ra-2ra-2T. MasarykF. MauthnerA. StorchMüller-LyerR. Niebuhr    
 
WALTHER RATHENAU
Zur Mechanik des Geistes
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"Die Kunst des Zweckhaften ist nicht gering. Es ist die Kunst des Intellekts, des Esprits, der Ekstase, des Sinnenreizes, des Pomps und der Dekoration. Sein Denken ist geistreich, scharf, kühl und negierend; sein Naturempfinden sentimental und preziös; seine geistigen Freuden sind Fakten, Enthüllungen, Neuigkeiten, Neuheiten, Kritiken und Erfolge."

"Enttäuscht steigt der Erdenbürger in die Vielfältigkeit des Lebens hinab; und wirklich, die Fülle der Erscheinungen überwältigt ihn nicht. Heroen werden zu Menschen, Paradiese zu Mechanismen, und erstaunlich bleibt nur die Menge des Gewußten, der enthüllten Gesetze, der gelösten Rätsel. Von den Erfahrungen der Jahrtausende nimmt er sein Erbe in Anspruch und denkt es zu mehren, und je unermeßlicher der Reichtum in seinen Händen, desto ärmer die Welt. Was ist sie? Ein Verstandesspiel, ein Zirkus, eine Intrigenschule. Wo sind Wunder? Wo sind Geheimnisse? Die Natur ist entgöttert, die Gottheit entlarvt, die Mächte zerstoben."

"Die Klugheit des Intellekts in seinen Formen der Kriegführung, der Geschäfte, der Diplomatie, der Technik und des Verkehrs beherrscht die Welt so vollkommen, daß im Sinne dessen, was man Entwicklung nennt, die Seele den unerhörtesten Rückschritt bezeichnet. Die Dichtung, spottend, klagend, sehnsüchtig, schildert nichts anderes als die Leiden, welche die Seele bringt; und in ihrer göttlichen Gerechtigkeit muß sie der praktischen Dialektik mephistophelischer Naturen den Sieg lassen."

"Der nützliche, somit gerechte und kluge König, der nützliche, somit ergebene und sachkundige Sklave, der nützliche, somit verschlagene und erfindungsreiche Kaufmann und Züchter, der nützliche, somit gehorsame und fromme Untertan genügen dem Bedürfnis ethischer Verschönerung und Verallgemeinerung."


Erstes Buch
Die Evolution des erlebten Geistes

Geist nenne ich den Inbegriff alles innerlich Erlebenden.

Wenn ich die Hauptstücke meiner Geistesinventur aufnehme, so gehe ich von der Voraussetzung aus, daß meine Erinnerung, wenn auch stellenweise verdunkelt, doch wesentlich im Sinne einer mathematischen Funktion stetig ist. Zweifel ander Stetigkeit des Erinnerns oder Denkens würden jede Gedankenarbeit hinfällig machen.

Als das wesentliche Besitztum meiner geistigen Inventur betrachte ich die durch Erinnerung festgelegte Evolution meines inneren Erlebens, im Gegensatz zu derjenigen Auffassung, welche die gleichzeitig vorhandenen Bestandteile des Intellekts für das Wichtigste erachtet.

Meine Erinnerungen reichen bis in die Kindheit zurück. Wenn fremde Erinnerungen und Beobachtungen herbeigeholt werden, so bedeutet dies im gegenwärtigen Zusammenhang einen Vorgriff auf die Erscheinungsreihe. Diese Vorausnahme hat insofern kein Bedenken, als sie nicht der Argumentation sondern der Erläuterung dient; sie steht auf gleicher Stufe mit der Benutzung der Sprachform und dem Akt der Niederschrift.

Man spricht von der Unschuld des Kindes. Diese Vorstellung ist berechtigt, solange man den Begriff in einer subjektiven Bedeutung faßt: das Kind ist sich keiner permanenten oder temporären Schuld bewußt; was man ihm als gut und böse, Schuld und Verdienst beibringt, das betrachtet ein unerwachtes Gewissen bestenfalls als eine Art von Spielregeln mit strengen Konsequenzen, nicht als innere Bindung. Selbst was man bei intelligenten Tieren als Schuldbewußtsein deuten möchte, ist nichts als Angst, verbunden mit der Erinnerung an eine ganz beliebige Drohung; sobald die Strafe hingenommen, erlassen oder umschlichen ist, verschwindet das scheinbare böse Gewissen spurlos.

Am tiefsten gerührt von der Vorstellung kindlicher Unschuld sind sentimentale und im Sündenglauben befangene Naturen; das okzidentale Altertum kannte keine rührungsvolle Betrachtung der Kindesnatur, es sah in einem Menschenjungen den Gegenstand liebevoller Züchtigung, aber kein Ideal, kein Sehnsuchtsbild, keinen Abglanz verlorener Paradiese. Das erste gerührte Wort in der Erinnerung der Welt hat Jesus zu Kindern gesprochen, dessen Verhältnis zu Tieren wiederum weniger innig gewesen zu sein scheint, als das der Griechen.

Irrtümlich wird der Satz von der Unschuld des Kindes, wenn man den Begriff objektiv faßt: etwa gleichbedeutend mit Sündlosigkeit, Tugendhaftigkeit, ethischem Wert. Unbelehrt ist das normale Kind weder hingebend noch gütig, weder standhaft noch zuverlässig, weder mitleidsvoll noch opferwillig. Fehlte es ihm nicht der Nachhaltigkeit des Willens und einer Komplikatioin des Denkens, so würde über kindliche Untugend des Klagens kein Ende sein.

Des Kindes Grundstimmung ist Begehren. Könnten wir erinnernd in die früheste, unbewußte Periode unseres Daseins zurückkehren, so würden wir in den ersten Regungen des Nahrungsbedürfnisses das Mitklingen eines begehrenden Geistes vernehmen. Jeder entschiedene Eindruck löst ein Begehren aus, das zunächst freilich nur bis zum Tasten, Greifen, Kosten ausreicht; später richtet es sich auf Besitz, zuletzt auf Geltung.

Scheinbar von den ersten schmerzlichen Erfahrungen, wahrscheinlich von ursprünglichen, quellenlosen Regungen, bleibt die Erinnerungsstimmung der Furcht zurück. Begehren und Furcht beherrschen nun den Urgrund des kindlichen Geistes; diese trüben Affekte freilich gemildert durch ungebrochene Genußfähigkeit und geringe Nachhaltigkeit so daß in einem glücklichen Verhältnis die Sinnenfreude des Augenblicks die quälenden Regungen überwiegt und stillt, und somit eine äußere Heiterkeit der Lebensstimmung zuläßt, die der erwachsene Mensch mit gleichtemperierter Veranlagung nicht aufbringen würde.

Es erübrigt sich zu sagen, daß die Bezeichnungen Begehren und Furcht hier nicht lediglich in einem Sinn positiver und negativer Willensrichtung gebraucht sind; sie bedeuten die Stimmungen, nicht die Impulse. Begehren ist die langende Stimmung, die bei höher entwickelten Geistern ihren letzten Ausdruck in der Sehnsucht findet, also nicht etwa der intellektuell-energetische Entschluß und Impuls, etwas zu tun oder zu erleben. Furcht ist die angstvoll bekommene Stimmung, die sich mit dem Objekt einer Vorstellung verbinden kann, also nicht etwa ein auf negative Ziele gerichteter Wunsch. Die Stimmungen sind weitaus tiefer, ursprünglicher und vom Intellekt unabhängiger als analoge Willensregungen und Wünsche.

Im Lebenshaushalt wirkt das Begehren dahin, alle fördernden Kräfte und Materien herbeizuziehen, während die Furcht Gefahren abwendet, eine Auswahl trifft und der Erfahrungsübertragung der frühesten Erziehung Raum schafft. Fernzuhalten vom Begriff der begehrenden und fruchtenden Grundstimmung sind sekundäre Erscheinungen, wie etwa angelernte und unverstandene Opferwilligkeit, Furchtlosigkeit im Einzelfall, die auf Unkenntnis oder falsche Einschätzung der Gefahr beruth, ablehender Eigensinn als Ratlosigkeit zwischen zwei Übeln, die sich dann oft genug für das größere entscheidet, Gleichgültigkeit aus mangelndem Vorstellungsvermögen oder aus einem unzulänglichen Willensimpuls.

An dieser Stelle muß, zur Klärung und Vertiefung der auf den Schauplatz getretener Begriffe, vom Weg der Darlegung eine Sonderbetrachtung abgezweigt werden. Es handelt sich um die Kategorie der Menschen, die auch im Alter vollendeter Entwicklung gänzlich oder vorwiegend den Grundstimmungen der Kindheit, Begehren und Furcht, unterliegen.

Vor Jahren habe ich diese Gattung als die der Zweckmenschen bezeichnet. Denn Furcht und Begehren gehen im Stand geistiger Fortgeschrittenheit eine Verbindung ein, die planend und vorsorglich ins Künftige gerichtet, sich Zwecke schafft und sich in diesen verobjektiviert. Indem ich auf den Zusammenhang des Furcht- und Zweckwesens mit bestimmten Völkerklassen hinwies, gab ich der Erfahrung Ausdruck, daß unter den Vertretern einzelner Stämme bisher wenige oder keine Individualitäten nachweisbar aufgetreten sind, die durch Leistungen, Ideen oder Gesinnungen einen Fortschritt gegenüber diesen primitiven Grundstimmungen hätten erkennen lassen. So tief jedoch eine solche Gebundenheit im physischen und physiognomischen Wesen einer Blutsgemeinschaft zu wurzeln schien, so wurden die Möglichkeiten, ihr zu entrinnen, für jedes vernunftbegabte Geschöpf festgestellt. An anderer Stelle wiederum habe ich darzulegen versucht, daß der Umschwung der westlichen Kultur, der die gegenwärtige mechanistische Epoche emporgetragen hat, wesentlich auf eine Umlagerung der Bevölkerungsschichten zurückzuführen ist, welche den zweckhaften Elementenk die Oberhand verschafft hat. Hiernach kann ich mich auf eine kurze Charakteristik des Furcht- und Zweckwesens, das im Verlauf der Darlegung eine neue Bedeutung gewinnen wird, beschränken.

Die Eigenart des zweckhaften Menschen ist in dem Gesetz beschlossen, daß er in Vorsorge, Furcht und Hoffnung sein Leben aus der Gegenwart in die Zukunft verlegt. Indem er es zu schützen, zu verlängern, zu bereichern und zu bekräftigen sucht, handelt er dann tatsächlich nicht nur zweckhaft, sondern höchst zweckentsprechend; da aber der Zweck ihn ganz einnimmt, so bleibt er bei aller Erfüllung arm und glücklos; der Zweck wird zum Selbstzweck und hebt sich auf.

