tb-4KropotkinGodwinBakuninK. Diehl    
 
PETER KROPOTKIN
Die wissenschaftliche Grundlage
des Anarchismus


"Es ist nicht möglich, eine gründliche Reform im Sinne politischer Gleichberechtigung und eine Beschränkung der Regierungsgewalt zu bewerkstelligen, solange die bürgerliche Gesellschaft in zwei feindliche Lager geteilt ist und solange der Arbeiter ein Sklave des Arbeitgebers bleibt."

Anarchismus, das regierungslose System des Sozialismus, hat einen doppelten Ursprung. Er ist das Endergebnis aus den zwei großen Gedankenbewegungen auf dem Feld der Ökonomie und Politik, welche unser Jahrhundert, und insbesodnere seine zweite Hälfte, charakterisieren.

Gemeinsam mit allen Sozialisten glauben die Anarchisten, daß das Privateigentum von Land, Kapital und Maschinerie seine Zeit gehabt hat und verurteilt ist, zu verschwinden; daß alle Erfordernisse der Produktion Gemeineigentum der Gesellschaft werden müssen und von den Produzenten des Nationalreichtums gemeinsam gehandhabt werden sollen. Gemeinsam mit den hervorragendsten Repräsentanten des politischen Radikalismus behaupten sie, daß das Ideal der politischen Gesellschaftsorganisation ein Zustand ist, in welchem die Funktionen der Regierung auf ein Minimum beschränkt sind und in dem das Individuum (der Einzelmensch) seine völlige Freiheit zur Initiative und zum Handeln erlangt, um - durch die Bildung freier Körper- und Genossenschaften - die unendlich verschiedenen Bedürfnisse des Menschentums befriedigen zu können.

Was den Sozialismus anbelangt, gelangen die meisten Anarchisten zu der letzten Schlußfolgerung, daß heißt zu einer vollständigen Aufhebung des Lohnsystems, oder zum Kommunismus, und in Bezug auf die politische Organisierung, durch eine weitere Entwicklung des obenerwähnten Teils des radikalen Programms, zu dem Schluß, daß das letzte Ziel der Gesellschaft eine Beschränkung der Regierungsfunktionen auf ein Nichts, das heißt eine Gesellschaft ohne Regierung: eine Anarchie ist. Ebenso behaupten die Anarchisten, daß - da ein solcher Zustand das Ideal einer sozialen und politischen Organisation ist - seine Herbeiführung nicht zukünftigen Jahrhunderten überlassen werden darf, sondern daß allein Änderungen, welche mit dem obigen doppelten Ideal übereinstimmen und sich ihm nähern, lebensfähig und ersprießlich sind für das Gemeinwohl.

Was nun die Methode betrifft, die der anarchistische Denker einschlägt, so weicht diese bedeutend von der von den Utopisten verfolgten ab. Der anarchistische Denker nimmt seine Zuflucht nicht zu metaphysischen Auffassungen (wie z. B. "Natürliche Rechte", "Pflichten des Staates" usw.), um den nach seiner Meinung nötigen Zustand für die größtmögliche Glückseligkeit der Menschheit herbeizuführen; nein, im Gegenteil, er folgt dem Pfad, den die moderne Entwicklungsphilosophie eingeschlagen hat, ohne sich jedoch auf dem schlüpfrigen Irrweg einer bloßen Analogie zu verlieren, welchen HERBERT SPENCER so oft gewählt hat. Er erforscht die menschliche Gesellschaft, wie sie jetzt ist und in der Vergangenheit war; und ohne weder dem Menschen im Allgemeinen, oder einzelnen Individuen im Besonderen, höhere Eigenschaften beizumessen, welche sie nicht besitzen, betrachtet er die Gesellschaft als nichts weiter als eine Anhäufung von Organismen, welche die besten Mittel und Wege zu finden trachten, um die Bedürfnisse des Einzelmenschen mit denen der Kooperation für die Wohlfahrt der Gattungen zu verbinden. Er erforscht die Gesellschaft und bemüht sich, ihre ökonomischen Bedürfnisse zu ergründen, und in seinem Ideal weist er nur darauf hin, in welcher Richtung sich die Entwicklung fortbewegt. Er unterscheidet zwischen den wirklichen Bedürfnissen und Bestrebungen der menschlichen Körperschaften und den vorübergehenden Krisen (ungenügende Einsicht, Wanderungen, Kriege, Eroberungen), die diese Bestrebungen an ihrer Verwirklichung hinderten oder sie zeitweise lähmten, und er folgert, daß die zwei bedeutendsten, obwohl oft unbewußten Bestrebungen während unserer ganzen Geschichte ein Bestreben nach Konsolidierung unserer Arbeit zur gemeinsamen Produktion allen Nationalreichtums gewesen sind, so daß die Unterscheidung des dem Individuum zustehenden Anteils an der Gemeinproduktion unmöglich wird, - und ein Bestreben nach vollster persönlicher Freiheit zur Verfolgung all der Ziele, die sowohl für ihn im Besonderen wie für die Gesellschaft im Allgemeinen ersprießlich sind. Daher ist das Ideal des Anarchisten nichts anderes als ein Aufsummieren dessen, was er für die nächste Entwicklungsphase hält, und dies hat aufgehört, eine Sache des Glaubens zu sein, es ist eine Sache der wissenschaftlichen Erörterung geworden.

