ra-2ra-2cr-3K. KautskyH. ArendtA. LiebertU. Linse E. Lederer 
 
GUSTAV LANDAUER
Revolution

"Wir kennen nur eine einzige wirkliche Revolution und das ist die Revolution, die mit der sogenannten Reformationszeit begonnen hat. Die Etappen dieser Revolution sind: die eigentliche Reformation mit ihren geistigen und sozialen Umwandlungen, ihren Säkularisationen und Staatenbildungen - der Bauernkrieg - die englische Revolution - der dreißjährige Krieg - der amerikanische Unabhängigkeitskrieg, weniger um seiner Vorfälle, als seiner geistigen Prozesse und Ideen willen, mit denen er den stärksten Einfluß auf das ausübte, was nun folgt: die große französische Revolution."

"Wir wissen von der Vergangenheit nur unsere Vergangenheit; wir verstehen vom Gewesenen nur, was uns heute etwas angeht; wir verstehen das Gewesene nur so, wie wir sind; wir verstehen es als unseren Weg. Anders ausgedrückt heißt das, daß die Vergangenes nicht etwas Fertiges ist, sondern etwas Werdendes. Es gibt für uns nur Weg, nur Zukunft; auch die Vergangenheit ist Zukunft, die mit unserem Weiterschreiten wird, sich verändert, anders gewesen ist."

"Wir müssen es uns abgewöhnen, vom  Altertum  zu sprechen, und sollen auch auf das erwürdigere Wort  Antike  Verzicht leisten. Neben und vor der griechisch-römischen Welt sind doch in Asien und Afrika genug andere große Kulturperioden für uns sichtbar, von denen keine einzige sich als irgendein Anfang oder ein Ende anfühlt; jede Zeit ist inmitten der Ewigkeit. Wir müssen diesen ganzen Zeitstandpunkt verlassen, wo immer frühere Zeiten zu uns her gravitieren."

"Alle Geschichte, alles Verstehen ist Abkürzung, Kondensation; Wissen kommt nicht durch bloßes Sehen zustande; es bedarf auch des Übersehens, wie das Leben das Vergessen ebenso braucht wie das Behalten."

Soziologie ist keine Wissenschaft; auch wenn sie es wäre, wäre die Revolution aus besonderen Gründen einer wissenschaftlichen Behandlung verschlossen.

Exakte Wissenschaft kommt so zustande: der kombinierte Sinnesverstand des Menschen erfährt Erlebnisse, die er in Konstruktionen des Seins umwandelt. Gedächtnis und Sprache kommen dazu und arbeiten in derselben Richtung weiter: ein neues Stockwerk von Konstruktionen des Seins wird aufgesetzt. So haben wir feste, isolierte Dinge als Träger allen Geschehens, Wirkens und Änderns, und als Behältnisse für sie oder auch als neue Selbständigkeiten Begriffe, Abstraktionen usw. Die Aufgabe der exakten Wissenschaft ist nun, dieses Sein, das um unserer Sinne und unserer Verständigung willen von uns geschaffen worden ist, wieder in Werden zurückzuverwandeln. Die Begriffe werden zertrümmert und flüssig gemacht, die Dinge schwirren unter dem Druck der Vergleichung und Besinnung auseinander wie Sonnenstäubchen: und siehe, es ist alles anders geworden, als Worte und Augen der Menschen gefabelt hatten. Exakte Wissenschaft ist also: Sammlung und Beschreibung aller Sinnesdata, periodisch erneuerte Kritik der Abstraktionen und Generalisationen, und darauf aufbauend: eine Gesamtkritik unserer scheinbaren Seinswelt, Schöpfung des Werdens, das als Erklärung der Substanzbehauptungen unseres Sinnesverstandes in Übereinstimmung mit unserer inneren Erfahrung gesetzt wird.

Anders steht es mit dem Gebiet, das ich im weitesten Sinn Geschichte nenne. Da gibt es nämlich als elementare Unterlage keinerlei Substanzen, Stoffe oder Dinge: von den Trägern aller Geschichte, nämlich den Körpern der Menschen, wird völlig abgesehen; sie kommen höchstens einmal in Betracht, wenn sie mißhandelt oder enthauptet werden. Sonst aber sind die Data der Geschichte Geschehnisse, Handlungen, Leiden, Beziehungen. Was also bei der Wissenschaft, von der wir sprachen, das letzte, schwer errungene Ergebnis ist: das Werden, das ist hier der allererste Ausgangspunkt. Allerdings müssen wir es, um von diesem Werden reden zu können, gerade so machen, wie es Sinne und Geist des Menschen für die Wahrnehmung taten: es werden Konstruktionen des Seins gebaut, und so sprechen wir von Mittelalter oder Neuzeit, von Staat und Gesellschaft, vom deutschen oder französischen Volk, als ob das Dinge oder Entitäten wären. Jede eingehende Beschreibung oder Ergründung führt uns aber immer wieder von diesen Konstruktionen zur Wirklichkeit zurück, zur elementaren Wirklichkeit unserer primitiven Erfahrung, in der wir selbst mitten drin stehen: zum Geschehen zwischen den Menschen, vom Menschen zum Menschen, von mehr oder weniger großen Menschengruppen füreinander oder gegeneinander, zum Geschehen der Vereinigung zu Zwecken usw. Kurz: die exakte Wissenschaft besorgt die Korrektur der Erfahrung; sie führt uns von der Erfahrung weg zu Abstraktionen des Geistes. Die sogenannte Geschichtswissenschaft dagegen kann uns, je feiner und raffinierter sie wird, zu nichts führen als immer wieder gerade zu den ersten Daten der Erfahrung zurück. Und die letzte Form der Geschichtswissenschaft, eben unsere Sozialpsychologie, ist die vorläufig raffinierteste Art, die Hilfskonstruktionen des Gedächtnisses in den Rohstoff der Erfahrung, d. h. in die elementaren Beziehungen von Mensch zu Mensch aufzulösen.

Da die Geschichte also keine Theoreme des Geistes schafft, ist sie keine Wissenschaft; sie schafft aber etwas anderes, nämlich Mächte der Praxis. Die Hilfskonstruktionen der Geschichte: Kirche, Staat, Ständeordnung, Klassen, Volk usw. sind nicht nur Instrumente der Verständigung, sondern vor allem Schaffung neuer Tatsächlichkeiten, Gemeinschaften, Zweckgestalten, Organismen höherer Ordnung. In der Geschichte schafft der schöpferische Geist nicht theoretische Erkenntnisse; darum ist es auch ganz recht und ist es bezeichnend, daß die Ausdrücke "Geschichte" und "Politik" ebenso das Geschehen und Tun meinen, das Aktivität ist, wie die Betrachtung, die passiv oder neutral sein will, meist aber nur latentes Wollen und Handeln ist. Wir haben im Deutschen ein gutes Wort für diese Konzentration und Beschauung: Vergegenwärtigung. In der Tat wird in aller Geschichte das Vergangene vergegenwärtigt, zur Gegenwart gemacht; der Engländer hat dafür das ebenso treffende Wort:  to realise,  das zugleich verwirklichen und betrachten heißt: in dieser  realisation  ist Vorstellung und Wille, Erkenntnis und Schöpferkraft vereinigt. Jeder Blick in Vergangenheit oder Gegenwart menschlicher Gruppierungen ist ein Tun und Bauen in die Zukunft hinein. Und ebenso ist die entgegengesetzte Richtung, die die seienden und lastenden Konstruktionen der Geschichte wieder in die Elemente des psychischen Ursprungs und damit in den Individualismus auflöst, nicht bloß in theoretischer Hinsicht kritisch, auflösend und destruktiv: sie zerstört vielmehr in der Praxis. So sind wir mit einem Mal, in dieser allerersten einleitenden Verständigung, mitten in unser Thema gesprungen. Die Aufgabe ist: die Erscheinung der Revolution vom Standort der sozialen Psychologie zu betrachten. Und nun finden wir: die Sozialpsychologie ist selbst nichts anderes als die Revolution. Revolution und Sozialpsychologie sind verschiedene Benennungen, und darum gewiß auch verschiedene Schattierungen der selben und nämlichen Sache. Auflösung und Zerschneidung der Gesamtheitsformen, der apotheisierten [vergötterten - wp] Gebilde durch den Individualismus: das ist Sozialpsychologie, das ist Revolution. Die Enthauptung KARLs I. und die Erstürmung der Bastille war angewandte Sozialpsychologie; und jede Untersuchung und Analyse der heiligen Gebilde und überindividuellen Formationen ist revolutionär. Die zwei Richtungen der Geschichtswissenschaft ergeben sich uns also als die zwei Tendenzen der geschichtlichen Praxis: auf der einen Seite der Aufbau von überindividuellen Gebilden und höheren Organisationsformen, die dem Leben der Individuen Sinn und Heiligung geben; auf der anderen Seite Zerstörung und Abschüttelung eben dieser Formen, wenn sie der Freiheit und dem Wohlstand der Individen unerträglich geworden sind. ROUSSEAU, VOLTAIRE, STIRNER waren, indem sie Sozialpsychologen waren, Revolutionäre; und so hat uns das erste scharfe Aufs-Korn-nehmen des Themas schon durch es hindurch und darüber hinaus geführt: denn die Aufgabe dieser Untersuchung soll nicht sein, Revolution zu machen, sondern über sie zu schreiben.

Fangen wir also von vorn an. Überdies war versprochen worden zu zeigen: auch wenn Geschichte oder Soziologie reine Wissenschaft sein könnten, wäre doch aus besonderen Gründen die Revolution nicht wissenschaftlich zu behandeln. Dies zu zeigen, wollen wir also zum zweiten Mal auf die Sache losgehen.

Der Beweis, daß etwas in einer bestimmten Form nicht behandelt werden kann, scheint am besten so geführt zu werden, daß man ehrlich und aufrichtig den Versuch macht und solange fortsetzt, bis es nicht mehr geht. Ich werde nun also im folgenden beginnen, streng wissenschaftlich und deduktiv von der Revolution zu sprechen, und der Leser ist gebeten, mir scharf auf die Finger zu sehen, ob alles mit rechten Dingen zugeht, da ich ja von vornherein bekenne, von der Aussichtslosigkeit des Versuchs überzeugt zu sein. daß es nur eine deduktive, nicht etwa eine induktive Wissenschaft geben kann, das zu erhärten wird man mir hoffentlich ersparen, obwohl nicht zu leugnen ist, daß bei weitem die meisten angeblich wissenschaftlichen Arbeiten nicht bloß unserer Zeiten recht unleidliche Gemenge aus Materialien und Sentiments sind. Also ohne weiteren Beweis: echte Wissenschaft ist deduktiv, weil sie intuitiv ist; die Induktioin und der Sammelfleiß solcher, die keine summarische Natur haben und die darum nichts können als zusammenzählen, können die summarische, generalisierende Intuition niemals ersetzen. Die wissenschaftliche Darstellung der Revolution muß alos vom allgemeinen Begriff ausgehen, darin bleiben und alle konkreten Einzelfälle in ihm erfassen.

Zunächst demnach muß eine wissenschaftliche Terminologie geschaffen werden. Denn unsere Ausdrücke stammen allesamt aus der Praxis der Einzelvorgänge und sind so wissenschaftlich nicht zu brauchen.