So ist der Unfrohe auf die Freuden der Sinnesgenüsse und der Willenserfüllung angewiesen. Aber dieser Glückswille geht seltsame Wege.

Denn da der Mensch sein Gleichgewicht aus der Gegenwart in die Zukunft, aus seinem Inneren in die Welt gerückt hat, so bedarf er in höchstem Maße der Welt, der Menschen und der Dinge; der Welt, um zu scheinen; der Menschen, um zu herrschen und zu gelten; der Dinge, um zu besitzen.

Indem er nun scheinen und herrschen will, wird er in Wahrheit abhängig; er ist angewiesen auf Meinung und Zustimmung, und da es seiner Natur nicht entspricht, sie zu erzwingen, so muß er sie erschleichen und erlisten. Weil er der Dinge bedarf, wird sein Handeln abermals unfrei, denn er sieht sich an Verhältnisse, willkürliche Gesetze und unfreiwilige Arbeit gekettet.

Sein berechnender Intellekt wird geschult, sein ursprünglicher Geist gedämpft. Sich selbst kann er nicht achten; andere achten und verehren zu müssen würde ihn vernichten, so sucht er sie zu sich herabzuziehen durch Mißgunst, Skepsis, Kritik und Verkleinerung. Als Kluger, Unzufriedener, Schwacher ist er ein Menschenkenner und Beobachter, geschult, auf die Schwachheiten anderer zu achten, geübt, sie zu enthülltenk und zu benutzen.

Eine absolute Sittlichkeit kann er im zweckhaft materiell gearteten Grund seines Bewußtseins nicht verankern. Wo er sittlichen Gesetzen folgt, geschieht es aus Furcht oder abergläubischer Hoffnung. Denn sein Glauben wurzelt im Verstand und kann nicht anders als materiell und damit abergläubisch sein. Sieht der Zweckbefangene sich überhaupt veranlaßt, göttliche Mächte anzuerkennen, so sind ihm diese nicht transzendente Erfahrungen und Notwendigkeiten, sondern nützliche Protektoren [Beschützer - wp], für die man angesichts ihrer Machtmittel gern ein übriges tut, indem man ihr Wohlwollen durch Konzessionen und Komplimente sichert. Hat er sich der göttlichen Gespenster entledigt, so schwelgt er, von Freiheitsgefühlen berauscht, an den Quellen materialistischer Erkenntnis. Hält er alsdann Umschau nach Idealen, so erfindet er Theorien schwelgenden Lebensgenusses, die angesichts seiner schmerzvollen, ans Äußere gebundenen Existenz wenig glaubhaft werden.

Die Kunst des Zweckhaften ist nicht gering. Es ist die Kunst des Intellekts, des Esprits, der Ekstase, des Sinnenreizes, des Pomps und der Dekoration. Sein Denken ist geistreich, scharf, kühl und negierend; sein Naturempfinden sentimental und preziös [gekünstelt, übersteigerte Kultiviertheit - wp]; seine geistigen Freuden sind Fakten, Enthüllungen, Neuigkeiten, Neuheiten, Kritiken und Erfolge.

Fremd ist ihm Sachlichkeit, Hingebung, Wahrheitsliebe, Ehrfurcht und Transzendenz; denn er bekommt von seiner Person und seinen Wünschen nicht los, er bleibt erdenschwer, unphantastisch und unfromm.

Betrachtet man die Gesamtheit dieser Eigenschaften praktisch, so ist zuzugeben, daß sich mit der Zweckhaftigkeit eine vollkommene Zweckmäßigkeit im Sinne der Lebenshaltung des Einzelnen und des Geschlechts verbindet; betrachtet man sie kritisch, so erscheinen sie vorbereitend und verheißend, denn sie ordnen die Existenz des Einzelnen unter die Existenz der Generationenreihe, indem sie Sicherheit für Glück eintauschen.

Entfernt man zur Probe diejenigen Züge des Bildes, die einer fortgeschrittenen Intellektualität angehören, so stehen wir wiederum vor dem Geistes- und Stimmungskomplex des primitiven Farbigen und des Kindes. Wir kehren somit zum Ausgangspunkt zurück: zur Erinnerung an die Geistesentwicklung, als Hauptinhalt unserer inneren Erfahrung.

Ist das Leben des Kindes auf Begehren und Furcht, auf Zweckhaftes und Zweckmäßiges gestellt, so beginnen mit der einsetzenden Reife des Geistes und Leibes neue und entscheidende Konflikte.

Die Liebe des Mannes ist nicht hingebend wie die Liebe des Weibes, denn sie ist werbend; und doch geht sie in einem Sinn über die Hingebung des Weibes hinaus: sie ist bereit, sich zu opfern. Das Weib will hinnehmen und vergehen, der Mann will besitzen, aber zugleich sich opfern und verschenken: so ist im Augenblick des höchsten Lebenswillens der Lebenswille aufgehoben, der Zweck gebrochen. Man faßt es so auf, daß dies im Interesse der neuen Generation geschieht: gleichviel; die Wendung ist geschehen.

Der Jüngling verzehrt sein Leben in Träumerei. Das Wesenlose wird ihm bedeutend; das Handgreifliche unwesentlich. Eine neue Natur umgibt ihn; nicht mehr Stein, Pflanze, Luft und Wasser, sondern ein geheimnisvoller Kosmos voll Leben, Geist, Blut, Licht und Liebe. Die Dinge reden nicht mehr die Sprache des Tages; es rauscht aus ihnen Ungesprochenes, Unauflösliches. Eine zweite Natur verbirgt sich hinter der sichtbaren und will hervorbrechen; es bedarf eines Wortes und alle Wirklichkeit ist aufgehoben. Der Welthauch atmet Majestät und Liebe, und die jugendliche Seele begehrt nichts anderes, als sich den Mächten hinzugeben und in ihren Werken aufzugehen. Die Welt der Menschen und Schicksale brandet von fern, in ihren Kämpfen fliegen und siegen die Banner der Ideen; Freiheit, Wahrheit, Vaterland, Gottheit verlangen das höchste Opfer und sollen gerettet werden.

Solche Regungen gehen nicht von einem Erhaltungstrieb aus. Sie sind zweckfrei, mögen sie ungeklärten Stimmungen gärender Epochen entspringen. So werden sie dann auch im Leben des gebildeten Okzidentalen alsbald für einige bedeutungsvolle Jahre wieder zum Schweigen gebracht. Denn durch unmäßige Ansprüche an den Intellekt werden die Keime der Seele im Wachstum gehemmt und das anmaßlich begehrende Kind steht wiederum auf dem Plan.

Enttäuscht steigt der Erdenbürger in die Vielfältigkeit des Lebens hinab; und wirklich, die Fülle der Erscheinungen überwältigt ihn nicht. Heroen werden zu Menschen, Paradiese zu Mechanismen, und erstaunlich bleibt nur die Menge des Gewußten, der enthüllten Gesetze, der gelösten Rätsel. Von den Erfahrungen der Jahrtausende nimmt er sein Erbe in Anspruch und denkt es zu mehren, und je unermeßlicher der Reichtum in seinen Händen, desto ärmer die Welt. Was ist sie? Ein Verstandesspiel, ein Zirkus, eine Intrigenschule. Wo sind Wunder? Wo sind Geheimnisse? Die Natur ist entgöttert, die Gottheit entlarvt, die Mächte zerstoben.

So begnügt sich der Verwaiste, am Raub teilzunehmen. Glück der Sinne, Geltung und Macht gehören dem, der sie nimmt. Er erwirbt, besitzt, genießt und verzweifelt. Aber schon haben sich unter dem Lächeln der Medusa die Kräfte verjüngt. Über dem verödeten Weltbild steigt abermals der Himmel der Natur empor, nun aber feierlich bewegt von der Gewalt der Gesetze, ruhend in den Polen der Gottheit und des Herzens.

Das Spiel der Schwerter, Federn und Kronen ist gestillt. Es bleibt ein Schaffen: doch nicht mehr um der Werte willen; das Sorgen: doch nicht mehr um der Ziele willen. Schaffen heißt: die Seele umsetzen in sichtbare Form, Erschautes gestalten. Ein Naturvorgang, vergleichbar dem Wesen der Muschel und der Spinne, die aus den Säften ihres Lebens mit Freuden und Schmerzen ihr Kleid, Rüstzeug und Kunstwerk nach einem inneren Bild wirken.

Es bleibt die Liebe. Je reiner und heißer sich das Feuer der Sinne erhält, desto leuchtender umgibt es sich mit der Aura übersinnlicher Klarheit. "Es regte sich die Menschenliebe, die Liebe Gottes regt sich nun." Es erwacht die Liebe des Franziskus, die alle Kreatur mitsamt den Gestirnen umspannt, die in die Sphären tönt und die Gottheit herabzwingt.

Denn diese Liebe ist transzendent. Sie ist Ahnen und Begreifen des Sichtbaren und Unsichtbaren, sie ist Hingabe und Opfer, sie ist aber auch Erfüllung und Verklärung. Sie faßt die Welt nicht mit den Krallen des Verstandes, sie löst sich auf, geht unter, vereinigt sich, wird Eins und begreift, indem sie Eins wird.

So wird aus Natur und Schaffen, Liebe und Transzendenz im Menschen die Seele geboren, ja wesentlich gesprochen: sie wird nur aus Liebe geboren, denn Liebe umfaß die anderen drei Kräfte insgesamt.

Indem ich das wundervolle Wort Seele niederscheibe, zum öfteren seit dem Beginn dieses Buches, will es mir nicht in den Sinn, warum in so anderer Bedeutung die Wissenschaft sich dieses reinen Klangs deutscher Sprache bedient. Sie nennt es Seelenkunde, Psychologie, wenn sie die Begriffe des Bewußtseins, des Denkens, der Assoziation und andere Dinge des intellektuellen Geistes behandelt. Wenn die Jahrtausende von den geheimen Kräften, der Göttlichkeit und der Unvergänglichkeit der Seele sprachen, so haben sie an eine Unsterblichkeit der Bewußtseinsphänomene nicht in erster Linie gedacht. In Übereinstimmung, wie ich glaube, mit dem alten Geist der Sprache, der sich der Worte seelisch, seelenhaft, seelenvoll im Gegensatz zu geistig, geistreich und geistvoll bedient, der seelenlos und geistlos in einem richtigen Verständnis gegenüberstellt, der von Seelsorge, Seelenrettung, nicht von Geistessorge und Geistesrettung spricht, der mit Recht geisteskrank, nicht seelenkrank sagt, fasse ich den Begriff der Seele als den Komplex der höchsten Geisteskräfte, die uns bekannt sind, und die, wie ich überzeugt bin und darzuntun versuchen werde, aus den niederen Geisteskräften sich nicht analytisch herleiten lassen.