In der Tat ist das Wachstum des Sozialismus und die schnelle Verbreitung sozialistischer Ansichten unter den Arbeiterklassen eines der charakterisierenden Merkmale unseres Jahrhunderts. Wie kann es aber auch anders sein? Wir sind während der letzten siebzig Jahre Zeuge eines beispiellos schnellen Wachsens unserer Produktionskräfte und mit ihnen einer Anhäufung von Reichtum gewesen, die die kühnsten Erwartungen weit übertroffen hat. Doch, Dank unserem Lohnsystem, hat diese Anhäufung von Reichtum, an welchem die vereinten Anstrengungen der Gelehrten, der Leiter, ebensosehr wie der Arbeiter Anteil haben sollten, ungehindert in die Hände der Kapitalisten einerseits und im vergrößerten Elend und einer Unsicherheit für die Existenz andererseits- das Los des Arbeiters - geendet. Die gewöhnlichen Arbeiter in ihrem beständigen Suchen nach Arbeit verfallen einer unerhörten Not, und auch die bestbezahltesten Handwerker und kunstfertigen Arbeiter, die zweifelsohne jetzt besser leben als früher, kämpfen unter einem beständig drohenden Geschick: infolge der unvermeidlichen und beständigen Schwankungen der Industrie und der Laune des Kapitals, in denselben Zustand wie der gewöhnliche Arbeiter geschleudert zu werden. Die Kluft zwischen dem modernen Millionär, der das Produkt menschlicher Arbeit in einem glänzenden und eitlen Luxus vergeudet, und dem Armen in seiner elenden und gefährdeten Existenz wächst daher mehr und mehr, zerbricht die Einigkeit der Gesellschaft, die Harmonie ihres Lebens und bedroht den Fortschritt ihrer weiteren Entwicklung. Zugleich sind die arbeitenden Klassen umso weniger geneigt, diese Teilung der Gesellschaft in zwei Klassen zu ertragen, als sie sich mehr und mehr der Reichtum erzeugenden Kraft der modernen Industrie und des Anteils, den Arbeit bei der Erzeugung des Reichtums hat, sowie ihrer eigenen Fähigkeiten zum Organisieren bewußt werden. Das Verlangen dieser Klassen wird im Verhältnis stärker und ihre Forderungen einer gesellschaftlichen Reorganisierung werden lauter und lauter, je mehr alle Klassen der großen Gesellschaft an öffentlichen Angelegenheiten einen lebhafteren Anteil nehmen und je mehr Wissen sich unter den Massen verbreitet. Es ist nicht mehr möglich, sie zu ignorieren. Der Arbeiter fordert seinen Anteil am Reichtum, den er produziert; er fordert seinen Anteil an der Leitung der Produktion, den er produziert; er fordert seinen Anteil an der Leitung der Produktion und er fordert nicht nur etwas mehr Wohlleben, sondern seine vollen Rechte an den höheren Freuden, die Wissenschaft und Kunst gewähren. Diese Forderungen, welche man früher nur von einem sozialen Reformator hörte, erschallen jetzt aus dem Mund einer täglich wachsenden Menge derjenigen, welche in der Fabrik und auf dem Feld arbeiten, und sie stimmen so sehr mit unserem Gerechtigkeitsgefühl überein, daß sie sogar Unterstützung in einer täglich wachsenden Menge, selbst unter den auserlesenen Klassen, finden. Sozialismus wird auf diese Weise zur Idee des neunzehnten Jahrhunderts und weder Zwang noch Scheinreform kann sein ferneres Wachstums aufhalten.

Man hoffte viel von der Ausdehnung der politischen Rechte für die Besserung der Lage arbeitender Klassen. Aber dieses Zugeständnis, nicht durch Änderungen in den national-ökonomischen Beziehungen unterstützt, erwies sich als trügerisch. Es verbesserte durchaus nicht materiell die Lage des großen Arbeiterelements und daher ist das Losungswort des Sozialismus: "Ökonomische Freiheit" die einzige Sicherheit und Grundlage für politische Freiheit geworden. Und solange das gegenwärtige Lohnsystem mit all seinen üblen Folgen unverändert bestehen bleibt, solange wird das sozialistische Losungswort fortfahren, die Arbeiter anzufeuern, und solange wird der Sozialismus auch fortwachsen, bis er sein Programm erfüllt hat.

Hand in Hand mit dieser großen Gedankenbewegung in nationalökonomischen Angelegenheiten ging eine gleichartige Bewegung, die sich mit dem politischen Recht, der politischen Organisierung und den Funktionen der Regierung beschäftigte. Die Regierung wurde derselben Kritik wie das Kapital unterworfen. Während die meisten Radikalen im allgemeinen Stimmrecht und in republikanischen Einrichtungen das letzte Wort politischer Weisheit sahen, gingen einige Wenige einen Schritt weiter. Die eigentlichen Funktionen der Regierung und des Staates sowohl als auch ihre Beziehungen zum Einzelmenschen wurden schärfer und eingehender kritisiert und da die Autoritätsregierung auf einem größeren Feld erprobt wurde als früher, kamen ihre Fehler mehr ans Licht. Man sah ein, daß diese Fehler nicht nur zufällige und vorübergehende sind, sondern im eigentlichen System liegen. Das Parlament und seine Exekutivgewalt erwies sich als unzugänglich, all die zahllosen Angelegenheit des Gemeinwesens im Auge zu behalten und die verschiedenen und oft so widersprechenden Interessen der verschiedenen Staatsparteien zu versöhnen. Die Wahl erwies sich ebenfalls als unzugänglich, die Männer zu finden, welche eine Nation vertreten und die Angelegenheiten, in denen ihnen eine Gesetzgebung zusteht, in einem anderen wie einem Parteigeist zu verwalten. Diese Mängel sprangen so in die Augen, daß die eigentlichen Prinzipien des Repräsentantensystems kritisiert und ihre Zulänglichkeit bezweifelt wurden. Aber noch mehr wurden die Gefahren einer zentralisierten Regierung erkannt, als die Sozialisten in den Vordergrund traten und eine weitere Verstärkung der Regierungsgewalt forderten, indem sie der Regierung die Verwaltung des ungeheureren Feldes,, auf dem die ökonomischen Beziehungen zwischen den Einzelindividuen lagen, anvertrauen wollten. Die Frage wurde aufgeworfen, ob nicht eine mit der Verwaltung von Handel und Industrie betraute Regierung eine stets Gefahr für Freiheit und Frieden werden würde und ob sie überhaupt fähig wäre, ein guter Verwalter zu sein.

