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(1852-1933) Die Philosophie des Als Ob [6/6]
Kapitel VII Summatorische Fiktionen (Die Allgemeinbegriffe) (27) Die eben behandelten Fiktionen führen uns nun zu den Allgemeinbegriffen, welche im Allgemeinen denselben Dienst leisten, welchen wir die vorigen Fiktionen im Speziellen leisten sahen.
Sehr richtig sagt MEYNERT (Mechanik des Gehirnbaus":
Bekanntlich hat BERKELEY am schärfsten die psychologische Realität der abstrakten Begriffe geleugnet. Vgl. besonders seine Abhandlung über die "Prinzipien der Erkenntnis", Xf.- Vgl. LIEBMANN, Zur Analysis der Wirklichkeit, Seite 417; derselbe Kant und die Epigonen, Seite 129. Die Allgemeinbegriffe sind praktische Fiktionen, d. h. Annahmen, durch welche die Praxis des Denkens erleichtert wird, denen aber keine reale, sondern eine metaphysische Wirklichkeit entspricht. Für die Logik sind sie Ideale, Postulate, d. h. also auch Fiktionen, fiktive Ideale. - Hier gibt es besonders viele schlechte Fiktionen: so die Quidditas [Washeit - wp] und Anderes aus dem Mittelalter. Heuristische Fiktionen (28) Als eine weitere Gattung sind noch hervorzuheben die heuristischen Fiktionen. Zwar sind mehrere der bisherigen Fiktionen auch zugleich von heuristischem Wert; allein gerade diejenigen Fiktionen, welche wir speziell unter diesem Namen hier zusammenfassen, sind ganz besonder heuristischen Zwecken gewidmet. In den bisherigen Fiktionen bestand die Abweichung von der Wirklichkeit nur in einer mehr oder weniger willkürlichen Veränderung derselben: in den jetzt zu behandelnden Fällen wird direkt ein ganz Unwirkliches an die Stelle des Wirklichen gesetzt. Die wichtigste Bedingung ist hierbei jedoch, daß dieses Vorstellungsgebilde noch nicht in sich selbst widerspruchsvoll sein darf, wie dies bei den später aufzuzählenden Fiktionen der Fall ist: es darf aber ein sich nicht in der Wirklichkeit findendes Gebilde sein, das, wenn konsequent durchgeführt, zu Widersprüchen mit der Wirklichkeit führt. Zur Erklärung eines Wirklichkeitskomplexes werden zunächst unwirkliche Ursachen angenommen, deren systematische Durchführung aber in den Phänomenen nicht nur bloß Ordnung schafft, sondern auch die richtige Lösung der Frage vorbereitet und aus diesem Grund heuristischen Zwecken dient. Indessen werden solche Annahmen, soweit sie nicht unter die bisherigen Methoden oder unter die reine Versuchtsmethode fallen und insofern tentativer [probeweise - wp] Natur sind, meistens nicht direkt neu gemacht, sondern sie entstehen dann, wenn bisherige Hypothesen sich als unzulänglich und falsch erweisen; solche abgedankten Hypothesen tun aber doch noch sehr oft gute praktisch-heuristische Dienste (29). Die Geschichte der Wissenschaften enthält mehrere solcher Fälle, welche sehr belehrender Natur sind. So ist nachzuweisen, daß das ptolemäische Weltsystem schon den Arabern des Mittelalters nur noch als Fiktion gegolten hat, nicht als Hypothese (30). Dasselbe ist mit der cartesianischen Wirbelhypothese der Fall, welche noch im 18. Jahrhundert besonders in Frankreich, als Fiktion festgehalten wurde, bei welcher Gelegenheit auch interessante theoretische Erörterungen über die Methode der Hypothesen und Fiktionen angestellt wurden. Dasselbe ist heutzutage der Fall mit der Ätherhypothese, welche zur Erklärung der Lichterscheinungen dienen soll, und vielen Naturforschern nur noch als Fiktion gilt. Alle diese abgedankten Hypothesen tun jetzt als Fiktionen noch ganz gute praktische und heuristische Dienste. Hierher gehört auch ferner die teleologische Hypothese, welche als heuristische Fiktion die besten Dienste leistet, während sie theoretisch wertlos ist, zumindest in ihrer früheren Gestalt.
Zum teleologischen Problem ist nachzutragen, daß, während die Gegner des Zwecks sagen, man dürfte höchstens heuristisch sagen, daß gewisse Erscheinungen zu betrachten sind, als ob sie zweckgewollt wären, die Freunde des Zwecks sagen, daß man höchstens heuristisch sagen dürfte, die Vorgänge seien so zu betrachten, "als ob keine Endursache sie an ihren Platz gestellt hätte", so Herbart, 1, 6. Vgl. Otto Flügel, Die Probleme der Philosophie und ihre Lösungen, Seite 156 (Die letzte Stellung nimmt auch gelegentlich Kant ein, bei dem sich sonst meist die erstere findet.) Eine heuristische Fiktion ist auch das Ideal einer "aufsteigenden Reihe von Lebewesen"; vgl. Jürgen Bona-Meyer, Philosophische Streitfragen, Seite 115f: "die Rangordnung der organischen Wesen". Die früheren geologischen Perioden werden vielfach nur noch als künstliche Einteilungen oder "schematische" Fiktionen verwertet. Vgl. Cotta, "Geologie der Gegenwart". Man sucht auch hier nach einem natürlichen System der Erdschichten.
