wir nur erkennend überhaupt irgendeine wissenschaftliche Aussage zu machen vermögen, könnte sicherlich am allerwenigsten gegen die Notwendigkeit einer Willenstheorie als spezielle Disziplin aufgeführt werden. Bloß für dem Primat der Erkenntnistheorie gegenüber allen anderen Disziplinen ist sie ausschlaggebend, aber keineswegs dafür, daß neben dem Erkennen etwa auch das Fühlen und Wollen lediglich auf dem Boden der Erkenntnistheorie behandelt werden dürfte. Wir haben schon früher darauf hingewiesen, daß sich in jüngster Zeit von der Erkenntnistheorie als selbständiger Zweig die Werttheorie abgelöst hat. Nun könnte man ja allerdings auch bezüglich der Werttheorie behaupten, daß sie nur als Teil der Psychologie eine Berechtigung hat. Nichtsdestoweniger hat es sich aber als sehr vorteilhaft erwiesen, daß die Werttheorie als selbständige Disziplin sich ihren eigenen Boden zu erobern vermochte, und die werttheoretischen Untersuchungen bilden heute eine sehr inhaltsreiche Ergänzung, sowohl der erkenntnistheoretischen, wie der psychologischen Forschungen.

Die Erkenntnistheorie verfährt notwendig rein kontemplativ; sie ist gleichsam eindimensional. Sie sucht in erster Linie darüber klar zu werden, wie die einzelnen Teile, welche unsere Erkenntnis ausmachen, sich zueinander verhalten. Die ganze Mannigfaltigkeit des Bewußtseins faßt sie als einen einheitlichen Prozeß auf, wobei sie hinsichtlich der einzelnen Elemente von ihren Beziehungen zur Außenwelt einerseits und zur Innenwelt andererseits geflissentlich abstrahiert. Sie zeigt vielmehr, daß wir von den Vorgängen ansich nichts wissen können, da wir uns ja nur der Verknüpfung von Vorstellungen gegenüber finden, und so erblickt sie darin die einzige Aufgabe, uns das in unserem Bewußtsein gegebene Verhältnis der einzelnen Empfindungen und Vorstellungen in seiner Notwendigkeit begreiflich zu machen. - Anders geht die Werttheorie vor; sie läßt sich als zweidimensional bezeichnen. Sie betrachtet die ganze Mannigfaltigkeit des uns in unserem Bewußtsein Gegebenen zugleich in dessen Wirkung auf unser Fühlen, und bemüht sich nun aufgrund der Daten unseres Fühlens die ganze Mannigfaltigkeit des Gegebenen nach bestimmten Wertprinzipien zu ordnen. Die Werttheorie verhält sich darum auch schon weit weniger bloß kontemplativ dem Gegebenen gegenüber, sondern zieht gerade aus der Reaktion des Individuums auf die Vorgänge des Bewußtseins ihre Konsequenzen, indem sie dem Sein gegenüber ein Sollen aufbaut. - Beschäftigt sich also die Erkenntnistheorie nur damit, wie wir erkennend auf die gegebene Mannigfaltigkeit reagieren, macht es den Inhalt der Werttheorie aus, auszuführen, wie wir uns der gegebenen Mannigfaltigkeit erkennend und fühlen gegenüber verhalten, so ist es die Aufgabe der Willenstheorie festzulegen, wie wir uns erkennend, fühlend und wollend, d. h. handelnd der gegebenen Mannigfaltigkeit gegenüberstellen. Man könnte sie darum gewissermaßen als dreidimensional definieren.

Die Willenstheorie unterscheidet sich somit dadurch fundamental von aller Erkenntnistheorie und Werttheorie, daß sie das denkende und fühlende Individuum ganz besonders hinsichtlich dessen nach außen gerichteter Aktivität der genauesten Beobachtung unterzieht. Und darin liegt vor allem die Bedeutung der Willenstheorie. Indem sie das Problem der Willensdetermination nicht nur einseitig in der Weise ins Auge faßt, daß sie danach forscht, welche Momente unseren Willen determinieren, sondern auch feststellt, wie unser Wille seinerseits die gegebene Mannigfaltigkeit handelnd zu determinieren vermag, wächst sie über alle Psychologie hinaus und schafft die Grundlage für eine Philosophie der Aktivität, der die größte Tragweite zukommt. Die Willenstheorie ist die Basis der Aktivitätslehre, welche eine wertfreie Darstellung dessen bietet, was sein kann. HEGEL hat das Sein in ein Werden aufgelöst und behauptet, daß das Werdende notwendig mit dem Seinsollenden identisch ist. Auch MARX und ENGELS, obwohl sie sehr richtig erkannten, daß alle bisherige Philosophie die Dinge nur verschieden interpretierte, während es doch darauf ankommt, sie zu ändern, wähnten noch mit HEGEL, daß das Werden mit einer Naturnotwendigkeit zum Seinsollenden hinführt, und glaubten so, im Werden ein Müssen zu erkennen, das ohne Rücksicht auf unser Werten seinen durch die objektiven Verhältnisse determinierten Weg nimmt. Die Werttheorie hatte derartigen Anschauungen gegenüber deshalb einen verhältnismäßig schweren Stand, weil das, was sein soll, nur unter Rücksicht auf ein axiomatisch angenommenes Endziel als notwendig nachweisbar ist, und sie diese Notwendigkeit überdies nur als ideelle hinzustellen vermochte. Die Willenstheorie jedoch ist diesbezüglich in einer weitaus günstigeren Lage. Sie vermag unter Hinweis auf die Tatsachen der Willensdetermination wertfrei festzustellen, was sein kann, und gewährt dadurch der Werttheorie, sowie diese auf Basis der Daten der Willenstheorie argumentiert, einen Rückhalt, den ihr die Erkenntnistheorie allein nicht zu bieten imstande war.