Die Sozialisten der ersten Hälfte des Jahrhunderts erkannten die enormen Schwierigkeiten des Problems nicht. Überzeugt von der Notwendigkeit ökonomischer Reformen, wie sie es waren, übersahen die Meisten die Notwendigkeit der Freiheit des Einzelwesens; und wir haben soziale Reformatoren gehabt, die bereit waren, die Gesellschaft irgendeiner Art von Theokratie, Diktatur, ja sogar Cäsarentum zu unterwerfen, nur um eine - im sozialistischen Sinn - Reform zu haben. Daher haben wir in diesem Land wie auch auf dem Kontinent gesehen, wie sich die Männer fortschrittlicher Ansichten in zwei Parteien, politisch Radikale und Sozialisten, spalteten, von denen die Ersteren die Letzteren mit Mißtrauen betrachteten, da sie in ihnen eine Gefährdung der politischen Freiheit sahen, die von zivilisierten Nationen nach einer langen Reihe von Kämpfen errungen worden war. Und daher verbleibt auch jetzt, wo die Sozialisten über ganz Europa als politische Parteien auftreten und sich zum demokratischen Glauben bekennen, unter den unparteiischen Leuten die wohlbegründete Furcht: daß der Volksstaat eine ebenso große Gefahr für die Freiheit wie irgendeine andere Form von Autokratie ist, sobald seiner Regierung die Verwaltung der gesamten sozialen Organisation und die Erzeugung und Verteilung des Kapitals anvertraut wird. Die Entwicklung der letzten vierzig Jahre hat aber den Weg geebnet, die Notwendigkeit wie auch die Möglichkeit einer höheren Form sozialer Organisation nachweisen zu können, welche ökonomische Freiheit garantiert, ohne das Einzelwesen zum Sklaven herunterzudrücken. Den Urquellen der Regierung wurde sorgfältig nachgeforscht, und mit der Hintansetzung aller metaphysischen Auffassungen oder allen göttlichen oder "gesellschaftlichen Kontrakt"-Ursprungs fand man, daß sie bei uns verhältnismäßig neuen Ursprungs ist, und daß ihre Gewalt genau in dem Verhältnis zu einer Spaltung zwischen der privilegierten und nichtprivilegierten Gesellschaftsklasse im Laufe der Zeiten wuchs. Auch die Vertretungsregierung wurde auf ihren wahren Wert als eines der Instrumente, das Dienste gegen die Autokratie geleistet hat, jedoch keineswegs das Ideal einer freien politischen Organisation ist, zurückgeführt. Was nun jenes philosophische System betrifft, welches im Kulturstaat einen Führer zum Fortschritt sah, so wurde es mehr und mehr erschüttert, sobald man einsah, daß der Fortschritt weit wirkungsvoller ist, sofern ihn der Staat nicht beschränkt. Auf diese Weise wurde es einleuchtend, daß ein ferneres Vorwärtsdringen im sozialen Leben nicht in einer künftigen Konzentration von Gewalt und leitenden Funktionen in den Händen der Regierung, sondern in einer Entkonzentration und Dezentralisierung, sowohl räumlich wie funktionell, sowie in einer Unterteilung öffentlicher Amtsausübungen im Hinblick auf ihre Aktionssphäre wie auch auf die Beschaffenheit dieser Ausübungen liegt, das heißt ein Übertragen all dieser Funktionen, welche jetzt als Regierungstätigkeit angesehen werden, an die Gewalt frei konstituierter Gruppen.

Dieser Gedankengang fand seinen Ausdruck nicht nur in der Literatur, sondern auch, in gewissem Sinne, im Leben. Der Aufstand der Pariser Kommune, dem die Cartagener Kommune folgte - eine Bewegung, deren historische Tragweite in diesem Land scheinbar ganz übersehen wird - eröffnet einen neuen Abschnitt in der Geschichte. Analysieren wir diese Bewegung, nicht allein an sich selbst, sondern auch den Eindruck, den sie in den Gemütern und den während der Kommune-Revolution zutage getretenen Bestrebungen hinterließ, so müssen wir einen Fingerzeig erkennen, der uns ahnen läßt, daß in der Zukunft Menschenmassen, die in ihrer sozialen Entwicklung weiter voran sind, versuchen werden, unabhängig zu leben und die zurückgebliebenen Elemente durch ihr Beispiel zu bekehren, anstatt ihnen ihre Ansichten durch Gewalt und Gesetz aufzuzwingen, oder sich selbst der Autoritätsmeinung zu unterwerfen, die immer eine Mittelmäßigkeitsmeinung ist. Zu gleicher Zeit bewies der Mißerfolg der "Vertretungs-Regierung" (Regierung durch Vertreter) in der Kommune selbst, daß Selbstregierung und Selbstverwaltung weiter als in einem nur räumlichen Sinne ausgelegt werden muß; um praktisch wirkungsvoll zu sein, müssen jene Dinge auch mit Rücksicht auf die verschiedenen Lebensfunktionen innerhalb des freien Gemeinwesens ausgeführt werden. Eine einfach räumliche Beschränkung der Aktiossphäre der Regierung ist nicht genügend, da die Regierung durch Vertreter gerade so mangelhaft in einer Stadt wie in einer ganzen Nation ist. - Das Leben selbst gab also einen ferneren Anhaltspunkt zugunsten der Theorie von "Regierungslosigkeit" und dem anarchistischen Gedanken einen neuen Impuls.

Die Anarchisten erkennen die Gerechtigkeit beider eben erwähnter Bestrebungen nach ökonomischer und politischer Freiheit an und sehen in denselben zwei Offenbarungen ein und derselben Notwendigkeit für Gleichberechtigung, welche die eigentliche Essenz aller geschichtlichen Kämpfe bildet. Daher sagen die Anarchisten gleich allen Sozialisten dem politischen Reformator: "Es ist nicht möglich, eine gründliche Reform im Sinne politischer Gleichberechtigung und eine Beschränkung der Regierungsgewalt zu bewerkstelligen, solange die bürgerliche Gesellschaft in zwei feindliche Lager geteilt ist und solange der Arbeiter ein Sklave des Arbeitgebers bleibt." Andererseits aber sagen wir auch dem Volksstaatsozialisten: "Ihr könnten das bestehende Eigentumssystem nicht modifizieren, ohne zugleich die politische Organisation  gründlich  zu ändern. Ihr müßt die Regierungsgewalt beschränken und die Parlamentskontrolle (das Parlamentswesen) abschaffen. Jeder einzigen neuen ökonomischen Lebensphyse folgt eine neue politische Phase. Absolute Monarchie, ich meine Hofwesen, hat das serviele Dienertum zur Folge. Die Regierung durch Vertreter, d. h. eine Regierung, in welcher die Volksparteien durch gewählte Vertreter repräsentiert werden, hat das Kapitalwesen zur Folge. Beide sind Kastenwesen. In einer Gesellschaft jedoch, in der der Unterschied zwischen Kapitalist und Arbeiter verschwunden ist, braucht man eine solche Regierung nicht: sie wäre ein Anachronismus [umgekehrter Verlauf - wp], ein Unding. Der freie Arbeiter fordert eine freie Organisierung, und diese kann keine andere Grundlage als eine freie Übereinstimmung und eine freie Kooperation haben, ohne daß deswegen der freie Wille des Einzelwesens dem alles durchdringenden Hemmgeist des Staates geopfert zu werden braucht. Das nichtkapitalistische System schließt das Nichtregierungsystem in sich."

Daher ist das System der Anarchie mit seinen Zielen und Bestrebungen - den Menschen von der erdrückenden Gewalt der Regierung und des Kapitalismus zu befreien - nur der Zusammenfluß der beiden gewaltigen Gedankenströme, welche unser Jahrhundert charakterisieren.