Es hängt diese theoretische, methodologische Frage eng zusammen mit einem Problem, das besonders in England eine sehr lebhafte Bearbeitung gefunden hat. NEWTON hat nämlich bekanntlich in seinen methodologischen Regeln zwischen causa vera und causa ficta unterschieden; die Erörterungen über diesen nicht ganz klaren Unterschied haben gerade den von uns aufgestellten Unterschied berührt; hierher ist auch der andere Ausspruch NEWTONs: hypotheses non fingo [Ich erfinde keine Hypothesen. - wp] zu ziehen, der bis auf unsere Zeit oft Gegenstand von Erörterungen gewesen ist; man hat bekanntlich stets gegen diesen Satz NEWTONs eingewandt, NEWTON habe ja selbst Hypothesen aufgestellt. Man hat hierbei merkwürdigerweise immer übersehen, daß NEWTON den Ton auf "fingo" liegt, nicht auf "hypotheses". Selbst MILL und WHEWELL, welche jenen Ausdruck kommentierten, haben nicht bemerkt, daß NEWTON nicht davon spricht, daß er keine Hypothesen aufstellen will, sondern daß er keine Hypothesen fingieren will.
Praktische (ethische) Fiktionen (31) An diese eben behandelte Fiktionenklasses schließe ich nun eine Reihe anderer an, welche ich praktische Fiktionen nenne. Mit dieser Klasse fallen wir freilich aus unserer Einteilung heraus, die wir im Folgenden auch nicht mehr festhalten können. Es beginnen nun solche Annahmen, welche nicht nur der Wirklichkeit widersprechen, sondern auch in sich widersprechend sind. Diese sind nicht auf eine der bisherigen Klassen zurückzuführen, nicht allein auf Abstraktion oder auf Analogie zu reduzieren - die zwei Hauptmomente bei der Bildung von Fiktionen - sondern bei ihrer Bildung haben verschiedene Formen zusammengewirkt. Die hier zu behandelnden Begriffe sind so verwickelter Natur, daß sie nicht unter gleichlautende formale Rubriken zu bringen sind: ihr psychologischer Bau ist sehr kompliziert. Zur Bildung dieser verwickelten Begriffe, welche zugleich die höchsten Probleme der Wissenschaften darstellen, haben die mannigfachsten Seelenprozesse beigetragen. Auf der Schwelle dieser Fiktionen begegnet uns sogleich einer der wichtigsten Begriffe, den die Menschheit gebildet hat: es ist der Begriff der Freiheit. Die menschlichen Handlungen werden als freie und darum als verantwortliche betrachtet und dem notwendigen Naturlauf gegenübergestellt. Wir brauchen die oft aufgeführten Antinomien, welche in diesem widerspruchsvollen Begriff liegen, an dieser Stelle nicht nochmals zu wiederholen: der Begriff widerspricht nicht nur der beobachteten Wirklichkeit, in der Alles nach unabänderlichen Gesetzen folgt, sondern auch sich selbst: denn eine absolut freie, zufällige Handlung, die also aus Nichts erfolgt, ist sittlich gerade so wertlos wie eine absolut notwendige. All dieser Widersprüche ungeachtet, wenden wir diesen Begriff nicht nur im täglichen Leben bei der Beurteilung der moralischen Handlungen an, sondern er bildet auch die Grundlage des ganzen Kriminalrechts: ohne jene Annahme wäre eine Strafe für etwas Getanes undenkbar vom sittlichen Standpunkt aus; dann ist eben Strafe nur eine Vorsichtsmaßregel, um die Anderen vor dem Verbrechen zu schützen. Aber auch die Beurteilung unserer Nebenmenschen hängt so vollkommen von diesem Begriffsgebilde ab, daß wir es nicht mehr entbehren können: die Menschheit hat dieses wichtige Begriffsgebilde im Laufe der Entwicklung mit immanenter psychischer Notwendigkeit gebildet, weil nur auf seiner Grundlage höhere Kultur und Sittlichkeit möglich ist: allein das hindert nicht, einzusehen, daß dieses Begriffsgebilde selbst eine logische Monstrosität ist, daß es ein Widerspruch ist, kurz, daß es nur eine Fiktion, keine Hypothese ist. Jahrhunderte lang hat die Freiheit nicht bloß als Hypothese gegolten, sondern sogar als unumstößliches Dogma. Dann sank sie zur bestrittenen Hypothese herab: jetzt wird sie schon häufig als eine unumgängliche Fiktion angesehen. es hat viel Kampf gekostet, bis man sich auf den heutigen, freilich lange noch nicht allgemein verbreiteten Standpunkt stellte, daß dem Freiheitsbegriff in der Wirklichkeit nichts entspricht, daß er aber eine für die Praxis höchst notwendige Fiktion ist. Ähnliche Ansichten vertritt HOPPE ("Die Zurechnungsfähigkeit", Würzburg 1877). Ihm fehlt nur das Wort "Fiktion" zu unserer Auffassung. Seite 32 sagt er über die ideale Zurechnungsfähigkeit: Absolute Willensfreiheit und Zurechnungsfähigkeit seien eine Unmöglichkeit; nichtsdestoweniger müsse man den idealen Wunsch derselben jedem gerne gönnen, denn jeder "falsche Begriff" habe doch den Wert eines Ideals,
"die idealgefaßte Zurechnungsfähigkeit bewährt sich nicht, aber trotz alledem: der Mensch will die ideale Fassung der Zurechnungsfähigkeit und er soll und muß sie wollen".