Da ich nun mit den Distinktionen der Wissenschaft in Widerspruch geraten bin und ein gleiches noch mehrfach geschehen wird, so sei dieser Schrift der Geständnisse ein Wort gelegentlichen Bekenntnisses gestattet.

Ich ehre und bewundere die philosophische Disziplin, der ich durch Erziehung und Beruf ein dankbarer, aber nicht vorbildlicher Gast war. Ich erhebe keinen Anspruch, ein philosophisches Buch zu schreiben; ich versuche meine inneren Erlebnisse zu ordnen und zu deuten. Ich bediene mich der deutschen Sprache, so wie ich sie übernommen habe und zu beherrschen glaube; wenn ich bewußt ein ungewöhnliches Wort gebrauche, so suche ich es zu erläutern. Verstoße ich damit gegen Schulausdrücke, so ist mir das nicht von Wichtigkeit. Betrachte ich als wahr, was die Wissenschaft widerlegt zu haben glaubt, so tröste ich mich mit dem Gedanken, daß schon manche verstoßene Wahrheit wiedergekehrt ist. Ich erwarte nicht und hoffe kaum, daß philosophische Schulen und Organe sich mit meiner Schrift befassen; sie ist bestimmt für meinesgleichen, Menschen aller Berufe, die sich mit sich und dem Leben geplagt haben. Bei aller Ehrfurcht vor der Wissenschaft konnte ich mir von ihr keine Lebensweisung holen, so wenig wie der Geschäftsmann aus Lehrbüchern der Ökonomie und der Staatsmann aus Werken der Staatskunst seine Entschlüsse ziehen kann. Ich betrachte das Denken nicht als ein Monopol, und glaube, daß mehr fruchtbare Gedanken in die Welt kommen würden, wenn nicht die Furcht vor Schulen und Lexikographien manches gesunde Nachdenken und manche berechtigte Aussprache im Keim erstickt hätte.

Wir stehen an einem Wendepunkt der Betrachtung. Wir haben in den Aufgang der Seele geblickt; und da nach dem Lauf der Dinge das große Ereignis Dunkelbilder, Zweifel, ja Abneigung hervorruft, so müssen wir eine kurze Zeit im Negativen verharren.

Was hat es denn mit dieser kühnlich benannten und behaupteten Seele auf sich? Ist sie nicht doch nur ein Beiwerk, ein im Lebenskampf gewonnenes Hilfszeug des erfinderischen Intellekts?

Die Seele ist kein Kampfmittel. Rational betrachtet, im Sinne des Kampfes um Nahrung, Lust und Nutzen ist sie ein Hemmnis. Die Gestirne sättigen nicht. Das unzeitliche Werk bringt Martyrien. Liebe opfert sich. Der seelenhafte Mensch erscheint der Zeit als Idiot, dem sie nicht immer die Ehre des Kreuzes erweist. Nicht auf der Einöde und nicht auf der Straße, nicht am Altar und nicht im Gefängnis fände die reine Seele ihre Zuflucht, und den hoffnungslosen Kampf gegen die Klugheit ließe man sie nicht erst beginnen. Die Klugheit des Intellekts in seinen Formen der Kriegführung, der Geschäfte, der Diplomatie, der Technik und des Verkehrs beherrscht die Welt so vollkommen, daß im Sinne dessen, was man Entwicklung nennt, die Seele den unerhörtesten Rückschritt bezeichnet. Die Dichtung, spottend, klagend, sehnsüchtig, schildert nichts anderes als die Leiden, welche die Seele bringt; und in ihrer göttlichen Gerechtigkeit muß sie der praktischen Dialektik mephistophelischer Naturen den Sieg lassen.

Der Triumph des Intellekts ist der Zweck. Hierin äußert sich die gewaltige Identität des gesamten niederen Naturwillens; hierin ist der unfaßbarste Kontrast hohen und niederen Denkens zum bloßen Größenunterschied zusammengeschmolzen, der Kontrast zwischen der Urregung der Amöbe und dem Spintisieren des Staatsmannes; vom unbewußten Dämmerwillen bis zur verfeinerten Abstraktion umfaßt ein und dasselbe gleichartige Agens: die lebendige Natur: der Intellekt, die Bewußtseinsform des Begehrens, und ihr Emanat [Hervorgehendes - wp], der Zweck. Leben, Nahrung und Lust, und Mittel zur Lust, Nahrung und Leben, dies ist der Inbegriff des sublunaren Wollens [unter dem Einfluß des Mondes stehend - wp] und Denkens.

Die Seele aber will nichts. Sie trägt in sich das Streben und die Erfüllung, Dissonanz und Auflösung. Ihr Wesen ist zweckfrei, und im Sinne der Erscheinungswelt zwecklos. Aber mehr als das. Hat die Seele in ihrem Aufstieg gelernt, mit ausgebreiteten Schwingen über der Erscheinungswelt betrachtend, freudvoll sinnend zu ruhen, so entfremdet sich der Blick dem bunten Wesen, und ihre eigene Kraft hebt sie entsagend hinweg von der Welt, jenem Licht entgegen, in welchem das Außen und das Innen verschmilzt. Die Begriffe der Zweckfreiheit, der Willenlosigkeit sagen nichts mehr; sie wird zum schlechthin Absoluten.

Lohnt es, dürren und kaltsinnigen Einwendungen des Utilitarismus zu begegnen: als seien wenigstens die äußersten Fasern des Seelenwesens Ableger einer Nützlichkeitsentwicklung? Etwa in dem Sinne: die Ergriffenheit vor den Naturgewalten des Gewitters seien Erinnerungen an landwirtschaftliche Vorteile, oder die Majestät des gestirnten Himmels beruhe auf der unbewußten Vorstellung von Jagderfolgen, oder die Nächstenliebe sei die ererbte Erkenntnis vom Nutzen friedlicher Nachbarschaft? Wäre in diesem Zusammenhang des innerlich Erlebten ein erläuternder Übergriff in die Erscheinungsreihe der Zuchtwahl oder Vererbung auch gestattet: diese Argumente erfordern ihn nicht.

Wer die ersten stillen Regungen des Seelenlebens erfahren hat, bedarf der Beweise nicht. Ihm besteht die innere Gewißheit, lebendiger als alles andere Erleben, daß hier eine neue Qualität des Geistes beginnt, die von den intellektuellen Qualitäten vollkommen gesondert, neue Kräfte, Freuden und Schmerzen und ein Leben über dem Leben erschließt.

Wir haben den höchsten Vorgang des irdischen Erlebens, das wahrhafte Erbe des inneren Besitzes in seiner typischen Form betrachtet; so dürfen wir dann die Abweichungen und Gegenbilder nicht übergehen.

Von geringer Bedeutung ist die zeitliche Anomalie der seelischen Geburt. Schon im frühen kindlichen Leben, beschleunigt durch vertiefende Einflüsse, Einsamkeit, Naturnähe, Leiden, können die seelenhaften Triebe zum Vorfrühling erwachen; wie denn junges Leben bisweilen von tiefer Weisheit erfüllt ist, die sich alsbald in Lärm und Blendung zur Vergessenheit verdunkelt. Umgekehrt bewahrt uns die objektive Erinnerung Fälle später, ja verspäteter Erweckung, die manches Leben noch in seinen letzten Auftritten zur Peripetie [entscheidender Wendepunkt - wp] geführt hat.

Wichtiger ist der vergleichende Einblick in die Existenz der Seelenlosen; denn als solche erkennen wir nunmehr die Menschen, die wir vordem nach Furcht und Zweck benannt haben. Es bedarf keiner Erwähnung mehr, daß diese Bezeichnung der Seelenlosigkeit nicht bildlich zu verstehen ist; Das Urbild des organisch vollendeten, gleichwohl seelenlosen Menschen erblicken wir in denjenigen Primitiven, deren Leben in Sinnenwerk, in materieller Furcht und Hoffnung, gleichviel ob irdischer oder überirdischer Zentrierung verläuft.

Über den Zusammenhang des Blutes mit dem Schicksal werden wir zu sprechen haben, wenn wir nachprüfend die Ergebnisse der inneren Betrachtung in die Erscheinungsreihe projizieren; vorschauend sei hier wiederholt, daß eine Prädestination des Stammes nicht besteht. In jedem Menschen, gleichviel welchen Blutes und Herkommens, schlummert die Seelenkraft. Was in der Welt zu selbstloser Liebe taugt, das taugt zur Seele.

Das Gebiet des Seelenlosen tritt eng an uns heran. Innerhalb und außerhalb unseres Erdteils kennen wir Landstriche zivilisierter Sprache und Sitte, die wir betreten mit dem Gefühl: hier hausen nicht Lebensgenossen, sondern Interessenten. Hier wird Arbeit zum Frondienst, Muße zum Rausch, Freude zur Ausschreitung, Kummer zur Verzweiflung, Glaube zum Fetischismus. Die Verlassenheit, die uns befällt inmitten gieriger Männer, getünchter Frauen, angerichteter Kinder und Jungfrauen, übernächtiger Jünglinge, untreuer Diener und ausgehöhlter Sklaven, diese angstvolle Verlassenheit entsteigt dem unbewußten Begreifen: hier leben keine Seelen.

Habsucht und Götzendienst des flachen Landes, Warenhunger, Blendwerk, Streberei, Üppigkeit, Neugier und Diebeslust der Städte: das sind die Inseln der Seelenlosigkeit in unserem Land.

Täglich berühren wir uns mit respektablen Menschen anständiger Herkunft, gewählter Sitte, lebhaften Geistes, denen die Seele mangelt. Sie erscheinen als besonnene, durchaus tätige Menschen, von unablässigen Zweckgedanken bewegt, die sie mit der Sorge um eigene und der Nachkommen Existenz, mit dem Bewußtsein selbstgewählter Pflichten, mit Gewohnheit und Beschäftigungsdrang, ja gelegentlich mit Ehrgeiz, Habsucht und Sammlerwahn zu erklären suchen. Die Zielbewegung ist ihnen Selbstzweck geworden; theoretisch von der Notwendigkeit eines endgültigeren Lebens überzeugt, gönnen sie mit Gewissenhaftigkeit sich künstlich zubereitete Erholungszeiten, die sie in entfernten Gegenden, an Plätzen maßvoller Unterhaltung oder unter Büchern verbringen. Indem sie aus anerzogener Bedenklichkeit über das Gebiet des niederen Sinnengenusses hinausstreben, streifen sie die Landschaft mit einem flüchtigen Blick, um eine kuriose Einzelheit zu erhaschen, betrachten ein Kunstwerk in der Absicht, es kritisch zu bewältigen und bildungsmäßig zu verwerten. Aber während dieser Sparzeit verläßt der gewohnheitsmäßige Zweckgedanke sie keinen Augenblick; er treibt sie rasch in das Joch zurück, dem sie das Bewußtsein ihres Lebenswertes verdanken.