Anarchie stimmt daher, wenn wir diese Schlußfolgerungen ins Auge fassen, mit den Schlußfolgerungen der Entwicklungsphilosophie überein. Indem die Entwicklungsphilosophie die Bildungsfähigkeit der Organismen beleuchtet, hat sie gezeigt, wie bewunderungswürdig sich jeder Organismus seinen Lebensbedingungen anpaßt, wie solche Fähigkeiten, welche das Anschmiegen der Massen sowohl an ihre Umgebung als auch der einzelnen Massenteile an die Erfordernisse der freien Kooperation vollkommen machen, sich entwickeln. Wir wurden mit der Tatsache vertraut, daß in der ganzen organischen Natur die Lebensfähigkeiten im Allgemeinen im Verhältnis zur Konsolidierung von Organismen zu größeren Massen wachsen, und die Idee, welche einige soziale Moralisten schon ausgesprochen hatten, zwang sich uns auf; die Idee, daß die menschliche Natur zur Vollkommenheit fähig ist. Diese Philosophie hat uns gezeigt, daß in der langen Dauer des Kampfes ums Dasein sich als "die Tauglichsten" diejenigen erweisen werden, welche intellektuelles Wissen mit praktischer Kenntnis, die notwendig ist, um Geld und Gut zu erzeugen, verbinden, und nicht diejenigen, welche jetzt die Reichen sind, weil sie oder ihre Vorfahren für den Augenblick die Stärkeren waren. Indem sie uns zeigte, daß der "Kampf ums Dasein" nicht allein im beschränkten Sinn eines Kampfes der Einzelwesen um die Subsistenzmittel, sondern in einem viel weiteren, nämlich dem der Anpassung aller Individuen der Arten an die besten Lebensbedingungen für die Überlebenden der Arten wie auch um die größtmögliche Summe von Leben und Glückseligkeit für alle und jeden aufgefaßt werden muß, hat sie uns gestattet, die Gesetze der Moralwissenschaft (Ethik) von den sozialen Bedürfnissen und menschlichen Gewohnheiten abzuleiten. Sie hat uns die unendlich kleine Rolle, welche das positive Gesetz in moralischer Entwicklung, sowie die unendlich große, welche das natürliche Wachstum opferfreudiger Gefühle spielt, die sich entwickeln, sofern nur zu ihrem Gedeihen günstige Bedingungen vorhanden sind, dargestellt. Auf diese Weise wies sie die sozialen Reformatoren auf die Notwendigkeit einer Umgestaltung der Lebensbedingungen hin, um den Menschen zu bessern, anstatt zu versuchen, die menschliche Natur durch menschliche Lehren zu verbessern, da das Leben in der Tat gerade nach der entgegengesetzten Richtung hin arbeitet. Schließlich, indem sie die menschliche Gesellschaft vom biologischen Standpunkt aus studierte, gelangte sie zu denselben Schlußfolgerungen, zu denen die Anarchisten durch das Studium der Geschichte und der gegenwärtigen Bestrebungen gekommen waren, daß ein zukünftiger Fortschritt in der Konsolidierung von Geld und Gut mit konzentrierter Arbeit liegt; beide sind verbunden mit der größtmöglichen Freiheit des Individuums.

Es ist kein rein zufälliges Zusammentreffen, daß HERBERT SPENCER, den wir als einen ziemlich tiefen Ergründer der Entwicklungsphilosophie betrachten können, zu dem Schluß geführt wurde, "daß die Regierungsform, zu welcher hin wir fortschreiten, eine solche sein muß, in welcher Regierungsgewalt zum denkbar möglichsten Minimum beschränkt und Freiheit dagegen in größtmöglicher Weise ausgedehnt werden wird." Mit diesen Worten, in denen er die Schlußfolgerung seiner synthetischen Philosophie denen AUGUSTE COMTEs entgegensetzt, gelangt er zu demselben Resultat wie PROUDHON und BAKUNIN. Ja, noch mehr; die eigentliche Methode seiner Argumentierungen und seine Erläuterungen (tägliche Befriedigung durch Nahrungsmittel, Postbüro usw.) führen HERBERT SPENCER zusammen mit den Schriften der Anarchisten. Der Gedankengang war bei beiden derselbe, ohne daß sie es merkten.

Wenn SPENCER fernerhin so gewaltig und sogar nicht ohne einen Hauch an Leidenschaft (in Anhang seiner dritten Ausgabe "Ethische Bemerkungen") argumentiert, daß die menschliche Gesellschaft sich einem Zustand nähert, in dem eine fernere Identifizierung von Opferfreudigkeit und Egoismus in dem Sinne Platz greifen wird, "daß ein persönlich freudiges Gefühl dem freudigen Gefühl der Anderen entspringen wird," wenn er sagt, "es ist eine vollkommen mögliche Sache, daß die Organismen sich den Anforderungen, die das Leben stellt, so anpassen, daß die für das allgemeine Wohl aufgewandte Energie nicht allein ausreicht, die persönliche Wohlfahrt zu erschüttern, sondern sie sogar so weit unterzuordnen fähig ist, daß sie der persönlichen Wohlfahrt keinen größeren Anteil läßt, als zur Aufrechterhaltung des persönlichen Lebens absolut notwendig ist" - sofern nur die Bedingungen für solche Beziehungen zwischen dem Individuum und dem Gemeinwesen aufrechterhalten werden - so leitet er vom Studium der Natur genau dieselben Schlüsse her, welche die Vorläufer der Anarchie, FOURIER und ROBERT OWEN, aus dem Studium des menschlichen Charakters zogen.

Wenn wir nun weiter sehen, wie BAIN so überzeugend die Theorie sittlicher Gewohnheiten ausarbeitet, wie der französische Philosoph GUYAU sein bedeutendes Werk über "Moralität ohne Zwang und Sanktion" veröffentlicht; wie JOHN STUART MILL die Regierung, bei der die Volksparteien durch Repräsentanten vertreten werden, so scharf kritisiert und das Freiheitsproblem diskutiert, leider ohne dessen notwendige Bedingungen festzusetzen; wie Sir JOHN LUBBOCK seinen bewunderungswürdigen Studien der Tiergesellschaften nachgeht, und wie MORGAN seine wissenschaftliche Untersuchungsmethode der Geschichtsphiloosphie anpaßt, - wenn, um kurz zu sein, jedes Jahr neue Argumente für die Theorie der Anarchie hinzufügt - so müssen wir anerkennen, daß diese, obgleich verschieden in ihren Ausgangspunkten, dieselbe gründliche Methode wissenschaftlicher Untersuchung verfolgt. Unser Vertrauen in ihre Schlüsse wird aber noch verstärkt. Der Unterschied zwischen den Anarchisten und den obengenannten Philosophen mag zwar sehr bedeutend sein, sofern wir die angenommene Entwicklungsgeschwindigkeit in Betracht ziehen und sofern wir die angenommene Entwicklungsgeschwindigkeit in Betracht ziehen und sofern wir die zu verfolgenden Mittel und Wege, nachdem einmal ein Einblick in die Ziele, welchen die menschliche Gesellschaft zuschreitet, gewonnen ist, betrachten, aber es ist kein Versuch gemacht worden, die Zeitmaße der Entwicklung wissenschaftlich zu bestimmen; ebensowenig hat die Entwicklungsphilosophie die Hauptelemente des Problems (den Gemütszustand der Massen) gehörig in Betracht gezogen, und wir wissen, daß, sobald es sich darum handelt, seine Taten mit seinen philosophischen Auffassungen in Einklang zu bringen, unglücklicherweise Wille und Einsicht zu oft durch eine Kluft getrennt werden, welche bloße philosophische Spekulationen, und mögen sie noch so tief und durchdacht sein, nicht ausfüllen.

