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HANS VAIHINGER
(1852-1933)
Die Philosophie des Als Ob
[5/6]

"Solange solche Fiktionen ohne das Bewußtsein, daß sie solche sind, aufgestellt werden, als Hypothesen, sind sie eben falsche Hypothesen; einen eigentlichen Wert erhalten sie erst durch das Bewußtsein, daß sie absichtlich vorläufig gebildete Vorstellungsformen sind, welche einst einem besseren, natürlicheren System Platz machen sollen. Die bewußte Abweichung von der Wirklichkeit soll die Erreichung der letzteren vorbereiten."

"Kant hat mühselig erkenntnistheoretisch nachgewiesen, daß ein Begreifen der Welt absolut unmöglich ist, nicht weil unser Denken zu eng bemessen ist - dies ist eine dogmatisch-schiefe Wendung - sondern weil eben alles Begreifen immer nur in Kategorien erfolgt, welche eben in letzter Linie nur analogische Apperzeptionen sind. Durch diesen wichtigen Beweis der Unerkennbarkeit und Unbegreiflichkeit der Welt wird dem Begreifen seine Richtung klar vorgezeichnet und allem dogmatischen Grübeln ein Ende gemacht."

"Indem die Kategorien unter den Gesichtspunkt analogischer Fiktionen gerückt werden, erhält die ganze Erkenntnistheorie ein anderes Ansehen. Sie sind damit als bloße Vorstellungsgebilde erkannt, welche zur Apperzeption des Gegebenen dienen. Dinge, welche Eigenschaften haben, Ursachen, welche wirken, sind Mythen."


Erster Teil
Prinzipielle Grundlegung
Allgemeine Vorbemerkung über die fiktiven
Vorstellungsgebilde und Vorstellungsformen
(1)

Die regulären und natürlichsten Denkmethoden bestehen darin, immer zuerst und sogleich nur solche Apperzeptionen zu vollziehen, welche endgültig und definitiv sind; und immer nur solche Vorstellungsgebilde zu formieren, welchen eine entsprechende Wirklichkeit nachgewiesen werden kann. Das ist ja das eigentliche Ziel der Wissenschaft, nur solche Vorstellungsgebilde zu entwickeln, denen Objektives entspricht und alle subjektiven Einmischungen zu eliminieren.

Allein diese Aufgabe zu erreichen, ist nicht so leicht. Der Erreichung stellen sich sehr viele Schwierigkeiten entgegen. Jenes ideale Ziel, nach welchem die Vorstellungswelt aus lauter zusammenstimmenden, geordneten und widerspruchslosen Vorstellungsgebilden bestehen soll, dieses Ideal ist langsam und schwer zu erreichen. Den Weg zu diesem Ideal gibt die Methodologie.

Die natürliche und erste Aufgabe der Methodologie ist, diejenigen Wege anzugeben, auf denen jene realgültigen Vorstellungsgebilde gefunden werden.

Das natürliche Verfahren bei der wissenschaftlichen Denktätigkeit besteht darin, daß wir den unmittelbaren und ohne Reflexion gewonnenen Inhalt der Wahrnehmung zu bestimmten Begriffen und zu ihres Grundes sich bewußten und folgerichtig verbundenen Gedanken entwickeln. Der nächste Weg ist die Induktion. Man sucht aus den einzelnen Wahrnehmungen allgemeine Begriffe und Urteile mittels gültiger Schlüsse und haltbarer Beweise zu gewinnen. Man geht dabei vom Gegebenen aus, verbindet es mit anderem anderwärts Gegebenen, sucht hier die Gleichförmigkeiten, welche in allgemeinen Gesetzen und Begriffen zum Ausdruck gelangen. Es beruth dieser Weg eben auf den gewöhnlichen Apperzeptionen der Identifikation und Subsumtion. Die Induktion, sagt STEINTHAL, a. a. O. Seite 216, apperzipiert das Allgemeine, indem sie es aus dem Einzelnen schafft, also mittels des Einzelnen und apperzipiert in demselben Akt durch dieses Allgemeine das Einzelne. Wenn das Einzelne durch das Allgemeine begriffen wird, so ist dies die Deduktion; in der Bewegung des Denkens spielen die verschiedenen Apperzeptionsformen in sehr verschlungener Weise durcheinander. Auf diesem natürlichen Weg entstehen auch "alle jene großen Konzeptionen, auf denen ganz eigentlich die Förderung der Wissenschaft und die fortschreitende Einrichtung des menschlichen Lebens beruth: wie die Drehung der Erde um die Sonne -" (STEINTHAL, ebenda Seite 217). Aud diesem gewöhnlichen Denkweg ist das natürliche Bestreben die Ausgleichung aller Vorstellungsgebilde, ihre Prüfung an der Wirklichkeit, ihre Widerspruchslosigkeit. Es ist der natürlichste, zunächstliegende und anscheinend einzige Weg, um die wissenschaftliche Erkenntnis zu fördern. Er wäre es auch, wenn die Vorstellungsgebilde unmittelbare Abbilder des Seins wären; aber schon die hier geschilderten Wege des Denkens und ihre Produkte enthalten so viel subjektive und fiktive Elemente, daß es uns nicht überraschen kann, wenn das Denken auch noch andere Wege einschlägt. Man muß sich hierbei daran erinnern, daß die ganze Vorstellungswelt in ihrer Gesamtheit nicht die Bestimmung hat, ein Abbild der Wirklichkeit zu sein - es ist dies eine ganz unmögliche Aufgabe - sondern ein Instrument, um sich leichter in derselben zu orientieren. Im gesamten Gefüge des kosmischen Geschehens sind auch die subjektiven Denkbewegungen mit einbegriffen. Sie sind die höchsten und letzten Resultate der ganzen organischen Entwicklung; die Vorstellungswelt ist gleichsam die letzte Blüte des ganzen kosmischen Geschehens; aber darum eben ist sie kein Abbild desselben im gewöhnlichen Sinn. Die logischen Prozesse sind ein Teil des kosmischen Geschehens und haben zunächst nur den Zweck, das Leben der Organismen zu erhalten und zu bereichern; sie sollen als Instrumente dienen, um den organischen Wesen ihr Dasein zu vervollkommnen; sie dienen als Vermittlungsglieder zwischen den Wesen. Die Vorstellungswelt ist ein geeignetes Gebilde, um diese Zwecke zu erfüllen, aber sie darum ein Abbild zu nennen, ist ein voreiliger und unpassender Vergleich. Sind doch die elementaren Empfindungen schon keine Abbilder der Wirklichkeit, sondern bloße Maßstäbe, um die Veränderungen der Wirklichkeit zu messen; und um den Effekt der schließlichen Übereinstimmung der Welt der Wirklichkeit und der Vorstellungswelt zu erklären, dazu bedarf es eben nicht jenes Vergleiches, der bei näherer Analyse einen ganz verworrenen Sinn gibt.

Sonach müssen wir die ganze Vorstellungswelt erkenntnistheoretisch für ein bloßes Instrument halten, das uns dazu dient, uns in der Wirklichkeitswelt besser zu orientieren; die logische Betrachtung dagegen kann ohne Fehler diese Vorstellungswelt, welche so passen ausgebildet und der Wirklichkeit so adaptiert ist, daß sie am bequemsten, leichtesten und elegantesten die Orientierung in der Wirklichkeit vermittelt - die logische Betrachtung kann diese Vorstellungswelt ruhig Abbild der Wirklichkeit heißen und sie auch ganz vollständig anstelle dieser setzen, indem den dabei beteiligten Vorstellungsgebilden einfach Wirklichkeit zugeschrieben wird.
    Der Logiker kann - im Unterschied vom Verfahren des Erkenntnistheoretikers - die Vorstellungswelt, welche so ausgebildet ist, daß sie ein möglichst sicheres Berechnen der Wirklichkeit und ein Handeln in derselben ermöglicht, welche also dieser Wirklichkeit, als Instrument zweckmäßig angepaßt ist, der wahren Wirklichkeit substituieren. Während der Erkenntnistheoretiker die ganze subjektive Vorstellungswelt für ein fiktives Vorstellungsgewebe erklärt, insofern ja schon die elementaren Empfindungsqualitäten mit den als objektiv anzunehmenden quantitativen Vorgängen keine Ähnlichkeit haben, kann der Logiker diese raumzeitliche Welt nebst den von uns in sie hineinprojizierten Eigenschaften und Qualitäten als wirklich setzen und nun aufgrund dieser Substitution untersuchen, welchen subjektiven Gebilden in dieser Wirklichkeit objektive Wahrnehmungskomplexe entsprechen und welche dagegen nur fiktiver Natur sind.
Somit nehmen Erkenntnistheoretiker und Logiker hier einen voneinander verschiedenen Standpunkt ein, indem dieser rascher mit der Prädizierung der Wirklichkeit zur Hand ist als jener. Jener dagegen dehnt den Begriff der Fiktion, viel weiter aus, als dieser. Auch wir folgen nunmehr dem Logiker und lassen die Erkenntnistheorie einstweilen beiseite, bis sie sich selbst geltend macht. Denn alle logische Theorie mündet in die Erkenntnistheorie ein.

Also jene oben besprochenen natürlichen und gewöhnlichen Methoden sind als diejenigen zu betrachten, welche direkt auf die "Wirklichkeit" abzielen; sie sind somit die regulären und, sozusagen, orthodoxen Wege des Denkens.

Ich habe aber schon gezeigt, daß diese nicht ausreichen, daß Fälle vorkommen, wo die Sprödigkeit des Materials die Anwendung dieser direkten Methoden gar nicht gestattet, wo es der Bearbeitung durch jene gewöhnlich angewandten logischen Instrumente hartnäckigen Widerstand entgegensetzt. Es handelt sich also hier darum, die logischen Instrumente auf eine andere Weise zu handhaben oder ganz neue Denkmittel zu erfinden, welche noch künstlicher und kunstreicher sind als die ersteren. Solche Methoden müssen also die direkten Schwierigkeiten umgehen und dem spröden Material von einer anderen Seite beizukommen suchen, als auf der, wo die direkten Hilfsmittel einsetzen.