Über den Sinn ihres Lebens lassen diese mitunter intellektuell bedeutenden Menschen sich nicht befragen. Es genügt ihnen, daß sie Willenserfüllungen erlebt haben, daß sie das tätige Leben mächtig, reich, geehrt verlassen, mit dem Hinblick auf gesicherte Hinterbliebene und mit der nicht betonten, doch auch nicht abzuweisenden Aussicht, eine wohlverdiente Existenz unter jenseitigen Voraussetzungen zu finden.

Auffällig ist ihre Hilflosigkeit, wenn sie antworten, weshalb sie sich an gewisse ethische Normen binden. "Aus Anstand" sagen die Einen. "Aus Nützlichkeit" die Anderen. "Aus Erziehung, Gewohnheit und Ererbung" die Skeptischen. "Aus Religion" ist die tüchtigste Antwort und bei wahrhaft Erbgläubigen zutreffend. Vielfach hegt man Rücksicht auf uneingestandene, in stiller Reserve gehaltene göttliche Mächte, die in Zeiten der Not - nützt es nichts, so schadet es nichts - um handgreifliche Dienste angesprochen werden können, und denen des Alltags durch Regungen spielerischen Aberglaubens ein gelegentliches Opfer im Dunkel des Bewußtseins gebracht wird.

Dieses überraschend vorzeitlich Inventar des inneren Lebens erfüllt den Kern kluger, gebildeter und erfolgreicher Menschen unserer Zeit, sofern sie der Seele ermangeln.

Erschreckend sind die Orte der Seelenlosigkeit. Der Wanderer, der sich aus den Tiefen des Landes im Abendschein der Großstadt nähert, erlebt den Abstieg in diese Gefilde. Hat er den Dunstkreis der Ausflüsse durchschritten, so öffnen sich die dunklen Zahnreihen der Wohnkästen und sperren den Himmel. Grüne Flammen säumen den Weg, erhellte Eisenschiffe schleifen ihre Menschenfrachten über den geglätteten Pechboden. In frechem Licht klingeln und donnern die Drehmaschinen und Rutschbahnen eines Lärmplatzes: das ist ein Ort der Freude; und Tausende stehen, schwarz gedrängt, mit flackernden Augen vor den Plakaten der umzäunten Wüstenei. Aus den Höfen strömen übermüdete Männer und Frauen, es füllen sich die Räume hinter den Glasscheiben, deren Aufschriften in weißblauem Bogenlicht zucken. "Großdestillation", "Frisiersalon", "Bonbonquelle", "Stiefelparadies", "Lichtspiele", "Abzahlungsgeschäft", "Weltbasar": das sind Orte des Erwerbs. Die Straßen verengen sich gegen die alte Mitte der Stadt, der Verkehr wird eiliger, es häufen sich die Wagen, Modegeschäfte, Restaurante, Cafes und Theater lassen ihre Transparente spielen. Plötzlich ragt stumm und dunkel ein Bauwerk der alten Zeit empor, ein stiller Platz liegt zur Seite. Brücken und Fernsichten weiten sich, die Massen werden klar, die Umrisse fest. Hier bewegt sich der gemessene Luxus; er hält auf Bauart, Bäume, Abstand und Benehmen. Nun rasen die Gespanne und Motoren nach Parkstraßen und Villenstädten und kreuzen dies Ströme der Sorgenvollen und Lustbegierigen, die von der Nacht leben.

Das ist das Nachtbild jener Städte, die als Orte des Glücks, der Sehnsucht, des Rausches und des Geistes gepriesen und besungen werden, die das Land entvölkern, die bis zum Verbrechen das Gelüst des Ausgeschlossenen entfachen; notwendig und würdig im Ernst der Arbeit und des Gedankens, furchtbar und irrsinnig als Paradiese der Seelenlosen.

Dennoch erweist sich in der Ökonomie und Bilanz des Weltgeschehens der Einfluß des seelenlosen Elements nicht als gering, keineswegs als verächtlich. Es wurde hervorgehoben, die Fähigkeit Seelenkräfte zu entbinden, sei keiner Menschennatur von Grund auf versagt; dennoch zeige die Erfahrung, daß weite Gemeinschaften des Blutes und des Lebens bis zu dieser Zeit seelenhafte Phänomene kaum gezeitigt haben, so daß man kurzgefaßt von seelenlosen Völkern und Stämmen reden kann. Und da die absoluten Gegenpunkte der Polaritäten bei Massenerscheinungen uns niemals entgegentreten so müssen wir die Abstufungen vom schwächsten Einschlag des Seelenhaften bis zur denkbaren Überwindung des Seelenlose als Grundordnung, wie im Leben des Einzelnen, so in der Geschichte der Menschheit hinnehmen.

Es ist hier nicht der Ort einer geschichtlichen Analyse. Hervorzuheben sind lediglich die Indizien der Polarität, und es bleibt einer späteren Forschung überlassen, die Reagenzmittel auf Zeiten und Völker wirken zu lassen, um Verbindungen zu spalten, gleichartige Elemente auszusondern, und somit, rückwärts gewandt, das einstige Strömen der Elemente, ihre Mischung, Umsetzung, Verdunstung und Erneuerung zu ermitteln; welche Erscheinungen sich uns in einem äußeren Sinn als Historie darstellen. Aus einer solchen Betrachtung wird sich ein künftigen Geschichtsschreibung eine empfindlichere Beobachtungsmethode ergeben als die gegenwärtige, welche sich vorwiegend den Erlebnissen der jeweiligen Oberschicht zuwendet und daher keine der großen Evolutionserscheinungen restlos erklären kann, die aus einer Wechselwirkung, Vermischung und Umschichtung herrühren.

Der seelenlosen Menschheit gemeinsam scheint vor allem die Materialisierung des Todes, begleitet von den Affekten der Furcht und des Entsetzens vor seinem Reich und seinen Untertanen. Der Gedanke, die materielle Welt ein für alle mal nach jenem Abschied aufzugeben, ist unfaßbar; der Tote dilettiert und vagabundiert noch immer diesseits, er muß gefüttert, gekleidet, umschmeichelt, versöhnt und gefeiert werden. Er spielt mit dämonischen Kräften in alle Lebensverhältnisse hinein und sorgt neidisch für sein verbliebenes Kapital, den guten Ruf. Seine Behausungen erdrücken die Bauten der Lebendigen, seine Allgegenwart raubt ihnen die Freude am Tag. Das Reich des Todes ist dunkel und sorgenvoll, denn in ihm leben keine freien Seelen, sondern Knechte der zeitlichen Bedürfnisse und Gelüste, der Rache, Reue und Leidenschaften. Der Seelenlose kann Unsterblichkeit nur für seinen animalischen Geist begreifen und verlangen.

Ein weiteres Indiz ist die Materialisierung der Religion. Der seelenlose Mensch spiegelt sich in seelenloser Gottheit; wie auch das Brockengespenst der historischen Gottheit nichts anderes bedeutet als das makroskopische Geistesbild seines Schöpfers, projiziert auf die Nebelwand der Naturerscheinung; tiefstes, unbewußtes Bekenntnis seines Fühlens, Handelns und Leidens. Daher ist alle schreckenerregende, fratzenhafte Gottheit seelenlos. Rachsüchtige, blutgierige, auf Ritualien erpichte Götter und Dämonen, die keinem ewigen Gesetz gehorchen, wohl aber mitleidlos auf ihre Rechte pochen, entstammen einem sklavisch furchthaftem und unbeseelten Geist. Unter ihrer Herrschaft wird Religion zur Abrechnung, zum Tyrannendienst und Formelkram; sie sind die Beschützer der Sakralkollegien, der Auspizien, der Speiseregeln, der abergläubischen Kasuistik. Der Schmeichelei und Bestechung zugänglich wie ihre irdischen Söhne, erfüllen sie deren Glaubensideal durch Willkür, Grausamkeit, Genuß und Unzucht.

Die Kunst seelenloser Völker ist eine typische, nicht individuelle Kunst. Denn bei aller ausschließenden Bedeutung, die das Individuum, auf persönlichstem Genuß und Lebenszweck gestellt, sich selbst beimißt, bleibt seine Achtung vor fremder Individualität gering. Der Andere bedeutet ihm Gegenstand, Typus, Mittel; er selbst fühlt, auch im Sklavenstand, nur das Ich als Selbstzweck. So interessiert es ihn nicht, inwieweit das Einzelobjekt von der kanonischen Durchschnittsnorm abweicht, die allein ihm als wichtiges Sinnenbild mit unbedingter Deutlichkeit vor Augen steht; er preßt das Phänomen in die Form der Vereinfachung, des Typs, der Symmetrie und des Ornaments. Und in dieser Schulung leistet er doppelt Erstaunliches, ja Unfaßbares: denn da er selbst von seinen Mitmenschen als Typ, somit als unpersönlicher Bildner und Handwerker erachtet und behandelt wird, sieht er sich gezwungen, von Jenen gebilligte Konventionsformen einzuhalten, der Tradition zu folgen, und innerhalb dieser Grenzen manuell und sachlich in jeder Generation die Schranken des Könnens zu erweitern. Die Kunst Ägyptens und Ostasiens kann in ihrer Art niemals übertroffen werden, indem sie als eine Kunst des Typus, der Norm, der Überlieferung und des Gesetzes wie ein Naturprodukt dasteht; die verschwindende Zahl invidualistischer Ausnahmen, mögen sie von Künstlerlaunen oder von Fremden geschaffen sein, ändern an diesem Gesamtbild nichts.

So stehen wir vor der paradoxen Tatsache, daß die Kunst, die man jahrhundertelang als die ideale bezeichnet hat, weil man den Begriff des Ideals mit dem der kanonischen Form verwechselte, den eigentlich ideallosen Völkern und Epochen gehört, die dann tatsächlich fast ausnahmslos diese Kunst als Mittel zum Zweck, als Mittel der Beschreibung und Propaganda, des Gottesdienstes, der Jllustration und Dekoration benutzt haben. Die Welt verdankt der typischen Kunst, die sicher die ursprüngliche war, unendlich viel; vor allem die Schulung, den Begriff des technisch erreichbaren, den Blick für Maß und Verhältnis, das Ornament und die Bauform. Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt - was eigentlich keines Experimentes bedurfte -, daß echte, nämlich wahrhaft organische Ornamente und Kunstformen sich nicht durch Einzelarbeit erfinden lasen, selbst wenn die Grundsätze der Abstraktion bewußt studiert und geläufig gehandhabt werden. Denn diese Elemente, erwachsen in jahrhundertelanger Wechselwirkung gleichgearteter Verfestiger und Beschauer, sie sind nicht, wie man glaubte, Menschenwerk, sondern Menschheitswerk, und somit eine natürliche Schöpfung, wie etwa die Sprache. Deshalb könnte man mit Recht die willkürlich konstruierte Ornamentalkunst der letzten Jahrhundertwende als Volapükstil [Weltsprache - wp] bezeichnen.