Es besteht jedoch ein großer Unterschied zwischen den soeben genannten Philosophen und den Anarchisten in einem Punkt von ursprünglicher Wichtigkeit. Dieser Unterschied ist umso stärker, als er seine Entstehung in einem Punkt hat, der mit Zahlen an der Hand erörtert werden könnte und welcher die eigentliche Grundlage aller weiteren Deduktionen bildet, da er in das Fach gehört, welches biologische Gesellschaftslehre als "die Nahrungsphysiologie" beschreiben würde.

Es existiert eine von vielen Kreisen geteilte, irrige Ansicht, welche von SPENCER und vielen anderen aufrechterhalten wird, über die Ursachen des Elends, welches wir in unserer Umgebung sehen. Vor vierzig Jahren glaubte man - SPENCER und seine Schüler denken heute noch so - daß das Elend in zivilisierten Ländern in einer mangelhaften Produktion, oder besser in dem Umstand, "daß die Bevölkerung die Subsistenzmittel  bedrängt"  liegt. Es führt zu nichts, dem Ursprung dieser irrigen Darstellung von Tatsachen, den man übrigens ohne Mühe berücksichtigen könnte, nachzugehen. Er mag seinen Anfang in angeborenen falschen Auffassungen finden, die nichts mit der Entwicklungsphilosophie zu tun haben. Da er jedoch von Philosophen aufrechterhalten und verteidigt wird, so muß entschieden eine Verwirrung in den Auffassungen dieser Philosophen über die verschiedenen Züge des Kampfes ums Dasein vorliegen. Dem Unterschied zwischen dem Kampf solcher Organismen, welche nicht kooperieren, umd die Subsistzenzmittel herbeizuschaffen, und dem der anderen, welches dies tun, wird eine Verwirrung zwischen den Massen, deren Glieder ihre Subsistenzmittel im fertigen Produkt des Pflanzen- und Tierreiches finden, und denjenigen, deren Glieder künstlich ihre Subsistenzmittel hervorbringen und welche fähig sind (bis zu einem bisher unbekannten Betrag) die Ertragsfähigkeit jedes Fleckchens Erder auf der Erdorberfläche zu verstärken, vorfinden. Jäger z. B., welche einzeln für sich und nur um ihrer selbst willen jagen, und Jäger, die sich zu Jagdgesellschaften verbinden, stehen - soweit dies die Subsistenzmittel betrifft - gänzlich verschieden da. Aber der Unterschied zwischen Jägern, welche ihre Subsistenzmittel von der Natur so entgegennehmen, wie diese sie ihnen abgewinnen und alle Erfordernisse eines angenehmen Lebens durch eine Maschinerie erzeugen, ist bei weitem größer. Im letzteren Fall verstärken sich die Mittel - da der Vorrat an potentieller Energie in der Natur im Verhältnis zur jetzigen Bevölkerung der Erde nahezu unendlich ist - Nutzen aus dem Vorhandensein dieser Energie zu ziehen und zu vervollkommnen sich genau im Verhältnis zur Bevölkerungsdichte und zu dem früher aufgestauten Vorrat an technischem Wissen; so daß für solche menschliche Wesen, welche im Besitz wissenschaftlicher Erkenntnis sind und die zwecks künstlicher Erzeugung von Subsistenzmitteln kooperieren, gerade das von MALTHUS aufgestellte Gesetz, welches das Gegenteil behauptet, besteht. Die Aufhäufung von Subsistenzmitteln geht bei weitem schneller vonstatten als das Wachstum der Bevölkerung. Den einzig richtigen Schluß, den wir aus den Entwicklungs- und Vervielfältigungsgesetzen der Wirkungen herleiten können, ist der: daß sich der nutzbringende Betrag von Subsistenzmitteln im Verhältnis zur wachsenden Bevölkerung vermehrt, falls sie nicht künstlich (und zeitweise) durch Mängel der sozialen Organisation gehemmt wird. Was nun unsere Produktionskraft betrifft, so wächst diese noch schneller, da in ihr - mit dem Wachsen von Erkenntnis - die Mittel, sie auszudehnen, leichter werden und der erfinderische Geist durch alle früheren Erfindungen angestachelt wird.

Konnte der Trugschluß vom "Bedrängen der Subsistenzmittel durch die Bevölkerung" auch vor hundert Jahren aufrechterhalten werden, so ist dies heute nicht mehr möglich, da wir während der letzten hundert Jahre Zeuge der Wirkungen, die die Wissenschaft auf die Industrie ausübte, und des ungeheuren Wachstums unserer Produktionskraft gewesen sind. Wir wissen genau, daß, während die Bevölkerung in England von den Jahren 1844 bis 1883 von 16 Millionen auf 29 Millionen gewachsen ist, also um 62 Prozent, die Vermehrung des Nationalreichtums (wie die Liste  A  des Einkommenssteueraktes nachweist) doppelt so schnell gewesen ist; dies ist nämlich von 221 Millionen zu 507 Millionen, also um 130 Prozent, gewachsen. Wir wissen auch,, daß dieselbe Vermehrung in Frankreich stattgefunden hat, einem Land, in dem die Bevölkerung fast auf derselben Zahlstufe bleibt, und daß sich dieser Prozeß sogar noch schneller in den Vereinigten Staaten, wo die Bevölkerung in jedem Jahr durch Einwanderung wächst, vollzogen hat.