Also das Imaginäre (das Abstrakte, Ideelle) hat seine Berechtigung trotz seiner Unwirklichkeit. Ohne ein solches Imaginäres sind weder Wissenschaft noch Leben möglich in höchster Form. Das ist eben die Tragik des Lebens, daß die wertvollsten Begriffe, realiter genommen, wertlos sind. So kehrt sich der Wert der Realität um. Auch F. A. LANGE weist darauf hin, daß Ideal und Wirklichkeit ihre Rolle wechseln; das Ideale, das Unwirkliche ist das wertvollste: man muß "das Unmögliche fordern"; auch wenn es auf Widersprüche führt. Daß speziell die Idee der absoluten Zurechnung auf einen Widerspruch führt, darauf weist auch HOPPE a. a. O. hin, Seite 52f:
Eine ähnliche Stellung nimmt auch ADOLF STEUDEL ein in seiner "Philosophie im Umriß" (II. Praktische Fragen, A: Kritik der Sittenlehre", Stuttgart 1877). STEUDEL widerlegt ausführlich die Freiheitslehre, meint aber, daß diese theoretische Widerlegung der Freiheitslehre die Sittenlehre nicht alteriert, und sagt ausdrücklich Seite 589:
Es ist wichtig und belehrend, zu zeigen, welche verschiedene Form dieser Streit häufig angenommen hat. Der bekannte Statistiker RÜMELIN in Tübingen hat im Herbst 1876, am 6. November, eine Rede gehalten: "Über einige psychologische Voraussetzungen des Strafrechts" (32) Er geht davon aus, daß die Freiheit und Verantwortlichkeit eine notwendige Voraussetzung des Strafrechts ist und führt das dann weiter so aus: die Freiheit ist freilich ein angefochtener Begriff; aber man muß, meint er, bedenken, daß dann, wenn man die Freiheit theoretisch leugnet und doch praktisch zur Grundlage des Strafrechts macht, ein unerträglicher Zwiespalt zwischen Theorie und Praxis entsteht. Ihm kommt ein solcher Zwiespalt zweifelhaft vor nach beiden Seiten hin: wenn eine Theorie richtig und die auf sie gestützte Praxis falsch ist - so muß es unfruchtbare Wahrheiten, wenn aber die Theorie falsch und die darauf gestützte Praxis richtig ist - so müßte es fruchtbare Irrtümer geben. Ist dies, fragt unser Redner, wirklich anzunehmen? In den Naturwissenschaften, meint er, wäre diese Frage leicht zu beantworten; da gibt es Experimente und empirisch geführte Beweise. Schwieriger ist die Beantwortung dieser Frage in anderen Gebieten, und so auch im Rechtsleben. Im Strafrecht handelt es sich um den Begriff der Zurechnung, der Willensfreiheit, als einer notwendigen sittlichen, psychologischen Voraussetzung. Denn wenn Strafe stattfinden soll, so muß auch eine Schuld stattfinden. Diese ist aber nicht vorhanden, wo die Zurechnung und Freiheit geleugnet wird. Der Determinismus in seinen verschiedenen Formen hebt diesen Begriff auf und sucht die Strafe auf andere Weise zu rechtfertigen; allein die Abschreckungstheorie sei gegen das sittliche Gefühl, das im Unrecht eine Schuld erblickt und die Strafe als Sühne und Vergeltung auffaßt. KANT hat den Begriff einer intellektuellen Willensentscheidung eingeführt, HERBART hat bemerkt, daß die Strafe nicht den Wollenden, sondern den Willen trifft; "Charakter" ist nach ihm eine habituelle Willensrichtung. All das aber genügt nicht zur Begründung der Strafe. Der Strafrichter handelt notwendig nach folgenden Voraussetzungen:
2. dem Strafrichter ist der Charakter keine objektive Macht, welche den Willen bestimmt, sondern der Charakter ist ein Produkt des Willens; 3. er nimmt in Jedem die Existenz eines Gewissens, eines Rechtsgefühls an, das Bewußtsein eines sittlichen Sollens, dessen Nichtbefolgung Sühne und Vergeltung erfordert. Meine Antwort auf diese Frage hätte natürlich umgekehrt gelautet. Wohl mag es bei der Betrachtung des einzelnen Begriffs dem Denker schwer fallen, einen so wichtigen Begriff zu einer Fiktion zu erklären: allein in dem großen Zusammenhang meiner Untersuchung bildet dieser Begriff nur einen kleinen Bruchteil, und wo andere noch wichtigere Begriffe fallen, da kann es nicht schwer sein, auch diesen aus einer Hypothese sich in eine Fiktion verwandeln zu sehen (33). Der oben mitgeteilte Gedankengang ist so recht ein Typus der bisher gewöhnlichen Betrachtungsweise und Beispiel eines logischen Optimismus. Freilich, das gebe ich zu, der Strafrichter darf nicht erst lange Meditationen über die Freiheit anstellen: für ihn ist sie ein realgültiger Begriff. Allein wenn wir auch nicht bloß zugeben, sondern sogar selbst fest darauf bestehen, daß die Freiheit die notwendige Voraussetzung der Strafe ist, so müssen wir doch daran festhalten, daß "Voraussetzung" zweierlei Bedeutungen hat. Es kann dies eine Hypothese, es kann aber auch ein Postulat oder eine Fiktion sein. Es gibt allerdings einen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, es gibt allerdings fruchtbare Irrtümer. Dies will freilich der logische Optimist nicht zugeben: allein gegen eine Tatsache kann man sich schließlich nicht sperren. Die Geschichte der Menschheit ist voll von Beispielen, daß es nicht bloß viele