Als allgemeinen Typus der Fiktion haben wir oben die Formierung solcher Vorstellungsgebilde erkannt, welche in der Wirklichkeit keinen Vertreter finden.

Dieser Typus, die eigentliche psychologische Quelle der Fiktionen, die allgemeine Form aller, modifiziert sich nun sehr mannigfaltig nach den Umständen.

Insbesondere müssen wir hier schon einen Unterschied machen, der in der Folge von einiger Bedeutung sein wird. Als eigentliche Fiktionen im strengsten Sinn des Wortes stellen sich solche Vorstellungsgebilde dar, welche nicht nur der Wirklichkeit widersprechen, sondern auch in sich selbst widerspruchsvoll sind (z. B. der Begriff des Atoms, des Dings-ansich). Von ihnen zu unterscheiden sind Vorstellungsgebilde, welche nur der gegebenen Wirklichkeit widersprechen, bzw. von ihr abweichen, ohne schon in sich widerspruchsvoll zu sein (z. B. die künstliche Einteilung). Man kann die letzteren als Halbfiktionen, als Semifiktionen bezeichnen. Beide Arten sind nicht streng getrennt, sondern durch Übergänge verbunden. Das Denken beginnt zuerst mit leichteren Abweichungen von der Wirklichkeit (Halbfiktionen), um zuletzt, immer kühner geworden, mit solchen Vorstellungsgebilden zu operieren, welche nicht mehr bloß dem Gegebenen widersprechen, sondern auch in sich selbst widerspruchsvoll sind.


A. Aufzählung und Einteilung
der wissenschaftlichen Fiktionen


Kapitel 1
Die künstliche Klassifikation (2)

Die am weitesten verbreitete Art derjenigen Fiktionen, die ich soeben Halbfiktionen nannte, dieser "vorläufigen Methode", ist die künstliche Klassifikation. das ihr entsprechende realgültige Gebilde, das seiner Zeit an ihre Stelle treten soll, ist das natürliche System. Alle kosmischen Objekte stellen eine Spezifikation dar, welche theoretisch ausgedrückt wird in einer Klassifikation; entspricht diese in allen Gliedern der Wirklichkeit, so ist sie ein sogenanntes natürliches System. Das natürliche System selbst bildet jedoch eines der verwickeltsten Probleme der Philosophie und Naturwissenschaft, und ein Ausfluß der auf diesen Punkt gerichteten Untersuchungen ist die brennende Frage über die Spezies. Ob aber überhaupt ein natürliches System, eine natürliche Klassifikation aller Dinge möglich ist, diese Frage ist an dieser Stelle nicht zu untersuchen. Hier setzen wir voraus, daß zumindest in vielen Spezialgebieten die Aufstellung eines natürlichen Systems möglich ist.

Das natürliche System ist ein solches, in welchem die Wesen (vgl. BACHMANN, Seite 440) (3) nach denselben Prinzipien geordnet sind, welche die Natur bei der Produktion derselben befolgt zu haben scheint. Nach LOTZE (Seite 166) ist die natürliche Einteilung eine solche, "daß in der gesamten Artenreihe jede an den bestimmten Platz gerückt würde, der ihr durch den Grad, in dem sie das Wesentliche verwirklicht, zwischen allen ihren Verwandten zukäme". Wir können kurz sagen: die natürliche Einteilung muß ein entsprechendes Abbild der realen Entstehung und des verwandtschaftlichen Zusammenhangs aller Wesen sein. Die Vorstellungsgebilde, die in einem natürlichen System verwertet werden, müssen nach den realen Beziehungen formiert sein. Dies ist das Ziel der Wissenschaft, und eine direkte Methode sollte diesem Ziel unmittelbar zusteuern.

Hier machen sich nun aber schon all jene Gesichtspunte geltend, von denen wir bisher sprachen; das gegebene Material stellt diesem direkten Weg so ungeheure und für den Moment unübersteigliche Hindernisse entgegen, daß die logische Funktion den indirekten Weg einschlägt. Sie wendet einen Kunstgriff an: sie bildet eine künstliche Einteilung. Was heißt das? In unserer psychologischen Terminologie heißt das: sie substituiert den noch unbekannten einzig richtigen Gebilden provisorisch solche, denen keine Wirklichkeit unmittelbar entspricht. Mit diesen fiktiven Klassen rechnet sie zunächst, als ob es die wirklichen wären. Es ist hier nur noch auf die bekannte Tatsache hinzuweisen, daß die künstliche oder fiktive Klassifikation aus der ganzen Merkmalsgruppe immer ein besonders hervorstechendes herauswählt, nach welchem sie die Einteilung vollzieht, ohne sich um die Determination zu kümmern, welche die Merkmale gegenseitig voneinander erfahren. Diese provisorischen Hilfseinteilungen haben nicht bloß den praktischen Zweck, eine Registrierung und Rubrizierung der Dinge zu ermöglichen, und zugleich eine Art mnemotechnischer Mittel zu sein, sondern sie haben auch insofern einen theoretischen Wert, als sie heuristische Dienste leisten, und die Auffindung des natürlichen Systems vorbereiten und erleichtern. Die künstlichen Systeme sind meist Konsequenzen jener Artbegriffe, welche selbst nur provisorisch die verwirrende Menge der Erscheinungen in eine oberflächliche Ordnung bringen. Spezielle Unterarten dieser künstlichen Einteilung sind jene heuristischen Methoden, welche auf Dichotomie [Zweiteilung - wp] usw. beruhen. Diese künstlichen Klassifikationen haben auch ein in wesentlichen Stücken andere Theorie, als die natürlichen: d. h. die sich an sie anschließenen und ihre Anwendung beherrschenden methodologischen Regeln sind selbstverständlich anderer Natur, als diejenigen für die natürlichen Einteilungen. Diese Regeln beziehen sich besonders auf die Vermeidung der Fehler, welche notwendig aus der künstlichen Einteilung entspringen; diese Fehler bestehen nicht nur darin, daß die wirkliche Gliederung der Dinge in jenes künstliche Fachwerk nicht eingeht und sich nicht mit ihm deckt, sondern auch darin, daß durch die künstliche Einteilung unmögliche Glieder entstehen, welche in der Wirklichkeit gar nicht existieren können.

Als Beispiele sind u. a. das LINNÉsche System, sowie mehrere der späteren Pflanzen-, Tier- und Menschensysteme, welche mehr oder weniger mit dem Bewußtsein ihrer Künstlichkeit aufgestellt sind; besonders ist LAMARCK rühmend hervorzuheben, dessen in seiner "Philosophie zoologique" gegebene technische Regeln über die "künstlichen Hilfsmittel der Naturwissenschaften" eingehend dieses Thema behandeln, ferner CUVIER, BLUMENBACH, KANT und eine große Reihe von Forschern, welche diese künstliche Klassifikation entweder selbst anwandten oder ihre Theorie bearbeiteten.

Diese künstliche Klassifikation ist fast die einzige der künstlichen Hilfsmethoeden des Denkens, welche sich einer eingehenden Bearbeitung von Seiten der Logiker zu erfreuen hatte. Es war eben zu deutlich, daß man es hier nicht direkt und unmittelbar mit der Wirklichkeit zu tun hatte, sondern nur mit provisorischen und indirekten Vorstellungsgebilden und Denkformen. Die verschiedenen Momente, welche bei allen Fiktionen als Merkmale hervortreten, sind bei dieser Art schon sehr deutlich zutage getreten; insbesondere, daß alle solche Fiktionen zuletzt auf Widersprüche führen, ist ein sehr beherzigenswertes Merkmal, das später besonders hervorzuheben sein wird.

Natürlich werden die unter die künstliche Einteilung fallenden Gegenstände dann auch demgemäß künstlich definiert, d. h. diese Definitionen sind der Ausdruck solcher künstlicher Vorstellungsgebilde.

Solange solche Fiktionen ohne das Bewußtsein, daß sie solche sind, aufgestellt werden, als Hypothesen, sind sie eben falsche Hypothesen; einen eigentlichen Wert erhalten sie erst durch das Bewußtsein, daß sie absichtlich vorläufig gebildete Vorstellungsformen sind, welche einst einem besseren, natürlicheren System Platz machen sollen. Die bewußte Abweichung von der Wirklichkeit soll die Erreichung der letzteren vorbereiten.


Kapitel II
Abstraktive (neglektive) Fiktionen (4)

Mit dieser Bezeichnung fasse ich eine Reihe von Methoden zusammen, in denen die Abweichung von der Wirklichkeit sich spezifiziert als eine Vernachlässigung gewisser Elemente des Wirklichen (allgemein ausgedrückt). Bei der vorigen Gattung war es weniger eine Vernachlässigung gewisser Wirklichkeitselemente, als eine falsche Verwertung derselben, worin sich die Abweichung manifestierte.