Die obenerwähnten Zahlen, obgleich sie das Wachsen der Produktion beweisen, geben trotzdem nur eine schwache Idee von dem, was unsere Produktion unter einer vernünftigen ökonomischen Regierung sein könnte. Wir wissen sehr wohl, daß unsere Kapitalisten, obwohls sie darauf hinarbeiten, mehr Waren mit weniger Arbeitskraft erzeugen, sich andererseits aber unaufhörlich bemühen, die Produktion zu beschränken, um zu einem höheren Preis verkaufen zu können. Sobald der Gewinn eines Unternehmers abnimmt, beschränkt der Kapitalist die Produktion oder stellt sie ganz ein und steckt sein Geld lieber in fremde Anleihen oder in Anteile an patagonischen Goldminen. Besonders heute gibt es eine Menge von Minenarbeitern in England, welche gern die Erlaubnis erhalten möchten, Kohlen hervorbeizuschaffen und die Häuser mit billigem Brennmaterial zu versehen, in denen Kinder bei leeren Kaminen vor Frost zittern. Tausende von Webern gibt es da, die gern weben möchten, umm die  Whitechapel ruggs  durch Leinenzeug zu ersetzen. Und so ist es mit allen Industriezweigen. Wie können wir von einem Mangel an Subsistenzmitteln sprechen, wenn nur allein in Großbritannien 246 Hochöfen und Tausende von Fabriken still stehen, und Tausende und Abertausende von Arbeitslosen allein in London herumlungern? Tausende von Leuten würden sich überglücklich schätzen, wenn es ihnen gestattet wäre, unter der Leitung eines erfahrenden Mannes den schweren Lehmboden von Middlesex in fruchtbares Ackerland umzuwandeln und die Wiesengründe, die jetzt nur einige Pfund Sterling an Heu liefern, mit reichen Kornfeldern und Obstgärten zu bepflanzen! Aber dies wird ihnen von den Grundbesitzern, von den Weberei-Eigentümers, von den Minenbesitzern verwehrt, welche es vorteilhafter finden, den Khediven mit Harems, die russische Regierung mit "strategischen Eisenbahnen" und mit Kanonen von KRUPP zu versehen. Natürlich, die Einrichtung von Harems macht sich bezahlt, es gibt dem Kapital zehn oder fünfzehn Prozent zurück, während die Produktion von Kohlen sich nicht so gut bezahlt, da sie nur drei oder fünf Prozent abwirft, und das ist ein hinreichender Grund, die Produktion zu beschränken und dem sogenannten Nationalökonomen zu erlauben, sich in Vorwürfen gegen "die Arbeiterklasse" ihrer zu schnellen Vermehrung wegen zu ergehen!

Hier haben wir Beispiele einer direkten und bewußten Produktionsbeschränkung, die in dem Umstand wurzelt, daß die Produktionsbedürfnisse einzelnen Wenigen zugehören, und daß diese Wenigen das Recht haben, damit nach ihrem Belieben zu schalten und zu walten, ohne sich um die Interessen des Gemeinwesens zu kümmern. Aber es gibt auch eine indirekte und unbewußte Produktionsbeschränkung - diejenige, welche ihren Sitz in einem schwelgerischen Verschleudern menschlicher Arbeitsprodukte hat, anstatt es zu fernerem Wachstum von Produktion anzuwenden. Diese letztere Beschränkung kann nicht einmal in Zahlen ausgedrückt werden; aber ein Gang durch die reichen Läden irgendeiner Stadt und ein Blick auf die Art und Weise, wie Geld heutzutage verschleudert wird, kann einen ungefähren Begriff dieser indirekten Beschränkung geben. Der reiche Mann, welcher tausend Pfund für seinen Pferdestall ausgibt, verschleudert fünf oder sechstausend Tage menschlicher Arbeit, welche unter einer besseren sozialen Organisierung benutzt werden könnten, die Armen, die jetzt gezwungen sind in Höhlen zu leben, mit einem trauten Heim zu versehen. Die Dame, welche hundert Pfund für ihr Kleid bezahlt, verschleudert - wir können nicht umhin, es so zu bezeichnen, wenigstens zwei Jahre menschlicher Arbeit, welche - wiederum unter einer besseren Organisierung, hundert Frauen mit anständigen Kleidern versehen könnten, ja sogar noch mehr, sobald dieselben zu einer weiteren Verbesserung der Produktionswerkzeuge angewandt würden. Die Prediger donnern gegen den Luxus, weil es abscheulich ist, Geld zu vergeuden, wenn Tausende in Ost-England mit sechs Pennies pro Tag leben und andere Tausende, welche nicht einmal die sechs Pennies haben. Aber der Nationalökonom sieht mehr als das in unserem modernen Luxus; er sagt, wenn er sieht, daß Millionen Arbeitertage jedes Jahr für die Befriedigung der albernen Eitelkeit der Reichen verschwendet werden, daß soviele Millionen von Arbeitern von der Fabrikation solcher nützlicher Instrumente abgezogen werden, die uns gestatten würden, unsere gegenwärtige Produktion von Subsistenzmitteln und Anforderungen an die Annehmlichkeiten des Lebens zu verzehn- ja zu verhundertfachen.

Kurzum, wenn wir sowohl das wirkliche wie mögliche Wachstum unseres Nationalreichtums, die direkte wie indirekte Produktioinsbeschränkgung, Dinge, welche unter unserem jetzigen Verwaltungssystem unvermeidlich sind, in Betracht ziehen, müssen wir zugestehen, daß die vermeintliche, "Bedrängnis der Subsistenzmittel durch die Bevölkerung" ein bloßer Trugschluß ist, der wie viele andere Trugschlüsse wiederholt wurde, ohne ihn einmal für einen Moment einer Kritik zu unterwerfen. Die Ursachen der gegenwärtigen sozialen Krankheit müssen anderswo gesucht werden.

Nehmen wir ein zivilisiertes Land an. Die Wälder sind ausgerottet, die Sümpfe entwässert. Tausende von Eisenbahnen und Verkehrswegen durchschneiden es nach allen Richtungen. Die Flüsse sind schiffbar geworden und die Häfen leicht zugängllich. Kanäle verbinden die Meere. Die Felsen sind durch tiefe Gänge durchbrochen. Tausende von von Fabriken breiten sich über das Land aus. Wissenschaft hat den Menschen gelehrt, sich die Kraft der Natur zur Befriedigung seiner Bedürfnisse zunutze zu machen. Städte sind im Lauf der Zeiten aufgeblüht und die Schätze der Kunst und Wissenschaft haben sich in diesen Zentren der Zivilisation aufgehäuft. Aber wer hat all diese Wunder bewirkt?