Nimmt man den Begriff des Ideals in der bescheidenen Bedeutung einer Grenzvorstellung des Wünschenswerten, so kann mit diesem Vorbehalt von Idealen seelenloser Völker gesprochen werden. Es bedarf keiner Erläuterung, weshalb solche Ideale, soweit sie eine menschliche Form tragen, sich gewissermaßen als Berufsideale darstellen müssen. Der nützliche, somit gerechte und kluge König, der nützliche, somit ergebene und sachkundige Sklave, der nützliche, somit verschlagene und erfindungsreiche Kaufmann und Züchter, der nützliche, somit gehorsame und fromme Untertan genügen dem Bedürfnis ethischer Verschönerung und Verallgemeinerung. Soweit ein allgemein menschlicher Idealbegriff sich über die Mannigfaltigkeit der Typen erheben soll, ergibt sich die gemeinnützige Tugend der Barmherzigkeit. Die praktische Übung dieser Generaltugend aber verstrickt sich in die Netze, welche das Schwesternpaar, Religion und Gesetz, über alle Handlungsmöglichkeiten flicht. Eine ständig verengte Kasuistik kann, wie die römisch und spätjüdische, alle Lebensgebiete derart überspinnen, daß die Entschließung, zwangsläufig eingeengt, jeden ethischen Wert verliert und die letzten kümmerlichen Ideale als Nützlichkeiten, kleinere Übel oder gesellschaftliche Nötigung hinsterben.

Ein äußerer Zug, den furchthaften Gruppen gemeinsam und im Stand fortgeschrittener Zivilisation von politischer Bedeutung, zeigt sich hierin: sie können nich einsam sein und nicht schweigen. Es ist, als ob sie sich nur dichtgedrängt und im engsten Zusammenhang sicher fühlen, wobei ihr Interesse für den Nachbarn weit größer ist als ihre Liebe. Eilfertiger Redeschwall, tönend und von einförmigem Pathos, dient weniger der Mitteilung als dem Erleichterungsbedürfnis und der Überredung. Daher im politischen Zustand die leichtbewegliche, gewalttätige öffentliche Meinung, das Übergewicht der Redner und Schreiber und die Herrschaft der Phrase.

Wenden wir uns zu den entgegengesetzten Leitzeichen mut- und seelenhafter Völker, so tritt uns zuvörderst die heitere Freiheit des Lebens und der Hang zu transzendenter Erhebung entgegen. Unbelastet von Begehrlichkeit schwebt der Geist über der Erscheinung und erhebt sich zur souveränen Anschauungsform des Humors, die im äußersten Gegensatz zu einem terrestrisch gearteten Pathos, scheinbar sorglos und unbeteiligt und dennoch voll höchsten Verstehens sich der Geschöpfe annimmt. Die transzendente Liebe versenkt sich in die Natur und verliert sich nicht, weil sie durch den farbigen Schleier das Licht des Unbedingten erblickt; sie verklärt ihr Objet über irdische Erfahrung und Konzeption hinaus zum Ideal, sie ahnt jenseits der faßbaren Gottheit das Gesetz.

Kult und einfühlende Empfindung der Natur, Achtung vor der Einheit und Würde jedes Geschöpfes, hingegebenes Aufhorchen zur Stimme der eigenen Seele schaffen diese Gemeinschaften intuitive Frömmigkeit, individuelle Kunst und reine Lyrik; wenn unter dem Begriff der Lyrik nicht gereimte Aufsätze verstanden werden dürfen, sondern jene unerklärlichen übergedanklichen Seelengebilde, deren die Zeiten uns einige Dutzend hinterlassen haben.

Im Gegensatz zur transzendenten Ethik, die im Stillen jede Lebensform durchdringt, bleibt die praktische Ethik der Seelenvölker, als unwesentliche Zweckursache, scheinbar primitiv und unausgebildet. Im Wesentlichen beschränkt sie sich auf die Verteidigung der Gemeinschaftscharaktere: Mut, Treue, Wahrheit. Die Kraft dieser ursprünglichen Wertungen aber ist so groß, daß sie, entgegen allen geschriebenen und gepredigten Lehren, noch heute, da sie längst aufgehört haben, ein Gemeinschaftsausdruck zu sein, das praktische Empfinden aller westlichen Kulturen beherrschen.

Entschieden, wie uns der Gegensatz seelenhaft-mutiger und unbeseelt-zweckhafter Völker entgegentritt, sondern sich die geschichtliche Epochen der Einzelvölker in Epochen der Seele und der Seelenlosigkeit.

Die mechanische Ursache ihres Wechsels besteht in der gleichsam hydrostatischen Schichtung der Bevölkerungslagen auf der Erdoberfläche, die sich mit jeder Flutbewegung der Volksmassen ändert. An jeder Stelle der bewohnten Welt haben Invasionen und Eroberungen in unangemessener Zahl stattgefunden; fast jede dieser Überflutungen mußte ein Oberschicht Herrschender und eine Unterschicht Beherrschter hinterlassen. Notwendig erfolgt nach einer bestimmten Zeit eine Durchdringung und Mischung dieser lebenden Flüssigkeiten wobei in heftigster Reaktion und raschem Verlauf die Perioden der höchsten jeweils möglichen Kultur emporsteigen. In früheren Schriften habe ich darzulegen versucht, daß die Blütezeit westlicher Kultur denjenigen Umlagerungen entsprangen, bei denen eine seelenhafte Oberschicht in die Mischung eintrat.

Je nachdem nun eine seelenhafte oder seelenlose Bevölkerungsschicht der Gemeinschaft die Prägung aufdrückt, entstehen im zeitlichen Wechsel seelenhaftere und seelenlosere Epochen bei scheinbar unverändertem Volkskörper. Das frühe Griechentum und das germanische Mittelalter auf der einen, das byzantinische Mittelalter und die französische Aufklärung auf der anderen Seite können als Lehrbeispiele dieses Kontrastes hingestellt werden.

Herrschaft des Glaubens, der Treue, des Krieges, der positiven Ideale, bezeichnen die Perioden der Seele, Herrschaft des Materiellen, der Staatsräson, des Friedens, der Gelehrsamkeit und Analyse bezeichnen die Perioden des Intellekts. Beirrend ist es, in einem herkömmlichen Sinn die Völkerepochen mit menschlichen Altersstufen zu vergleichen; denn der Vergleich bindet sich an den Intellekt, der freilich, für sich genommen, im Alter trocken und räsonnabel [Vernunftgründen zugänglich - wp] zu werden pflegt. Richtet sich hingegen der Blick auf die Gesamterscheinung, die Intellekt und Seele umspannt, so erhellt sich, daß die Begierde nach einer Million und die Begierde nach der Glasperle das Gleiche ist, und daß die Erstellung der Wildfalle und sich der Guß der Kanone nur im Grad der Erfahrung und der Intelligenz unterscheiden. Deshalb ist die scheinbar greisenhafte Periode des hartgekochten Rationalismus und Materialismus in Wahrheit ein Periode der Jugend, ja der Kindlichkeit, zu der sich das Aufsteigen zur Transzendenz wie ein Eintritt der Reife verhält. In richtiger Ausdeutung jenes beliebten und unzulänglichen Bildes, das ich erwähne, um es abzutun, erscheinen die dunklen Völker nicht als jugendfrische Naturburschen, sondern als greisenhafte Kinder; in Jahrtausenden hat sich ihre Seele nicht geregt, während ihr Intellekt ohne zu reifen gealtert ist. Deshalb ist es ein flaches Schlagwort gedankenloser und koketter Materialistik, jene dunklen Genossen als Führer einer künftigen Kulturerhebung auszurufen. Auch sie werden dereinst zur Seele gelangen, doch nicht als Führer, sondern als späte, mühsam gereifte Nachzügler.

Gleichen Schritts mit den Gezeiten seelenloser Epochen, deren die Welt um der animalischen Notwendigkeit willen immer wieder bedurfte, treten Einzelführer intellektuell hoher, aber seelenloser Begabung hervor, die den Sinn ihrer Zeit zusammenfassen, auf die Spitze treiben und somit erledigen. Sie leisten notwendige, aber negative Arbeit, im Gegensatz zu jener Reihe der Vorwärtsschauenden, die das kommende Reich verkündeten und die Wahrheit Propheten genannt werden dürfen, weil weder ihre Sache, die unerschöpflich ist, noch ihr Geist durch den Lauf der Zeit erledigt werden kann. Mißt man jene voltairischen Intelligenzen nicht gerade an PLATO und PAULUS, so erscheinen viele nicht unbedeutend, indem sie altgewordenes Meinungsgerümpel forträumen; ohne Jllusion und ohne Scheu, die ihnen fremd ist, weltlicher Macht entgegentreten, Gedanken Größerer kritisieren, popularisieren und propagandieren, und somit teils vorbereitend, teils digestiv [verdauend - wp] und erledigend wirken. Mit ihren geringsten Genossen teilen sie die Hilflosigkeit gegenüber den nicht zu Errechnenden, nicht zu Konstruierenden. Um daher im Positiven nicht gänzlich zu verstummen, erheben sie zuweilen einen Schrei nach Leben und Lebenslust, der umso bacchantischer hervorgequält wird, je trübseliger und sinnenfremder es im Inneren des Idealisten wider Willen aussieht. Kühnere und konsequentere Temperamente dieser Art bekennen sich freimütig zum Pessimismus, indem sie entschlossen der Welt aberkennen, was die Natur ihnen versagt hat.

Daß nach ihrer Herkunft und Praxis die Periode, in der wir leben, trotz aller hoffnungsvollen Kräfte, die in ihrem Schoß keimen, zu den seelenlosen gezählt werden muß, habe ich in der Kritik der Zeit dargelegt. Die Schichtenmischung der Kulturländer ist bis auch Bruchteile vollendet; die Oberschichten sind nahezu verzehrt; die Unterschichten tragen, wo nicht die sichtbare, doch die geistige Herrschaft und haben, vom Druck befreit, ihre expansiven Kräfte in einen beispiellose Volksvermehrung ausströmen lassen. Das Doppelphänomen der Mechanisierung und Entgermanisierung erklärt restlos alle Erscheinungen der Zeit: die Mechanisierung als Folge und Selbsthilfe der Volksverdichtung und als Ursache des Dranges zur Wissenschaft, Technik, Organisation und Produktion; die Entgermanisierung als Folge der Umschichtung und als Ursache des Mangels an Richtkraft, Tiefe, Idealismus und absoluter Überzeugung.