Das Gemeinsame aller in dieser Klasse zusammengefaßten Fiktionen ist, wie bemerkt, eine Vernachlässigung wichtiger Wirklichkeitselemente. Die abstrahierende Tätigkeit ist hier in anderer Weise wirksam, als bei der Bildung der Allgemeinbegriffe oder abstrakten Begriffe. Bei den Allgemeinbegriffen werden in einer Menge gleichartiger (ähnlicher) Erscheinungen die hemmenden Elemente vernachlässigt, so daß ein allgemeines Bild ihres gemeinsamen Typus entstehen kann. Hier dagegen, bei dieser Gattung handelt es sich um etwas anderes. Meistenteils ist der Grund zur Bildung dieser Fiktionen die allzu große Verflochtenheit der Tatsachen, welche der theoretischen Bearbeitung in dieser ungemeinen Kompliziertheit zu große Schwierigkeiten entgegenstellt. Hier können die logischen Funktionen ihr Geschäft nicht ungestört vollziehen, weil es noch nicht gelingt, alle Fäden auseinander zu halten, aus denen das Gewebe der Wirklichkeit besteht. Insofern auch bei der Einteilung der Wesen ganz ähnliche Schwierigkeiten vorhanden sind, wäre auch die künstliche Klassifikation hierher zu rechnen. Indessen ist diese doch berechtigt, eine eigene Art zu bilden, wie wir sie dann auch der jetzt beschriebenen als eine gleichberechtigte Klasse vorangeschickt haben. Man sieht aber gleich hier, daß die Auseinanderhaltung der verschiedenen Gattungen mit einer Schwierigkeit verbunden ist, und daß es nicht bloß praktisch oft unmöglich ist, die Methoden unter diese oder jene Klasse zu subsumieren, sondern daß auch die theoretische Bestimmung nicht mit vollständig scharfer Abgrenzung geschehen kann. Es ist eben auch unsere Aufzählung eine künstliche Einteilung.

Wenn also das Material zu kompliziert und verworren ist, um dem Denken zu gestatten, es allmählich bis auf seine einzelnen Fäden zu entwirren, wenn die gesuchten kausalen Faktoren wahrscheinlich komplizierterer Natur sind, als daß sie unmittelbar zu bestimmen sind, so wendet das Denken den Kunstgriff an, vorläufig und einstweilen eine ganze Reihe von Merkmalen zu vernachlässigen und nur die wichtigsten Erscheinungen herauszugreifen. (5)

Ein Standardbeispiel für diesen Kunstgriff bildet die bekannte Annahme von ADAM SMITH, daß alle Handlungen der Menschen nur vom Egoismus diktiert werden. Wir werden für jede Gattung ein besonders typisches Beispiel aufstellen, um an diesem durch eine möglichst eingehende Analyse den Bau dieser Vorstellungsgebilde und die Methodologie dieser Kunstgriffe zu studieren. Für die künstliche Klassifikation ist das am meisten typischen Beispiel für alle Jahrhunderte das LINNÉsche botanische System. Für die abstraktive oder neglektive Fiktion ist die Annahme von SMITH. Man hat diese Annahme jahrelang für eine Hypothese gehalten (6).

ADAM SMITH selbst wollte so wenig wie LINNÉ damit mehr als eine Fiktion geben. Den Nachweis, daß SMITH mit jener Annahme nur eine vorläufige Fiktion aufstellte, hat in Engand zuerst BUCKLE geführt in der Einleitung zu seiner "Geschichte Englands", in Deutschland hat besonders F. A. LANGE diesen Gesichtspunkt betont (vgl. besonders "Geschichte des Materialismus" Bd. 2, Seite 453f).

Die empirischen Erscheinungsweisen des menschlichen Handelns sind so ungemein verwickelt, daß sie der theoretischen Erfassung und Reduktion auf ihre kausalen Faktoren geradezu unüberwindliche Hindernisse entgegenstellen. SMITH hatte nun zum Aufbau seines nationalökonomischen Systems nötig, die Handlungen der Menschen kausal zu begreifen. Mit sicherem Takt griff er die Hauptursache heraus, nämlich den Egoismus und formulierte seine Annahme so, daß alle menschlichen Handlungen, vornehmlich diejenigen geschäftlicher und nationalökonomischer Natur, so betrachtet werden können, als ob ihr treibendes Motiv einzig und allein der Egoismus wäre. Hier werden also alle anderen Nebenursachen und mitbedingenden Faktoren, wie z. B. Wohlwollen, Gewohnheit usw. vernachlässigt. Mit Hilfe dieser abstrakten Ursache nun gelang es SMITH, die ganze Nationalökonomie in ein geordnetes System zu bringen. Aus diesem axiomartig aufgestellten Satz entwickelte er deduktiv alle Verhältnisse des Handels und Verkehrs, welche sich mit systematischer Notwendigkeit daraus ergeben. Damit hängt die Annahme der "Harmonie aller Sonderinteressen" eng zusammen, eine Annahme, die als Fiktion höchst wertvoll, als Hypothese oder Dogma geradezu verderblich ist. (7)

Es sind dies aber nur provisorische Annahmen, welche, obwohl konsequenz durchgeführt, sich dennoch sehr scharf von Hypothesen unterscheiden: denn sie sind oder sollen zumindest von dem Bewußtsein begleitet sein, daß ihnen die Wirklichkeit nicht entspricht, und daß sie absichtlich nur einen Bruchteil der Wirklichkeit an die Stelle der ganzen Fülle der Ursachen und Tatsachen setzen.

Diese künstliche Methode wird überall da angewandt, wo solche verwickelten Verhältnisse stattfinden, also insbesondere in der Behandlung der nationalökonomischen Fragen, der sozialen Beziehungen, der moralischen Verhältnisse.

Es gibt noch ein Gebiet, wo mittels dieser Methode höchst fruchtbare Ergebnisse gewonnen werden, die theoretische Mechanik.
    "Die mathematische Physik braucht zur Aufstellung der Gesetze der Statik und Mechanik statt wirklicher Wesen nur «centra activitatis» anzunehmen, die umgeben sind von einer «sphaera activitatis». (vgl. Flügel, Probleme der Philosophie, Seite 53 und 59) Über eine solche mechanische Fiktion vgl. Wundt, Die physikalischen Axiome, Seite 123: "Über den Grund der Abstraktion vom Zuschauer."
Auf diesem Gebiet sind die Erscheinungen so verwickelt, daß häufig solche abstrakten Ursachen allein als kausale Faktoren angenommen werden, während man andere einstweilen vernachlässigt. Gerade in der Berechnung der mechanischen Verhältnisse der Körper werden zur leichteren Ausführung dieser Berechnungen Nebenursachen vernachlässigt, und die ganze mechanische Bewegung usw. betrachtet, als ob sie nur von jenen abstrakten Faktoren abhängen würde.
    "Eine solche Fiktion ist, daß die Physik die Masse unzweifelhaft ausgedehnter Körper, z. B. der Sonne und Erde, bei der Ableitung gewisser Grundbegriffe der Mechanik und der Berechnung der wechselseitigen Anziehung jener Massen auf Punkte reduziert oder in Punkten (Schwerpunkten) konzentriert setzt, um durch diese Fiktion die Darstellung der entgegengesetzten Erscheinungen zu erleichtern. Vgl. Czolbe, Extensionale Erkenntnistheorie, Seite 96. (Ebendasselbe gilt nach Czolbe in Bezug auf die Atome.) Solche Neglektionen werden besonders dann angewendet, wenn man einen sehr kleinen Faktor als Null annimmt (schon Bacon, Novum Organon II, Seite 146; besonders merkwürdig ist die Stelle II, 36, wo gefragt wird, ob "gewisse Bewegungen des Himmels bloß ausgedacht sind, um die Rechnungen zu verbürgen und zu erleichtern.")
Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Gebiete, auf denen diese Methode mit mehr oder weniger Erfolg angewandt worden ist: z. B. gehören in diese Klasse all jene an die CONDILLAC'sche Fiktion (8) einer Statue sich anlehnenden Vorstellungsgebilde, wie sie auch neuerdings z. B. von STEINTHAL wieder zur Erleichterung der psychologischen Betrachtung angenommen werden. (9)