Die Willenstheorie steckt also die Grenzen unserer teleologischen Willenskraft in einer Weise ab, daß mit Evidenz offenbar wird, was der nach außen gerichtete Wille als aktiver Faktor im historischen Geschehen zu leisten imstande ist. Wenn darum z. B. RICKERT (4) der Meinung Ausdruck gibt, daß man sich für die philosophischen Probleme, insbesondere für die Wertprobleme, nicht zuviel von der Psychologie erhoffen darf, so kann nicht zweifelhaft bleiben, daß, wie eng auch die Willenstheorie mit der Psychologie zusammenhängen mag, doch eine derartige Anschauung hinsichtlich der Willenstheorie nicht mehr zulässig wäre. Und so wenig vielleicht die Willenstheorie, wie sie etwa im extremen Voluntarismus der Irrationalisten ausgebaut wurde und selbst die von uns dargelegte exakte Willenstheorie für sich allein betrachtet, zu leisten vermöchte, so große Bedeutung kommt ihr sicherlich zu, wenn sie mit der Erkenntnistheorie und der Werttheorie zusammen ein Ganzes bildet, das neben der Psychologie die gleichen Probleme nur in noch weiterem Umfang und von einem anderen Gesichtspunkt aus behandelt.

Der nur auf einer Steigerung der Einheit und Reinheit der Erkenntnis gleichsam nach innen gerichtete Wille ist wohl zu unterscheiden von dem auf eine höhere Zweckmäßigkeit des Geschehens hinwirkenden, nach außen gerichteten Willen; der erstere erstrebt die Einheit des Erkennens, der letztere die Einheit des Handelns, und dieser hat ein Feld der Betätigung, welchem ganz andere Widerstände entgegenarbeiten. Die Erkenntnistheorie wie auch die Werttheorie sind hinsichtlich der teleologischen Probleme mit der ihnen gestellten Aufgabe fertig, sowie es der einen gelingt, einen objektiven und sowie die andere es zuwege brachte, einen subjektiven obersten Zweck erkennen, bzw. postulieren zu können. Die Aufgabe der Willenstheorie beginnt erst, sobald, sei es der oberste objektive oder der oberste subjekte Zweck gefunden wurde. Ihre Mission macht es aus, in erster Linie das Problem von dessen Realisation zur Lösung zu bringen und mit Deutlichkeit aufzuzeigen, wie wir das, was wir erkennend gefunden haben, handelnd zu verwirklichen vermögen. Wenn man nun erwägt, eine wie ungeheure Bedeutung, dem objektiv indifferenten Erkennen und dem subjektiv passiven Werten gegenüber, dem subjektiv aktiven Wollen zukommt, wenn man weiters erwägt, daß speziell das Handelns sowohl vom egoistischen Wollen und Denken wie auch von einem objektiven Sollen determiniert wird und letztlich immer vom realen Können abhängt, wird man nicht zu bestreiten vermögen, daß eine Untersuchung der Bedingungen unseres Könnens die unentbehrliche Basis für alle praktische Philosophie abgibt.

Erst wenn die Willenstheorie alle menschliche Aktivität in der Weise zu ihrem Grundproblem gemacht haben wird, daß sie zugleich die passive und aktive Willensdetermination in Betracht zieht, erst dann wird die praktische Philosophie wirklich zu einer Philosophie für die Praxis werden, wo der handelnde Mensch in seiner vollen Eigenart gewürdigt wird, indem man ihn als Passivum wie als Aktivum hinsichtlich seiner Stellung in der Natur, wie hinsichtlich seiner Stellung in der Gesellschaft einer genauen Prüfung unterzieht. Aber immer sei hervorgehoben, daß die Willenstheorie alle diese Aufgaben nur zu bewältigen vermag, wenn man sich nicht hinreißen läßt, verführt durch die Tatsache des Primates des Willens zum Glauben an den Primat der Willenstheorie zu gelangen und nun zu wähnen, daß die Willenstheorie etwa ohne Unterstützung der Erkenntnis- und Werttheorie etwas Brauchbares zu leisten vermag. Die Psychologie als einheitliche Disziplin auf der einen Seite, die Erkenntnis-, Wert- und Willenstheorie als zusammenhängendes Ganzes auf der anderen Seite - nur bei einer solchen Vollständigkeit der Methodologie ist zu erwarten, daß die schwierigen Probleme der Sozialwissenschaft allmählich einer Lösung angenähert werden.