Auf welchem Gebiet tritt die Erscheinung der Revolution zutage?

Die Revolution bezieht sich auf das  gesamte  Mitleben der Menschen. Also nicht bloß auf den Staat, die Ständeordnung, die Religionsinstitutionen, das Wirtschaftsleben, die geistigen Strömungen und Gebilde, die Kunst, die Bildung und Ausbildung, sondern auf ein Gemenge aus all diesen Erscheinungsformen des Mitlebens zusammengenommen, das sich in einem bestimmten Zeitraum relativ im Zustand einer gewissen autoritativen Stabilität befindet. Diese allgemeine und umfassende Gemengelage des Mitlebens im Zustand relativer Stabilität nennen wir:  die Topie. 

Die Topie schafft allen Wohlstand, alle Sättigung und allen Hunger, alle Behausung und alle Obdachlosigkeit; die Topie ordnet alle Angelegenheiten des Miteinanderlebens der Menschen, führt Kriege nach außen, exportiert und importiert, verschließt oder öffnet die Grenzen; die Topie bildet den Geist und die Dummheit aus, gewöhnt an Anstand und Lasterhaftigkeit, schafft Glück und Unglück, Zufriedenheit und Unzufriedenheit; die Topie greift auch mit starker Hand in die Gebiete ein, die ihr nicht angehören: das Privatleben des Individuums und die Familie. Die Grenzen zwischen Individualleben und Familiendasein einerseits, der Topie andererseits sind schwankend.

Die relative Stabilität der Topie ändert sich graduell, bis der Punkt des labilen Gleichgewichts erreicht ist.

Diese Änderungen in der Bestandssicherheit der Topie werden erzeugt durch  die Utopie.  Die Utopie gehört von Haus aus nicht dem Bereich des Mitlebens, sondern des Individuallebens an. Unter Utopie verstehen wir ein Gemenge individueller Bestrebungen und Willenstendenzen, die immer heterogen und einzeln vorhanden sind, aber in einem Moment der Krise sich durch die Form des begeisterten Rausches zu einer Gesamtheit und zu einer Mitlebensform vereinigen und organisieren: zu der Tendenz nämlich, eine tadellos funktionierende Utopie zu gestalten, die keinerlei Schädlichkeiten und Ungerechtigkeiten mehr in sich schließt.

Auf die Utopie folgt dann eine Topie, die sich von der früheren Topie in wesentlichen Punkten unterscheidet, aber eben eine Topie ist.

Es ergibt sich das  erste Gesetz:  Auf jede Topie folgt eine Utopie und so immer weiter.

(Dies ist ein durchaus wissenschaftliches Ergebnis und auf dem richtigen wissenschaftlichen Weg gefunden; die Induktionserfahrung, die zugrunde liegt, ist, wie wir bald sehen werden, nur kurz und ohne rechten Umfang; Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, die wir ihm dreist zusprechen, gewänne es aber natürlich auch durch die reichste Erfahrung nicht. Die schafft ihm das intuitive Gefühl von der allgemeinen Menschennatur, das wir schon in die allgemeinen Begriffsprinzipien, von denen wir ausgehen, hineingelegt haben, und so steht es, und aus den nämlichen Gründen, ebenso fest, wie daß eins und eins zwei ist.)

Korollarium  [Zusatz - wp]: Die Topien und die Utopien sind einander an Zahl gleich.

Die Utopie ist also die zu ihrer Reinheit destillierte Gesamtheit von Bestrebungen, die in keinem Fall zu ihrem Ziel führen, sondern immer zu einer neuen Topie.

Revolution  nennen wir die Zeitspanne, während deren die alte Topie nicht mehr, die neue noch nicht feststeht.

Revolution ist also der Weg von der einen Topie zur andern, von eienr relativen Stabilität über Chaos und Aufruhr, Individualismus (Heroismus und Bestialität, Einsamkeit des Großen und armselige Verlassenheit des Massenatoms) zu einer anderen relativen Stabilität.

Bezeichnen wir die Topien mit  A, B, C  usw., die Utopien mit  a, b, c  usw., so führt der Weg der Geschichte einer Gemeinschaft von  A  über  a  zu  B  über  b  zu  C  und über  c  zu  D  usw. Da wir aber durch diese Bezeichnung verführt würden, irgendeine Topie als Anfang zu setzen, während ja viele Utopien und Topien vorausgegangen sind, bedienen wir uns zur Bezeichnung besser der mittleren Buchstaben des Alphabets. Also  M  über  m  zu  N  über  n  zu  O  über  o  zu  P  usw. Damit sind wir aber aus der Verlegenheit noch nicht heraus, und es erhebt sich eine neue, undurchdringlich scheinende Schwierigkeit. Es fragt sich nämlich, ob wir diesen Gang mit  A  oder mit  a  beginnen müssen? anders gesagt: ob an den Anfang dieser Menschheitsgeschichte der revolutionierende Gedanke oder die Gesellschaft zu setzen ist? Die Antwort wird sein, daß das Alphabet zwar für große und kleine Kinder mit  a  oder  A  beginnt, daß es aber für keinerlei Geschichte einen Anfang gibt; das liegt schon im Begriff des Geschehens, denn was anfangen kann, ist in sich beschlossen und zu Ende und hat keinerlei Fortgang oder Veränderung. Wir werden also weiter und weiter zurückgewiesen, und wenn wir in unerhörter Entfernung so etwas wie eine vormenschliche Geschichte gewahren, wird doch wohl auch da Festgesetztes und Aufruhr, Gemeinschaft und Individuum, Zentrifugal- und Zentripetalprinzip, oder wie immer man diese Polarität in der Bildung und Umbildung organischer und nicht nur organischer Naturen benennen will, noch dabei sein. Es handelt sich bei dieser schweren Frage also gar nicht um so etwas wie ROUSSEAUs  Contrat social,  auch nicht um die Dilettantenfrage der Alten, ob das Mitleben der Menschen  nomo  [durch Gesetz - wp] oder  physei  [von Natur aus - wp] gegründet ist und ebensowenig um die dilettantischen Lösungen der Darwinisten, sondern um einen dunklen Weltenort, der von allen Nebelproblemen der Erkenntnistheorie und Naturphilosophie umwittert ist: wer ihn erhellt, der bringt die beiden und damit Geist und Natur zusammen und zu eins. Dessen wollen wir uns nun nicht so nebenbei und im Vorübergehen unterfangen; wir sagen vielmehr: hier ist ein durchaus Unbestimmtes und Schwankendes, das wir auf sich beruhen lassen müssen, wenn wir wissenschaftlich weiterschreiten wollen. Wir tun das also, aber es ist uns lange nicht mehr so frecht und wohl wie zuvor; wir gehen auf unterwühltem Grund, ahnen, daß wir mit unserer Wissenschaftlichkeit bald ganz in die Brüche kommen, und lassen das  ABC  samt aller mathematischen Maskerade nun schon besser beiseite.

Jede Utopie, das ergibt sich aus dem bisher Gesagten, setzt sich aus zwei Elementen zusammen: aus der Reaktion gegen die Topie, aus der sie erwächst, und aus der Erinnerung an sämtliche bekannte frühere Utopien. Utopien sind immer nur scheintot, und bei einer Erschütterung ihres Sarges, der Topie, leben sie, wie weiland der Kandidat Jobs>, wieder auf.

Ebenso aber stecken in jeder Topie die siegreichen Elemente der vorhergehenden Utopie, die aus dem Willen zur Wirklichkeit geworden sind, und die erhalten gebliebenen Elemente aus der früheren Topie.

Damit jedoch ist das Wesen der neuen Topie nicht erschöpfend bezeichnet.

Auf den Bestand der neuen Topie wirkt nämlich vor allem ein neues Element, das wir in die Rechnung einführen müssen: die praktischen Erfordernisse aus der Epoche der Revolution. Daraus ergibt sich etwas, was so wichtig und allgemein gültig ist, daß wir ein zweites Gesetz darin finden.

Zweites Gesetz:  Die praktischen Erfordernisse des Mitlebens während der Epoche des revolutionären Aufruhrs und Übergangs bringen es mit sich, daß in der Form der Diktatur, Tyrannis, provisorischen Regierung, anvertrauten Gewalt oder ähnlichem sich während der Revolution die neue Topie bildet.

Erstes Korollarium:  Die neue Topie tritt ins Leben zur Rettung der Utopie, bedeutet aber ihren Untergang.

Zweites Korollarium:  Die praktischen Erfordernisse, die schließlich zur Gründung der neuen Topie führen müssen, sind nicht nur das durch die Revolution gestörte Wirtschaftsleben, sondern sehr häufig Eingriffe aus dem Bereich feindlicher Umwelt.

Denn wir dürfen uns ja die Gemeinschaft, die auf dem Kothurn [Trägödie - wp] der Revolution von Topie zu Topie schreitet, ebensowenig isoliert wie begonnen vorstellen; sie ist ringsum begrenzt von wieder Begrenzten, wie sie bewirkt ist von wieder Bewirkten, von Menschenorganisationen, soweit die Bünde der Menschen reichen, und im übrigen von der anderen Welt, deren Einflüsse und Bedingungen - für unseren Fall z. B. Mißernten, Naturkatastrophen wie das Erdbeben von Lissabon (1755), für andere Zeiten Kometen, Sonnenfinsternisse, Epidemien - oft von scharfer Bedeutung sind. Die Revolution neigt nun weiterhin ganz besonders dazu, einen allgemeinen Völkerbrand zu entzünden, Grenzen, die ja überhaupt nur fließende sind, zu durchbrechen usw. Und insbesondere will ja die Utopie unter anderem auch nationale und staatliche Beschränktheiten nicht dulden, sie will den idealen Zustand für die ganze Menschheit usw. In revolutionären Zeiten wird gar oft das Herz, das am Alten hängt, klein gemacht, und der Verstand macht sich groß; die Welt soll, wie HEGEL so spitz gesagt hat, auf den Verstand, d. h. auf den Kopf gestellt werden. In anderen Ländern oder Provinzen sind aber andere auf einer stabileren Stufe, bei denen je nachdem das Herz inniger oder die Dummheit größer ist. So greifen die bedrohten Nachbartopien um ihrer Erhaltung willen oder für die Erhaltung dessen, was ihnen wert ist, zu den Waffen oder sonst bedrohlichen Mitteln: aus der Revolution wird der Krieg oder ein langwieriger wirtschaftlicher Kampf zwischen Nationen und dergleichen. -

Die Utopie wird also überhaupt nicht zu äußeren Wirklichkeit, und die Revolution ist nur das Zeitalter des Übergangs von einer Topie zur anderen, anders gesagt: die Grenze zwischen zwei Topien.