Es ist gegen solche Fiktionen prinzipiell gar nichts einzuwenden, umsoweniger als sie methodologische Parallelen in anderen Wissenschaften haben: ihre Brauchbarkeit ist immer speziell erst festzustellen, und da ist schon hier die Bemerkung am Platz, daß diese Methoden natürlich wie alle anderen oft falsch und unpassend angewandt werden.
    Dies hat besonders Laas an mehreren Stellen seiner "Analogien der Erfahrung" hervorgehoben (Seite 75, 387 vgl. mit 83 und 56. Eine solche träumerische Fiktion von höchst zweifelhaftem Wert macht u. a. auch Wilhelm Göring in der Schrift "Raum und Stoff" Seite 59. Es ist festzustellen, wie weit man mit solchen Fiktionen gehen darf, ohne ins Absurde zu geraten: so sehr man einerseits mit solchen abstrakten Fiktionen wirklich wissenschaftliche Resultate erreichen kann, so können sie doch andererseits auf die greulichsten Irrtümer und Absurditäten führen: man sieht, wie notwendig hier eine normative Methodologie ist. Die Berechtigung solcher Fiktionen ist prinzipiell nicht zu leugnen; aber je feiner solche Instrumente sind, desto gefährlicher ist es, unvorsichtig mit denselben zu operieren. Die bisherige Logik hat diese Methoden gänzlich vernachlässigt.
Die psychologischen Verhältnisse speziell sind so verwickelt, daß gerade hier apriori solche Fiktionen, welche zunächst nur ein Moment zur Geltung bringen und andere vernachlässigen, um so die Berechnung praktischer anstellen zu können, wohl möglich und denkbar sind. Seit man in der Psychologie die Analogie der psychischen Phänomene mit mechanischen Vorgängen durchgeführt hat, hat diese Methode auch in der abstrakten Psychologie Platz gegriffen. Man könnte auch die HERBARTschen Gesetze und sonstigen Annahmen desselben als Fiktionen von praktischen Wert nachweisen, anstatt sie als Hypothesen wie bisher anzusehen.
    Den ersten Versuch, die Herbartschen Formeln als vorläufige, abstrakte Fiktionen zu behandeln, hat Lange gemacht, besonders in der Monographie über die "Grundlegung der mathematischen Psychologie". Vgl. hierzu noch Wundts treffliche Bemerkung in der "Physiologischen Psychologie" (erste Auflage, Seite 7). Falsch ist hier nur der Gebrauch des Wortes hypothetisch statt fiktiv. In der erwähnten Broschüre Langes vgl. besonders Seite 6 "Fiktion einer völligen Unterdrückung aller Tätigkeiten bis auf Eine" (ebd. Seite 8-9) und "Fiktion der ausschließlichen Belastung der schwächeren Vorstellung" (Seiten 10, 11, 18, 21). Auch Lange vermischt jedoch Hypothese mit Fiktion; so besonders Seite 30
Neuerdings hat sich auch STEINTHAL mit dieser Methode versucht und theoretische Formeln aufgestellt, welche nur durch eine Vernachlässigung vieler empirischer Faktoren gewonnen sind.
    Dies hat speziell Glogau in der Schrift "Steinthals psychologische Formeln" zugegeben, daß diese Formeln meist nur durch eine Vernachlässigung empirischer Faktoren auf einen möglichst einfachen Ausdruck gebracht sind. Vgl. Langes "Beiträge" Seite 50: "Ich erkläre Herbarts System der Psychologie für Metaphysik, mit allen Konsequenzen meiner Ansichten über Metaphysik. Trotzdem bin ich der Ansicht, daß eine streng empirische Psychologie nicht darunter leidet, wenn in derselben gewisse Kombinationen der Herbartschen Einbildungskraft, z. B. die Lehre von den Vorstellungen als Kräften und meinetwegen auch selbst die ausdehnungslose Seele als Anhaltspunkte der Forschung benutzt werden, solange eben nur die Methode der Forschung eine streng empirische bleibt, was freilich aus der ganzen Herbartschen Schule noch niemand geleistet hat."
Dagegen ist apriori nichts einzuwenden; im Gegenteil, es ist höchst wahrscheinlich, daß auf diesem Weg etwas Erhebliches gewonnen werden kann. Es bewegt sich ja auch die abstrakte Mechanik in lauter solchen Formeln, welche nur durch eine Vernachlässigung vieler empirischer Daten gewonnen sind und die Vorgänge immer so betrachten, als ob sie nur von jenen einfach formulierten Gesetzen abhängen würden. Es ist klar, wie nahe jedoch diese Fiktionen mit bloßen Proben und Versuchen zusammen kommen, d. h. mit solchen Versuchen, wobei wie in der Berechnung mathematischer Aufgaben zunächst ganz beliebige Werte angenommen und allmählich "durchprobiert" werden.

Überall, wo verwickelte Umstände vorhanden sind, welche die Darstellung und Berechnung erschweren, tut diese kunstreiche Methode die besten Dienste. Leider macht sich aber schon hier die in der Geschichte der Wissenschaft oft unheilvolle Verwechslung solcher Fiktionen mit Hypothesen, welche mehr oder weniger auf Wirklichkeit Anspruch erheben, in störender Weise sowohl bei denen geltend, welche solche Vorstellungsgebilde zuerst formieren, als auch bei denen, welche sie dann weiter verbreiten.

Oft ist es aber auch wirklich noch strittig, ob eine solche Annahme Hypothese oder Fiktion ist; allein hier macht sich oft der wissenschaftliche Unverstand sehr unangenehm bemerkbar, indem meist aus der Unrichtigkeit solcher Vorstellungsgebilde auf ihre Unbrauchbarkeit geschlossen wird. Dieser Schluß ist aber gerade so falsch, wie der umgekehrte aus der Brauchbarkeit auf die Richtigkeit zu schließen. Eine Einsicht in den psychologischen Zusammenhang und Ursprung allen Erkennens zeigt, daß vieles theoretisch unrichtig sein kann und doch praktisch fruchtbar, wobei praktisch im weiteren Sinn genommen ist.
    Zu bemerken ist noch, daß eine zu weit getriebene Abstraktion auf Begriffe führen kann, welche nicht mehr wert sind, als "das Messer ohne Klinge, dessen Heft abgebrochen ist". Eine solche wertlose Fiktion ist z. B. der Begriff einer Substanz ohne Beharrlichkeit in der Zeit. Vgl. Laas, a. a. O., Seite 28: "Aber Substanz ohne Beharrlichkeit in der Zeit, ein Subjekt-ansich, ist allerdings ein völlig leerer Begriff", sowie die auf derselben Seite aus Kants Kr. d. r. V. (ed. Rosenkranz/Schubert, Seite 201) angeführte Stelle.

    Dasselbe gilt jedoch nicht vom Ich. Das abstrakte, denkend vom Wechsel und Fluß aller Dinge losgemachte Ich ist eine unentbehrliche Fiktion für den Aufbau des menschlichen Innenlebens, aber welche Gefahren in dieser Abstraktion liegen, darüber siehe Laas, a. a. O., Seite 76 (ferner ebd. Seite 79 über die unermeßliche Erweiterungsfähigkeit des abstrakten Bewußtseins).
Ein solcher strittiger Punkt war die Frage, ob es ursprünglich wirklich Sprachwurzeln gegeben hat, ob die Menschen seiner Zeit eine Periode des Sprechens gehabt haben, wo nur Wurzeln existierten oder ob diese flexionslosen Wurzeln nur Anhaltspunte für die grammatische Rechnung sind. Dieser zwischen CURTIUS und POTT zum Ausbruch gekommene Streit ist ein lehrreiches Thema zur Anknüpfung methodologischer Regeln für diese Art von Methoden. Ähnlich ist es mit der Annahme eines vorsprachlichen Zustandes des Menschen; nach den Einen ist dies eine berechtigte Hypothese, nach Anderen, z. B. STEINTHAL und JÜRGEN BONA-MEYER (10), ist dies eine bloße Fiktion, um die psychologische Untersuchung der Menschen zu erleichtern, da die Verhältisse hierbei ungemein verwickelter Natur sind.

Die Produktion solcher Fiktionen ist in letzter Zeit sehr stark übertrieben worden. Es sind jedoch auch brauchbare Vorstellungsgebilde darunter. Hierher gehört z. B. die Fiktion eines einzelnen Menschenindividuums, umso besser lernen zu können, wie sich der Mensch sprachlich oder psychologisch entwickelt. Auch hier ist ein notwendiges Element negligiert [vernachlässigt - wp], die Gemeinschaft mit anderen Menschen. Hier sind gleichzeitig wirksame Ursachen als zeitlich nacheinander wirkend gedacht, um so durch eine Isolierung des Einzelnen ihre Wirkungsweise besser beobachten zu können. Diese Art von Behandlung des wissenschaftlichen Materials dient, wie bemerkt, bald rein theoretischen, bald mehr oder weniger praktischen Zwecken.
    Die ideale Isolierung und Spaltung des Gegebenen, die diskursive Trennung desselben in verschiedene Seiten, ist einer der am meisten angewandten Kunstgriffe des Denkens.

    Eine auf einer abstraktiven Isolierung beruhende Fiktion ist der "ideale Fall den das Galileische Trägheitsaxiom voraussetzt, und der doch an keiner einzigen materiellen Einheit, an keinem System von solchen in reiner Isolierung stattfindet oder sich gar in dieser seiner Charaktereigentümlichkeit bemerkbar macht" (siehe Laas, a. a. O., Seite 72). An diesem Beispiel bemerkt man recht klar, wie durch eine solche Fiktion allgemeine Gesetze begründet werden können. Übrigens ist das auf eine Fiktion gegründete Gesetz neuerdings mehrfach bestritten worden. Der Galileische Satz, daß ein in Bewegung gesetzter Körper die ihm erteilte Bewegung ungeschwächte bis ins Unendliche fortsetzen würde, trägt schon durch den darin verwerteten Begriff des Unendlichen das Symptom einer Fiktion an sich.
In prinzipieller Verwandtschaft stehen damit auch die Durchschnittsfiktionen, d. h. solche Fiktionen, wo aus einer Menge graduell verschiedener Erscheinungen das Mittel dieser abweichenden Grade genommen wird und als Rechnungsansatz dient. Diese Mittelzahl ist eine fingierte Zahl, mit welcher nur gerechnet wird. Besonders in der angewandten Mathematik (u. a. auch in der Statistik, sowie in der Meteorologie usw.) sind diese Methoden sehr üblich. Auch hier werden kleine Unterschiede der Wirklichkeit negligiert. Diese Abarten und Spielarten haben jedoch für uns geringes Interesse. Streng durchgeführt, führen sie auf Widersprüche mit der Wirklichkeit. Eine Verwechslung solcher Annahmen und Produkte, welche aus diesen Methoden hervorgehen, mit Hypothesen ist auch bei dieser Abart nicht selten, jedoch nicht so häufig, wie bei den oben genannten abstraktiven Fiktionen.
    Eine berühmte Fiktion der Statistik ist der homme moyen von Quételet, d. h. die Fiktion eines normalen Durchschnittsmenschen. Diese Fiktion ist aber nicht bloß in der Statistik von Wert: auch die Medizin fingiert z. B. den Begrif eines absolut gesunden Menschen, eines Durchschnittsmenschen, bei dem alle abnormen Abweichungen aufgehoben sind. Vgl. Stanley Jevons, Principles of science, Bd. 1, Seite 415 über fictitious means. Vgl. Knapp, Neuere Ansichten über Moralstatistik, Jena 1871. Schmoller, Resultate der Bevölkerungs- und Moralstatistik, Berlin 1871. An dieser Stelle sind wohl auch alle diejenigen willkürlichen Bestimmungen in den Wissenschaften einzureihen, wo, wie z. B. im Meridian von Ferro oder z. B. in der Bestimmung des Nullgrades oder in der Auswahl des Wassers als Maßstab des spezifischen Gewichts oder der Himmelsbewegungen als Index der Zeit, gewisse Anhaltspunkte willkürlich fixiert werden, von denen aus nach verschiedenen Seiten hin gleichsam Koordinaten gezogen werden zur Bestimmung und Einreihung der Erscheinungen (siehe Laas, a. a. O., Seite 79)

    Laas hat a. a. O. Seite 78 den interessanten Gedanken angeregt, daß die Zeitvorstellung durch einen Durchschnitt der Vorstellungsfolgen entsteht, wodurch sich der als Maßstab brauchbare Begriff absoluter Gleichmäßigkeit gebildet hat. - Über chemische Mittelwerte von Clausius, siehe Lothar Meyer, Moderne Theorie der Chemie (dritte Auflage, 1876, Seite 34/37) Durchschnittsfiktionen spielen auch in Handel und Verkehr eine ähnlich bedeutende Rolle, wie die juristischen Fiktionen in der Rechtspraxis.