Ist es nun eine Tatsache, daß alle Probleme des Willens bisher sowohl in der Erkenntnistheorie als auch in der Psychologie behandelt wurden, so kann man, von dieser Tatsache ausgehend, sowohl erklären, daß dasjenige, was hier als Willenstheorie bezeichnet wurde, nichts anderes ist als eine Erkenntnistheorie des Willens, wie man sich auch auf den Standpunkt zu stellen vermag, daß die Willenstheorie mit dem Begriff der Willenspsychologie zusammenfällt. Sollten nun aber innerhalb desjenigen Rahmens, den man als Erkenntnistheorie des Willens bezeichnet, alle hier angeführten Probleme behandelt werden, und zwar in der Weise behandelt werden, wie dies von uns gefordert wird, so müßte sicherlich die bisherige Erkenntnistheorie ihr Erforschungsgebiet ganz wesentlich erweitern und das energetische Moment des Wilens in weitaus schärferer Weise berücksichtigen, als sie dies bisher getan hat. Und in gleicher Weise müßte die Psychologie, sollte sie etwa al die vielen Punkte erledigen wollen, deren Erörterung dringend notwendig ist, eine ganz gewaltige Gebietserweiterung vornehmen, damit sie der aktiven Seite unseres Wesens voll gerecht wird und all dasjenige exakt miterforscht, was wir unter aktiver Determination begreifen. (5)

Zu welcher Terminologie man sich darum auch immer bekennen mag, bestreiten kann man nicht, daß wir mit dem Postulat einer Willenstheorie auf eine tatsächliche Lücke in der bisherigen Wissenschaft hingewiesen haben, von deren Ausfüllung das Gedeihen der Wissenschaft abhängt. Die Forderung kann nicht abgewiesen werden, daß es unbedingt nötig ist, die unzähligen Probleme, welche der Wille als aktivster Faktor unseres Seins uns aufgibt, in einer bestimmten Disziplin zentral zusammengefaßt werden müssen, um eine systematische Erledigung erfahren zu können. Ob man diese Disziplin "Erkenntnistheorie des Willens" oder "Willenspsychologie" nennt, oder ob man dafür irgendeinen anderen Namen ausfindig macht, sicher ist, daß die aktive Seite unseres Seins mehr in den Vordergrund gerückt werden muß, daß das Problem der Willensdetermination nach beiden Seiten hin zu erforschen ist, und daß der Gegenstand, den die Willenstheorie sich zum Inhalt macht, als Gegenstand der Forschung in Angriff zu nehmen ist. Mag darum der Panformalismus der unbedingt anti-psychologistischen Erkenntnistheoretiker oder mag der Panpsychologismus der extrem anti-formalistischen Psychologen der allein berechtigte Standpunkt sein, als unabweisbar muß gelten, daß eine anti-psychologistische Erkenntnistheorie oder eine anti-formalistische Psychologie der aktiven Seite unseres Seins eine höhere Beachtung zuzuwenden haben, daß sie die energetische Natur des Willens mehr in den Vordergrund stellen müssen, und nur wenn sie diese Konzessionen an die Willenstatsachen machen, wissenschaftlich fortschrittlich zu wirken in der Lage sind. (6)


4. Psychologie und Psychoenergetik

Welche Irrungen und Wirrungen daraus erwuchsen, daß sowohl die Vertreter des erkenntnistheoretischen Standpunktes als auch die Rationalisten verschiedenster Spielart bisher, wo sie von ideellen Kräften sprachen, nur immer das ideelle, nicht aber zugleich das Kraftmoment im Auge hatten, ist kaum zu ermessen. Und vielleicht nicht wesentlich geringere Irrtümer kamen dadurch zustande, daß die Verfechter eines extremen Voluntarismus, die eine grob materialistisch-mechanische Auffassung des sozialen Geschehens propagieren, bei der Berücksichtigtung der ideellen Kräfte wieder nur das Kraftmoment im Auge hatten, ohne die ideelle Seite der menschlichen Energien genügend herauszuheben. Was den willenstheoretischen Standpunkt sicherlich am radikalsten, sowohl von allem bloß Psychologischen als auch von allem extrem Voluntaristischen unterscheidet, ist so der Umstand, daß die Willenstheorie, wo sie den menschlichen Einfluß auf das Geschehen ins Auge faßt, nicht bloß psychologisch, sondern hauptsächlich psychoenergetisch argumentiert. Schon in der bloßen Bezeichnung der Wissenschaft von der menschlichen Psyche als Psychologie liegt etwas einseitig Rationalistisches. Bedeutet auch der Ausdruck "logie" genau genommen nur Lehre, so haftet ihm doch noch ein Sinn an, der ihn in Verbindung mit den Begriffen logos und Logik brngt. und tatsächlich bemüht sich die Psychologie auch hauptsächlich, die Beziehungen der einzelnen Bewußtseinselemente zueinander zu beschreiben und ihr Wesen zu definieren, aber das Verhältnis, welches zwischen den Energien der Außenwelt und der Energie der einzelnen Psyche einerseits, wie zwischen den Energien der Menschheit besteht, zieht sie ebensowenig in Betracht, wie sie überhaupt das Bewußtsein hinsichtlich seiner Stellung als qualifizierter Energie im Organismus keineswegs ausreichend berücksichtigt. Die Willenstheorie würde sich darum weit eher in eine Psychoenergetik als in Psychologie auflösen lassen, und nur, wenn die Psychologie zugleich Psychoenergetik sein wollte, könnte die Willenstheorie als spezielle Disziplin vielleicht entbehrlich werden.