Da indessen, wie oben gesagt, jede Utopie sehr stark das Moment der begeisterten Erinnerung an sämtliche bekannte frühere Utopien in sich birgt - man stelle sich vor, was sich in der Natur viel komplizierter verhält: jeder Wein erhält seine Gärung durch Hefe, die wieder aus Wein gewonnen wird und immer so weiter: so wäre dann jede Hefe neu und hätte doch die Wirklichkeit oder die Kraft oder die Erinnerung (das ist alles eins) jeder früheren Hefe in sich: so erwacht die Utopie, obwohl sie immer wieder untergeht, sich auflöst und im fremden, von ihr selbst zur Gärung und zur edlen Ruhe gebrachten verschwindet, immer wieder alt und neu - so lebt sie auch in der Zeit relativ stabiler Topien unterirdisch weiter und geht dazu über, aus diesem Erinnerungs-, Wollens- und Gefühlskomplex eine Einheit zu machen, die sie geneigt ist, mit dem Namen:  die Revolution  zu bezeichnen. Die Revolution in diesem Sinne ist nicht eine Zeitspanne oder Grenze, sondern ein Prinzip, das über weite Zeiträume hinweg (die Topien) immer weiter schreitet.

Wir haben vorhin das schroffe Hindernis, das die endlose Vergangenheit ohne irgendeine die Handhabe eines Anfangs unserem Wissenschaftsbau entgegenstellt, berührt und umgangen, weil wir noch weiter wollten; die andere Klippe, als die die unaufhaltsam erneuerte Umwelt im unendlichen Raum sich vor uns hintürmt, haben wir kaum genannt. Aber nun wird es nicht weiter gehen. Die Revolution in dem eben gesagten Sinn nämlich erklärt unsere Aufstellungen und Gesetze trotz ihrer strengen Gesetzlichkeit für falsch; denn sie sagt, sie sei ein Prinzip, das mit einigen Riesenschritten aus fernen Zeiträumen über die Jahrhunderte hinweg geht - in die Zukunft hinein.

Hier endet unsere wissenschaftliche Darstellung; sie scheitert an der Zukunft, von der wir nichts wissen, und nun erst tritt die Bedeutung der Vergangenheit, von der wir nichts wissen, recht hervor. Ich bezweifle nämlich durchaus nicht, daß die Zukunft für die Wissenschaft, die damit eins wäre mit der Praxis, genauso eine Aufgabe wäre, wie die Aufgaben der Mathematik lösbar sind und das Resultat ihrer Konstruktionen mit Gewißheit zu erwarten steht, wenn uns die Größen der Vergangenheit bekannt wären.

Hier scheitern wir zunächst an einem Punkt, wo wir nicht wissen: ist hier ein Tritt der über die Jahrhunderte her schreitenden Revolution oder nicht? Dieser Punkt ist das Zeitalter des Verfalls der Antike, das Heraufkommen nicht neuer, sondern ausgeruhter Völker, des Durchdringens des Christentums. Wir haben schon vorhin gesehen und eben wieder darauf gewiesen: ein Volk läßt sich nicht isoliert behandeln. Hier, an dieser Stelle, gewahren wir es mit Sicherheit. Wir müßten also noch einmal beginnen, müßten die Topie als allgemeine Form des Mitlebens vieler Völker definieren. Nehmen wir an, das würde glücken, so wie es nicht glücken kann, da wir nicht wüßten, wo ein Ende zu machen ist: wir kämen von den einen Völkergruppen zu den andern, und von da zu den Tieren und Pflanzen und metallischen Schlünden und könnten am Sternenwall nicht Halt machen: aber von all dem Unermeßlichen abgesehen, bescheiden wir uns mit der scheinbar so kleinen Frage (aber nicht aus Bescheidenheit, sondern weil im Kleinsten das Ganze, und in jeder Frage alle Fragen enthalten sind): hätten wir nun den gewaltigen Wendepunkt, den ich nannte, als ein Zeitalter der Revolutionen zu betrachten oder nicht? Aber selbst wenn darüber so völlige Klarheit herrschen würde, wie Dunkelheit waltet, selbst wenn wir über diesen Übergang vom Altertum zur neuen Zeit ganz im Reinen wären, der gar kein Übergang war, sondern ein frischer primitiver Beginn in ausgeruhten Völkerschaften, trotzdem natürlich alle Elemente der Antike noch da waren - -

Aber ich unterbreche mich. Wir kommen auf dieses Selbst wenn auf Umwegen wieder zurück. Ich muß erst sagen, was ich unter ausgeruhten Völkern verstehe. Mit Verlaub, man nennt sie gewöhnlich primitive, oder noch lieber Urvölker; wenn man freundlich ist, Wilde. Man glaubt damit irgendwie - man glaubt es nämlich nicht wirklich, wenn man auf die Sache ausdrücklich aufmerksam gemacht wird, man glaubt es nur damit, daß man solche Ausdrücke anwendet - man glaubt also - vieler Aberglaube ist wie ein Spiel und eine gefällige Konvention; man ist ja aufgeklärt und gar nicht veraltet, aber man hängt mit so viel Herzlichkeit am Überlieferten, Hergebrachten und Eingetrichterten; und so ist auch dieser Glaube eine Spielmarke, die von Hand zu Hand unbesehen weiter gegeben wird - man glaubt, diese Menschen stünden irgendeiner Entstehung besonders nahe. Man läßt es sich selbst ganz im Ungewissen, ob man etwa die Entstehung aus irgendeinem Tier, oder aus anderen Völkerschaften, oder die Zusammensetzung bisher isolierter Individuen - die es nie gegeben hat - zu einem Verband meint, oder ob man nur meint: diese Menschen befänden sich seit urlangen Zeiträumen in einem stationären Zustand annähernder Ursprünglichkeit. Es steckt in der dunklen Ausdrucksweise von all dem ein wenig. Wäre ich noch in der wissenschaftlichen Terminologie, so böte sich jetzt eine gute Gelegenheit, neue Gesetze aufzustellen. Zunächst das Gesetz: alle Menschen sind ihrer Vorfahrenkette nach gleich alt. Das ist ebenso wahr und aus dem gleichen Grund, wie der alte Scherz, daß die Unfruchbarkeit nicht erblich ist, ist ein tüchtiges Gesetz und genauso selbstverständlich wie die eben gesagte Binsenwahrheit und wie alle Gesetze, nachdem sie ausgesprochen sind, und genau so immer wieder vergessen und übersehen, wie alle Selbstverständlichkeiten. Die Menschen also reichen alle als Menschen in die Jahrhunderttausende zurück, im übrigen aber - sie waren nämlich auch, bevor sie Menschen waren, und sie waren auch, bevor unser Planet Erde war - in die völlige Unendlichkeit, die man sich immer noch ein bißchen unendlicher vorstellen könnte.

(Hier endlich läßt sich eine Zwischenbemerkung des Lesers nicht länger zurückhalten: diese Darstellung hier vermengt Sozialpsychologie mit Soziologie und beide mit der Geschichte - dann weicht sie zur Psychologie ab, und zur Erkenntnistheorie - und zur Nationalökonomie - und zu Metaphysik - und zu Biologie - und zur Kosmologie - und vom Hundertsten ins Tausendste. - Ich kann dagegen nichts sagen, möchte nur einem Entsetzen Ausdruck geben dürfen, das mich erfaßt, wenn ich nun daran denke, daß es tatsächlich Wissenschaftsbetriebe gibt, die nicht aus dem ihnen gesteckten oder von ihnen erwählten Bezirk wanken. Ein großes Verdienst der Versuche, eine neue Wissenschaftsdisziplin an der Grenze zwischen mehreren Wissenschaften anzusiedeln - ihr wahres Verdienst und oft ihr einziges - ist, daß sie diese Grenzen sprengen, daß sie neuen Kombinationen und Assoziationen, neuer Phantasie und Abstraktion Raum geben, daß sie die Disziplin und Schranke der Fakultäten zerbrechen. Und nun wieder zur Sache.)

Wie aber jeder Mensch aus der Tiefe der Zeit heraus aus dem Bodenlosen herkommt, so gestaltet er sich - er wie alle seine Vorfahrenglieder - auch aus der Weite des Raumes her aus dem Unaufhörlichen, Rastlosen und Unzähligen. Denn was sich Sichtbares, Sinnenmäßiges, Stoffliches an so einem Menschenleib findet, ist immer etwas anderes, von außen hereingekommenes, wechselndes: der Mensch ist Stoffwechsel und was ihn darüber hinaus zusammenhält, mit sich selber oder seinen Vorfahren (das ist eins) zusammenhält, ist eine Unsichtbarkeit, ein Formprinzip,  conscientia et causa sui  [Bewußtsein und Ursache aus sich selbst - wp], Gedächtnis: der  Archeus,  der ihn, der sich selber, der diesen Mikrokosmos, diese Unendlichkeitseinheit, diesen Weltgeist formt. Es ist so kein Unterschied und keine Trennung zwischen den Vorfahren, die ich bin, und den Vorfahren, die ich habe, und der Umwelt, aus der ich werde; und zwischen den Nachkommen, die ich bin, und den Nachkommen, die ich habe, und der Umwelt, zu der ich werde. Wohl aber ist ein Unterschied: zwischen mir und dir, wie zwischen Welt und Welt. Denn du bist nur mein winzig Teilchen und bist doch wie ich eine ganze Welt; und ich bin nur dein winzig Teilchen und bin doch wie du eine ganze Welt. Darum braucht es, wie die Welten durch die Brücken des Lichts verbunden sind, zwischen den Menschen des Geistes, der die Liebe ist, der die Formen des Mitlebens schafft, die Familie, die Herde, die Nation (Sprache, Sitte, Kunst), und der wiederum die starr gewordenen Formen, die Haß, Geistlosigkeit und Unbill erzeugt haben, in neuer Gemeinsamkeit sprengt. Das werden wir weiterhin sehen.

Wer das versteht, wird mir folgen, wenn ich diese Einsicht, die wir bald also weiter brauchen werden, auf unseren Fall anwende und sage, daß jeder einzelne Mensch eine Vergangenheit von ungezählten Völkern und von ungezählten Blütezeiten höchster, allerhöchster Kultur hinter sich hat. So z. B. die Hottentotten gehen in ihren Vorfahren auf Kulturperioden zurück, die wir zwar gar nicht kennen, von denen wir aber a priori behaupten, behaupten müssen, daß sie dann und wann, zehnmal, zwanzigmal - der Phantasie sind keine Schranken gesetzt, fragt die Geologen und die Chemiker - den höchsten Zeiten der Griechen oder der Ägypter an Kulturwert gleichgekommen sind. Wir wissen gar nichts davon, eben darum müssen wir es behaupten, weil jede andere Annahme, etwa die eines ständigen und zyklischen Fortschritts, völlig sinnlos wäre. Solche Völker oder Stämme nun nenne ich ausgeruhte. Alles was wir wissen, deutet eben darauf hin, daß es keinen Fortschritt in der Menschengeschichte als Ganzes gibt, sondern ein Aufhören bestimmter Kulturen durch Alter - nicht der Völker, das ist Unsinn, sondern der Kulturen für diese Völker - und durch Völkermischung. Der sogenannte Untergang eines Volkes ist natürlich kein Aussterben, sondern eine Völkermischung. Die Stämme und Völker schieben sich vielfach und unausgesetzt durcheinander, ineinander, übereinander und in diesen Geschieben sind alle gleich alt - die sinnlose Frage, ob die Menschheit "aus einem Paar entstanden" ist, bleibt hier ganz weg, denn auf jeden Fall sind alle Teile der Welt gleich alt, nämlich von immer und ewig - haben alle an der gleichen ehrwürdigen und großen Vergangenheit teil, werden alle von Zeit zu Zeit wie müde und ruhebedürftig und von Zeit zu Zeit wie primitiv, ursprünglich und neubeginnend.