Die heutige Gemeinschaft gleich einer ungeheuren Produktivgenossenschaft; denn Ernährung und Beschäftigung zehnfach verdichteter Volksmassen ist ihr auferlegt; Güterproduktion ist der Inbegriff der Weltarbeit, und in der Stimmung jedes Einzelnen spiegelt sich das Gesamtbild in der Gestalt seines Verhältnisses zum Besitz und zur Macht. Tausend übereinander gelagerte Netzwerke zweckmäßiger Organisationen durchdringen den lebendigen Körper der Zivilisation und schaffen ihn zu einem selbsttätigen und zwangsläufigen Mechanismus, aus dessen Verstrickung nur entrinnt, wer nach Tibet oder Feuerland flüchtet. Die künstlich begrünte und durchfurchte Oberfläche trägt die Spuren des Geisterbaus. Gewebe aus Stein und Metall, die von den Kräften des Feuers und Wassers erzittern.

Alle Mächte des Denkens und Fühlens sind in den Dienst des Gesamtorganismus eingespannt. Mittelbar und unmittelbar geschieht fast jede Regung der belebten Elemente im Dienst materieller Produktion. Selbst wo die freiesten Künste abseitig ihr Wesen treiben, dringt in die Werkstatt Lärm und Atem des Marktes, und es entstehen eilige, halbfertige Dinge, vom Augenblick für den Augenblick erzeugt, belastet von der Überfülle der Eindrücke und Vorbilder, bestimmt, im Massenhaften zu versinken. Der Gedanke, geschult in der versteinerten Methodik wissenschaftlicher Forschung, triumphiert, wenn er benachbarte Tatbestände durch die dogmatischen Mittel der Analogie, der Rechnung und der Entwicklung verketten kann und stutzt vor jeder Bewertung und transzendenten Umfassung; er verliert den Boden, sobald das Joch handgreiflicher Nützlichkeit ihn nicht mehr niederdrückt.

Die Zeit wagt nicht mehr, über sich selbst nachzudenken. Sie fürchtet, die Antwort auf die Fragen: warum? wohin? wozu? könnte sie vernichten. Denn im Innersten fühlt sie die Zwecklosigkeit ihrer Zwecke, die Torheit ihres Glücks, die Irrealität ihres Handelns, die Selbstvernichtung ihres Wissens, die Unnotwendigkeit ihrer Kunst, die Willkür ihrer herkömmlichen Lebensformen und Sitten. Hielte das Bestehende sich nicht durch die Trägheitsgewalt der schwingenden Massen, so wäre die Welt jedem Umsturz preisgegeben; denn es gibt keinen in der Tiefe transzendenter Überzeugung gelagerten Ruhepunkt, in welchem das System der Kräfte sich verankern könnte.

Vergeblich trachtet der verjagte Glaube sein Netz an scheinbar gefestigte Stützen anzuspinnen; mag er die Wissenschaft, die Heimat, die Kunst oder den Mythos wählen: es bricht der Faden, denn die Pfosten schwanken. Das höchste Gemeingut, die Überzeugung vom Ewigen, ist dem Geschmack, der Persönlichkeit der Mode und der Willkür ausgeliefert.

Täglich wächst die rotierende Kraft; zerschmettert wird, wer in die Speichen greift, und alles praktische Handeln besteht darin, gutwillig der Bewegung zu folgen, die den am stärksten schüttelt, der sich stemmt. Von trüber Komik ist es, wie wohlgesinnte Menschen, des Glaubens, sie hätten sich ins Historische, ins Absolute geflüchtet, mit alterümlichen Gebärden, unentschlossen und verlegen im Maschinenritt ihres Zeitalters einhertraben. Und doch steht es jedem frei, den Schalthebel zu ergreifen, der die innerste Triebkraft des Systems zerschneidet. Nicht die Einzelglieder der Mechanisierung sind angreifbar, denn sie sind mit eisernen Klammern objektiver Logik verschränkt; aber im tiefsten Innern birgt sich der widerstandslose, vom Hauch des Gedankens bewegbare Punkt: die Schwäche der Seele.

Im Laufe der Darstellung wird sich der Sinn der mechanistischen Prüfung ergeben, die schwerer als Flut und Eiszeit auf der Menschheit lastet. Diese Not drückt uns deswegen härter als alle früheren Nöte, weil sie selbst geschaffen ist; sie gleicht hierin den neuen Lebenssorgen des erwachsenden Menschen, die als Entgegnungen des Schicksals den Frager zum erstenmal auf seine eigene Verantwortung verweisen. In uns liegt die Schuld und in uns die Lösung; von den Mächten haben wir nichts zu erwarten als die Hilfe, die sie einem guten Willen zollen.

Wir haben den Kreis des Seelengebietes umschritten in der Absicht, den Anteil des Seelenhaften an der geistigen Ökonomik der Individuen und Völker in Vergangenheit und Gegenwart zu ermitteln. Bevor wir zum letztenmal den Kern dieses ersten Buches, die Geburt der Seele berühren, dürfen wir es unternehmen, den erweiterten und vertieften Begriff der Seele dem des Intellekts kritisch gegenüberzustellen.

Wir versuchen zunächst, mit einem Blick das Kontrastbild zu umspannen, so ist dies die Summe: das Intellektuelle erscheint nüchtern, hastig, widersprechend, absichtlich, kompliziert und mühsam, das Seelenhafte klingend und farbig, selbstverständlich und einfach. Man fühlt den Unterschied im Ausdruck dessen, der Etwas will, und dessen, der Nichts will. Der Eine glaubt nichts und verlangt Vieles, der Andere glaubt Vieles und verlangt nichts. Dem Intellektuellen scheint der Seelenhafte unklug, verträumt und verstiegen, Seelenhaften erscheint der Intellektuelle angsterfüllt, gierig und blind. Der Intellekt eilt kilometerdurstig seine Schienenbahn entlang ins Leere, die Seele schreitet unter Gestirnen in stiller Versunkenheit. Dort die ruhelose Frage: weshalb? wozu? und keine Antwort, hier die Fülle des Vernehmens und keine Frage. Der Intellekt wirbt und streitet, die Seele empfängt und schafft.

Zum Einzelnen: Die erste große Aufgabe des Intellekts ist: Erkennen; denn um zu werten und zu wirken, muß er wissen, was ist. Zwei Gebiete des Denkens hat er sich vorbehalten: das Rechnen mit Größen und das Rechnen mit Begriffen; Mathematik und Dialektik. Im Sinne der Erkenntnis kommen beide über die Gleichung nicht hinaus, das heißt über die mehr oder weniger komplizierte Identität. Das produktive Denken aber kann aus der Identität und der Formel nichts machen; es schreitet über Ähnlichkeiten, Analogien und Gegensätze zum Gesetz, das der Inbegriff seines Wirkens ist.

Wo der Intellekt außerhalb der statistischen Erfahrung operiert, also sinnlich und dinglich denkt, ist er hilflos dem Irrtum preisgegeben. Von logischen Fehlern freilich droht ihm keine Gefahr, denn sie sind selten, so oft man auch von ihnen sprechen hört: der normale Irrtum besteht vielmehr darin, daß das Wesentliche der Tatsachen und Zusammenhänge unterschätzt oder verkannt wird, während Nebensächliches und Nebendinge sich aufdrängen. Auswahl des Entscheidenden aus der Unzahl der Tatsachen, richtige Abschätzung inkommensurabler Kräfte und Worte sind intellektuell nicht zu erringen. Das Kriterium sachlichen Denkens ist Intuition. So erleben wir alle Tage, daß die unsinnigste Meinung mit dem vollen Rüstzeug des Intellekts verteidigt, ja erwiesen wird. Die Dialektik braucht logische Verstöße nicht zu begehen; es genügt ihr, das Unwesentliche zu betonen, das Wesentliche abzuschwächen oder zu unterdrücken, und ihre Advokatur führt zur Überzeugung des scharfsinnigen und instinktlosen Intellekts.

Desgleichen begegnen uns Menschen von bedeutendem Verstand, die sachlich, folgerichtig und unwiderlegbar argumentieren, und unrettbar das Falsche tun, wenn sie ihren Argumenten folgen: der logische Bau ist gut, aber das Material ist schlecht, weil nicht Intuition es wählte. Diese Menschen denken niemals falsch und immer schief.

Die Seele aber, welche nicht denkt, sondern schaut, ist des Irrtums nicht fähig. Wie das ungeschulte, aber gesunde Auge beim ersten Anblick eines Bildes den perspektivischen Fehler fühlt, der dem konstruierenden Zeichner entgangen ist, so empfindet die Seele in vollkommener Einfühlung die Übereinstimmung einer Denkfolge mit dem Naturgesetz, und seine Verletzung empfindet sie als Dissonanz. Ohne zu argumentieren ist sie ihres Glaubens sicher; sie schmeckt und wittert gleichsam die Wahrheit, den Irrtum und die Lüge. Deshalb duldet sie nichts Schiefes und nicht Kompliziertes; die Erschaunisse, welche die Seele dem Intellekt zur Formung übergibt, sind klar wie der Tag und jedem Kind begreiflich. Unter den großen Wahrheiten, die vom Denken der Jahrhunderte übriggeblieben sind, ist nicht eine, die sich nicht mit einfachen Worten leichtverständlich aussprechen ließe. Dies bedeutet es, wenn der Apostel sagt, die Liebe begreift alles.

Auf niederer, materieller Stufe nennen wir diese Schaukraft, diese unbewußte, unerlernbare und unkonstruierbare Sicherheit des Wählens, gesunden Menschenverstand; auf höchster, vergeistigter Stufe heißt sie Intuition. Eine solche Fähigkeit ist nicht, wie kaltsinniger Materialismus wünschen könnte, eine Art geronnener, unbewußt gewordener Erfahrung, wie etwa jene Sicherheit des Auftretens und Benehmens, die von guter Herkunft und Gewöhnung ausgeht. Denn wo diese intuitive Kraft mit ihrer eigenen unbeirrbaren Zuversicht auftritt, da greift sie über alle Erfahrung und generationsweise Gepflogenheit hinaus bis in die tiefsten Geheimnisse der Empfindung, Kunst und Transzendenz. Ihr Wesen ist, daß sie nicht auflöst, sondern nachschafft; in ihr vollzieht sich mikroskopisch das Werden und Geschehen der Welt, das ein Geistiges ist, zum zweiten Mal; sowie in der Blüte das ganze Wesen der Pflanze, auf kurze Momente zusammengedrängt, sich in höchster Reinheit wiederholt.