    Noch ist zu bemerken, daß das ganze begriffliche klassifikatorische System, die Unterscheidung der Begriffe überhaupt auf Abstraktionen einseitigster Art beruth, wie Lotze in seiner Logik sehr klar ausführt. Vgl. Pfleiderer, Der moderne Pessimismus, Seite 81: "Licht und Finsternis, Schwarz und Weiß, Leben und Tod sind lauter Kunstprodukte denkender Abstraktion: notwendig in dieser ihrer Inkorrektheit als bloßer Anhaltspunkt, aber in der Anwendung auf das Wirkliche stets mit bedachter Vorsicht zu gebrauchen."
Als Abarten der bisher geschilderten Klasse sind nun noch einige Methoden aufzuzählen: so die Approximationsmethode, wo zuerst eine abstrakte Lösung für ein Problem aufgestellt wird und dann diese Lösung (ein Begriff, eine Zahl etc.) durch Durchprobieren und Experimentieren allmählich der Wirklichkeit immer mehr akkomodiert wird. Diese Methode ist besonders in den mathematischen Wissenschaften üblich, wo die Kompliziertheit der Aufgabe eine andere Behandlung nicht zuläßt. Prinzipiell sind die Versuchsmethoden oder tentativen Fiktionen von den neglektiven nicht verschieden. Die sokratisch-platonische Methode, Definitionen zu suchen, indem zuerst eine beliebige vorläufig fingiert wird, und dann diese der Wirklichkeit allmählich angenähert wird, ist damit prinzipiell identisch.


Kapitel III
Schematische, paradigmatische, utopische
und typische Fiktionen
(11)

Diese Gattung spielte schon in die beiden vorhergehenden herein: sowohl in der Klassifikation als auch bei den abstraktiven Fiktionen werden Schemata (12), allgemeine Typen aufgestellt, welche nackt und von den vielen, die Berechnung hemmenden Merkmalen der Wirklichkeit entkleidet sind. Sie bilden jedoch mit Recht eine eigene Gattung. Während bei den abstraktiven Fiktionen ein gewisser Teil der Wirklichkeit gleichsam weggeschnitten und auf die Seite gelegt wird und nur der übrig bleibende berücksichtigt wird, wird bei den schematischen Fiktionen ein Gerüst, sozusagen das Knochengerüst eines bestimmten Komplexes herausgestellt, und an diesem nackten, der vollen Wirklichkeit entkleideten Bild wird dann die Denkrechnung vollzogen. Die Verschiebung der Wirklichkeit ist aber hier schon weiter fortgeschritten als in den vorhergehenden Gattungen. Auch hier wird ein abstrakt-subjektives Vorstellungsgebilde formiert, um an ihm, statt an der viel verwickelteren Wirklichkeit, die theoretische Berechnung anzustellen. Man studiert hier die Gesetze der Wirklichkeit gewissermaßen an einfacheren Modellen, welche zwar das Wesentliche des Wirklichen enthalten, aber in einer viel einfacheren und reineren Form. Schon die schematischen Zeichnungen in vielen Wissenschaften geben eine Idee von dieser Methode, welche in manchen Wissenschaften eine ausgebreitete Anwendung findet.
    Die schematischen Zeichnungen werden besonders häufig angewandt in der Geologie sowie in der Mechanik, auch in der Physiologie ("ideale" Darstellungen werden sie meist unpassend genannt, besonders in der Geologie). Über den Begriff, die Berechtigung und Anwendung der schematischen Zeichnungen ist ein großer Streit entbrannt zwischen Haeckel, His, Semper u. a. (vgl. Semper, Offener Brief an Ernst Haeckel, Hamburg 1877. Siehe auch Haeckel, Ziele und Wege der heutigen Entwicklungsgeschichte, Jena 1875. Vgl. auch Baers schematische Zeichnungen; "sie sind erfunden, weichen ab von der Wirklichkeit und entstellen die Tatsachen", sagt Haeckel selbst.
Man kann diese Formen auch die Fiktion der einfachen Fälle (13) nennen. Das typische Beispiel für diese Gattung ist die sogenannte Thünensche Idee, eine nationalökonomische Fiktion, deren Aufstellung zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch THÜNEN eine Reform der Nationalökonomie herbeigeführt hat. Diese Idee ist auch das historisch berühmteste Beispiel dieses methodologischen Hilfsmittels. Die Idee besteht darin, daß, um die landwirtschaftlichen Verkehrsverhältnisse usw. besser berechnen zu können, eine Stadt fingiert wird, um welche sich in konzentrischen Zonen die verschiedenen Sphären lagern, aus denen die zur Erhaltung der Stadt notwendigen Befriedigungsmittel gezogen werden. Mit Hilfe dieses genialen Kunstgriffs werden nun alle landwirtschaftlich-nationalökonomischen Gesetze systematisch abgeleitet. Diese Art von Fiktionen sind gerade in der Nationalökonomie sehr verbreitet. Die schematische Fiktion eines isolierten Menschen, einer isolierten Stadt (oder Insel), eines isolierten Staates usw. gehören hierher. Ferner werden ähnliche Schemata auch sonst zur Berechnung und Ableitung theoretischer Gesetze in den sozialen Wissenschaften überhaupt angewandt. Besonders DÜHRING hat sich mit großem Glück dieser Methode in seinen nationalökonomischen Schriften (14) bedient, indem durch die Fiktion solcher Schemata der denkbar einfachsten Fälle die sozialen Grundgesetze auf ganz einfache Weise deduktiv abgeleitet werden.

Nahe verwandt mit diesen Formen sind die paradigmatischen Fiktionen oder fingierten Fälle. Besonders in der Beweisführung werden Fälle fingiert, an denen das zu Beweisende als vorhanden nachgewiesen wird.

Diese Methode der fingierten Fälle ist eine in allen Wissenschaften beliebte; so z. B. hat sich LOCKE (a. a. O. III, 6, 44) dieser Methode bedient, um die Entstehung von Substanznamen begreiflich zu machen. Eine besonders häufige, hierher gehörige Gattung sind die rhetorischen Fiktionen, wo eben auch zur Beweisführung Fälle fingiert werden. In der historischen Übersicht werden wir finden, daß dies die einzige den Griechen bewußte Gattung von Fiktionen war; freilich gehören sie nicht der strengen Wissenschaft an.

Als eine weitere Gattung, welche aber auch als eine besondere Abart der schematischen Fiktionen behandelt werden könnte, lassen sich die utopischen Fiktionen betrachten. Der Name, den ich dieser Gattung gebe, rührt her von den besonders in früheren Jahrhunderten so beliebten Utopien oder Fiktionen, wie sie z. B. MORUS und CAMPANELLA aufstellten. Insofern diese Fiktionen mehr als ideale Bilder aufgestellt wurden, denn zur rein wissenschaftlichen Belehrung haben sie weniger theoretischen Wert. Auch das platonische Staatsideal ist hier als das historisch erste Beispiel dieser Methode zu nennen. Ebenso gehört hierher die besonders im 18. Jahrhundert beliebte, noch bei FICHTE wichtige Fiktion eines Urstaates. Mehrere solcher mit Ur- gebildeten Begriffe gehören in diesen Bereich oder zumindest in die Fiktionen: im Folgenden begegnet uns die Idee der Urformen, z. B. der "Pflanze" als eine solche Fiktion.

Ferner gehört hierher die Idee eines Urgeistes oder Weltgeistes, wie sie z. B. DUBOIS-REYMOND in seinem bekannten Vortrag (15) zur Verdeutlichung und theoretischen Ableitung einer streng wissenschaftlichen Gedankenreihe mit großem Glück anwandte. Ferner ist die platonische Idee eines (hermaphroditischen) Urmenschen hier zu erwähnen, endlich die Fiktion von Urrechten, Urreligionen, eines Urvertrages, einer Urtradition und eine ganze Reihe ähnlicher Gedanken, welche mehr oder weniger von Wert sind oder waren. Freilich war gerade hier die wissenschaftliche Phantasie oft in zügelloser Weise tätig. Solange aber solche Fiktionen eben nur als das gelten, was sie sind, und nicht für Hypothesen ausgegeben werden, können sie der Wissenschaft oft wirklich erhebliche Dienste leisten.

Als eine weitere, mit der bisherigen eng zusammenhängende Art zähle ich die typische Fiktion oder die fingierte Urform auf. Hier wird aus einer Reihe von Wesen ein Artbild, ein Typus gebildet, aus dem nun nicht nur die Gesetze der einzelnen Wesen allgemein abgeleitet werden, sondern auch die Fülle dieser selbst als Modifikation begriffen wird. Bei dieser Gattung besonders spielen Fiktion und Hypothese oft wunderlich ineinander. Das klassische Beispiel hierfür ist für mich die Idee GOETHEs von der Urpflanze und dem Urtier (16). Diese Frage hat neuerdings ein besonderes Interesse gewonnen durch den Darwinismus. Es frägt sich erstens, wie GOETHE die Idee der "Urpflanze" gemeint hat, ob als Fiktion oder als Hypothese, zweitens, ob denn nun nach dem heutigen Stand der Wissenschaft die historische Existenz einer solchen Urpflanze anzunehmen ist, und ob sogar die bloß fiktive Aufstellung einer solchen Urform noch wissenschaftlich zweckdienlich ist. Charakteristisch und für die Theorie dieser Fiktion nicht ohne Bedeutung ist die bekannte Äußerung SCHILLERs hierüber: "diese Urpflanze ist nur eine Idee", womit er eben in kantischer Terminologie sagte, sie ist eine ideale oder typische Fiktion.