Nun sehen wir klarer, und nun merken wir auch, daß wir den Hinkegang der Völkergeschichte über Topien und Utopien, Stabilitäten und Revolutionen nicht mechanisch in frühe Zeiten zurückverfolgen können. Da es keine geeinte Menschheit und kein isoliertes Volk gibt, wird das Zentrifugal- und Zentripetalprinzip, auf das ich früher hingewiesen habe, in viel komplizierteren Formen, und  diesen  ungeheuren Revolutionen gegenüber, auf die wir jetzt deuteten, und eine solche war für unser Urteil der Übergang von der Antike zur neuen Zeit in den Zeiten der Völkerwanderung, schrumpfen die sogenannten Revolutionen, die paar Geschehnisse, die wir als solchen benennen können, zu winzigen und ephemeren [flüchtigen - wp] Episoden zusammen. Jetzt also, nach dieser Zwischenbetrachtung können wir sagen: nein, das Heraufkommen des Christentums, der Untergang der Antike, die sogenannte Völkerwanderung, war nicht einer der Schritte der durch die Jahrhunderte wandernden Revolution. Das Christentum, dieses kleine Verfallsprodukt antiker Dekadenz und jüdischen Sektenwesens, hätte überhaupt keinerlei Bedeutung gewonnen, wenn es nicht auf die ausgeruhten Völker gestoßen wäre, für die es nichts kleines war, sondern eine ungeheure Überwältigung. PHEIDAS und SOPHOKLES waren ihnen nichts, weil sie Gipfel waren, Repräsentanten einer auf der Höhe stehenden Zeit. Eine neue Zeit erwächst aus der Dekadenz und ausgeruhter Entbehrung: da entsteht der Mythos, und nur wo Mythos wird, wird ein neues Volk.

Wohin also sollten wir denn die Schritte der Revolution in die Vergangenheit hinein verfolgen? Nach Rom und Hellas führt der Weg nicht weiter, an dieser Grenze ist ein Neubeginn, aber keine Revolution, und zwischen der alten und neuen Zeit ist kein einfacher Fortgang, sondern etwas ganz anderes.

Da haben wir also eine Menschheitsgeschichte von vielen Jahrhunderttausenden, die aber ganz etwas anderes ist, als was wir aus der kläglichen Erfahrung von zwei, drei Jahrtausenden, von denen wir auch das Beste nicht wissen, Geschichte nennen. Was wissen wir nun eigentlich von Revolutionen, um kühl und besonnen, referierend und analysierend davon reden zu können? Mit Revolutionen des Altertums wird nicht viel Staat zu machen sein; vor allem aber ist die Antike eine in sich abgeschlossene Entwicklung, die nicht ohne weiteres mit der neuen Reihe, zu der wir gehören, vergleichbar ist. Wohl ist die Menschennatur überall im Grunde dieselbe; aber die Grundlagen des Mitlebens sind völlig andere. Vor allem kommt in Betracht, daß die Völker der Antike aufrecht auf einer horizontalen Ebene standen und nach oben, zu den Göttern, gerichtet waren, während unser Leben in der Kurve, rings um den Erdball geht. Davon abgesehen - was also kennen wir von Revolutionen?

Die Antwort ist, daß wir nur eine einzige wirkliche Revolution kennen, womit nun aber nicht gemeint ist, daß die Revolution mit Riesenschritten durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch schreitet. Wir haben gezeigt, daß es in dieser sogenannten Menschengeschichte andere, größere Dinge als Revolutionen gibt, nämlich Kulturausgänge und Neubeginne. Die schreiten, wenn nicht von Ewigkeit zu Ewigkeit, so doch von Eiszeit zu Eiszeit. Sage ich dagegen: wir kennen überhaupt nur eine Revolution, so meine ich ein ganz konkretes Vorkommnis unserer eigenen Geschichte, ein Vorkommnis, in dem wir noch selbst mitten drin stehen, und ich meine, daß wir nicht imstande sind, über einen Vorfall, in dem wir noch selbst, wenn auch nur als stumme Hunde, agieren, Wissenschaft zu treiben. Denn alle wissenschaftliche Behandlung braucht doch wohl einen Standort außerhalb des betrachteten Gegenstandes.

Der Vorfall, von dem ich rede, ist die Revolution, die mit der sogenannten Reformationszeit begonnen hat. Die Etappen dieser Revolution sind: die eigentliche Reformation mit ihren geistigen und sozialen Umwandlungen, ihren Säkularisationen und Staatenbildungen - der Bauernkrieg - die englische Revolution - der dreißjährige Krieg - der amerikanische Unabhängigkeitskrieg, weniger um seiner Vorfälle, als seiner geistigen Prozesse und Ideen willen, mit denen er den stärksten Einfluß auf das ausübte, was nun folgt: die große französische Revolution. Es wird im ferneren gezeigt werden, daß die große französische Revolution nicht nur in Frankreich, sondern in Europa andauert und lebendig ist von 1789-1871 und daß das Jahr 1871 einen deutlichen und merkbaren Einschnitt bedeutet. Ich habe aber nicht die Kühnheit zu behaupten, damit sei die gewaltige Bewegung, deren Beginn ich ins 16. Jahrhundert setze, am Ende, erloschen versickert. Ich behaupte nur, daß wir jetzt gerade in einer kleinen Pause sind und es hängt ganz und gar von unserer Natur, von unserem Willen, von unserer inneren Macht ab, ob wir den Punkt, in dem wir stehen, als einen Wendepunkt, als eine Entscheidung betrachten oder als einen Ort größerer Flauheit und Ermattung. Die nach uns kommen, werden es wissen, das kann aber nur heißen: sie werden es anders wissen. Selbstverständlich leugne ich nicht, daß nach meiner eigenen Darstellung man im Zeitraum dieser vierhundert Jahre auch von mehreren Revolutionen und von immer wieder festgesetzten Stabilitäten sprechen kann. Man wird mir sagen, meine Konstruktion eines einheitlichen, untrennbaren, zusammengehörigen Verlaufs mit allerlei Auf und Ab und ohne daß er jetzt schon zu Ende wäre, sei eine Willkür. Ich kann nur erwidern, daß ich gerade das behaupte, daß ich nur hinzufüge, daß die geschichtliche Betrachtung all dieser Dinge unter dem Einfluß unseres Willens, unserer gegenwärtigen Zustände, mit einem zusammenfassenden Wort: unseres Weges steht. Ich behaupte sogar, daß unser geschichtliches Gedächtnis viel weniger von den Zufällen der äußeren Überlieferung und Erhaltung abhängt als von unserem Interesse. Wir wissen von der Vergangenheit nur unsere Vergangenheit; wir verstehen vom Gewesenen nur, was uns heute etwas angeht; wir verstehen das Gewesene nur so, wie wir sind; wir verstehen es als unseren Weg.

Anders ausgedrückt heißt das, daß die Vergangenes nicht etwas Fertiges ist, sondern etwas Werdendes. Es gibt für uns nur Weg, nur Zukunft; auch die Vergangenheit ist Zukunft, die mit unserem Weiterschreiten wird, sich verändert, anders gewesen ist.

Damit ist nicht bloß gemeint, daß wir sie je nach unserem Weiterschreiten anders betrachten. Das wäre zu wenig gesagt. Ich behaupte vielmehr aller Paradoxie zum Trotz ganz wörtlich, daß die Vergangenheit sich verändert. Indem nämlich in der Kette der Kausalität nicht eine starre Ursache eine feste Wirkung hervorbringt, diese wieder zur Ursache wird, die wieder ein Ei legt usw. So ist es nicht. Nach dieser Vorstellung wäre die Kausalität eine Kette hintereinander folgender Posten, die alle außer dem Letzten still und angewurzelt feststehen. Nur der Letzte geht einen Schritt vorwärts, aus ihm entspringt dann ein Neuer, der wieder weiter vorgeht und so fort. Ich sage dagegen, daß es die ganze Kette ist, die vorwärts geht, nicht bloß das äußerste Glied. Die sogenannten Ursachen verändern sich mit jeder neuen Wirkung.

Die Vergangenheit ist das, wofür wir sie nehmen, und wirkt sich dementsprechend aus; wir nehmen sie aber nach tausenden von Jahren als etwas ganz anderes als heute, wir nehmen sie oder sie nimmt uns mit fort auf den Weg.

Es muß noch etwas anderes gesagt werden, in einer anderen Betrachtung, die wir vorhin schon begonnen haben. Es gibt für uns zweierlei, durchaus verschieden formierte, zwei verschiedenen Bereichen angehörige Vergangenheit. Die eine Vergangenheit ist unsere eigene Wirklichkeit, unser Wesen, unsere Konstitution, unsere Person, unser Wirken. Was immer wir tun, die herüberlangenden und durchgreifenden lebendigen Mächte des Vergangenen tun es durch uns hindurch. Diese eine Vergangenheit manifestiert sich auf unendlichfache Art in allem, was wir sind, werden und geschehen. Unendlichfach in jedem Individuum, und wieviel unendlichfacher im Getriebe aller gleichzeitig Lebenden und ihren Beziehungen zu ihrer Umwelt. Alles was in jedem Moment überall geschieht, ist die Vergangenheit. Ich sage nicht, daß es die Wirkung der Vergangenheit ist; ich sage, sie ist es. Ganz etwas anderes aber ist jene zweite Vergangenheit, die wir gewahren, wenn wir zurückblicken. Man möchte fast sagen: die Elemente der Vergangenheit haben wir in uns, die Exkremente der Vergangenheit erblicken wir hinter uns. Nun ist wohl klar, was ich sage. Die Vergangenheit, die lebendig in uns ist, stürzt mit jedem Augenblick in die Zukunft hinein, sie ist Bewegung, sie ist Weg. Jede andere Vergangenheit, nach der wir uns umblicken, die wir aus Überresten konstruieren, von der wir unseren Kindern berichten, die als Bericht der Vorfahren auf uns gekommen ist, hat den Schein der Starrheit, kann sich auch nicht, da sie zum Bild geworden ist, keine Wirklichkeit mehr ist, fortwährend verändern. Sie muß vielmehr von Zeit zu Zeit, in einer Revolution der Geschichtsbetrachtung, revidiert, umgestürzt und neu aufgebaut werden. Und sie baut sich überdies für jeden Einzelnen besonders auf: jeder Einzelne gewahrt die Bilder anders, je nachdem die wirkliche wirkende Vergangenheit in seiner Brust ihn anders vorwärts treibt und zuwege schickt.

Was also von der Revolution bisher angedeutet wurde und jetzt weiterhin gesagt wird, ist Weg und will nichts anderes sein als Wegbereitung, kann auch nichts anderes sein. Mit ganz anderem Sinn und Mut als zu Anfang können wir nun also nach dieser Betrachtung wiederholen: treiben wir Sozialpsychologie, so treiben wir Revolution. Wir treiben sie, indem sie uns treibt. Die strenge wissenschaftliche Deduktion aber wollen wir fürs Erste beiseite lassen; nicht auf allzu lange freilich; nur bis zu nächsten Eiszeit.