Bedarf der Verstand des intuitiven Einschlags, somit einer seelenhaften Hilfe, um sein praktisches Geschäft des Denkens und Entschließens über das alltägliche Maß hinaus zu besorgen, so ist er dennoch nicht fähig, das Wesen des Seelenhaften zu erfassen, weil es Widersprüche zu seiner Erfahrung auslöst. Die Seele aber begreift den Intellekt vollkommen, sie empfindet ihn als wichtiges, zwar nicht zulängliches, sondern der Richtkraft bedürftiges Organ; sie begreift die Notwendigkeit seiner Fehler, die Eigenart seiner Irrungen, und erblickt sie vornehmlich in ungestillten Wünschen, die seit jeher Väter falscher Gedanken waren.

Deshalb stehen Menschen unzweifelhafter aber seelenloser Klugheit den Reden und Entschlüssen intuitiver Naturen in ratloser Verlegenheit gegenüber. Sie wittern Listen und Hintergedanken, weil die Einfachheit der Äußerung sie erschreckt; und haben sie sich schließlich überzeugt, daß sie es mit durchsichtigen, ja naiven Charakteren zu tun haben, so begreifen sie erst recht nicht, woher diese Unschlauen und Unkomplizierten das Schwierige durchschauen, das Unerwartete vollbringen. Denn sie selbst kommen trotz Klugheit und Skeptik immer nur bis zum gleichen Punkt; sie zehren sich auf im unüberblickten Dickicht der Widerstände und bleiben von komplizierten und schiefen Verhältnissen umgeben. Wie denn die Lebensführung, die tägliche Gewohnheit, der Dunstkreis, ja das scheinbar zufällige Lebensschicksal, als Summe aller selbstgeschaffenen Umstände, das untrügliche Bild des inneren Menschen spiegelt; zuverlässiger als Worte, Handlungen und körperlicher Ausdruck.

Der Kluge freilich hat den Vorteil, daß ihm sein Rüstzeug nie abhanden kommt. Er weiß auf jede Frage eine Antwort, denn der geschäftige Dienst des Intellekts setzt nicht aus. Die Seele aber liebt das Schweigen. Ungefragt, in glücklichen Stunden läßt sie sich vernehmen; dann öffnen sich unerblickte Tore; in vollem Frieden wandelt sich das Bedrückende zur Klarheit, der Wirbel des Einzelnen löst sich in der Reinheit des Gesetzes, und der Geist kehrt zurück zum Alltag, beladen mit den Geschenken der Erinnerung.

Alsbald aber wird der Intellekt zu seinem besten Dienst aufgerufen. Er empfängt die erschauten Gebilde, begrenzt und ordnet sie, kleidet sie in die Vorstellungen und Worte des Lebensgebrauchs und reiht sie in den Besitzstand der Erfahrung.

In einem ähnlichen Verhältnis wie auf dem Gebiet des reinen Denkens stehen Intellekt und Seele vor den Aufgaben der Wertung.

So sehr der zweckhafte Intellekt zur Wertung neigt, weil sie ihm Antriebe, Ziele und Glück verspricht: sie bleibt eine unglückliche Liebe, denn er kommt über ein utilitaristisches Denken nicht hinaus. Wenn er sich scheinbar noch so weit vom irdisch Nützlichen entfernt, um nach ideellen Bestimmungen des Lebens und der Welt zu greifen: das Erdgewicht seiner Zwecke reißt ihn nieder auf die utilitaristische Fläche, weil der Wert seiner Ideale nicht anders als durch plausible Notwendigkeiten innerhalb der planetarischen Ökonomie erwiesen werden kann. Gleichviel, ob er den Genuß, die Entsagung, die Leidesaufhebung, die Tat oder den Imperativ vom Sinai herabholt, göttlich oder irdisch betrachtet und ausgesprochen, bleibt jedes seiner Gesetze eine Nützlichkeit. "Du sollst, - auf daß", "du sollst nicht, - auf daß nicht", lauten seine Gebote. Die Seele verheißt und droht nicht; ihr einfaches Argument sagt: du kannst nicht anders.

Die Seele schafft absolute Werte. Nicht als ob sie das Absolute erkennen würde; auch sie ist noch an die Erscheinung gebunden; doch beginnt sie in einem Punkt die Erscheinung zu überwinden, gleichsam als die erste einer langen Reihe von Stufen, die vom Erschauten in das Absolute hinüberführen. Denn sie schafft ein zweites Ich, den Urgrund eines höheren Bewußtseins, das, weil es nicht mehr zweckhaft ist, sich von der Erscheinung loszulösen beginnt. Dieses Bewußtsein will und verlangt von der Erscheinung nichts mehr, und fühlt sich dennoch bedingt, bestimmt, von Gesetzen getragen, mit denen es nicht anders als in einer Übereinstimmung existieren kann. So werden die Gesetze, von denen wir später zu handeln haben, zu absoluten Wertungen, die im intuitiven Zustand schlechthin nicht mehr verletzt werden können.

Ja, es darf gesagt werden, daß die Seele über alle Wertungen und Idealitäten hinausführt. Denn man denke sich eine der rein intellektuellen Idealforderungen als vollkommen erfüllt: was wäre die Folge? Eine um ein beliebiges verbesserte Welt, eine Welt, in der die Idealforderung durch Erfüllung ihre Bedeutung verloren hat. Somit hat aber auch diese bequemere Welt nicht an Sinn gewonnen, sondern an Sinn verloren. Sie ist im Sinne des Zwecks gebessert, aber im Sinne des gleichen Zwecks erledigt, wie eine gelöste Aufgabe. Deshalb ist das intellektuelle Paradies der Bankrott des materiellen Denkens.

Indem nun die Seele sich selbst und eine neue Welt zweckfrei schafft, befreit sie von dem Widerspruch des Zweckes und der Erfüllung; und indem sie ihre Erfüllung, die mit kirchlichem Ausdruck Seligkeit genannt werden darf, in sich trägt, hat sie durch ihre Existenz der Welt einen Sinn verliehen.

Aus seelenhaftem Gehalt erklärt sich die ethische Überlegenheit der echten, das heißt transzendenten Religionen im Vergleich zum intellektuellen Denken. Sie freilich waren aller Beweise enthoben; sie durften ihre Himmelslehren an Offenbarungen und Wunder knüpfen, wodurch dann eben wieder in einem negativen Sinn zugegeben war, daß der Verstand zum Werten nicht hinlangt. Religiöse Intuition hat die höchste uns bekannte ethische Lehre gezeitigt, die Lehre vom Gottesreich, die dem Intellekt unfaßbar, in vieldeutiger und unklarer Formulierung die Jahrhunderte überdauert hat und die in jeder kommenden intuitiven Ethik als Sonderlösung enthalten sein wird.

Betrachten wir Intellekt und Seele in ihrer dritten Hauptrelation, als schaffende Kräfte, so ergibt sich beim ersten Blick, daß jenem am Wirken, dieser am eigentlichen Schaffen gelegen sein muß. Denn der Zweck geht nicht auf die Sache, sondern hinter die Sache. Er löst jede Unternehmung in eine Reihe von Teilhandlungen auf, die ansich vollkommen wertlos, erst durch das Endziel, wo nicht geheiligt, so gerechtfertigt werden. Überdies ist, wie wir gesehen haben, auch dieses Endziel ein relatives, so daß, von innen betrachtet, der Intellekt in kreisender Bewegung ergebnislos seinem eigenen Willen zuwiderläuft. Nach außen hinterläßt seine Arbeit bedeutende Spuren, aber auch sie tragen nicht die Zeichen des Absoluten, sie sind bestenfalls Mittel für einen nicht gewollten Zweck.

Intuitives Schaffen aber ist zweckfrei, selbstlos, notwendig. Deshalb ist das Geschaffene auf jeder Stufe seines Entstehens abgeschlossen und vollendet wie die Schöpfungen der Natur. Man denke an das Beispiel des entstehenden meisterlichen Kunstwerks: Studie, Skizze, Untermalung, Torso erleben in jedem Augenblick des Heranreifens eine fertige, selbstberechtigte Existenz, die vollgültig bleibt, auch wenn der Prozeß des Schaffens vorzeitig abbricht.

Zweckhaftes Schaffen ist Frondienst; seine Freude liegt nicht in der Leistung, sondern in der Erledigung; das Produkt ist nicht Endziel, sondern neues Werkzeug und Mittel. Intuitives Schaffen ist in Wahrheit ein bewußtseinsvolle Fortsetzung des Schaffens der Natur, Schöpfung und Zeugung. Auch darin ähnelt der Vorgang dem Akt einer natürlichen Schöpfung, daß er Werke schafft, die aus eigenem Recht bestehen, die durch Würde und Vollendung ihre Existenz in sich selbst rechtfertigen. Sie sind einzige, nicht wiederholbare Abbilder des Erzeugers, Bilder seiner Seele, und indem sie in höchstem Maß individuell sind, sind sie dennoch Gesetz, und damit absolut.

Deshalb kann über das Wesen des wahren Kunstwerkes auf die Dauer keine Täuschung bestehen. Gesuchte Originalität ist ein transzendenter Betrug, denn sie unternimmt es, Seele zu erlisten. Niemals kann wahre Individualität dem Willen entspringen, weil der intellektuelle Wille typisch und unpersönlich ist wie alles Animalische. Die Kunst aller Intellektuellen ist die gleiche, wie die Kunst aller Katzen die gleiche sein würde. Und auch das Werk des Seelenvollen ist nur dann wahrhaft individuell, wenn der Schöpfer nicht der Neigung der Selbstliebe und Laune sich schrankenlos hingibt, sondern alle Kräfte daran setzt, das Wahre, das Objektive, das Absolute zu schaffen. REMBRANDTs Kunst ist deshalb unsagbar persönlich, weil er sich unsäglich mühte, ganz unpersönlich im Objektiven aufzugehen und sich selbst zu vergessen. Der junge Mensch, der sich eine individuelle Schrift anquält, wird albern und gekünstelt schreiben; begnügt er sich, mit gutem Willen den Buchstaben klar und objektiv richtig zu formen, so wird zu seinem späten Erstaunen ein Eigenes in seiner Schrift erscheinen. Denn die heimlichsten Kräfte, vor allem der Seele, können nur dann frei ausströmen, wenn der Wille durch Gegenkräfte gebändigt, seine Richtkraft verloren hat. Alle Inspiration verlangt Ruhe und Gleichgewicht des Geistes; wie sich Gestirne nur auf klarer Fläche spiegeln. Der wütende Hunger des Wollens muß schwinden, wenn die Seele vernehmen und erwidern soll.