fruchtbare Irrtümer gegeben hat (man nehme nur die Religionen), sondern auch schädliche Wahrheiten: der Redner selbst drückte sich freilich so aus: "unfruchtbare Wahrheiten"; dieser parallele Ausdruck mit "fruchtbaren Irrtümern" verdunkelt aber seinen eigenen Gedankengang: den fruchtbaren Irrtümern entsprechen vielmehr schädliche Wahrheiten. Damit ist freilich der logische Optimist nicht einverstanden, dem es schon in der Jugend eingepflanzt wurde, daß das Gute auch das Wahre ist, und daß die Wahrheit immer gut ist. Die Einheit von Gut und Wahr - dies hat schon LANGE (34) treffend nachgewiesen - ist ein Ideal. Ich sage statt Ideal - Fiktion. Denn auch alle Ideale sind für uns - logisch gesprochen - Fiktionen. Der logische Optimismus kann sich freilich nicht daran gewöhnen, daß auf dem Gebiet der Wissenschaften manches nur ein Rechenpfennig ist, was der gewöhnliche Mensch für bare Münze nimmt. Gerade die Grundlagen mancher Wissenschaften stehen auf schwachen Füßen, so daß man übertrieben von einer vanitas omnium scientiarum [Eitelkeit allen Wissens - wp] gesprochen hat. Es sei noch die Bemerkung hier eingeschoben, daß die Behauptung des Redners, in den Naturwissenschaften wäre eine solche Frage leichter beantwortbar, uns nicht richtig erscheint: es werden uns - außer den schon angeführten naturwissenschaftlichen Beispielen - noch mehrere naturwissenschaftliche Begriffsgebilde begegnen, bei denen wohl auch am Ende die Theorie ebenso faul ist wie die Praxis fruchtbar. Gerade viele der wichtigsten und fruchtbarsten Begriffsgebilde sind voller Widersprüche. Unter den Neueren hat RUDOLF SEYDEL in seiner Ethik einen Ansatz dazu gemacht, die Freiheit als eine Fiktion zu fassen, und zwar eben als eine Fiktion in meinem Sinne - nämlich als eine zwar widerspruchsvolle, aber höchst fruchtbare und notwendige Grundlage der Ethik, nicht im Sinne eines bloßen Irrtums, in welchem Sinn das Wort Fiktion oft gebraucht wird. Ein besonderes Interesse wird die Behandlung abgeben, welche KANT diesem Problem hat angedeihen lassen.
Unter diese Kategorie der praktischen Fiktionen sind noch eine Reihe moralischer Begriffe und Postulate zu zählen, z. B. der Begriff der Pflicht (den MAIMON eine "schlechte Fiktion" nennt), der Unsterblichkeit usw.
Über die Idee der Unsterblichkeit vergleiche man besonders Biedermann, Christliche Dogmatik § 949-973; Biedermann läßt diese Idee als Fiktion zu, bekämpft sie aber als Hypothese bzw. als Dogma: eine wahrhaft edle Seele braucht sie nicht. Die großartigste Fiktion dieser Art ist die "moralische Weltordnung" (vgl. Dühring, a. a. O., Seite 439). So auch die unendliche Vervollkommnung, le progrés indéfini (siehe Grün, Philosophie, Seite 16) sowohl beim Individuum (Leibniz) als auch in der Weltgeschichte. Vgl. auch Kants Ansichten vom Ideal eines höchsten Wesens. Richtig urteilt MILL in der Schrift über den Theismus: "Die Ideen von Gott und Unsterblichkeit sind für Kant "incitive": Anfeuerungs-, Reiz oder Erziehungsmittel; das "imaginäre gute Wesen" ist ihm eine Norm, zu der wir aufblicken. Über Kant Lehre vom "intelligiblen Charakter" vgl. Dühring, a. a. O., Seite 473 und Grün, a. a. O., Seite 66. Der Begriff "intelligibler Gegenstände" überhaupt ist fiktiv (vgl. Lange, Beiträge, Seite 34). Es hängt dies alles eng zusammen mit der vom Darwinismus so genannten Ausbildung nützlicher Jllusionen durch die natürliche Zuchtwahl, was besonders Hellwalds "Kulturgeschichte" sehr lebhaft betont. Über einen solchen Rückhalt, den man hinter die Forderungen des Gewissens stellt (wie die sittlichen Fiktionen) siehe Strauss, Alter und neuer Glaube, Seite 100. Dort freilich als Hypothesesn. Ebd. Seite 109 über die symbolische Fiktion, sich einen Gott räumlich vorzustellen. Über Herbart vgl. Drobisch, Herbartrede, Seite 21. Nach Herbart ist die Fiktion eines deistisch gedachten Gottes eine notwendige moralische Fiktion; es fordert die Religion, daß derjenige, der als Vater für die Menschheit gesorgt hat, jetzt im tiefsten Schweigen die Menschheit sich selbst überläßt, als ob er keinen Teil an ihr hat. Fichte war sehr nahe dran, sein Sittengesetz in Form einer Fiktion auszusprechen: z. B. "Das empirische Ich soll so gestimmt werden, wie es gestimmt sein könnte!" oder "Handle so, daß du die Maxime deines Willens als ewiges Gesetz für die denken könntest." Wie man sieht, sind diese Formulierungen nicht weit entfernt von der Fiktion; sachlich sind sie es (siehe "Bestimmung des Gelehrten", erste Vorlesung). Hierher gehört auch die Fiktion "eines idealischen Menschen", ebd. zweite Vorlesung: alles Idealische ist unerreichbar, sowie die Idee des Naturzustandes nach Rousseau (fünfte Vorlesung). Nach Huxley, Reden und Aufsätze, Seite 20 ist die Annahme der gleichen, natürlichen Rechte ein unlogische Täuschung, aber auch eine notwendige Voraussetzung. Überhaupt ist hier die idealisierende