Die vereinten Anstrengungen vieler vieler Generationen haben zur Herbeiführung dieser Resultate beigetragen. Die Wälder sind vor Jahrhunderten ausgerottet worden. Millionen von Menschen haben durch Jahre hindurch ihre Arbeitskrat an Trockenlegung der Sümpfe, Absteckung der Wege, an Eisenbahnbauten gesetzt. Andere Millionen haben Städte gebaut und die Zivilisation geschaffen, mit der wir uns jetzt so brüsten. Tausende von Erfindern, die meisten uns unbekannt, die meisten in Armut und Vergessenheit verdorben, gestorben, haben das Maschinenwesen bis zur Höhe emporgearbeitet, daß wir heute unseren eigenen menschlichen Genius darin bewundern. Tausende von Schriftstellern, Philosophen und Gelehrten unterstützt durch viele Tausende von Schriftsetzern, Druckern und anderen nach Legionen zählenden Arbeitern haben dazu beigetragen, Kenntnis und Wissenschaft auszuarbeiten und auszudehnen, die Irrtümer zu verjagen und jene wissenschaftliche Gedankenatmosphäre zu erzeugen, ohne welche die Wunder unseres Jahrhunderts nimmer ans Licht gelangt wären. Das Genie eines MAYER, eines GROVE, die mühevolle geduldige Arbeit eines JOULE haben gewiß mehr zu einem neuen Aufblühen der Industrie beigetragen, als alle Kapitalisten der Welt! Aber auch diese genialen Männer waren selbst wiederum nur die Kinder der Industrie; viele Tausende von Maschinen mußten erst Wärme in mechanische Kraft und mechanische Kraft in Klang, Licht und Elektrizität umwandeln - und lange lange Jahre hindurch, täglich unter den Augen der Menschheit mußte solches geschehen - ehe einige unserer Zeitgenossen den mechanischen Ursprung von Wärme und der Wechselbeziehungen der physischen Kräfte bekannt machten und ehe wir fähig waren, ihren Worten zu lauschen und ihre Lehren zu verstehen. Wer kann sagen, wie viele Jahrzehnte uns noch die Theorie, welche jetzt unsere Industrie völlig umgestaltet, ohne die erfinderische Kraft, ohne das Geschick jener unbekannten Arbeiter, welche die Dampfmaschine in einer Weise verbesser und alle ihre Teile zu einer Vollkommenheit gebraucht haben, daß die Dampfkraft jetzt lenkbarer als ein Pferd und der Gebrauch der Dampfmaschine fast universal geworden ist, verborgen geblieben wäre. - Wer kann es sagen? Und genau dasselbe läßt sich auch von dem kleinsten Teil unserer Maschinerie sagen, da wir in jeder einzelnen Maschine, wie einfach sie auch sein mag, eine ganze Geschichte, eine lange Geschichte von schlaflosen Nächten, Jllusionen und Freuden, sowie teilweisen Erfindungen und teilweisen Verbesserungen, die ihr das gegenwärtige Gepräge gegeben haben, lesen zu können. Gewiß, fast jede einzelne Maschine ist die Summe, das Resultat von Tausenden teilweisen Erfindungen, nicht allein in einer bestimmten Abteilung des Maschinenwesens, sondern in allen Abteilungen auf dem weiten Feld der Mechanik.

Unsere durch Wege verbundenen und mit allen bevölkerten Teilen der Welt in bequeme Verbindung gesetzten Städte sind das Werk von Jahrhunderten; und jegliches Haus, ein jeglicher Laden, jede Fabrik findet ihren Wert, ihre eigentliche  raison d'etre  [Daseinsberechtigung - wp], in der Tatsache, daß sie in einem Ort gelegen sind, an welchem sich Tausende und Millionen von Wesen angesammelt haben. Der kleinste Anteil jenes ungeheuren Ganzen, das wir den Nationalreichtum zivilisierter Nationen nennen, erhält seinen Wert gerade durch die Tatsache, daß es ein Teil jenes Ganzen ist. Worin würde der Wert eines jener riesigen Londoner Läden oder Warenlager bestehen, wenn sie nicht gerade in London, dem Sammelplatz von fünf Millionen Menschen, lägen? Und worin bestünde der Wert unserer Kohlengruben, unserer Fabriken, unserer Schiffswerften, ohne den kolossalen Handelsverkehr, der sich über die Meere erstreckt, ohne die Eisenbahnen, welche ganze Berge von Waren transportieren, ohne die Städte, deren Einwohner nach Millionen zählen? Wer ist also derjenige, der die Berechtigung hätte, welcher vortreten könnte, und seine Hand auch auf nur den kleinsten Anteil dieses unendlichen Ganzen zu legen und zu sagen: "Ich habe dies hervorgebracht, es gehört mir!"? Und wie können wir in diesem so unendlich verwobenen Ganzen den Anteil unterscheiden, den das abgesonderte Individuum sich selbst mit der geringsten Annäherung an Gerechtigkeit zumessen kann? Häuser und Straßen, Kanäle und Eisenbahnen, Maschinen und Kunstwerke - All das ist durch die vereinten Anstrengungen von Generationen der Jetztzeit und Vergangenheit und durch Männer, welche auf diesen Inseln und andere, welche Tausende von Meilen entfernt leben, geschaffen worden. Und doch ist es im Laufe der Zeiten geschehen, daß alles, was dem Menschen Mittel zu einer höhreren und ferneren Produktion an die Hand gibt oder solche auch nur auf demselben Weg weiterzuführen, von einigen Wenigen an sich gerissen wurde. Der Grund und Boden, dessen Wert gerade darin liegt, daß es die notwendige Basis einer stetig wachsenden Bevölkerung ist, gehört einigen Wenigen, welche das Gemeinwesen an seiner Nutzbarmachung verhindern können. Die Kohlengruben, welche das Werk von Menschenaltern repräsenteieren und deren Wert ebenfalls nur in den Bedürfnissen der Fabrikanten und Eisenbahen, in einem kolossalen Handel und der Bevölkerungsdichte finden (denn was sind die Kohlenlager in Transbaikalien wert) gehören wiederum den Wenigen, die zu irgendeiner Zeit das Recht haben, die Förderung einzustellen und ihrem Kapital eine andere Verwendung zu geben. Die Spitzenwebemaschine, welche in ihrem gegenwärtigen Zustand der Vollkommenheit die Arbeit dreier Generationen von Lancashire WEBER repräsentiert, gehört abermals einigen Wenigen und sollten die Enkel jenes selben Weber, der den ersten Spitzenwebstuhl erfand, sich um das Recht bewerben, eine dieser Maschinen in Bewegung zu setzen, so würde ihnen zugerufen werden: "Hände weg! Diese Maschine gehört Euch nicht!" Die Eisenbahnen, die ohne die dichte Bevölkerung Großbritanniens, ohne seine Industrie, seinen Handel, seinen Verkehr nur unnütze Eisenhaufen wären, gehören wieder nur einigen wenigen Aktionären, die vielleicht gar nicht einmal wissen, wo die Eisenbahn, die ihnen das jährliche Einkommen eines mittelalterlichen Königs sichert, liegt; und sollten die Kinder jener Leute, die zu Tausenden beim Graben des Tunnels gestorben sind, sich zusammenrotten - ein zerlumpter, hungriger Haufen - um Arbeit und Brot von Aktionären zu fordern, so würde man ihnen mit Bayonetten und Flintenkugeln antworten.