Kapitel IV
Symbolische (analogische) Fiktionen (17)

Eine weitere, für die Wissenschaft höchst wichtige Gattung nenne ich tropische Fiktionen; man kann sie auch symbolische oder analogische nennen. Sie sind nahe verwandt mit den poetischen Gleichnissen, sowie mit dem Mythos (18). Bei diesen ist der Mechanismus des Denkens folgender: Eine neue Anschauung wird apperzipiert von einem Vorstellungsgebilde, in dem ein ähnliches Verhältnis, eine analoge Proportion obwaltet, wie in der beobachteten Wahrnehmungsreihe. In solchen Fällen bilden (sagt STEINTHAL, a. a. O., Seite 261) Verhältnisse die apperzipierende Macht. Dies ist auch zugleich der formale Ursprung der Poesie.

Besonders beliebt sind diese Arten Fiktionen in der wissenschaftlichen Theologie. An der Spitze dieser Methode steht SCHLEIERMACHERs Anwendung derselben (19). Bei der ungeheuren Wichtigkeit dieser Methode für die theologische Wissenschaft werden wir auf diesen Fall ganz besonders eingehen müssen.
    Ähnliche Tendenzen finden sich auch schon bei Fichte und Hegel. Interessant ist Fichtes Äußerung (Wesen des Gelehrten, 1. Vorlesung): Wenn wir sagen: das Leben des Absoluten, so ist dies nur eine Weise zu reden (siehe Leibniz' "modus dicendi"), indem in der Wahrheit das Absolute das Leben ist. Ebenda 2. Vorlesung: "Man denkt sich, nach der Analogie mit unserem Verstand, Gott als denkend, das sittliche Leben des Menschen als einzigen Zweck, um dessentwillen er sich dargestellt hat; keineswegs als ob es ansich so ist, und Gott, so wie das Endliche denkt und das Dasein vom Bild des Daseins in ihm unterschieden wird, sondern lediglich, weil wir das Verhältnis auf keine andere Weise fassen können." (Das "als ob" gehört hier nicht der Fiktion an, sondern schließt in Verbindung mit "nicht" einen Irrtum aus.) Derselbe die 5. Vorlesung: "Welches ist das Wesen des Gelehrten, als eine philosophische Frage, bedeutet Folgendes: wie müßte Gott das Wesen des Gelehrten denken, falls er dächte; denn die philosophische Ansicht erfaßt die Dinge, so wie sie ansich sind, d. h. in der Welt des reinen Gedankens, welcher Welt Urprinzip Gott ist; demnächst also: wie Gott denken müßte, falls ihm ein Denken beizulegen wäre."

    Ähnliche (ziemlich wertlose) Fiktionen schon im Altertum; so sagt Proklus: Gott ist ein anaitios aition [etwas, das verursacht, ohne Ursache zu sein - wp], was nicht heißt, daß er Ursache ist ohne selbst wieder verursacht zu sein, sondern er ist "in nicht ursächlicher Weise Ursache", wie Göring, Über den Begriff der Ursache in der griechischen Philosophie, Seite 48 richtig interpretiert. Diese und ähnliche Fiktionen sind natürlich höchstens für die Religionsphilosophie wertvoll. Die allgemeine Wissenschaft hat keinen Nutzen von solchen Spielereien des Begriffs (wie auch die unten aufzuführenden praktischen Fiktionen teilweise sehr wertloser Natur sind).

    Übrigens nahm schon Sokrates zu den Volksmythen der Religion eine ähnliche Stellung ein wie Schleiermacher zu den Dogmen des Christentums. Vgl. hierüber besonders Mendelssohns "Phädon", Vorrede z. B. über die Frage, ob nicht das Daimonion des Sokrates eine bewußte Fiktion gewesen ist.
Das Eigentümliche hierbei ist, daß SCHLEIERMACHER und mit ihm seine Schule die meisten Dogmen als solche analogischen Fiktionen ansehen, welche eben nur provisorische Hilfsgebilde sein sollen, weil das eigentliche metaphysische Verhältnis uns unfaßbar bleibt. So wird also z. B. das Verhältnis Gottes zur Welt, das für den Philosophen SCHLEIERMACHER vollständig unerkennbar ist, vom Theologen SCHLEIERMACHER nach der Analogie des Vaters zu seinem Kind aufgefaßt usw. Es ist dies keine rationalistische Umdeutung der Dogmen, sondern eine feine erkenntnistheoretische Wendung, ein Kunstgriff, durch den SCHLEIERMACHER Tausende dem Christentum erhalten hat. "Gott" ist nicht "Vater" der Menschen, aber er ist so zu betrachten und zu behandeln, als ob er es wäre; diese Wendung hat dann wieder ungeheure Wichtigkeit für die religiöse Praxis und den Kult. Durch diese Wendung werden dann durch SCHLEIERMACHER ähnlich alle Dogmen aus Hypothesen in Fiktionen verwandelt. Wie nahe jedoch diese analogischen Fiktionen den Mythen stehen, wurde schon oben ausgedrückt. Durch diese Betrachtungsweise wird die SCHLEIERMACHERsche Religionsphilosophie methodologisch richtig gefaßt. SCHLEIERMACHER selbst war sich dieser seiner künstlichen und kunstreichen Methode wohl bewußt, ohne daß er sie jedoch gerade so bezeichnete, wie wir es hier tun. Wie nahe diese Wendung mit der von SCHLEIERMACHER fleißig studierten kantischen Philosophie (20) zusammenhängt, liegt, obwohl es noch nie deutlich hervorgehoben worden ist, auf der Hand, wie überhaupt die kantische Philosophie auch in der Folge für unser Thema ein hochbedeutsames Interesse gewinnen wird. Auf eine ähnliche (aber nicht auf dieselbe) Weise wollte LANGE auf seinem "Standpunkt des Ideals" die religiösen Dogmen gerettet wissen.

Diese analogische Methode ist wie in der Theologie so in der Metaphysik heimisch. Die Kategorien sind solche erkenntnistheoretischen Analogien. Die Kategorien sind nur analogische Fiktionen; so werden sie eingereiht in die methodologische Einteilung und finden hier ihren systematischen Ort. Nach Analogie menschlicher, subjektiver Verhältnisse wird das Wirkliche gedacht, und muß es gedacht werden. Alle Erkenntnis kann, wenn sie nicht bloß eine tatsächliche Sukzession und Koexistenz feststellt, nur analogisch sein.
    Ganz gut, sagt darum Grün, a. a. O., Seite 368: Metaphysik ist Metabolik, Hyperbolik, Metaphorik. Die dortigen Bemerkungen Grüns sind im Allgemeinen richtig; was er aber Metaphern heißt, sind meistenteils unentbehrliche Fiktionen.

    Besonders die Substanz ist eine solche Fiktion, deren Wesen Fichte recht naiv enthüllt, wenn er sagt (Wesen des Gelehrten, 6. Vorlesung): "Man muß dem in einem unaufhaltbaren Zeitfluß hinfließenden Veränderlichen ein Dauerndes und Unveränderliches zum Träger geben" - was ist das für ein "Müssen"? Ein hypothetisch-reales oder nur ein fiktiv-logisches?
Hier zeigen sich die Grundlinien dessen, was man eine Theorie des Begreifens, eine Komprehensionstheorie nennen kann. Alles Erkennen ist Apperzipieren durch ein Anderes. Es handelt sich also stets um eine Analogie beim Begreifen. Es ist auch gar nicht abzusehen, wie denn überhaupt das Sein anders als so begriffen werden könnte. Wer den Mechanismus des Denkens kennt, weiß, daß alles Begreifen und Erkennen auf analogischen Apperzeptionen beruth. Die einzigen Vorstellungsgebilde, mit denen die gegebenen Dinge apperzipiert werden können, sind entweder die entsprechenden Allgemeinbegriffe oder auch andere konkrete Dinge. Da diese aber lediglich selbst wieder unbegreiflich sind, so wird mit all diesen Analogien nur ein Scheinbegreifen erzeugt. Aus dem Mechanismus des Denkens, wie ihn besonders STEINTHAL aufgedeckt hat, folgt eben mit absoluter Sicherheit dasselbe, was KANT mühselig erkenntnistheoretisch nachgewiesen hat, daß ein Begreifen der Welt absolut unmöglich ist, nicht weil unser Denken zu eng bemessen ist - dies ist eine dogmatisch-schiefe Wendung - sondern weil eben alles Begreifen immer nur in Kategorien erfolgt, welche eben in letzter Linie nur analogische Apperzeptionen sind. Durch diesen wichtigen Beweis der Unerkennbarkeit und Unbegreiflichkeit der Welt - aus welchem als Korollarien [Beigaben - wp] noch eine Reihe anderer wichtiger Sätze folgen - wird dem Begreifen seine Richtung klar vorgezeichnet und allem dogmatischen Grübeln ein Ende gemacht. Wir gewinnen auf einem ganz anderen Weg das Resultat der kantischen Philosophie, daß die Kategorien nicht zum Erfassen der Wirklichkeit tauglich sind, daß sie als analogische Fiktionen keine wahre Erkenntnis gewähren können.