Der schwere Mangel, daß die Psychologie bisher nicht im großen Stil auch Psychoenergetik war, hat es verschuldet, daß die Psychologie die Geschichtsphilosophie nicht nachhaltig zu beeinflußen vermochte (7), und daß all dasjenige, was man unter dem Begriff ideelle Kräfte zusammenfaßt, von seiten der Praktiker vielfach so sehr unterschätzt wird. Unter dem Einfluß ideeller Kräfte darf man nicht nur den Einfluß der Ideen verstehen, sondern hat darunter auch zu begreifen: die Einwirkung menschlicher Energien auf Naturenergien. Die Summe von Arbeitskraft, die der menschliche Organismus an die Außenwelt abzugeben vermag, ist ja eine exakt meßbare und unterscheidet sich von allen sonstigen mechanischen Energien nur durch eine bestimmte Qualifikation, die darin zum Ausdruck gelangt, daß die menschliche Energie zugleich vorausschauende Energie ist. Das geistige Akzidens, das die menschliche Energie auszeichnet, ändert aber nichts daran, daß wir es bei ihr zugleich mit einer mechanischen Energie zu tun haben, der man trotz ihres geistigen Plus nicht vollkommen gerecht wird, wenn man ihre energetische Seite nicht gebührend berücksichtigt. Die menschlichen Willenskräfte müssen darum als qualifizierte Energien betrachtet werden, und man darf aus diesem Grund nicht bloß fragen: Können Ideen den Gang des Geschehens beeinflussen, sondern man muß auch fragen: Vermögen qualifizierte Energien auf die unqualifizierten Naturenergien einen Einfluß auszuüben? Daß eine derartige Frage ohne weiteres bejaht werden müßte, steht außer allem Zweifel. Nur über den Grad des Einflusses der qualifizierten Energien könnte diskutiert werden. Nun ist aber zu erwägen, daß der ganze Gang des sozialen Geschehens im höchsten Maß von den qualifizierten Energien bestimmt erscheint, und daß, wo immer man von Machtfaktoren spricht, diese Machtfaktoren nichts anderes bedeuten als Summen von qualifizierten Energien, die über noch größere Summen von in ihrem Dienst stehenden Naturenergien verfügen.

Alles Bestehende zum Beispiel ist nur psychoenergetisch gestützt. Stellen sich viele Geschichts- und Sozialforscher deshalb auf den Standpunkt, daß die Psychologie als Basis der Geschichts- und Sozialwissenschaft nicht allzuviel zu leisten vermag, so ist klar, daß sie dabei nur eine Psychologie im Auge haben, die nicht zugleich Psychoenergetik bedeutet, daß sie aber den gleichen Vorwurf gegen eine Psychoenergetik nicht erheben könnten. Die Psychoenergetik untersucht das Verhältnis von Naturenergien und qualifizierten menschlichen Energien in der Allgemeinheit wie im Einzelnen, und gelangt aufgrund dieser Untersuchung zu ihren Aussagen über die energetische Stellung, sowohl des Menschengeschlechts in der Natur, wie der einzelnen Nation in der politischen Welt, wie des weiteren des einzelnen Menschen zu seiner näheren und ferneren Umgebung, ja wie schließlich zu einer exakten Anschauung über die energetische Stellung des Bewußtseins, bzw. des bewußten Willens in dem von äußeren Reizen, angeborenen und erworbenen Trieben, Instinkten und Dispositionen determinierten menschlichen Organismus. Es ist ein Leichtes zu behaupten, daß die Psychoenergetik sich durch nichts von der Psychologie unterscheidet, aber es wäre äußerst schwierig, den Nachweis zu führen, daß die gegenwärtige Psychologie bereits Psychoenergetik ist und nicht vielmehr erst die weitestgehende Arbeit aufzuwenden haben wird, um sich zu einer Psychoenergetik großen Stiles empor zu entwickeln (8).

Die vielen Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung, wie auch die vielen Neodarwinisten und Positivisten, die mit dem Willen, d. h. mit dem Phänomen der organischen Aktivität absolut nichts anzufangen wissen, befinden sich also in einem schweren Irrtum. Sie glauben, die historischen Vorgänge bloß dann exakt und metaphysikfrei zu beschreiben, wenn sie den Willen einfach ausschalten und sich zu einem Objektivismus bekennen, der nur die äußere Determination berücksichtigt, ohne der inneren irgendeine Bedeutung beizumessen. Aber gerade durch diese den Tatsachen nicht entsprechende Vereinfachung gelangen sie zu einer unexakten, im schlimmsten Sinn metaphysischen Darstellung des Gegebenen. Es wird sicherlich kein Einwand dagegen erhoben werden können, wenn wir erklären: Der lebendige Organismus ist ein System von bestimmt gerichteten Energien, und zwar ist dieses System von bestimmt gerichteten Energien ein Produkt sowohl der angeborenen Anlage, als auch der im Laufe eines Lebens kausal erworbenen Dispositionen. Die Kräfte, die nun jeweils von außen her auf den Organismus wirken, erfahren in diesem System bestimmt gerichteter Energien eine Transformation und einen Richtungswandel, der dem Verhältnis der äußeren zur inneren Determination entspricht. Nur dort, wo die Intensität der äußeren Determination eine so hohe ist, daß die Intensität der inneren dadurch belanglos wird, kann das System von bestimmt gerichteten Energien, welches der Organismus darstellt, lediglich durch die augenblicklicen, äußeren Verhältnisse als vollkommen determiniert erachtet werden. Dem Objektivismus ist also vorzuwerfen, daß er neben der Determination durch die Kausalität der augenblicklichen, von außen her wirkenden Energien, der durch die Kausalität der Vergangenheit geschaffenen inneren Determination nicht gerecht wird.