Wo ist der Sophist, der zu behaupten wagt, daß eine solche Verfassung gerecht ist? Und alles was ungerecht ist, kann von keinem Vorteil für die Menschheit sein und ist es auch nicht. Infolge einer solchen erbärmlichen Verfassung findet der Sohn des Arbeiters kein Feld zu bearbeiten, keine Maschine zu leiten, falls er nicht darin einwilligt, seine Arbeit zu einem Preis weit unter ihrem Wert zu verkaufen. Sein Vater und Großvater haben dazu beigetragen, die Felder trocken zu legen und die Fabrik zu bauen - zur vollen Ausdehnung ihrer Kräfte haben sie dies getan, und kein Mensch kann mehr tun - und doch kommt der Sohn verwahrloster als ein Wilder in diese Welt. Sollte er den Ackerbau als Subsistenzmittel wählen, so wird man ihm gewiß gestatten, einen Ackerbau als Subsistenzmittel wählen, so wird man ihm gewiß gestatten, einen Flecken Land zu bearbeiten, doch nur wenn er den vierten Teil seiner Arbeit dem Grundbesitzer abgibt. Sollte er Industrie aufnehmen, so wird man ihm gewiß gestatten, zu arbeiten, doch nur, falls er von den dreißig Schillingen, die er produziert hat, zehn in die Tasche des Maschinenbesitzers fließen läßt. Wir empörten uns gegen den feudalen Baron, der niemandem erlaubte, sich auf seinem Grund und Boden anzusiedeln, sofern er ihm nicht ein Viertel seiner Ernte abgab, aber wir fahren in derselben Weise fort, ja wir dehnen ihr System aus. Die Formen haben sich geändert - die Essenz, das eigentliche Wesen der Sache - ist geblieben und der Arbeiter ist gezwungen, ähnliche feudale Bedingunen, die wir "freien Kontrakt" nennen, anzunehmen, da er nirgends bessere Bedingungen finden kann. Alles ist von irgendjemand an sich gerissen worden und so muß er das Gebotene annehmen oder verhungern.

Diese Umstände sind an der falschen Richtung, die unsere Produktion einschlägt, Schuld. Dieselbe bekümmert sich heutzutage nicht um die Bedürfnisse des Gemeinwesens, ihr einziges Ziel ist: die Vorteile des Kapitalisten zu vermehren, und daher kommen diese fortwährenden Schwankungen der Industrie, von dort kommt die alle zehn Jahre periodisch wiederkehrende Krisis, welche mehrere Hunderttausend Leute aus ihrer Arbeit herausgeschleudert werden und veranlaßt, daß deren Kinder in der Gosse aufwachsen und die nächste Anwartschaft auf Gefängnis und Arbeitshaus haben. Da es dem Arbeiter unmöglich ist, mit seinem Lohn die reichen Güter, welche er produziert zu kaufen, so muß sich die Industrie nach einem anderen Markt und unter der Mittelklasse anderer Nationen umsehen. Sie muß einen Markt im Osten, in Afrika, egal wo, finden und durch Handel die Zahl ihrer Sklaven in Ägypten, in Indien, am Kongo vermehren. Doch überall findet sie Konkurrenten unter den anderen Nationen, welche sich schnell auf dasselbe Feld industrieller Entwicklung werfen. Und so müssen Kriege, fortwährende Kriege um die Oberherrschaft über den Welthandel geführt werden, Kriege um den Besitz des Ostens, Kriege um den Besitz der Meere, Kriege umd das Recht den ausländischen Waren schwere Einfuhrsteuern aufzuerlegen. Der Kanonendonner schweigt nicht mehr in Europa; ganze Generationen werden hingeschlachtet und wir geben in Heeresrüstungen den dritten Teil der Staatseinkünfte hin - Einkünfte von denen der Arme am Besten weiß, mit welchen Schwierigkeiten sie erhoben werden.

Erziehung ist ebenfalls das Privilegium Weniger; etwa nicht, weil wir keine Lehrer finden können, nicht etwa weil die Söhne und Töchter des Arbeiters wenig bildungsfähig sind, sondern weil sich niemand eine richtige Erziehung aneignen kann, der mit fünfzehn Jahren in die Grube hinuntersteigen, oder Zeitungen auf der Straße verkaufen muß. Die bürgerliche Gesellschaft spaltet sich in zwei feindliche Lager und unter solchen Bedingungen ist Freiheit unmöglich. Während die Radikalen eine weitere Verbreitung der Freiheit verlangen, antwortet ihm der Staatsmann, daß ein Wachstum von Freiheit einen Aufstand der Armen heraufbeschwören würde. All jene politischen Freiheiten, deren Erringen mit so schweren Kosten verbunden waren, sind durch Zwang, außerordentliche Gesetze und militärische Maßregeln verdrängt worden.

Die Ungerechtigkeit in unserer Verteilung unseres Nationalreichtums übt den bedauernswertesten Einfluß auf unsere Moralität aus. Unsere moralischen Grundsätze sagen: "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst;" aber laßt einmal ein Kind diesen Grundsatz befolgen und seinen Rock ausziehen, um ihn dem frostzitternden Armen zu übergeben, ob nicht seine Mutter ihm sagen wird, daß es niemals solche moralischen Grundsätze in ihrem wahren Sinn verstehen muß. Und selbst wenn es diesen Prinzipien gemäß lebt, wird es bald barfuß gehen, ohne jedoch das Elend seiner Umgebung im mindesten zu mildern! Moral ist eine schöne Sache auf den Lippen, aber nicht in Taten. Unsere Prediger sagen: "Derjenige, welcher arbeitet, betet;" und doch strebt jeder Einzige danach hin, einen anderen für sich arbeiten zu lassen! Die Prediger sagen: "Lüge niemals!" und die gesamte Politik ist eine große Lüge. Wir gewöhnen uns und unsere Kinder daran, unter dieser Moralität mit ihren zwei Gesichtern, welche nichts als Scheinheiligkeit ist, zu leben und unsere Doppelwesen mit Sophisterei zu versöhnen.

Scheinheiligkeit und Scheinphilosophie werden zur wahren Grundlage unseres Lebens; aber die menschliche Gesellschaft kann nicht unter einer solchen Moral leben; so kann es nicht bleiben: ein Wechsel muß und wird eintreten.

Die Frage ist daher nicht mehr eine bloße Frage um das tägliche Brot, sie umfaßt das gesamte Feld menschlicher Tätigkeit, auf dem Grund aber liegt die Frage der sozialen Ökonomie. Wir schließen: Da die Mittel für Produktion und Befriedigung für alle Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft durch die vereinten Anstrengungen aller erschaffen wurden, so müssen sie auch  allen  zugänglich sein. Die Privatbesitznahme der Produktionserfordernisse ist weder gerecht noch vorteilhaft. Jeder Einzelne muß auf dieselbe Stufe als Produzent und Konsument des Nationreichtums gestellt werden. Dies ist der einzige Schritt, um die bürgerliche Gesellschaft aus der üblen Lage, welche Jahrhunderte von Kriegen und Unterdrückung geschaffen haben, hervortreten zu lassen und der einzige, um eine Garantie für weitere Fortschritte in der Richtung von Freiheit und Gleichheit zu gewähren, welche stets das wahre, obwohl oft zu frei ausgesprochene Ziel der Menschheit war.
LITERATUR: Albert Richard Parsons, Anarchismus - seine Philosophie und wissenschaftliche Grundlage, Chicago 1887