Die Erkenntnis, daß die Kategorien nur analogische Fiktionen sind, ist durch LOCKE, LEIBNIZ, KANT u. a. vorbereitet.

Zu bemerken ist insbesondere, daß auch die besonderen, im 18. Jahrhundert der Logik angehängten Erörterungen über symbolische Erkenntnis (ein von LEIBNIZ eingeführter Ausdruck) eng mit dem Gesagten zusammenhängen.
    Vgl. hierzu Stadler, "Symbolische Verwertung des Substanzbegriffs" in den "Grundsätzen etc." § 152. Vgl. Laas a. a. O., Seite 25 (Nota 36). "Symbolisch gedachte Inhärenz". Symbolisch ist ein Spezialfall des Fiktiven.
Besonders sind hier MAIMONs Erörterungen lobend zu erwähnen; alle diese oft sehr scharfsinnigen Erörterungen des 18. Jahrhunderts sind vergessen worden im Taumel der absoluten dogmatischen Philosophie. MAIMON insbesondere faßt das ganze Ergebnis der kantischen Philosophie ganz richtig dahin zusammen, daß nur symbolische Erkenntnis möglich ist.
    Unter denjenigen, welche die symbolische Erkenntnis zum Gegenstand der Untersuchung machten, ist Lambert zu nennen; unter den unmittelbaren Vorgängern Kants ist dieser der scharfsinnigste, wie unter den Nachfolgern Maimon. Lamberts "Organon" enthält im II. Teil einen ausführlichen Abschnitt über die symbolische Erkenntnis, in welchem schon viele Resultate Kants antizipiert sind. Das ganze diskursive Denken ist symbolisch in zweifacher Hinsicht: 1. insofern es mit Symbolen im mathematischen Sinn rechnet, 2. insofern alle dadurch gewonnene Erkenntnis nur eine Art Gleichnis, Bild, Gegenstück des Wirklichen schafft, nicht aber dieses selbst erkennen läßt, zumindest nicht in adäquater Form. Ein Erkennen des Wirklichen in adäquater Form führt auf den Begriff der intuitiven Erkenntnis oder intellektuellen Anschauung, also wiederum eines fiktiven Begriffs von methodischem, aber nicht von objektivem Wert.
Man hätte auf diesem Weg weitergehen sollen: so hätte man sich das kantische Resultat rein bewahrt; freilich hatte dieser große Philosoph selbst seine ruhmreichen Entdeckungen mit den Rettungsversuchen abgelebter rationalistischer Dogmati befleckt und so selbst dazu beigetragen, daß seine richtigen Resultate begraben und vergessen wurden.

Hier sehen wir nun sogleich, wie alle logischen Resultate zugleich erkenntnistheoretische Bedeutung gewinnen: indem die Kategorien unter den Gesichtspunkt analogischer Fiktionen gerückt werden, erhält die ganze Erkenntnistheorie ein anderes Ansehen. Sie sind damit als bloße Vorstellungsgebilde erkannt, welche zur Apperzeption des Gegebenen dienen. Dinge, welche Eigenschaften haben, Ursachen, welche wirken, sind Mythen.

Man kann nur sagen, daß sich die objektiven Erscheinungen so betrachten lassen, als ob sie sich so verhalten; aber nimmermehr besteht ein Recht, hier dogmatisch aufzutreten und das "als ob" in ein "daß" zu verwandeln.
    Über den historischen Hervorgang der aitia in der griechischen Philosophie aus Analogieverhältnissen siehe Göring, Begriff der Ursache in der griechischen Philosophie, besonders die Seiten 22f und 26f. Über den psychologischen Hervorgang vgl. Wundt, Physiologische Psychologie, erste Auflage, Seite 676f.
Sowie nun solche Analogien als Hypothesen aufgefaßt werden, so entstehen all jene System in Theologie und Philosophie, welche die dadurch entstehenden Widersprüche aufklären wollen. Welche Mühe und Zeit hat man daran verschwendet, z. B. das Vaterverhältnis Gottes zu Christus klarzustellen; und wie einfach löst SCHLEIERMACHER dies! Noch viel näher liegen uns aber jene mannigfachen Versuche, die Substanz und ihr Verhältnis zu ihren Attributen zu bestimmen, die Ursache und ihr Verhältnis zur Wirkung usw.
    Hierher gehören ferner Begriff wie möglich, notwendig usw. So sagt Lewes, Geschichte der alten Philosophie, Berlin 1871, Seite 438 über den aristotelischen Begriff der Möglichkeit: Sie ist eine Fiktion, nützlich, das mag sein, im Fach der Logik, aber gefährlich und täuschend in der Metaphysik; ebd. über Mögliches und Wirkliches, sowie über steresis [Fehlen einer positiven Bestimmtheit beim Ding - wp]. Es sind die formalen oder Verhältnisbegriffe, welche schon von Aristoteles als Kategorien herausgestellt, von den Skeptikern als pros ti [Relation - wp] als Relationen nur "hinzugedacht" werden welche immer mehr in der neueren Philosophie als Fiktionen erkannt werden. (Vgl. Lambert, bei Riehl, Kritizismus, Bd. 1, Seite 182, 187, 194).

    Diese und ähnliche Begriffe sind die Grundlagen des diskursiven Denkens: "Eben das ist der Fehler, der uns so ungerecht gegen den Himmel macht, daß wir immer mit unseren Begriffen Grenzen ziehen, die nicht in der Natur sind." (Johann Jakob Engel, Der Philosoph für die Welt, Seite 26).
Solche analogischen Fiktionen sind sehr verbreitet und auch in anderen Wissenschaften sehr beliebt. Sehr häufig aber erhebt sich die wichtige Frage, wie weit eine solche Analogie "real" ist, wie weit sie hypothetisch, wie weit sie fiktiv ist. Diese Frage ist z. B. wichtig bei der neuerdings so beliebten Analogie des Staates oder einer sozialen Gesellschaft mit einem Organismus (21); gerade hier bei solchen Fragen macht sich unter den Streitenden der Mangel einer logischen Theorie dieser Methode sehr unangenehm fühlbar. Selbst da, wo solche Analogien rein fiktiv sind, wie z. B. bei der Vergleichung der Gesellschaft mit einem menschlichen Organismus, dienen sie doch oft zur Ableitung richtiger theoretischer Gesetze.

Dieselbe Quelle ist aber auch der Ursprung vieler Irrtümer, wo dann solche Fiktionen unvorsichtig für reale Analogien genommen und die so abgeleiteten Gesetze der Wirklichkeit ungeprüft substituiert werden. Der Irrtum entspringt eben ganz genau aus denselben Ursachen, wie die Wahrheit; und wie in der Natur dieselben blinden Gesetze, je nach den Umständen, Schaden oder Nutzen bringen - sie sind zweischneidig - so auch auf dem Gebiet des Geistes, wo aus denselben Gesetzen Gutes und Schlimmes entspringt. Die Logik hat umso mehr auch die Aufgabe, den Irrtum zu erklären, als die Grenzen zwischen Irrtum und Wahrheit keine scharfen sind, wie ja aus dem Vorhergegangenen sich erhellt, indem die Anwendung einer Fiktion halb auf Wahrheit, halb auch (absichtlichem) Irrtum beruhen kann. Die Logiker des 18. Jahrhunderts hielten es für ihre Pflicht, auch den Irrtum weitläufig in das logische System hereinzuziehen. Es ist also - ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen - streng zu unterscheiden zwischen realen Analogien, welche aufzufinden Sache der Induktion und Hypothese ist, und zwischen bloß fiktiven Analogien (22), welche bloß Sache einer subjektiven Methode sind. Daß ich also zu einer Erscheinung eine andere unmittelbar und notwendig sukzedierende [aufeinanderfolgende - wp] und antezedierende [vorhergehende - wp] aufsuche - nach dem Gesetz der Kausalität - ist Sache einer realen Analogie; ich habe so oft bemerkt, daß jeder Erscheinung andere folgen und vorhergehen, daß ich berechtigt bin, den Analogieschluß zu bilden, daß auch bei dieser speziell vorliegenden Erscheinung dieser Fall zu statuieren ist. Daß ich aber dieses ganze Verhältnis der einer unabänderlichen Sukzession "Ursache und Wirkung" heiße und mit der Kategorie der Kausalität apperzipiere, ist Sache einer analogischen Fiktion, indem zwar wohhl das Verhältnis des Willens zu seiner Handlung eine reale Analogie mit der unabänderlichen Sukzession ist, nicht aber kann ich umgekehrt die Glieder der unabänderlichen Sukzession mit Namen aus der subjektiven Sphäre bezeichnen; real-analogisch ist also hier die Form der Verhältnisse; dagegen eine analogische Fiktion ist die materielle Gleichstellung der unabänderlichen Sukzession mit der Sukzession der Handlung auf den Willen. (23)


Kapitel V
Juristische Fiktionen (24)