Fangen wir also noch einmal von vorn an. Selbstverständlich soll nicht umsonst gewesen sein, was in unmöglicher Methode, aber in bitter ernster Meinung zur Ergründung des Wesens der Revolution gesagt worden ist. Was in uns an Kenntnis der Revolution ruht, der Begriff  Revolution,  wie er sich in der revolutionären Epoche, im Zeitalter des Übergangs, das man gewöhnlich  Neuzeit  nennt herausgestaltet hat, besagt in der Tat, daß wir in diesen Jahrhunderten aus einer relativen Stabilität am Stecken wechselnder Ideale in die andere und so immer weiter getappt sind. Vor diesem Alter des Übergangs, in dem wir uns noch befinden, gewahren wir aber eine Zeit großen Bleibens, starker Bestandssicherheit, einen Höhepunkt der Kultur, wie die Antike einer war: das sogenannte Mittelalter.

In unserer Wegbereitung gilt es also zunächst, diese ganze blöde Einteilung er sogenannten Weltgeschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit fortzuräumen. Es ist dringend nötig, daß man nicht nur Einsichten hat, sondern ihnen entspricht und gestorbene Namen und Wörter ein für allemal wegwirft. Es dürfte keinem anständigen Menschen mehr erlaubt sein, von Weltgeschichte zu reden, wenn er nur armselige Reste uns bekannter Geschichten von Menschenvölkern meint. Und wer von Altertum, Mittelalter und Neuzeit spricht, soll sich doch gegenwärtig halten, daß diese kindischen Benennungen soviel heißen wie: Anfang, Mitte und Ende, was noch klarer daraus hervorgeht, daß man die letzten zwei Jahrhunderte gewöhnlich die neueste Zeit nennt. Wir also sind das Ziel, auf das solche Anfänger wie PERIKLES, SOPHOKLES, JULIUS CÄSAR oder DANTE hingearbeitet haben. Oder zumindest war doch das Mittelalter die dunkle Zwischenstufe zwischen der ersten großen Zeit und der neuen Herrlichkeit. Sollte aber allenfalls auf diese Neuzeit, diese höchste Zeit des Menschen, noch etwas folgen, so wäre es gewiß keine Menschengeschichte; dazu sind wir schon zu hoch gestiegen; allenfalls könnte der Übermensch folgen.

Wir müssen es uns abgewöhnen, vom  Altertum  zu sprechen, und sollen auch auf das erwürdigere Wort  Antike  Verzicht leisten. Neben und vor der griechisch-römischen Welt sind doch in Asien und Afrika genug andere große Kulturperioden für uns sichtbar, von denen keine einzige sich als irgendein Anfang oder ein Ende anfühlt; jede Zeit ist inmitten der Ewigkeit. Wir müssen diesen ganzen Zeitstandpunkt verlassen, wo immer frühere Zeiten zu uns her gravitieren.

Wir täten also gut daran, gar keine zeitliche Benennung bei der Einteilung der Geschichten anzuwenden, weil die Kategorie der Zeit in unserem Geist zu sehr der Kausalität benachbart ist (der kantische Ausdruck steht hier nur der Kürze willen, damit ich nicht abschweifen muß; die Sache müßte aber besser gesagt werden, da diese Kategorien bloße Erfindungen der Schulgelehrsamkeit sind; auch hier tut eine Revision not (1); so sind wir immer in Gefahr, Vorgänger für Vorfahren, Vorfahren für Zurückgebliebene und eine zufällig bekannte winzige Spanne für ein Ganzes und Abgeschlossenes zu halten. Wir hätten ein richtigeres Bild von der Wirklichkeit, wenn wir alle uns bekannt gewordenen Völker geradezu als Zeitgenossen betrachten würden, die aber irgendwie, nicht kausal oder zeitlich, voneinander getrennt sind. Da die Menschheit zumindest etliche Jahrhunderttausende alt ist - so viel ist sicher; warum sie nicht noch viel älter sein soll, werde ich erst einsehen, wenn man mir den Grund dafür sagt - dürfen wir getrost die Menschen der paar lumpigen Jahrtausende, von denen wir etwas wissen, als gleichzeitig lebend ansprechen. Es soll sich also für diese Einteilung nicht um verschiedene, gründlich voneinander getrennte Epochen, sondern um verschiedene Modalitäten in dem kleinen Abschnitt der uns bekannten Menschengeschichte handeln. Nach dieser Einteilung unterscheiden wir:
    1. Die Fremdgeschichte
    2. Die Nachbargeschichte
    3. Die eigene Geschichte.
Die Fremdgeschichte ist die Geschichte der Assyrer, Perser, Ägypter, Chinesen, Inder, Uramerikaner usw. Wir nennen sie Fremdgeschichte, weil uns der lebendige Zusammenhang dieser Völke mit uns selbst und auch mit unseren gleich zu nennenden Nachbarvölkern noch nicht oder ganz ungenügend aufgegangen ist und weil sie daher auch noch keine oder keine entscheidende Renaissance in unserer eigenen Geschichte gehabt haben, wiewohl Ansätze zur indischen Renaissance, die FRIEDRICH SCHLEGEL schon im Beginn des 19. Jahrhunderts angekündigt hatte, allerdings vorhanden und wirksam sind. Die Nachbargeschichte ist die Geschichte der Juden und der Griechen und Römer. Sie sind Nachbarn der Völker des weiteren Europa, aber nicht ihre Vorfahren und auch nicht Vorbilder. Die griechisch-römischen Völker haben in ihrer Dekadenz ihre Leiber und ihren Geist den neuen Völkern, die aus einer Völkermischung hervorgingen, einverleibt, und das jüdische Volk hat ihnen ein mächtiges Stück ihres Geistes geschenkt, ist aber mit dieser Schenkung nicht wie Griechen und Römer selbst in die neuen Völker mit eingegangen, sondern hat sich langsam, im Lauf der Jahrhunderte, bei ihnen angesiedelt und dann allerdings, wenn auch mit viel Selbständigkeit, ihre Kulturentwicklung mitgemacht. Auch das Judentum hat, so paradox es klingt, sein christliches Mittelalter hinter sich, und die Juden der letzten Jahrhunderte gehen denselben Weg des Verfalls und Übergangs wie allen andern, gleichviel, ob sie noch einmal zu einem selbständigen Volkstum kommen oder nicht. Doch kommt für unsere Betrachtung das Schicksal der modernen Juden, deren Kultur verschlafen-traumhaft in die der anderen Völker hineingesprenkelt ist, nicht in Betracht; wir reden hier nur vom Verhältnis der alten Völker zu unserer eigenen Geschichte. So betrachtet sind Griechen-Römer und Juden nicht die Vorfahren unserer eigenen Geschichte; die Christenheit oder Europa bedeutet vielmehr einen neuen Beginn: ausgeruhte Völker haben Griechisches, Römisches, Jüdisches in sich gefressen, verdaut und in eine neue Kultur hinein Schritte getan. Der Verfall der griechisch-römischen Kultur, die Entstehung des Christentums bei den neuen Völkern - denn nur da ist das Christentum entstanden - im Zusammenhang mit der sogenannten Völkerwanderung bedeuten einen Abschnitt besonderer Art und einen neuen Beginn. Auch nicht Vorbilder nenne ich jene anderen Völker, weil wir trotz allen Renaissancen unseren eigenen Weg gehen; in jeder Renaissance ist noch die neu aufgetauchte alte Kultur wiederum von frischer, gesunder Kraft aufgesogen worden; und was an den sogenannten Renaissancen das Charakteristische war, ist immer nicht das griechisch-römische gewesen, sondern eine neu emporschießende Genialität in den Völkern. Nicht die klassische Antike hat uns jemals neue Kräfte gegeben; sondern die neuen, freigewordenen, losgelassenen Kräfte waren es, die jeweils wie in ein neues Element hineinsteigend (das die Gelehrten für den tiefen Brunnen des eigenen Ursprungs hielten) auch aus der Antike immer wieder Neues herausholten.

Mit aller Schärfe eben müssen wir trennen, was die Griechen-Römer und Juden für uns bedeuten, die wir von ihren Trümmern und Geschenken Neues gebaut haben, und was sie ihrer Zeit für sich selbst bedeutet haben. In dieser letzteren Hinsicht fassen wir eine feste, fertige, bestandsichere Kultur ins Auge, die nicht zu uns gehört, sondern stark und hoheitsvoll in der Fremde neben uns steht. Fremd und doch nicht so entlegen, daß wir sie mit jenen erstgenannten ganz Fremden zusammenwerfen dürften. Wir haben so viel von ihrem Blut und ihrem Geist aufgesogen, daß wir Männer wie PLATON, PHEIDIAS, HOMER, trotzdem sie uns als Fertige einer totgewordenen Welt gegenüberstehen, zwar nicht als verwandt, aber doch als Lebensähnliche empfinden. Darum nennen wir sie Nachbarn. Unsere eigene Geschichte steht dieser Nachbargeschichte etwa so gegenüber, wie innerhalb unserer eigenen Menschenwelt sich Franzosen und Deutsche als Nationalitäten gegenüberstehen: fremd, jede in sich geschlossen, aber benachbart.