Nicht also etwa, weil dem menschlichen Willen irgendeine Spontaneität zukommt, oder weil Willensfreiheit besteht, ist der Objektivismus, der überall eine vollkommene Determination des Individuums durch die jeweiligen äußeren Verhältnisse annimmt, abzulehnen, sondern gerade weil der Wille unfrei ist und durch die verharrende Kausalität der Vergangenheit jederzeit einer bestimmten, inneren Determination unterworfen ist, darf bei aller Darstellung historischer Vorgänge vom Willen nicht abstrahiert werden. Die Willenskritik kann darum der materialistischen und darwinistischen Geschichtsauffassung nur soweit entgegenkommen, als sie zugibt, daß bezüglich des Verhältnisses von äußerer und innerer Determination ein wichtiges Thema der Untersuchung vorliegt, so daß sowohl im allgemeinen wie in jedem Einzelfall geprüft werden muß, wo ein Überwiegen der äußeren Determination über die innere und wo umgekehrt ein Überwiegen der inneren Determination gegenüber der äußeren als Tatsache anzunehmen ist. Diese Untersuchung würde sich zugleich auch überhaupt mit dem Verhältnis der unwillkürlichen zu den willkürlichen Akten zu beschäftigen haben und damit ein Gebiet betreten, welches bisher in der Wissenschaft verhältnismäßig noch sehr wenig behandelt worden ist. Es würde hier danach gefragt werden, bis zu welchem Grad es möglich und von Vorteil ist, ursprünglich unwillkürlich vor sich gehende Akte in willkürliche umzuwandeln, und umgekehrt, und inwieweit überhaupt unsere Macht reicht, dort wor die unwillkürliche Muskelreaktion versagt oder nicht ausreicht, Arbeitsleistungen willkürlich in Tätigkeit versetzbarer Muskeln künstlich anzubahnen, respektive einzuüben. Die Ergebnisse einer derartigen Untersuchung würden zugleich den Wert haben, dort, wo der Nachweis erkenntnistheoretischen Sollens, welcher immer von der Beweisbarkeit des letzten Zwecks abhängt, nicht durchführbar ist, den Nachweis eines willenstheoretischen Könnens zu erbringen, der bis zu einem gewissen Grad wertfrei stets erbringlich ist. Diese wenigen Andeutungen dürften genügen, um zu zeigen, ein wie feste Stütze die Willenstheorie und Willenskritik auch der Ethik gewähren könnten, wenn sie neben - ich betone: nicht anstelle, sondern neben - die erkenntnistheoretische Begründung der Ethik treten würde.
LITERATUR Rudolf Goldscheid, Grundlinien zu einer Kritik der Willenskraft, Wien und Leipzig 1905
    Anmerkungen
    4) HEINRICH RICKERT, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Tübingen 1902
    5) Wieviele Ähnlichkeiten Willenstheorie und Psychologie hinsichtlich ihres Arbeitsfeldes auch aufweisen und wie sehr diese weitgehenden Ähnlichkeiten auch dazu drängen mögen, Willenstheorie und Psychologie geradezu als identische Disziplinen zu erachten, die nur eine willkürliche Nomenklatur zu zwei verschiedenen Fächern machen möchte, so ist doch hervorzuheben, daß die Gleichheit des Arbeitsgebietes keineswegs mit einer Gleichheit der Arbeitsmethode verbunden ist. In allererster Linie durch die durchaus verschiedene Arbeitsmethode unterscheidet sich die Willenstheorie von der Psychologie. Die Psychologie ist zuvörderst eine beschreibende Wissenschaft und nur in ihrem Zusammenhang mit der Physiologie als physiologische Psychologie erhebt sie sich auch zur Höhe einer erklärenden. Aber selbst als erklärende Wissenschaft bleibt sie immer eine kausale und sieht sich zwecks sicherster Beherrschung der ihr gesetzten Aufgaben veranlaßt, das teleologische Moment bei ihren Untersuchungen vollends auszuscheiden. Die Willenstheorie dagegen verhält sich, wenngleich sie in vieler Hinsicht ebenfalls beschreibend vorgeht und das kausale Moment bei allen ihren Untersuchungen zugrunde legt, doch der Teleologie gegenüber keineswegs ablehnend: ganz im Gegenteil setzt sie sogar das teleologische Moment in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen und alle ihre Problemstellungen, wie Problemlösungen sind teleologisch gefärbt. Natürlich muß hier nachdrücklich vor dem Mißverständnis gewarnt werden, als ob die Teleologie mit der sich die Willenstheorie so eingehend beschäftigt, etwa die Teleologie der Natur oder unbekannter metaphysischer Agentien wäre, sondern wo immer sie von Teleologie spricht, meint sie die teleologische Aktion und Reaktion des menschlichen Willens, also das menschliche Zweckstreben, welches alle unsere bewußten Handlungen inerviert [entflammt, begeistert - wp]. Die Willenstheorie unterscheidet sich somit von der Psychologie fundamental dadurch, daß sie alle menschlichen Probleme, insbesondere die psychologischen Probleme unter dem Gesichtspunkt des Zwecks, ja schärfer ausgedrückt, unter dem Gesichtspunkt der Zweckerfüllung betrachtet. Suchen wir uns diese Verschiedenheit nunmehr auch an einem Beispiel zu vergegenwärtigen: Die Psychologie erachtet die ihr gesetzte Aufgabe als gelöst, wenn sie hinsichtlich des Willens z. B. darstellt, wie Willensakte zustande kommen, indem ursprünglich schwache Gefühle zu stärkeren anwachsen, die ihrerseits wieder Affekte auslösen, welche schließlich die Willenshandlung