Wiederum erscheint die Analogie mit dem Naturvorgang, indem das intuitive Schaffen ungewollt und unerzwingbar ist. Seine Triebkraft ist die Liebe, die sich so rückhaltlos in ein Anderes versenkt, daß das Gleichgewicht der Seele durch die einseitige Last gefährdet wird. Das Übermaß empfangender Liebe wird durch die gebende Liebe geheilt, alle Schaffenskräfte strömen ins Innerste zurück, und es entsteht aus zweifacher Liebe geboren das Werk von solcher Eigenmacht des Lebens, daß es dem Schoß entfremdet und verfeindet werden kann. Die Lust des Schaffens aber, die den Schmerz überwiegt, beruth im wiedergewonnenen Gleichgewicht der Seele, das um neue Kräftepaare bereichert ist.

Nicht helfend, eher hemmend und dennoch willkommen ist die Mitwirkung des Intellekts, sofern sie sich in Grenzen hält. Sie erweckt die Sorgen der Vergleichung, der Verdeutlichung und Einreihung, die, ohne Bedeutung, solange der schöpferische Mensch im Transzendenten verharrt, Realität gewinnen, sobald er aus eigener Freude die Menschheit zum Mitwirken und Mitempfinden aufruft.

Was hier gesagt ist vom intuitiven Produkt, trifft durchaus nicht allein das Kunstwerk, obgleich dieses das wahrhaft absolute Erzeugnis unseres Menschheitsstandes ist. Der Handwerker alten Schlages, der ein Gerät um seiner selbst willen und im Blick auf die Vollendung fertigt, ist im vollen Sinne Schöpfer. Daher die lebenswarme, handfeste Kraft, die den Werken alter Zünfte entströmt, wenn sie mit den sparrigen, falsch geputzten Artikeln der Zweckproduktion in einen Vergleich treten. Schöpfer ist ein jeder, der das Werk um des Werkes willen tut, und die Sache um der Sache willen liebt, mag er Tagelöhner, Krämer und Hausierer sein; Fronarbeiter ist, wer um Besitz, Ehre, Anerkennung, kurz um Löhnung wirbt, sei er Dichter, Philosoph, Staatsmann oder Feldherr.

Auch fordert die intuitive Schöpfung ansich keineswegs Genialität; und wiederum besteht Genialität keineswegs allein aus Intuition. Genialität, als höchste irdische Essenz, bedeutet vollkommenes Gleichgewicht intellektueller und intuitiver Kräfte. Wir kennen, was man auch sagen mag, kein Beispiel wahrhafter Genialität, die nicht mit souveräner Meisterschaft den Intellekt gehandhabt hätte, ohne ihn freilich zur Tragkraft des Lebens zu erhöhen. Reinste Intuition hingegen führt zum transzendenten, visionären und losgelösten Dasein; die Person Christi haben wir nicht das Recht als genial zu bezeichnen. Wollte man diese höchsten Erscheinungen ihrem Wesen nach benennen, so könnte man nur die Bezeichnung Göttlichkeit wählen.

Sollen wir zu einer zusammenfassenden Kritik der Seele schreiten, so wiederholen wir, daß ihre Kräfte nicht Fortsetzungen noch Entwicklungsstufen der Intellektualkräfte bedeuten. Die Kraft der Seele ist die höhere, insofern sie die Kraft des Geistes begreift, ohne von ihr begriffen zu werden. Sie ist irrational, insofern ihr an den Zwecken und Erfüllungen des animalischen Daseins nichts liegt; so daß sie geradezu diesem Dasein verhängnisvoll werden kann. Sie ist überirdisch, insofern sie ihre Erfüllung in sich selbst trägt und in diesem Sinne ist sie von höchster Realität und von eigenem Recht. Sie ist transzendent, indem sie über die sinnliche Erfahrung hinaus das das Gesetz in sich erlebt und intuitiv erschaut. Indem sie aber das erschaute Gesetz in die Welt hinabträgt, steigert sie das gemeine Dasein über ein intellektuelles Maß und erringt über den zweckhaften Intellekt auch die praktische Überlegenheit. Sie weist auf ein seliges und göttliches Leben und auf ein selbstvergessenes ruhendes Glück in sich selbst, der Intellekt jedoch, solange er konsequent und wahrhaft bleibt, kann nur Genüsse oder nüchtern geordnete Idealzustände versprechen, die nicht einmal Genüsse sind.

Noch stützt sie sich auf Sinne und Erscheinung. Aber sie erlebt in ihrer stärksten Existenz Augenblicke, welche ihr die Erscheinung unwesentlich, ja zweifelhaft werden lassen und ihr die Gewißheit innerer Sinne verleihen. Die gleiche anschauende Gewißheit, welche in Dingen der Welt die Geheimnisse entschleiert und den Intellekt zur verstumenden Folge zwingt, weist hier apodiktisch über die Grenzen des Faßbaren hinaus, und die Gewalt der Sehnsucht zwingt den Blick in eine weltlose Tiefe und Ferne.

Deshalb ist die Seele eine Kraft, die sich dem Absoluten nähert, und der wir vertrauen dürfen. Beschränken wir das Streben nach Erkenntnis auf die Kräfte des Intellekts, so spielen wir ein edles, weil einheitliches Gedankenspiel, das kritisch enden muß, weil der Intellekt über keine Kräfte verfügt, die über ihn selbst hinausweisen. Alles intellektuale Denken wird in letzter Linie zur Logik. Ist es uns um ein endgültiges, im höchsten Sinne praktisches, sachlich-intelligibles Erfassen zu tun, so dürfen wir nicht, um pedantischer Einheitlichkeit willen, die Kräfte der Seele ausschließen. Die Gefahr der Träumerei und mystischen Zerflossenheit tritt nicht ein, wenn wir uns davor hüten, Erlebnisse der Seele zu materialisieren und zu dogmatisieren. Ein derart kränliches Bedürfnis widerlegt sich selbst, denn es ist kein seelenhaftes. Die Seele hat keine Lust an Dogmen, Mythen, Symbolen und Wundern, obwohl sie das Gleichnis liebt, als welches ihr auch die Welt erscheint. Wundersucht ist höchste Zweckhaftigkeit und somit intellektueller Materialismus. Der Seele ist es nicht einmal um den Aufbau ihrer Ethik zu tun, obgleich sie die Schlüssel einer absoluten Ethik regiert; denn sie fühlt die eigene Gewißheit ihres Handelns im Anblick des Gesetzes. Wohl aber hat der bedürftige Intellekt das höchste Recht, von der Seele die ethische Lehre zu verlangen, die er mit wahrhaft eigenen Mitteln aufzubauen nicht vermag.

Ebensowenig ist es erforderlich und gerechtfertigt, der Religion das Gebiet der Seele zu überweisen. Religion sucht nicht Erkenntnis; weder intellektuelle noch intuitive; sie sucht Tröstung, Erbauung, Erhebung, Versöhnung und Erlösung. Ob sie sich nun der Mythen, der Dogmen, der Riten, Symbole oder Lehren bedient, bleibt sie Praxis und nicht einmal immer seelische Praxis. Die Seele mag sich noch lange reinster religiöser Formen bedienen, um göttliche Kräfte aus- und einströmen zu lassen; es will jedoch nicht unmöglich scheinen, daß seelische Einsicht dereinst alle Religion in sich aufnimmt und somit aufhebt. Niemals mehr kann das Umgekehrte geschehen, daß Religion alle seelische Intuition in sich faßt und ersetzt; ja ich wage zu glauben, daß in Wirklichkeit die religiöse Sehnsucht unserer Zeit nichts anderes bedeutet als eine intuitive Sehnsucht nach seelischer Gewißheit, die ihren wahren Ausdruck deshalb noch nicht gefunden hat, weil man immer wieder alles seelische Sehnen an die Mythologie und Dogmatik verwies. Daher die Ratlosigkeit tief empfindender Menschen, die zwischen dem Skeptizismus intellektueller Wissenschaft und dem immanenten Dogmatismus der Religion keine Heimat für die Erlebnisse ihrer Seele finden.

Wir haben, indem wir das wesentliche Inventarium unseres inneren Erlebens aufzunehmen suchten, wiederholt und nachhaltig in das Gebiet der Erscheinung hinübergegriffen. Der Gang der Darlegung wurde durch diese Exkurse aufgehalten, doch nicht beirrt. Denn nicht um Argumente und Erklärungen war es zu tun, sondern um das Ausklingen der gewonnenen Erfahrungen in die Welt des Gleichnisses. Im Echo der Erscheinung vernahmen wir verdeutlicht die Erkenntnis, die in diesen Satz gebunden werden soll: Kern unseres inneren Erlebens ist die Geburt der Seele.

Aus einem geheimnisvollen Urgrund, vom Animalischen losgelöst, nicht vollendet, aber der Vollendung zustrebend, steigt die Macht in uns empor und besitzt unser ganzes Wesen. Sie reißt uns von der zweckhaften Schöpfung los, um uns durch neue, geläuterte Bande mit ihr zu verknüpfen. Sie bindet uns jenseits alles äußeren Erlebens an ferne Mächte und schließt uns in eine höhere Gemeinschaft, die wir zu ahnen wagen.

Vor diesem Phänomen erstirbt alles frühere und gleichzeitige Erleben. Intellektuelle Analysen verblassen zu Spezialismen, wie akustische Experimente vor den Erschütterungen einer Symphonie. Das Gebiet der Seele wird das Allbeherrschende, und solange wir es nicht durchschritten und ermessen haben, bleibt alles Sinnen Vorbereitung und Exegese.

Das Gebiet des inneren Erlebens bleibt vorläufig mit dieser Evolution erfüllt und erschöpft. Vertiefung ist möglich und notwendig, Hinübersteigen undenkbar.

Deshalb ist es uns auferlegt, die innere Betrachtung zu beschließen und uns der Spiegelung zuzuwenden. Die Frage lautet: wie reiht sich das innere Ereignis der Seelengeburt in das Phänomen der Erscheinung? Wie entsteht und was bedeutet die Seele in der Welt des Gleichnisses?

Wir haben von dieser neuen Betrachtung keine Erklärung des geistigen Wesens zu erwarten, denn ein übergeordneter Begriff des Urphänomens ist nicht denkbar. Wohl aber dürfen wir hoffen, das Weltbild in veränderten Reihen sich zusammenschließen zu sehen, Analogien und Parallelen anzutreffen, die sich in einer mechanischer Formulierung ausdrücken lassen, Ausblicke und Rückwirkungen aufzuweisen, die dem praktischen Denken Halt und Ziel geben.

Wie die Evolution des erlebten Geistes unser Empfinden bekräftigt, so soll die Evolution des erschauten Geistes unser Denken und Entschließen führen und rechtfertigen.
LITERATUR - Walther Rathenau, Zur Mechanik des Geistes Berlin 1918