Es ist noch hinzuzufügen - und dies erklärt uns erst, wie die Zeiten der Renaissance sich immer selbst aufs heftigste mißverstanden haben - daß eine wirkliche Verschmelzung zwischen griechisch-römischer Welt und unserer eigenen nur einmal hat stattfinden können, eben nur zwischen der griechisch-römischen Dekadenz und der ausgeruhten Frische und Gesundheit der neu erwachenden Völker. Oder besser gesagt: aus dieser Dekadenz, dieser gesunden Kraft und aus der Mischung des Geblüts der einen und der andern Völker entstanden die neuen Völker mit ihrer neuen, primitiv beginnenden Kultur; und wir können nicht anders, als uns die Entstehung neuer Völker und Ende und Anfang von Kulturen auch für frühere wie für kommende Zeiten so vorzustellen. Die Renaissancen dagegen, die zu den Höhepunkten der gestorbenen und aufgezehrten griechisch-römischen Kultur zurückkehren wollten, waren gelehrtenhafte Geschichtsirrtümer, vergleichbar dem ewigen Irrtum der deutschen Kaiser, die glaubten, immer noch die römische Kultur und den römischen Staat weiterzuführen. Sie hatten Recht, die Menschen jener Zeit, daß sie sich nicht als finsteres Mittelalter, überhaupt nicht als Mittler und Überleiter fühlten; aber sie hatten Unrecht, wenn sie manchmal den tiefen Riß nicht spürten, der sie von der römischen Kultur trennte. Und doch war der Kaiser nur insofern ein römischer Kaiser, als er sich vom römischen Papst abhängig machte. Die Griechen und Römer sind unsere Nachbarn, die ihren eigenen Weg bis zum Ende für sich gegangen sind; es kommen ab und zu Zeiten, wo es besonders wertvoll ist, daß wir uns nach entsprechenden oder ähnlichen Abschnitten jener fremdnachbarlichen Kultur umsehen, aber zu irgendeiner Rückkehr zu ihr, oder irgendeinem Wiedererwachen dieses Toten und Fertigen ist nie eine Möglichkeit. Was man in besonderem Sinn die Renaissance nennt, ist das Aufsteigen der Barocke, nämlich das Erwachen des Individualismus und Personalismus aus der Gebundenheit des Mittelalters, aber keineswegs das Wiedererwachen der griechisch-römischen Welt, das uns eine tote Gelehrtensprache (das mittelalterliche Latein war lebendig, und darum nicht klassisch), ein tödliches Recht und den toten ARISTOTELES brachte (auch ARISTOTELES war vorher lebendig gewesen). Hier haben wir keine kämpferische Rede gegen die überaus herrliche neue Kenntnis jener versunkenen Welt vor uns; sondern gegen die Versuche der Humanisten, sie wieder lebendig, in Wahrheit aber: das Lebendige mit diesem Tod tot zu machen. Man lese etwa nur, wie ein so prachtvoller Mann, eine so wahrhaft aus Banden erwachte Natur wie THEOPHRASTUS PARACELSUS, der mit seiner vollsaftigen Menschennatur auch den Weg zur Natur und zur Naturforschung gefunden hat, sich gegen die verweste Büchergelehrsamkeit dieser Humanisten zur Wehr setzt. Und wer die Geschichte der induktiven Wissenschaften kennt, der weiß, daß nicht die Wiedererweckung der Griechen und Römer sie hervorgebracht hat, wie denn überhaupt die echte Zeit der Renaissance viel mehr noch vom reinsten und tiefsten Mittelalter an sich hat als von der Antike. Aber auf diesem Gebiet ist noch viel umzudeuten und besser zu verstehen; hat man doch sogar so völlig mittelalterliche Menschen wie DANTE oder NICOLAUS CUSANUS der Renaissance zurechnen wollen, wie man auch überhaupt die Tendenz hat, alles im Mittelalter, dessen Lebendigkeit oder Übergangswert man nicht leugnen kann, als Vorläufer der Renaissance zu betrachten, insbesondere in romanischen Ländern.

Wir werden sehen, daß die Ordnung des sogenannten Mittelalters, dieser bisher einzigen Blütezeit unserer eigenen Geschichte, in einer Synthese von Freiheit und Gebundenheit bestand - wie jede Höhe einer Kultur darauf beruhen muß; als die Gebundenheit da erstarrt war und dort gesprengt wurde, überall aber Sinn und Heiligung zu verlieren anfing, reckte sich die Freiheit hoch empor, gedieh zur Stärke und überragenden Genialität der Person, zu Zügellosigkeit und Gewalttätigkeit. Das ist es, was man zunächst Renaissance nennt, und was keine Rückkehr zu Griechen und Römern war, sondern ein Verfall einer ersten Kulturhöhe und ein Übergang und ein Suchen nach neuen Formen. Daraus, aus diesem Verfall und aus dieser neu aufsteigenden Freiheit der Person, aus dieser Loslösung aus sozialer und geistiger Gebundenheit wurde dann, was sich mit der sogenannten Reformation deutlicher zu gestalten beginnt und was ich  Revolution  nenne: unser Weg, den wir heute noch gehen.

Unsere eigene Geschichte also ist die Geschichte der Völker Europas oder der Christenheit, die sich an die Geschichte der Mittelmeervölker zeitlich anschließt. Wir nennen diese Geschichte ganz einfach darum unsere eigene, weil sie noch nicht zu Ende ist; den Ausdruck Christenheit dürfen wir ruhig gelegentlich auch für unsere Zeiten anwenden, wenn wir uns dabei vor Augen halten, daß diese Christenheit von heute nichts mehr mit dem Christentum zu tun hat. Unsere Darstellung will gerade zeigen, daß die eine große Ära unserer eigenen Geschichte, die zu einem Gipfel der Kultur führte, das christliche Zeitalter ist, das man gewöhnlich  Mittelalter  nennt; diese Zeit des Christentums aber ist vorbei, und zu einer neuen Ruhe, zu einem Bleiben, zu einer neuen Höhe der Völker sind wir seitdem noch nicht gekommen. Erst wenn es einmal so weit ist, können die Menschen dann wissen, wie tief der Einschnitt ist, der von der Renaissance und Reformation an das christliche Zeitalter von dem, das noch keinen Namen hat, trennt.

Für unser Gefühl gehören wir mit der sogenannt mittelalterlichen Zeit, vor allem im Gegensatz zur griechisch-römischen Menschenwelt, eng zusammen. Nehmen wir irgendein Tafelbild aus der Zeit des Christentums, irgendein aus Stein gemeißeltes Menschenbild oder Ornament von einem gotischen Münster, und vergleichen wir diese primitivere Kunst mit einem klassischen Meisterwerk der Griechen; oder machen wir einen Gang etwa durch das bayerische Nationalmusem in München und versenken und in die Gerätschaften, in das Innere der Häuser aus der christlichen Zeit; oder vergleichen wir die Gestalten eines mittelalterlichen Mysteriendramas mit den großen Masken der griechischen Tragödie; oder  Hagen  und  Siegfried  mit  Odysseus  oder  Achilles;  oder die Minnelieder WALTHERs von der VOGELWEIDE oder HEINRICHs von MORUNGEN mit der Lyrik des ARCHILOCHOS oder des HORAZ: allüberall finden wir in der christlichen Menschenwelt Seele von unserer Seele, und bei den Klassikern erhabenen Tod und fremde Starrheit.

Was  Rationalismus  und Skeptizismus zum Glauben, zur Religion der christlichen Zeit sagen, darf uns hier bei dieser Rückschau nicht beirren und bestimmen. Rationalismus und Skeptizismus, die da sagen: das ist nicht ..., sind Pfade unseres Wegs vom christlichen Alter fort. Das Christentum sagte: das ist ..., es war für das Mitleben der Menschen einen Sinn, eine Heiligung; es war ein Wahn. Ich glaube, wir dürfen nach unseren Kenntnissen von früherer Geschichte, und noch mehr nach unserer Kenntnis unseres eigenen Menschenwesens ruhig sagen, daß allen großen Gestaltungen des Mitlebens der Menschen ein Wahn vorgeleuchtet hat, daß die Menschen immer nur der Wahn die Individuen zu höheren Organisationsformen und Gesamtheiten aufgebaut hat. Was unserem privaten Leben, unserem Familienleben Halt und Möglichkeit gibt, die Liebe, ist gerade so Wahn wie die Form lebendiger, leidenschaftlicher Liebe, die als Christentum einstmals gelebt hat. Es hat an Skeptizismus nicht gefehlt, die die privaten Glaubensvorstellungen der Geschlechtsliebe Unsinn und ihre Folgen blutig, mörderisch und verhängnisvoll genannt haben. Sie hatten ebenso Recht wie wir Skeptiker, die den Glauben des Mittelalter auf unserem Weg nach neuem Wahn kritisieren. Aber das hindert nicht, daß die Liebe die Liebe ist, und daß die Völker des christlichen Alters in ihrer Form der Liebe wohlgeborgen und verherrlicht waren. Dies spricht die Rückschau und die Gerechtigkeit; auch die Sehnsucht, nicht nach demselben Wahn, der unmöglich ist, sondern nach einem neuen - nur daß wir uns vorbehalten, uns gegen jeden Wahn mit Waffen oder Lachen zu wehren, weil keiner uns überwältigt.

Überwältigte aber waren die Menschen der christlichen Welt; überwältigt von Seele und Ehrfurcht und von metaphysischen Ahnungen von dem über das irdische Leben und Erfahren hinausgehenden Sinn der Welt. Man lese bei AUGUSTINUS etwa nach, wie die hochgebildeten Philosophen zu Kindern, die glänzenden Rhetoren zu Stammlern, die hohen römischen Staatsbeamten und Würdenträger zu Mönchen und Entsagenden wurden. Diese Menschen waren durchdrungen; und das Christentum ist die besondere Form des Glaubens, der Durchdrungenheit, daß dieser Welt keine Wirklichkeit zukommt, daß unser Leben ein Ziel, einen Sinn hat, der über alles irdische Leben, über alles Weltliche, über alles Materielle hinausführt. Die besondere Form dieser platonischen Lehre was das Symbol der Dreieinigkeit: wonach der Geist (der heilige Geist) und der Urgrund aller Dinge (der Vater) und der kreatürliche Mensch (der Menschensohn) ein und dasselbe sind. Alles Volk aber braucht zur Überwältigung nicht nur Symbol, Gefühl und Philosophie, sondern vor allem: Geschehnis, Anekdote, Beispiel, Epos. Darum ist mit dem Christentum als Volksreligion untrennbar verbunden die Erzählung vom einen und besonderen Menschensohn, der Gottessohn war und Mensch und Gott in sich verkörperte und vergeistigte; und dazu noch war der Himmel voll von den Scharen der Engel und die Erde voll von Helfern und Heiligen, Asketen und Einsiedlern, die schon im Leben wie die indischen Erweckten die Stofflosigkeit und die Dinglosigkeit und so die Wunschlosigkeit und so über die größte Leere die größte Fülle des Unsagbaren und die Einung mit Gott erreichten. Esoterisch ging die Lehre in ihrer Reinheit, eingehüllt und geborgen in einem Märchenmantel, durch die Zeiten weiter: daß die Menschen Gott werden und raumlos, zeitlos in den Abgrund der Erstheit versinken, wenn sie Geistige werden.

Dies ist, auf eine kürzeste Formel gebracht, der geistige Gehalt des Dogmas und des Mythos der christlichen Völker. Solche Lehren und Geschichten kommen, umrankt von allerlei krausen Wundertätereien, abergläubischen Berichten und einer wüsten Mischung aus Mystagogie und Materialismus, in einer alten, absteigenden, müde gewordenen Kultur hoch; allergeistigste Bedürfnisse tatloser Versunkenen mischen sich mit elender Hilfsbedürftigkeit haltloser und verstoßender Volksschichten. Ein PLATON, ein ARISTOPHANES, ein PERIKLES hätten sich mit Abscheu und fast physischem Ekel von dieser Madenbrut und unsauberen Hitze, von diesem Gemenge aus Verzagtheit und Ekstase, aus Dürftigkeit und Snobismus abgewandt.

Eine ganz andere Bedeutung aber erlangt ein solches faulendes Gärungsprodukt der Dekadenz, wenn es mit frischen, ausgeruhten Völkerschaften voller Lebenskräfte und formender, bauender, zusammenschließender Energien in Berührung kommt. Da ist es gerade so, wie wenn der Mist auf den Acker kommt.