Phantasie tätig, welche ideale Fiktionen schafft; diese "entwirft Muster und Normen, nach denen wir z. B. den Wert einer Sache, z. B. den ästhetischen, bemessen; auch wenn wir wohl wissen, daß sie anders nicht sein konnte (nämlich die Sache), so sagen wir doch, daß sie sollte". Mit diesen Worten ist das Wesen einer praktischen Fiktion von Laas (Kant, Analogien der Erfahrung, Seite 310) sehr deutlich ausgesprochen. Das "als ob" liegt hier in der Bildung eines absoluten, aber fiktiven Maßstabes. Hierher gehört auch das daselbst besprochene Urteil Kants über Platons Idee der Tugend. Wenn Kant sagt, daß diese Idee nichts Chimärisches enthält, so hat er nur insofern recht, als die Idee eine brauchbare Fiktion ist, aber eine Fiktion bleibt sie doch. So ist auch die Idee der Freiheit trotz Kants Verwahrungsurteil, sie widerspreche nicht der Erfahrung, doch eine Fiktion (siehe Laas, a. a. O., Seite 310/11). Ob und inwiefern diese und ähnliche Fiktionen für alle Zeiten und für alle Menschen zum Aufbau einer sittlichen Gesinnung notwendig sind, ist eine andere Frage. Über die Möglichkeit, "diese Fiktionen zu eliminieren", finden sich Andeutungen bei Grün, a. a. O., Seite 366. In diesem Satz liegt das Prinzip dessen klar ausgesprochen, was LANGE seinen Standpunkt des Ideals nannte. Ihm mangelte noch die logische Terminologie, mit Hilfe deren wir einfach so formulieren: Die Ideale sind keine Hypothesen; dies wären sie, wenn sie erreichbar wären, oder wenn sie in irgendeinem Teil der Welt erreicht worden wären, sondern sie sind Fiktionen. Wie eng dies mit der historischen Frage zusammenhängt, wie PLATON seine Ideen verstanden haben wollte, erhellt sich deutlich. Hiermit haben wir einen der wichtigsten Punkte erreicht, welchen wir spezieller zu behandeln haben werden. Wir ziehen in den Kreis der Fiktion nicht nur gleichgültige theoretische Operationen herein, sondern Begriffsgebilde, welche die edelsten Menschen ersonnen haben, an denen das Herz des edleren Teils der Menschheit hängt, und welche diese sich nicht entreißen läßt. Wir wollen das auch gar nicht tun - als praktische Fiktion lassen wir das alles bestehen, als theoretische Wahrheit aber stirbt es dahin. Der so oft mißverstandene Begriff LANGEs, der Begriff der Dichtung, erweist sich von hier aus als ein unklarer Ausdruck dessen, was wir Fiktion nennen. Wir gehen damit auf die eigentliche psychologische Quelle all dieser Gebilde der menschlichen Einbildungskraft zurück: wir haben die gemeinsame logische Verstandeshandlung gefunden, welche sowohl diesen riesenhaften Konzeptionen der Menschheit zugrunde liegt, als ganz indifferenten logischen und wissenschaftlichen Methoden: aus jenem kleinen logischen Kunstgriff - Begriffsgebilde zu formieren, welche praktischen Zwecken dienen, ohne doch theoretisch weiter wertvoll zu sein - entspringen jene logischen Methoden ebenso wie die wichtigsten praktischen Begriffe der Menschheit. Das Gemeinsame ist aber der ungeheure praktische Wert, den alle diese Begriffsgebilde haben, während ihnen doch keine objektive Wirklichkeit entspricht. Der logische Optimist wird dieses hier in wenige Sätze gedrängte Programm für niederschlagend erklären: wir können an dem Resultat deshalb doch nichts ändern. Die Wissenschaft geht unbarmherzig vorwärts. Wem solche Erkenntnis fürchterlich erscheint, wem sie eine schädliche Wahrheit ist, wer glaubt, dadurch seine Ideale als wertlos wegwerfen zu müssen, wer sie gar darum wegwirft - der hat eben auch nie an jenen Idealen mit aller Macht seine Seele gehangen. Wir sprechen hiermit zugleich in unserer Terminologie das eigentliche Prinzip der kantischen Ethik aus: die eigentliche Sittlichkeit ist nur dann vorhanden, wenn sie auf einer fiktiven Grundlage ruht; aber alle hypothetischen Grundlagen derselben: Gott, Unsterblichkeit, Lohn, Strafe etc. - zerstören ihren sittlichen Charakter: d. h. wir sollen wohl so handeln, als ob es unsere von Gott auferlegte Pflicht wäre, als ob wir dafür zur Rechenschaft gezogen werden, als ob wir für Unsittlichkeit bestraft würden: mit derselben Pünktlichkeit und mit demselben Ernst. Aber sowie dieses Als ob sich in ein Weil verwandelt, hört der Charakter der reinen Sittlichkeit auf, und es ist bloß niederes und gemeines Interesse, bloßer Egoismus. So erweitert sich vor unseren Blicken jener kleine Kunstgriff der Psyche zum mächtigen Quell nicht bloß der ganzen theoretischen Weltanschauung - dann aus ihm entspringen ja alle Kategorien - sondern auch zum Ursprung alles idealen Glaubens und Handelns der Menschheit. Man schreibt das sonst der Einbildungskraft der Menschen zu: allein dies ist ebenso wertlos, als die organischen Prozesse einer "Lebenskraft" zuzuschreiben: es handelt sich um den Nachweis der zugrunde liegenden mechanischen Prozesse. Gemäß rein mechanischen Gesetzen des Seelenlebens haben diese Gebilde eine ungeheure