mit elementarer Kraft nach sich ziehen. Die Willenstheorie interessiert sich nun allerdings gleichfalls für das Zustandekommen der Willenshandlung, richtet aber ihr Hauptaugenmerk auf das teleologische Moment der Willenshandlung, d. h. darauf, ob und inwieweit beispielsweise die Affekte dazu beitragen den Erfolg der Willenshandlung zu begünstigen. Affekte welchen Grades den Vorstellungsverlauf günstig beeinflussen, Affekte welcher Stärke und welcher Art die Wurzel der energischen Persönlichkeit darstellen, und Affekte welcher Art und Stärke etwa mit Notwendigkeit zum Ruin der Willenskraft hinführen. Dieser Zwang zu einer bestimmten Fragestellung, dieser Zwang der Willenstheorie, als Psychologie der Zwecktätigkeit, überall unter dem Gesichtspunkt der teleologische Reaktion an die sozialen und individuellen psychologischen Probleme heranzugehen, macht den Hauptwert der Willenstheorie als wissenschaftlicher Disziplin aus. Die Methode der Forschung zu der sie bei Gefahr der Einbuße ihres Arbeitsstoffes und damit bei Gefahr der Verkümmerung ihres Arbeitsgebietes unablässig genötigt ist, enthält zugleich das Zeugnis ihrer Existenzberechtigung, ja mehr noch ihrer Existenznotwendigkeit und wird zur naturgemäßen Folge haben, daß sie sich allmählich auf ein immer größeres Gebiet der Forschung erstreckt. Indem also die Willenstheorie - gewissermaßen eine Art teleologischer Psychologie - eine bestimmte Frageform darstellt, die künftig hinsichtlich aller Probleme des Lebens notwendig wird angewendet werden müssen, bildet sie vergleichsweise einen neuen Höhepunkt der Beobachtung, von dem aus alles von einer neuen Seite gesehen werden kann. Und dieser Beobachtungsposten wird darum künftig, soll die Sozialwissenschaft gedeihen, auch nie mehr unbesetzt bleiben dürfen.
    6) Derselbe enge Zusammenhang, der Erkenntnistheorie und Logik verbindet, so daß vielfach die Frage erwuchs, ob nicht Erkenntnistheorie und Logik eine einzige Disziplin ausmachen, derselbe enge Zusammenhang verbindet auch Willenstheoie und Psychologie. Es kann darum gar kein Zweifel darüber sein, daß die Willenstheorie sich von der Psychologie nur durch ihren teleologische und energetischen Charakter unterscheidet. Die Willenstheorie, als teleologische Psychoenergetik begriffen, ist darum entweder eine verengte oder eine erweiterte Psychologie. Sie ist dann eine verengte Psychologie, wenn sie die zahlreichen Fragen über die Physiologie des Willens ausscheidet und das Verhältnis von Instinkt, Trieb, Streben und Wollen als bekannt voraussetzt. Sie ist jedoch eine erweiterte Psychologie, wenn sie all dies mit einschließt, in ihrem Rahmen also auc hdas Wesen der den Willen konstituierenden Elemente genau darzustellen sucht und erst an diese Definitionen und Erläuterungen anknüpfend, die Lehre von der teleologischen Psychoenergetik ausbaut. Es gehört sicherlich mit zu den schwierigsten Aufgaben, die Grenzen einer Wissenschaft klar abzustecken, und wenn man es genau betrachtet, vermag keine Wissenschaft ohne aus anderen Wissenschaften übernommene Voraussetzungen ihren Bestand zu sichern: die Grenzen sind überall fließend. Und dies ist auch keineswegs verwunderlich, weil ja das Weltganze eine kontinuierliche Einheit bildet, aus dem nur das menschliche Erkenntnisvermögen aus denkökonomischen Gründen einzelne Teile zwecks besserer Beherrschung isolierend heraushebt. Die Erkenntnistheorie hat sich genötigt gesehen, sowohl an die Metaphysik, als auch an die Logik, wie auch besonders an die Psychologie anzuknüpfen; die Psychologie kann der Physiologie und Biologie nicht entraten, die Physiologie und Biologie nicht der Chemie und Physik und so weiter in infinitum. Und genau das Gleiche spielt sich auch bezüglich der Willenstheorie ab. Sie muß sowohl an die Erkenntnistheorie, wie auch an die Psychologie ja sogar an die Physiologie anknüpfen und nur im Verein mit diesen Nachbarwissenschaften ist sie imstande Brauchbares zu leisten. Handelt es sich deshalb darum, daß gefordert wird, die Willenstheorie durch eine Definition des Willens zu fundamentieren, so kann man sowohl zugeben, daß diese Definition in das Gebiet der Willenstheorie selbst fällt, wie man auch sagen dürfte, sie stelle eigentlich nur eine Vorfrage dar, welche genau genommen der Psychologie zufällt. Man ist darum angesichts des schwankenden Fundaments aller Wissenschaften auch sehr wohl imstande, die ganze Willenstheorie dadurch ad absurdum zu führen, daß man behauptet, der Wille sei etwas, was sich aus dem Ganzen unseres psychischen Seins als Einzelfaktor überhaupt nicht herausheben läßt, ja kann dementsprechend sogar weiter gehen und erklären, der Begriff "Wille" überhaupt eine unzulässige Abstraktion ist. Tatsächlich ist ja auch richtig, daß der Wille als bewußter Wille eigentlich nichts anderes als eine Vorstellung ist und daß er als unbewußter Wille den Namen Wille gar nicht verdient, sondern mit dem Instinkt, mit dem Trieb oder mit rein physiologischen Vorgängen identisch ist. Kurzum es ergibt sich bei einer derartigen Auffassung, daß der Wille bloße eine