Eine Stufe großer Kultur wird da erreicht, wo mannigfaltige Gesellschaftsgebilde, die ausschließlich sind und selbständig nebeneinander bestehen, allesamt von einem einheitlichen Geist erfüllt sind, der nicht in diesen Gebilden wohnt, nicht aus ihnen hervorgegangen ist, sondern als eine Selbständigkeit und wie etwas Selbstverständliches über ihnen waltet. Anders gesagt: eine Stufe großer Kultur kommt da zustande, wo die Einheit in der Mannigfaltigkeit der Organisationsformen und überindividuellen Gebilde nicht ein äußeres Band der Gewalt ist, sondern ein in den Individuen wohnender, über die irdisch-materiellen Interessen hinaus weisender Geist. Wir haben noch nicht das treffende Wort gefunden, das diesen Geist der Kalokagathia [Einheit von Güte und Schönheit - wp] für die Griechen bezeichnet; repräsentiert war er durch Götter und Kunst. Bei unseren Völkern ist der Geist repräsentiert durch den christlichen Kultus und das christliche Symbol. Über dem Acker, auf dem sie robust arbeiteten und über den Städten des Handwerks war die Bläue des Himmelsgewölbes ausgespannt: die Ewigkeit des Geistes und die Gleichheit und Göttlichkeit der Menschen, sofern sie auf seelenhaften Wegen in blaue Unendlichkeiten flogen. Die Romantiker, wie z. B. NOVALIS, haben es mit schönem Gefühl gewußt, daß das Blau die Farbe der Christenheit ist, diese Farbe, die mehr die Dunkelheit des Unwissens als das Licht der Erkenntnis zu bedeuten scheint, und die doch in Unendlichkeit da ist, wohin alle Sehnsucht geht und woher alles Licht fließt. Ein Bildnis der Muttergottes  Maria  kann man sich kaum vorstellen, das nicht irgendwie blau umsäumt wäre. Es ist gut, sich des Christentums als einer farbigen Lebensmacht bewußt zu sein und zu wissen, was seine Farbe ist. Je ferner wir dem Christentum stehen, umso deutlicher gewahren wir, daß es, als es lebendig war, kein farbloses Licht und kein düsteres Brüten war, sondern ein magisches Blau. Man denke auch daran, wenn man die Schriften der Denker jener Zeiten, von DIONYSIUS über MEISTER ECKHART bis zu NICOLAUS CUSANUS liest, und von jenem Unwissen vernimmt, das ein Überwissen ist, von jener Dunkelheit, die das überirdische und gar übergöttliche Licht ist. Nach einer solchen überirdischen Wirklichkeit streckten sidh wie wachsende Bäume die Steintürme der Münster in die Höhe; diese Wirklichkeit gab den Menschen die besondere Form ihrer Innigkeit, ihrer Sehnsucht, ihrer Leidenschaft und auslesenden Geschlechtsliebe; sie gab ihrem Antlitz, ihrer Haltung und allen Geräten und Formen, die sie schufen, die Seele; sie erfüllte all ihre Einrichtungen und Gesellschaftsgebilde mit gemeinsamem Geist.

Wenn man natürlich die kindliche Vorstellung hat, das Christentum, ein fertiges Lehrgebilde mit Antworten auf alle Fragen, sei Menschen gebracht worden, die wie Leere und ganz und gar Erfüllbare auf diese Bestimmung und Lösung wartend dagestanden wären, dann muß man einen klaffenden Widerspruch zwischen dem irdischen, tätigen, freudigen Leben und Bauen dieser Menschen und der Lebensfeindlichen Lehre finden. Solche abstrakte Reinheiten und Abgezogenheiten gibt es in keiner Wirklichkeit. Das Erste und Selbstverständlichste ist bei jedem jungen Beginnen, ist überall, wo nicht Abstieg und Verfall ist, das Leben, das sich in einer Fülle von Formen und Vereinigungen durchsetzt. Nirgends in der Wirklichkeit gibt es einen reinlichen Anfang oder abstrakte Konstruktionen. Als das Christentum zu den neuen, primitiv beginnenden Völkern kam, kam es schließlich doch zu solchen, die aus Überlieferung, aus Vergangenheit, und in organisierten Verkörperungen weiter lebten. Bei ihnen konnte es nichts anderes sein als eine Heiligung und Verklärung des mit frischer Kraft weitergehenden Mitlebens. Das Christentum war für diese Menschen und Völker nur eine Wahrheit in Bezug auf ihr privates und öffentliches Leben, auf ihr Arbeiten, Wachsen und Sichdehnen, das alles die Voraussetzung und das Erste War; hätte man dem Mitglied einer Gilde oder eines Sprengels [Amtsbezirk eines Bischofs - wp] gesagt, diese positiven, gestaltenden, Leben fördernden Verbände stünden in Widerspruch zum wahren Geist des Christentums, er hätte es nicht verstanden, und es wäre ein so alberner Mißverstand gewesen, wie wenn einer heute von einem modernen Physiker verlangen würde, er soll gefälligst die Atome seines Körpers zählen und einzeln auf den Tisch legen. Mit Analysen, Zerfaserungen und einer antithetischen Sprech- und Verstandesmethode kommt man den Wirklichkeiten des Lebens niemals bei.

Hier sei nun wiederholt: das christliche Zeitalter repräsentiert eine Stufe der Kultur, wo mannigfaltige Gesellschaftsgebilde, die ausschließlich sind und nebeneinander bestehen, von einem einheitlichen Geist durchdrungen eine in Freiheit sich zusammenschließende Gesamtheit vieler Selbständigkeiten darstellen. Wir nennen dieses Prinzip des Mittelalters im Gegensatz zum Prinzip des Zentralismus und der Staatsgewalt, das immer da eintritt, wo der gemeinsame Geist verloren gegangen ist, das Prinzip der Schichtung. Wir wollen nicht behaupten, es habe in der christlichen Zeit keinen Staat gegeben, obwohl sehr viel dafür spräche, daß man dieses Wort auf Einrichtungen wesensanderer Art nicht anwendete; aber jedenfalls hat es keinerlei Allgewalt des Staates, keinen Staat als Zentralform aller übrigen Formen der Gemeinschaft gegeben, sondern höchstens den Staat als unvollkommenes, verkümmertes Gebilde neben anderen, allermannigfaltigsten Gestaltungen der Gemeinsamkeit. Es waren vom Staat nur Überreste aus der römischen Zeit und kleine, neue Ansätze da, die erst in der Zeit der Auflösung und Revolution Bedeutung erlangten.

Die christliche Zeit wird repräsentiert nicht durch das Feudalsystem; nicht durch die Dorf- und Markgenossenschaft mit ihrem Gemeinbesitz an Grund und Boden und gemeinsamer Wirtschaft; nicht durch die Reichsversammlung; nicht durch Kirche und Klöster; nicht durch Gilden, Zünfte und Bruderschaften der Städte mit ihrer eigenen Gerichtsbarkeit; nicht durch die selbständigen Straßen, Sprengel und Kirchspiele dieser Städte; nicht durch die Städtebünde und Ritterbünde - und wieviel könnte noch an solchen ausschließlichen und selbständigen Gebilden aufgezählt werden: die christliche Zeit wird charakterisiert eben durch diese Gesamtheit von Selbständigkeiten, die sich gegenseitig durchdrangen, die sich durcheinander schichteten, ohne daß daraus eine Pyramide oder irgendeine Gesamtgewalt geworden wäre. Die Form des Mittelalters war nicht der Staat, sondern die Gesellschaft, die Gesellschaft von Gesellschaften. Und was all diese wundervoll mannigfaltig differenzierten Gestaltungen vereinbarte und nicht eigentlich zusammen, sondern nach einer höheren Einheit zu wie in die Höhe band, zu einer Pyramide, deren Spitze nicht Herrschaft und unsichtbar in den Lüften war, das war der Geist, der aus den Charakteren und Seelen der Individuen her in all diese Gebilde einströmte und von ihnen verstärkt wieder in die Menschen zurückströmte.

Einen Maßstab dafür, ob eine Zeit eine Blütezeit, eine Höhe der Kultur ist, werden immer die Künste abgeben. In einer Kulturblüte sind die Künste sozial und nicht individuell, sind sie wie um einen Mittelpunkt herum gruppiert und vereint, aber nicht isoliert, sind sie vor allem Repräsentanten der Zeit und des Volks, während sie in Zeiten der Auflösung und des Übergangs Produkte einzelner, vereinsamter genialer Naturen sind und nach der Zukunft oder wie nach einem geheimen, nicht vorhandenen Volk gravitieren. Eine solche Zeit der Fülle gebar die klassische Kunst der Griechen; einer solchen Zeit der Höhe gehörten auch die Künste im christlichen Bereich an. Die bildende Kunst und Malerei des Mittelalters war untrennbar mit der Architektur verbunden, war Baukunst, die die Sehnsucht und den Reichtum ihrer Zeit repräsentiert. Im Gegensatz zu einer solchen fast anonymen Gesamtheitskunst charakterisiert sich unsere Kunst als Sehnsucht reicher Individuen aus der Zeit heraus. Und war es für die christliche Ära die Baukunst, die aus dem Bau der Gesellschaft als Wahrzeichen emporragte, das Symbol vereinigter und lebendig erfüllter Volkskraft; so ist unsere Zeit repräsentiert durch die individuellste, melancholischste und klagendste aller Künste: die Musik, das Symbol des unterdrückten Volkslebens, des Verfalls der Gemeinschaft, der Vereinsamung der Größe. Man hat, in einem ganz anderen Zusammenhang, die Architektur gefrorene Musik genannt; in geschichtlicher Wirklichkeit jedoch ist die Musik aufgetautet, aufgelöste, zerflossene, nur noch individuell-seelisch erscheinende Baukunst. Die Architektur repräsentiert eine Wirklichkeit, die Musik die Zuflucht des Unbehausten und die Sehnsucht nach neuer Wirklichkeit.  Münchhausen,  der Erfinder, der keine wahre Wirklichkeit hat, sondern nur eine Phantasie und damit der Einsamkeit,  Münchhausen  ist der Typus unserer Zeit und unserer Künstler. Was er getan hat, als er seine Fabrik aus Luftsteinen errichtete, das tut die Musik; denn wenn die Architektur Gebäude aus Steinen aufrichtet, so baut auch die Musik herrliche, hochgetürmte Bauten und kühn geschwungene Wölbungen: aber aus bewegter Luft.

Die Plastik und Malerei, in der christlichen Zeit von der Architektur, den Kirchen, den Rathäusern, den Plätzen und Straßen, den öffentlichen oder privaten Repräsentationsräumen nicht zu trennen, repräsentierte damals die Gesellschaft, das Volk in seiner Schichtung und seiner Verbindung mit dem geistig-erhabenen Prinzip; dann trennte sich Malerei und Plastik vom großen Bau, wurde eine Expression genialer Individualität, schmückte aber wenigstens noch die Räume der "Gesellschaft", der fürstlichen, höfischen, adligen und bürgerlich-reichen Kreise. Heute hat sich die bildende Kunst schon beinahe ganz auch vom Wohnen der Privatmenschen losgelöst; das Gemälde und die Skulptur sind wie ein Gedicht in sich abgeschlossen als ein Produkt des Urhebers ohne Beziehung auf Empfangende; die Kunst ist nicht mehr ein Ausdruck derer, für die sie ist, sondern derer, von denen sie ist; und während eben in den Zeiten der Kulturhöhe Geber und Nehmer, Künstler und Publikum zusammengehörig, kaum getrennt waren, trotz der produktiven Genialität, die natürlich auch damals die Wenigen hatten und die Vielen nicht hatten, sind sie jetzt soweit voneinander, daß die Kunst nicht einmal äußerlich mehr einen Raum in der Gesellschaft hat, sodaß ein eigener Kunstort geschaffen werden mußte: das Museum.