praktische Wichtigkeit und spielen eine unersetzliche Vermittlerrolle; ohne sie ist die Lust des Begreifens unmöglich, ohne sie die Ordnung des chaotischen Materials, ohne sie ist alle höhere Wissenschaft unmöglich, denn sie dienen zur Vermittlung, Berechnung, Vorbereitung; ohne sie ist endlich alle höhere Sittlichkeit unmöglich. Trotz dieser enormen Wichtigkeit jener Funktion sind doch ihre Produkte, eben jene Begriffsgebilde, immer nur als Fiktionen zu betrachten ohne eine entsprechende Wirklichkeit, als freie Vorstellungsgebilde, welche aus dem mechanischen Vorstellungsspiel mit immanenter Notwendigkeit entstehen, als Hilfsmittel und Organe, welche sich die zwecktätig funktionierende logische Tätigkeit zur Erleichterung und Vervollkommnung ihrer Arbeit selbst schafft, mag sich diese Arbeit auf die Wissenschaft oder auf das Leben beziehen. Somit ist die Phantasie allerdings "das Prinzip des Weltprozesses", aber freilich in einem anderen Sinn, als FROHSCHAMMER, der Verfasser des gleichnamigen Buches, meint. Fiktive Grundbegriffe der Mathematik (36) Als ein weiteres besonderes Gebiet behandeln wir ferner die mathematischen Fiktionen. Wir haben schon bemerkt, daß neben der Jurisprudenz gerade in der Mathematik bisher die Fiktionen allein zur Geltung gekommen sind (37). Der tiefere Grund dieser Erscheinung ist, daß in diesen beiden sonst so diametral entgegengesetzten Gebieten die freie imaginative Tätigkeit des Menschen am wirksamsten arbeiten kann. Die mathematischen Gebilde sind imaginative Produkte der psychischen Funktionen, und alle (juristischen) Gesetze sind ebenso reine Produkte einer freischaffenden Tätigkeit des menschlichen Geistes. Freilich ist beidemal auch ein objektiver Maßstab da, an dem die mathematischen Konzeptionen und die juristischen Bestimmungen zu messen sind; nichtsdestoweniger waltet hier die Psyche frei mit dem gegebenen Material. Die Ähnlichkeit der Methoden beider Wissenschaften beschränkt sich nicht nur auf die Grundbegriffe, welche in beiden Gebieten rein fiktiver Natur sind, sondern zeigt sich auch im ganzen methodischen Verfahren. Was zuerst das Letztere betrifft, so handelt es sich in beiden Gebieten oft darum, einen einzelnen Fall unter ein Allgemeineres zu subsumieren, dessen Bestimmungen nur auf jenes Einzelne angewendet werden sollen. Nun aber widerstrebt das Einzelne dieser Subsumtion; denn das Allgemeine ist nicht so umfassend, um dieses Einzelne unter sich zu begreifen. In der Mathematik handelt es sich z. B. darum, die krummen Linien unter die geraden zu subsumieren; das hat ja den enormen Vorteil, dann mit denselben rechnen zu können. In der Jurisprudenz handelt es sich darum, einen einzelnen Fall unter ein Gesetz zu bringen, um dessen Wohltaten oder Strafbestimmungen auf jenen Fall anzuwenden. In beiden Fällen wird nun dies in Wirklichkeit nicht herzustellende Verhältnis als hergestellt betrachtet: so wird z. B. die krumme Linie als gerade betrachtet, so wird der Adoptivsohn als wirklicher Sohn betrachtet. Faktisch ist aber beides geradezu unmöglich. Eine krumme Linie ist niemals gerade, ein Adoptivsohn ist niemals ein wirklicher Sohn; oder um andere Beispiele zu wählen: der Kreis soll als eine Ellipse gedacht werden; in der Rechtswissenschaft wird der nicht erschienene Beklagte betrachtet, als ob er die Klage zugestanden hat, wird der eingesetzte Erbe im Fall der Unwürdigkeit betrachtet, als ob er vor dem Erblasser gestorben wäre. Die Rechtswissenschaft hat es bei ihren Fiktionen indessen viel leichter als die Mathematik: dort sind Fälle, denen willkürliche Gesetzesbestimmungen gegenüber stehen; da ist also eine Übertragung leicht möglich. Man denkt sich die Sache eben einfach so, als ob sie so wäre. In der Mathematik setzt aber das sprödere Material der Raumverhältnisse dieser Mißhandlung durch den Kunstgriff Widerstand entgegen: hier weiß sich nun die logische Funktion auf eine Weise zu behelfen, die dem logischen Betrachter entzückend erscheint in ihrer Genialität; dieser Kunstgriff ist einer der merkwürdigsten, den die Psyche erfunden hat. Jeder Kenner der Mathematik und ihrer bewunderungswürdigen Methodik weiß, daß nun die Psyche in jenen Fällen so verfährt: der Kreis wird als eine Ellipse betrachtet, deren beide Brennpunkte die Distanz Null haben (diese ingeniöse Methode ist eine in der Mathematik sehr beliebte); bei der Subsumtion der krummen Linien unter die geraden wird die krumme Linie als aus einer unendlichen Anzahl gerader Linien bestehend betrachtet. Die Grundbegriffe der Mathematik sind der Raum und zwar der leere Raum, die leere Zeit, der Punkt, die Linie, die Fläche, und zwar Punkte ohne Anschauung, Linien ohne Breite, Flächen ohne Tiefe, Räume ohne Erfüllung. Alle diese Begriffe sind widerspruchsvolle Fiktionen: die Mathematik ruht auf einer vollständig imaginativen Grundlage, sogar auf Widersprüchen.