Metapher darstellt, eine Zusammenfassung von tausendfältigen Einzelreizen oder eine Isolation eines Einzelreizes aus einem tausendfältigen Zusammenhang. So wenig sich jedoch gegen derartige Behauptungen einwenden läßt, so gewiß ist es eine Tatsache, daß wir sowohl in der Theorie wie in der Praxis Tag für Tag vom Willen als einer ganz bestimmten Erscheinung sprechen und uns etwas außerordentlich Reales darunter vorstellen. Sollte also von mir verlangt werden, daß ich den Willen definiere, so möchte ich sagen: Ich begreife hier unter Wille dasjenige, was man im täglichen Leben meint, wenn man vom menschlichen Willen spricht. Zur genaueren Definition könnte dann hinzugefügt werden: Wille ist das Streben mit oder ohne Zweckvorstellung. Auch mit der Definition von EBBINGHAUS könnte ich mich einverstanden erklären, der den Willen als "vorausschauend gewordenen Trieb" bezeichnet. Sehr richtig erklärt RIEHL: "Der Vorgang, der innerlich als Wille erscheint, ist objektiv betrachtet ein Bewegungsvorgang in einem körperlichen Organ." WUNDT begreift den Willen folgendermaßen: "Der Willensvorgang schließt sich in ähnlicher Weise an den Affekt, wie dieser an das Gefühl als ein Prozeß höherer Stufe an: die Willenshandlung aber bezeichnet bloß einen bestimmten, und zwar den für die Unterscheidung vom Affekt charakteristischen Teil dieses Prozesses." JODL meint hinsichtlich des Willens: "Das Streben steht im engsten Zusammenhang mit den Phänomenen des Fühlens: es bezeichnet den Inbegriff der den Gefühlsphänomenen entsprechenden Reaktionen; es stellt deren nach außen gerichtete, d. h. in physische oder psychische Bewegung sich umsetzende Seite dar, geradeso wie das Fühlen die nach innen gerichtete, psychische Reize auf das Subjekt nicht auf das Objekt beziehende Seite der Empfindung ist ... Wille ist der engere, Streben der weitere Begriff. Es gibt keinen Willen, der nicht zugleich ein Streben wäre; aber nicht alles Streben verdient den Namen Wille, weil nicht jedes Streben das Bewußtsein dessen, was es erstrebt, mit sich führt ... Nur zweckbewußte Handlungen können als Willensakte bezeichnet werden." MACH erklärt: "Was wir Wille nennen, ist nun nichts anderes, als die Gesamtheit der teilweise bewußten und mit einer Voraussicht des Erfolges verbundenen Bedingungen einer Bewegung. Analysieren wir diese Bedingungen, soweit sie ins Bewußtsein fallen, so finden wir nichts als die Erinnerungsspuren früherer Erlebnisse und deren Verbindung." MÜNSTERBERG sagt: "Wenn wir uns hier gebunden fühlen, Wollen als den umfassenden Begriff für alle Arten der Stellungnahme anzuerkennen, so geschieht es lediglich, weil unsere psychologischen Untersuchungen sich in einer durchgehenden Abhängigkeit von den erkenntnistheoretischen Grundbegriffen gestellt hatten und dort zweifellos der Wille die Gesamtheit der subjektiven Akte der Stellungnahme bedeuten muß. - Der Wille umfaßt für uns somit auch in der beschreibenden Psychologie alles Bevorzugen und Ablehnen, Bejahen und Verneinen, Lieben und Hassen, kurz: alle Phänomene der Selbststellung." Sehr interessant erscheinen für unsere Auffassung der Dinge aber namentlich die Ausführungen OSTWALDs über den Willen. Er schreibt: "Gelangt das Ergebnis des nervenenergetischen Verlaufs in Gestalt irgendeiner Energiebetätigung an die Außenwelt, so haben wir es mit einer Handlung zu tun. Diese verläuft in vielen Fällen, namentlich solchen, die sehr häufig wiederholt werden, ohne Mitwirkung des Zentralorgans und daher des Bewußtseins. Eine solche Handlung nennt man eine Reflexhandlung, in verwickelteren Fällen wohl auch eine instinktive Handlung. Tritt aber das Bewußtsein hinzu, so reden wir von Willenshandlungen. Aus dieser systematischen Stelle, welche dem Willen durch die energetische Einteilung der geistigen Geschehnisse zugewiesen wird, geht zunächst hervor, daß ihm nicht die zentrale und einzige Stellung zukommt, welche ihm von SCHOPENHAUER zugeschrieben worden ist. Er kommt nur für solche Vorgänge in Betracht, bei denen seitens des Lebewesens Energie nach außen abgegeben wird. Ein Organismus, bei dem eine Beeinflussung seiner Umgebung ausgeschlossen ist, wie zum Beispiel ein Eingeweidewurm, kann und wird auch keine Willenshandlung ausführen, auch abgesehen von einem etwaigen Vorhandensein der erforderlichen nervösen Organisation. Nun geschieht die Beeinflussung durch die Außenwelt umso erfolgreicher, je entwickelter das Lebewesen ist, so spielt dann auch der Wille eine zunehmende Rolle, je weiter wir in der Stufenleiter aufwärts steigen." OSTWALD hat sich zweifellos ein sehr hohes Verdienst durch die energetische Betrachtung des Willens erworben, aber das, was er mehr andeutete als ausführte, muß mancherlei wesentliche Korrekturen erfahren. Jedenfalls hat die Psychoenergetik eine große Zukunft und ist OSTWALD auf diesem Gebiet, so dürftig seine energetische Skizze über den Willen auch ist, als Bahnbrecher anzuerkennen. Wieviel die vorliegende Abhandlung Ostwald diesem großen Pfadfinder auf allen Wegen schuldet, wird aus den weiteren Darlegungen ersichtlich sein.