Nicht anders steht es mit der Dichtung. Sie war in der christlichen Zeit überall zuhause, wo Menschen zusammen kamen: in der Kirche, im Rathaus, in der Versammlung, unter freiem Himmel, auf dem Schlachtfeld, bei der Arbeit, auf den Burgen der Ritter und an den Höfen der Fürsten. Jetzt ist sie da zuhause, wo ein Mensch sich in die Einsamkeit zurückzieht: im Buch. Oder man kommt allenfalls ausdrücklich und nur um der Dichtung willen zusammen. Hatte sich die Dichtung damals in das Leben eingereiht, so drängt man jetzt selten, zu besonderen Veranstaltungen das Leben zurück, um sich einem fremden Element, dem Dichter, hinzugeben. Etwas anders steht es mit dem Drama. Zwar gilt all das, was von den anderen Künsten und besonders der Dichtung gesagt wurde, auch von der öffentlichen Bühne der christlichen Völker und ihrem Mysteriendrama, das die Verbdingung des weltlichen Lebens mit dem Kultus herstellt, der wiederum selbst überall ins feierlich-dramatische wuchs; aber das Drame kam im Mittelalter nicht zu seinem Gipfelpunkt, erreichte vielmehr seine Höhe erst in der seltsamen adelig-bürgerlichen Sphäre der Nachblüte des Mittelalters in England. SHAKESPEARE hat daher seine Größe und die überragende Einzigkeit seiner Stellung, daß er in beiden Lagern zugleich steht: ganz und gar ist er schon das individuelle Genie der Einsamkeit und Volklosigkeit; und ganz und gar ist er dazu noch im Volk wurzelnd Repräsentant des Volkes und der Gesellschaft. Nur einer kann ihm verglichen werden und nimmt eine ähnlich einzige Stellung zwischen den Reichen ein: JOHANN SEBASTIAN BACH, dessen Musik wie eine Krone und Wölbung über einem Menschenvolk ist, die aber frei in der Luft hängt, weil das Haus darunter in Trümmer gegangen ist.

Will man die Kunst jener Zeit aus dem Gemeinschaftsleben und das Volksdasein aus der Kunst begreifen, dann erfülle man sich etwa mit den Worten, die ein mittelalterlicher Rat von Florenz erlassen hat:
    "Keine Werke sollen von der Gemeinde begonnen werden als solche, die entworfen sind im Einklang mit dem großen Herzen der Gemeinde, gebildet aus dem Herzen aller Bürger, vereinigt in einem gemeinsamen Willen." (2)
Derselbe Geist war es, der die großen Werke der christlichen Kunst (christlich muß sie mit Fug heißen, statt des sinnlosen Wortes  gotisch)  und die Gesellschaften der Christenheit aufgebaut hat. Daher kommt es, daß jemand, der von einem fast physikalischen Standpunkt aus die Gliederung und mechanische Lastenverteilung eines Münsters erklären will, wie in einem Symbol ein Bild der christlichen Gesellschaft gibt. Der Engländer WILLIS schreibt in einem Anhang zu WHEWELLs Geschichte der induktiven Wissenschaften:
    "Eine neue dekorative Konstruktion war heraufgekommen, die die mechanische Konstruktion nicht bestritt und störte, sondern ihr half und sie harmonisch machte. Jedes Glied, jeder Tragestein wird ein Träger der Last; und durch die Vielheit der Stützen, die einander Hilfe leisten, und die daraus folgende Verteilung des Gewichts war das Auge befriedigt von der Festigkeit der Struktur, trotz des sonderbar mageren Aussehens der einzelnen Teile."
Der Mann der Wissenschaft hat hier einfach das Wesen des christlichen Baustils schildern wollen; aber da er das Richtige, den wahren Gehalt dieses Stils getroffen hat, und da der Bau dieser hohen Zeit eine Zusammenraffung und ein Symbol der Gesellschaft ist, hat er in seinen Worten ohne Absicht ein Bild dieser Gesellschaft gegeben: Freiheit und Gebundenheit; Vielheit der Stützen, die einander Hilfe leisten.

Isolierte Individuen hat es gar nie gegeben; die Gesellschaft ist älter als der Mensch. Den Zeiten der Auflösung, des Verfalls und des Übergangs blieb es vorbehalten, so etwas wie isolierte und atomisierte Menscheneinzelne zu schaffen: Ausgestoßene, die nicht wissen, wohin sie gehören. Wer in der christlichen Zeit zum Leben erwachte, tat es nicht nur inmitten der vagen Allgemeinheit oder der kleinlichen Gemeinschaft der Familie: er war Mitglied der vielen Gruppierungen und Korporationen, die sich schichtweise durchdrangen und jede in sich selbständig blieben. Er war - als Städter - ein Mitglied seiner selbständigen Straße oder Gasse, dann der Sektion oder des Viertels, schließlich der Stadtgemeinde als Ganzer; für die Lebensmittel, die vom Land oder noch weiter her kamen, vor allem Salz und Getreide, sorgte die Stadt durch ihre Einkäufer oder durch festgesetzte Marktregulationen, die die Übervorteilung durch Aufkäufer unmöglich machten; er war Mitglied der Gilde, die gemeinsam das Rohmaterial kaufte, oft gemeinsam die Produkte verkaufte. Das Gericht der Gilde, seiner Zunftgenossen, urteilte über ihn, wenn es Streit oder Vergehen gab; mit der Gild zog er in den Kampf, mit der Gilde in die allgemeine Versammlung. Machte er etwa eine Reise zu Schiff, so bildete sich wohl spontan eine Schiffsgilde, wie uns von einem Kapitän berichtet wird, der auch einem Schiff der Hansa das Schiffsvolk und die Reisenden so anredete:
    "Da wir nun Gott und den Wellen überlassen sind, muß jeder dem andern gleich sein. Und da wir von Stürmen, hohen Wogen, Räubern und anderen Gefahren umringt sind, müssen wir eine feste Ordnung halten, damit wir unsere Reise zu einem guten Ende führen."
Und so erwählte man dann Vogt und Schöffen, und am Ende der Reise sprach der Obmann:
    "Was an Bord dieses Schiffes geschehen ist, müssen wir einander verzeihen und tot und dahin sein lassen. Was wir geschlichtet haben, war um der Gerechtigkeit willen. Deshalb bitten wir euch alle im Namen eines ehrlichen Gerichts, all die Feindseligkeit zu vergessen, die einer gegen den andern hegen kann, und bei Brot und Salz zu schwören, daß er nicht im Bösen daran denken will. Wenn aber irgendjemand sich für gekränkt hält, muß er zum Landvogt gehen und vor Sonnenuntergang von ihm Gericht begehren."
Wir brauchen nur solche Berichte aus Chroniken oder Predigten aus der christlichen Zeit oder den Sachsenspiegel und andere Weistümer [historische Rechtssprüche - wp] zu lesen, um lebendig zu fühlen: freilich gehen ein großer Teil unserer Institutionen auf jene Zeit zurück; aber heute sind sie tot, kalt, papieren und beziehungslos; damals waren sie zwischen den Menschen, oft für die Stunde oder den Zweck geschaffen, und gerade darum von ewiger Bedeutung. Der Geist schafft Gesetze; aber wenn die Gesetze geblieben sind und der Geist gewichen ist, - die Gesetze können keinen Geist schaffen und keinen Geist ersetzen.

Im Jahrhundert, in dem es nach HUTTENs Wort eine Lust zu leben war, weil die Geister erwachten, fing der Geist der christlichen Zeit an, dahin zu gehen. Das Christentum hörte auf, Beziehungen zum Mitleben der Menschen zu haben; es wurde Lehre, Glaube, weil es unglaublich geworden war, und man klammerte sich an den Buchstaben, weil die Tradition nur gelten kann, wo das Geistige Gemeingeist und Lebensenergie ist. Es kamen die genialen Einzelnen, die fremd und starr, mit zusammengerafftem Mantel, durch ihr Jahrhundert gingen; die aber trotzdem keine harmonischen, selbstsicheren, allseitigen Personen waren, sondern wie entwurzelt oder zerrissen oder einseitig gerichtet und vielfach haltlos und wie mit einer Lücke behaftet. Wie war gleich LUTHER, dieser wahrhaft dröhnende Mann, haltlos, armselig und wie durchlöchert in allem, was die Gesellschaft und die Gemeinschaft der Menschen anging. Es kamen die Zeiten des Individualismus in einem zweifachen Sinn: der großen Individuen und der atomisierten und preisgegebenen Massen.

Nun verlange ich von dem, der mir bis dahin willig gefolgt ist, daß er inne hält und für einen Augenblick der eigenen Versenkung von mir geht. Dieses Gerippe, das ich hier vom Mitleben der Menschen der christlichen Zeit hingestellt habe, erfülle er mit Blut und Leben; diese Begriffe und Stimmungen verwandle sein Schauen, sein Vergleichen mit irgendeiner von ihm gekannten, mitgemachten Wirklichkeit in eine Welt des Werdens, des Übergehens, des Niefertigseins, des Nebeneinanderhergehens vieler Mannigfaltigkeiten, des Unabsehbaren und Unentwirrbaren. Diese Tendenz, die ich finde und aufzeige, war nicht eigentlich so dürr, nackt und blutlos da; es war nichts da als Leben. Nur sage ich von diesem Leben, daß es für uns diese Bedeutung haben muß, die ich gesagt habe. Für uns, nach allem, was inzwischen geschehen ist, war das der Sinn der christlichen Zeiten: daß die Menschen, da Individuen, mit Flügeln der Sehnsucht waren; und daß diese Einzelsucht nach der Heiligkeit hin der Gesellschaft die Weihe, die Bestandsicherheit und die Selbstverständlichkeit gegeben hat. Wer mir einwenden wollte, dabei habe es aber auch die und die Formen des Feudalismus, des Kirchentums, der Inquisition, der Rechtspflege und dieses und jenes gegeben, dem kann ich nur sagen: ich weiß, trotzdem ... Alle Geschichte, alles Verstehen ist Abkürzung, Kondensation; Wissen kommt nicht durch bloßes Sehen zustande; es bedarf auch des Übersehens, wie das Leben das Vergessen ebenso braucht wie das Behalten.
LITERATUR - Gustav Landauer, Revolution, Frankfurt am Main 1907
    Anmerkungen
    1) Ich gedenke an dieser Stelle und könnte seiner an manch anderen gedenken, des großen Werkes von CONSTANTIN BRUNNER: Die Lehre von den Geistigen und vom Volk, dessen erster Band 1907 erschienen ist. - Hier will ich auch denen, die es wissen, sagen, daß ohne FRITZ MAUTHNERs große Arbeit der Sprachkritik viele Sätze dieser Schrift nicht so, wie sie sind, dastünden.
    2) Die Zitate entnehme ich PETER KROPOTKINs schönem Buch von der Gegenseitigen Hilfe, das ich übersetzt habe. Wer nicht viele und umfangreiche Geschichtswerke und Monographien studieren will, findet darin eine gute Zusammenstellung der Tatsachen aus dem Gesellschaftsleben des Mittelalters.