Verwandt mit der Fiktion des leeren Raumes ist die des Nichts überhaupt. Das Nichts zu einer Hypothese zu machen, ist eine der folgenschwersten Irrtümer, wie das warnende Beispiel mancher philosophischer Systeme (z. B. das von Eduard von Hartmann) lehrt. Über das Punktuelle vgl. Czolbe, Erkenntnistheorie, Seite 29. Wie das System der Benamung, so ist auch das System der Zählung ein auf Fiktionen beruhendes Hilfsmittel. Daß die Zahlen dem gemeinsamen Schicksal der Fiktionen, hypostasiert zu werden, nicht entgehen, ist bekannt. Vgl. Lewes' treffende Bemerkungen über Pythagoras, a. a. O., Bd. 1, Seite 142. Zahlen sind für uns nur Symbole. Aus der Fiktivität der Mathematik schließt Hume falsch auf ihre Nichtanwendbarkeit auf die Wirklichkeit. Vgl. über HUMEs anti-geometrische Erörterungen: Riehl, Der Kritizismus, Bd. 1, Seite 97; sehr treffend auch Lambert, Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung etc., Seite 178.
Daß außerdem "die mathematischen Idealkonzeptionen", welche "die Wirklichkeit anregt", "der sie aber nie völlig exakt entsprechen" - auch nach dieser Seite hin also fiktiv sind (siehe Laas, a. a. O., Seite 78), ist ein allgemein angenommener Satz: ein reiner Kreis, eine absolut gerade Linie usw. sind Ideale: d. h. Fiktionen. Vgl. ebd. Seite 172, wo die absolute Linie, die konstante Geschwindigkeit, die Unbedingtheit, die Totalität, die Unendlichkeit, das Bewußtsein überhaupt, das Ding-ansich als Ideale, d. h. als Fiktionen zusammengestellt werden. Vgl. die geometrischen Imaginationen, a. a. O., Seite 208. Über Zenonische Punkte = termini siehe Leibniz, Briefwechsel mit Bosses, 1716; mathematische Punkte sind demnach point des vue, Gesichtspunkte; vgl. Leibniz, Systéme nouveau de la nature etc., 1695. Über den Punkt als Fiktion vergleiche man auch die Lehren der Naturphilosophen, welche überhaupt gerade hierin oft wichtige Gedanken haben. Speziell sei hingewiesen auf Michelets "Naturphilosophie", § 174; schon Platon nennt nach ihm den Punkt ein dogma geometrikon im Sinne einer Fiktion, der Punkt ist wie das "Atom" nur ein "Grenzbegriff". Die "Grenze" selbst ist eine fiktive Annahme, wenn man sie hypostasiert. Daß die Linie aus Punkten besteht, ist auch eine mathematische Fiktion. Vgl. hierüber wiederum Michelet, a. a. O., der sich auch über die Asymptoten als imaginäre Gebilde äußert. Auch wies Michelet in seiner Logik § 75 nach, daß und wie manches als möglich Angenommene doch in sich logisch unmöglich ist. Die Philosophie der Mathematik, speziell bei Michelet, bietet hierzu noch viele Beispiele. Lehrreich ist, was Michelet über die Differentialrechnung ausführt. Wenn der Kreis als Polygon betrachtet wird, so ist dies eine formale Identifizierung auf Kosten der qualitativen Differenz; der Kreis wird so angesehen, als ob er ein Polygon aus unendlich vielen, unendlich kleinen Seiten wäre. Daß solche Fiktionen auf Widersprüche führen, sieht man an den zenonischen Schlüssen, welche darauf beruhen, daß die Fiktion der Raum- und Zeitatome (der unendlich kleinen Raum- und Zeitteile) ernst genommen und in Wirklichkeit verwandelt wird. Die Fiktion wird zur Hypothese und daraus folgen die krassesten Widersprüche (vgl. Michelet, Naturphilosophie, § 174). Man vergleiche hierüber auch Schefflers Philosophie der Mathematik in seinem Buch "Die Naturgesetze", Braunschweig, 1876/77. Die Mathematiker machen solche Fiktionen gerne, um die Wirklichkeit besser berechnen zu können; z. B. die Fiktion "einer unendlich dünnen Schale, ellipsoidisch, von zwei ähnlichen Flächen begrenzt"; oder die "Fiktion einer unendlich dünnen Schicht"; vgl. auch die Fiktion einer Hilfskugel. Siehe Lejeune Dirichlet, Vorlesungen über die im umgekehrten Quadrat der Entfernung wirkenden Kräfte, hg. von Grube, Leipzig 1876, Seite 135f. Vieles findet man bei Hankel, dem Philosophen unter den Mathematikern, ferner in Kirchhoffs Mathematischer Physik; in Günthers Vermischten Untersuchungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften, Leipzig 1876; bei Schüler, Arithmetik und Algebra in philosophischer Begründung, Leipzig 1876. Um den Begriff des Krümmungsmaßes zu gewinnen, bzw. um verschiedene Krümmungen vergleichen zu können, führt Gauss in den "Disquisitiones generales circa superficiei curvas", Kapitel VI, eine Hilfskugel ein. Gauss nennt "Krümmungsmaß" in einem Punkt der krummen Fläche den Wert desjenigen Bruches, dessen Nenner der Inhalt eines unendlich kleinen Stückes der krummen Fläche in diesem Punkt - und dessen Zähler der Inhalt eines entsprechenden Stückes der Fläche einer