    7) Es ist höchst wahrscheinlich, daß das bisherige Mangeln der Willenstheorie als selbständiger Disziplin zum großen Teil die Einseitigkeit verschuldet hat, welche die Lebenswerke gerade unserer größten Historiker kennzeichnet. Wie durchaus rationalistisch ist die ganze Geschichtsdarstellung von RANKE gefärbt und auf wie extrem voluntaristischem Boden steht andererseits dagegen TREITSCHKE. Auf jeder Seite betont er mit Wucht die Bedeutung des Willens gegenüber der Armseligkeit der Ideen, trägt dabei aber eine so ungeschlachte Auffassung vom Willen zur Schau, daß, mag ihm auch der Voluntarist beistimmen, der Willenstheoretiker ihm aufgrund der exakten Daten seiner Wissenschaft stets unbedingt wird entgegentreten müssen. LAMPRECHTs ökonomische Einseitigkeit ist gleichfalls bekannt und wenn er auch in neuester Zeit seine sogenannte kulturhistorische Weltanschauung weit mehr auf der Psychologie aufzubauen sucht, wie vorher, so zeigt doch eben gerade diese seine neueste Entwicklung, wie wenig die Psychologie in ihrer bisherigen Gestalt geeignet ist, dem Historiker einen ausreichenden Rückhalt zu gewähren. Da die vorhandene Psychologie LAMPRECHT die psychologischen Daten nicht in jener Gestalt zur Verfügung stellt, die sie, wenn sie für ihn ohne eine Umformung brauchbar sein sollten, haben müßten, so verfällt er immer mehr in ideologische Konstruktionen, die dem realen Gang des Geschehens nicht gerecht zu werden vermögen. Es ist angesichts dessen auch keinesweg verwunderlich, wenn WINDELBAND in seinem Aufsatz über "Logik" (Festschrift für Kuno Fischer, Heidelberg 1904) erklärt: "Wer die moderne Psychologie kennt, der weiß, daß darin nach wesentlich naturwissenschaftlicher Methode von Dingen und Verhältnissen die Rede ist, von denen der Historiker für sein Geschäft gerade so viel und gerade so wenig verwenden kann und zu wissen braucht, wie von der - Mechanik. Andererseits ist gerade aus diesem Verhältnis das lebhafte Bedürfnis hervorgegangen, die wissenschaftliche Psychologie durch eine Psychologie der individuellen Differenzen zu ergänzen, die ihrer ganzen Anlage nach nur historisch gerichtet sein kann. Alle diese Fragen sind jetzt ein einem erfreulichen Fluß und RICKERTs Buch Über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung steht zweifellos im Mittelpunkt dieser Bewegung." Hierzu wäre allerdings nur zu bemerken, daß nicht die naturwissenschaftliche Methode es ist, welche die Psychologie für den Historiker bis jetzt weniger brauchbar macht, sondern der Umstand, daß sich die Psychologie ihrer ganzen Anlage nach der kausalen Fragestellung bedienen muß, während der Historiker neben der Psychologie mit kausaler Fragestellung noch einer Psychologie mit teleologischer Fragestellung bedürfte, die ihm die von uns geforderte Willenstheorie darzubieten berufen wäre. Aus dieser unserer Auffassung folgt auch mit Notwendigkeit, daß wir RICKERTs Versuch, die Geschichtswissenschaft durch eine erneute erkenntnistheoretische Untersuchung in ihren Grenzen zu sichern, als keineswegs ausreichend erachten können und nur von einer erkenntnistheoretischen Untersuchung, die zugleich des willenstheoretischen Korrelats nicht entbehrt, für die Grenzabsteckung zwischen Naturwissenschaft und Geschichtsforschung für die Auseinanderhaltung der Methodologie hinsichtlich Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft etwas Brauchbares und dauernd Produktives erwarten.
    8) Es könnte beinahe überflüssig erscheinen, besonders hervorzuheben, daß natürlich der energetischen Betrachtung individuell- und sozialpsychologischer Phänomene sehr klar umschriebene Grenzen gezogen sind. Es sei aber trotzdem hier ausdrücklich hervorgehoben, damit jedem Mißverständnis vorgebeugt ist und unzweifelhaft wird, daß wir, so sehr wir auch die Verdienste OSTWALDs um die energetische Weltauffassung würdigen, doch diese keineswegs bis in ihre Extreme zu verfolgen beabsichtigen. Übrigens hat auch OSTWALD selbst auf die Grenzen, die einstweilen der energetischen Betrachtung psychologischer Probleme gezogen sind, vielfach verwiesen - wenn er diese trotzdem auch selbst gelegentlich wieder überschritt.