Hilfskugel von angegebener Konstruktion ist. Jacoby, Die Idee der Entwicklung, Seite 85f meint, daß die Anwendung dieses Begriffs von Riemann auf den Raum selbst unlogisch ist, denn er paßt nur auf gekrümmte Oberflächen (es handelt sich dabei offenbar um eine unberechtigte Ausdehnung, siehe unten Kapitel XII). Desgleichen weiteres über unmögliche (aber doch berechtigte) mathematische Begriffe. Vgl. ferner Wiessner, Die wesenhafte und absolute Realität des Raumes, Leipzig 1877, Seite 56f, wo der Wert der mathematischen Fiktionen ganz verkannt ist. Daß die Wahrscheinlichkeitslehre auch auf einer Fiktion beruth, hat Eduard von Hartmann sehr gut im Anhang zur 7. Auflage seiner "Philosophie des Unbewußten" entwickelt, an einer Stelle, welche in der französischen Ausgabe in folgender Weise angeführt ist: Da es streng genommen keinen Zufall gibt, so beruth die Wahrscheinlichkeit mehr auf einer Fiktion. Eine solche Fiktion eines Zufalls ist nur möglich, weil unsere Wissenschaft nicht alle Ursachen umfaßt, welche in einem Fall wirken: denn sonst gäbe es keine Wahrscheinlichkeit, sondern nur Gewißheit. Nichtsdestoweniger ist die Annahme eines Zufalls für unsere Erkenntnis unentbehrlich (indispensable); da die Gewißheit ewig unvollkommen bleibt, so muß man ihr die Wahrscheinlichkeit substituieren. [...] - also trotz der unerschütterlichen Überzeugung der universellen Kausalität muß man doch die Fiktion des Zufalls machen, um die Wahrscheinlichkeitslehre überhaupt begründen zu können. Das Begreifen besteht in der Reduktion auf bekannte Vorstellungsgebilde: der leere Raum und das körperlich gedachte Atom sind scheinbar bekannte Vorstellungsgebilde - faktisch sind sie nur Fiktionen. Ist es aber gelungen, alles hierauf zu reduzieren, so scheint die Welt begriffen. Sie scheint es! Denn jene apperzipierenden Vorstellungsgebilde sind Fiktionen, sind Produkte der Einbildungskraft. Alles Geschehen wird auf diesen uns bekannten Maßstab gebracht, und wie Reduktionen aus einem Maßsystem in das andere, z. B. in das Metersystem nicht ohne Brüche abgehen, so auch hier nicht diese ungeheure Reduktion auf das uns bekannt scheinende Vorstellungsgebilde. Die ungeheure Arbeit der modernen Wissenschaft reduziert also alles Geschehen, das in letzter Linie absolut unbegreiflich ist, auf einen ganz subjektiven Maßstab, der eine reine Fiktion ist.
Die ungeheure Gedankenarbeit der Menschheit ist nur darauf bedacht, alles Geschehen auf diesen Maßstab zu reduzieren und so alles zu begreifen. Aber dieser dreidimensionale Raum ist ein fiktives Begriffsgebilde voller Widersprüche. Man hat nun neuerdings versucht, diese Widersprüche durch die Erfindung künstlicher Räume zu lösen: allein das führt immer zu denselben Widersprüchen: übrigens beruth die Vorstellung solcher Räume mit n-Dimensionen auf einem neuen Kunstgriff des Denkens, indem einfach viel allgemeinere Gebilde erdacht werden, als wirklich gegeben sind. ![]()
27) Im Manuskript ein Teil von § 25. 28) Im Manuskript = Schluß von § 25. 29) Über die Ansicht, die Kausalität sei eine heuristische Maxime, ein "Vehikel für den Aufbau einer objektiven Welt" vgl. Laas, Kants Analogien der Erfahrung, Berlin 1876, Seite 20. 30) Vgl. Überweg, Grundriß etc. Bd. 2, vierte Auflage, Seite 160 (über Averroes astronomische Schrift). - Über solche heuristischen Fiktionen in der Chemie siehe Lothar Meyer, Moderne Theorie der Chemie (dritte Auflage 1876) Seite 150: "Gerüst, das wieder abzubrechen ist"; Typen, organische Radikale, Seite 147; Typen, Seite 137; Avogadroische Hypothese, Seite 29. 31) im Manuskript = § 26. 32) Diese Rede ist später im Druck erschienen in Gustav Rümelins "Reden und Aufsätze", Neue Folge, 1881, Seite 37-75. 33) Es ist jedoch daran zu erinnern, daß selbst die Notwendigkeit der Voraussetzung der Freiheit auch nur noch in der Form einer Fiktion als Grundlage des Strafrechts vielfach bestritten wird, so besonders von Benedikt, "Zur Psychophysik der Moral und des Rechts", Wien 1875, besonders Seite 37. 34) F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, zweite Auflage, Bd. 2, Seite 498. 35) Sogar D. F. Strauß, "Alter und neuer Glaube", Seite 111. Siehe ebd. Seite 113 über Schleiermachers bewußte Jllusion beim Gebet. Desgleichen über Kant, a. a. O., Seite 118/119 über die Funktion des Gottesbegriffs im kantischen System. 36) im Manuskript = § 27 (Anfang) 37) Die Ähnlichkeit der Jurisprudenz und Mathematik hat schon Leibniz betont. Vgl. auch Conti, Storia della filosofia, Firenze 1876, zweite Auflage, Seite 410/11. 38) vgl. Laas, a. a. O., Seite 208. |