Eine speziellere Abart der vorigen sind die juristischen Fiktionen. Der Name der Fiktionen ist bis jetzt nirgends besser bekannt als in der Rechtswissenschaft, wo sie ein beliebtes Kapitel bilden. Sie sind prinzipiell ganz identisch mit den vorigen. Der psychologische Mechanismus ihrer Anwendung besteht auch darin, daß ein einzelner Fall unter ein für ihn nicht eigentlich bestimmtes Vorstellungsgebilde subsumiert wird, daß also die Apperzeption eine bloß analoge ist. Der Grund dieser Methode ist folgender: Weil die Gesetze nicht alle einzelnen Fälle in ihren Formeln umfassen können, so werden einzelne besondere Fälle abnormer Natur so betrachtet, als ob sie unter jene gehörten. Oder aus irgendeinem praktischen Interesse wird ein einzelner Fall einem allgemeinen Begriff subsumiert, dem er eigentlich nicht angehört. Wer mit der Methode der Rechtswissenschaft bekannt ist, kann ermessen, wie ungeheuer wichtig dieser Kunstgriff für die juristische Praxis ist; er ist für sie ebenso unentbehrlich, als er es in der Mathematik ist. Freilich haben die Logiker mit einer verschwindenden Ausnahme sich dieses Beispiels entgehen lassen, weil sie überhaupt nicht einsahen, daß die Logik ihr Material aus der lebendigen Wissenschaft zu entnehmen hat. Neben der Mathematik gibt es fast kein Gebiet, das zur Deduktion logischer Gesetze und Jllustrierung oder Entdeckung logischer Methoden passender wäre, als das Jus. Dies beruth auf einer prinzipiellen Verwandtschaft beider Gebiete, welche bisher ebenfalls den Logikern entgangen ist. Es ist eben der Reiz und Nutzen solcher methodologischer Betrachtungen, zu beobachten, wie die Psyche auf ganz verschiedenen Gebieten nach einem gleichen Prinzip verfährt. Es ist daher nicht merkwürdig, sondern natürlich, daß auch nur in der Mathematik und im Jus bisher diese Fiktionen eine ausgedehntere theoretische Behandlung, aber meist nur von Denkern dieser Wissenschaften selbst, erfahren haben. Merkwürdig ist nur die Achtlosigkeit der Logiker, welche diese Gebiete sich entgehen ließen. Der apriorische Weg zur Feststellung der Kunstregeln muß notwendig ergänzt werden durch eine rein induktive Beobachtung des logischen Verfahrens in den Wissenschaften selbst. Nur die ganz genaue Beschäftigung mit dem Verfahren der einzelnen Wissenschaften befähigt, fruchtbare logische Regeln aufzustellen, und die Aufstellungen solcher sind dann auch nur von solchen ausgegangen, welche mit den Spezialwissenschaften in einem ungewöhnlichen Umfang bekannt waren, von ARISTOTELES und BACON. Auch die Logiker Englands, sowie die Deutschlands im 18. Jahrhundert haben hierin Bedeutendes geleistet. Nur eine universalistische Kenntnis des wissenschaftlichen Verfahrens auf allen Gebieten ermöglicht, logische Entdeckungen zu machen.

Wie bemerkt, besteht ein prinzipieller Zusammenhang zwischen der Methode der Mathematik und der des Jus, aus dem sich erklärt, daß nur in diesen beiden Wissenschaften bis jetzt die Fiktionen richtig zur Geltung kamen.

Auch ist es interessant, zu sehen, wie diese scheinbar so entlegenen Phänomene, die juristischen Fiktionen, prinzipiell ganz identisch sind mit den in den vorigen Paragraphen behandelten erkenntnistheoretischen.

Das straffe Band, welches hier die Ordnung bestimmt, ist einzig und allein die Methode und ihr Prinzip. Darin besteht aber der Reiz dieser methodologischen Betrachtungsweise, daß scheinbar verschiedene Phänomene auf ganz gleiche Ursachen zurückgeführt werden. Die kausale Betrachtungsweise kümmert sich bekanntlich nicht um subjektive, ästhetische oder teleologische Gründe und Einteilungen. Und unsere Einteilung, so sehr es scheinen könnte, als werden hier verschiedene Dinge zusammengeworfen, wird sofort als eine prinzipielle, sehr notwendig gebotene und richtige erscheinen, wenn eben der Maßstab des methodologischen Prinzips, auf das es hier einzig und allein ankommt, angelegt wird. Wir wollen hier nun beobachten, wie die logische Funktion auf ganz verschiedenen Gebieten immer wieder dieselben Kunstgriffe anwendet.

Die fictiones juris sind ein weites Gebiet. Dafür bieten sie aber auch methodologisch ein äußerst fruchtbares Material und enthüllen den wunderbaren Mechanismus des Denkens und seiner Kunstgriffe. Ein Eingehen auf das juristische Detail wird hier ebensowenig zu vermeiden sein, wie bei der Mathematik, Nationalökonmie, Theologie, Erkenntnistheorie usw.; die Logik hat sich bisher viel zu wenig auf die detailliertere Analyse ganzer wissenschaftlicher Gedankenreihen und Methoden eingelassen. Nur ein liebevolles Eingehen auf die Wege des Denkens gibt Aufschluß über die Methode der logischen Funktion und der oft wunderbaren Umwege, welche sie einschlägt.

Auch in der fictio juris wird etwas Nicht-Geschehenes als geschehen oder umgekehrt betrachtet, oder es wird ein Fall unter ein analoges Verhältnis gebracht in einer Weise, die der Wirklichkeit schroff widerspricht. Das römische Recht ist ganz davon durchzogen; unter den neueren Völkern hat die juristische Fiktion besonders in England eine Fortbildung erfahren, freilich in einer oft lächerlichen Weise, bis zu einem Grad, der nur noch als Unfug bezeichnet werden kann.

Ein weiterer, besonders interessanter Punkt hierbei ist das Verhältnis der fictio juris zur praesumtio juris [juristisch Annahme - wp]. Die letztere ist die juristische Hypothese, die erstere ist die juristische Fiktion; auch in der juristischen Theorie und Praxis sind beide oft verwechselt worden und ihre Distinktion ist ein beliebtes juristisches Problem. Die praesumtio ist eine Vermutung, die fictio ist eine absichtliche, eine bewußte Erfindung.

Die enormen praktischen Vorteile dieser Methode sind eben so groß, daß sie stets wieder angewandt wird, z. B. im neuen deutschen Handelsgesetzbuch § 377, Absatz 2, wo die Bestimmung getroffen ist, daß eine nicht rechtzeitig dem Absender wieder zur Verfügung gestellte Ware zu betrachten ist, als ob sie vom Empfänger definitiv genehmigt und akzeptiert ist. An einem solchen Beispiel ist so recht die prinzipielle Identität der analogischen Fiktionen, z. B. der Kategorien, mit dieser juristischen Fiktion zu studieren.

Im Fall, daß die Annahme der Ware durch den Empfänger genehmigt wird, ist nämlich das Zeitverhältnis wichtig, in welchem keine Rücksendung und Remonstration [Einwand - wp] erfolgt. Dieses Verhältnis wird nun als das apperzipierende aufgestellt in einem ähnlichen Fall, wo ein Empfänger eine Ware zwar nicht akzeptieren will, aber die rechtzeitige Remonstraton versäumt; hier wird also ein reines analoges Zeitverhältnis zwischen zwei Fällen zum Grund einer sachlichen Identifizierung des Inhalts. Diese Methode in der Rechtswissenschaft ist ebenso notwendig zu einer fruchtbaren Praxis, wie in der Erkenntnistheorie: hier wäre die Begreiflichkeit unmöglich ohne die analoge Apperzeption, dort die praktische Behandlung des Falles. Die formale Handlungsweise der Seele in diesen beiden Fällen ist total identisch; und die Einsicht in diese formale Identität ist darum wichtig, weil man sich so schwer daran gewöhnt, den Wert der beiden Handlungsweisen auch gleichzustellen: der praktische Wert ist groß und oft unberechenbar; theoretisch ist damit nicht bloß nichts erreicht, sondern es ist auch eine Abweichung von der Wirklichkeit vorgenommen worden. Ohne solche Abweichungen kann das Denken seine Zwecke nicht erreichen; und das ist doch auch ganz natürlich: denn wie sollte denn das Denken das gegebene Material behandeln können und bearbeiten, ohne eine solche Abweichung? Gerade die Abweichung erscheint schließlich als das Naturgemäße; es ist dringend notwendig, immer wieder auf diesen Umstand acht zu geben und aufmerksam zu machen. Gewöhnlich hat man, wie schon oben bemerkt, die entgegengesetzte Ansicht und schreibt allen logischen Handlungen so lange Realität zu, bis ihre Unrealität bewiesen ist. Mein methodisches Prinzip ist umgekehrt. Das Auge des Philosophen ist geschärft für die ganz gewaltigen Differenzen, welche zwischen den formalen Verstandeshandlungen des Denkens und zwischen dem Sein und Geschehen der Wirklichkeit bestehen. (25)


Kapitel VI
Personifikative Fiktionen (26)

Eine weitere Abart der analogischen Fiktionen, welche aber auch eine besondere Behandlung verdient, sind die personifikativen Fiktionen. Die Analogie, unter der hier die Erscheinungen erfaßt werden, ist die Vorstellungsgruppe der Person. Die vorige Abart war eine Anwendung der analogischen Fiktion auf einem speziellen Gebiet; hier ist es eine spezielle Apperzeptionsform, welche wir behandeln.

Das gemeinsame Prinzip ist die Hypostase [Vergegenständlichung - wp] von Phänomenen in irgendeiner Hinsicht, mag sich diese Hypostasierung nun mehr oder weniger an das Bild der Persönlichkeit anschließen. Dieses letztere ist auch der eigentliche bestimmende Faktor in der Kategorie des "Dings". Hierher gehört ferner eine ganze Reihe wohlbekannter Begriffe: z. B. Seele, Kraft, Seelenvermögen. Während diese Begriffsgebilde früher für den Ausdruck realer Dinge gegolten haben, sieht man nun dieselben als bloß Abbreviaturen an, für den zusammenfassenden Ausdruck einer Reihe von zusammenhängenden Phänomenen und Prozessen. Ferner gehören hierher alle spezielleren Kräfte, z. B. die Schwerkraft, welche als Kraft NEWTON selbst nur als Fiktion ansah; die Phänomene sind natürlich real, aber die Zuschreibung derselben an eine Gravitationskraft ist eben nur ein zusammenfassender Ausdruck für die gesetzlichen Phänomene.
    Über die Kraft als Fiktion vgl. besonders Heinrich Boehmer in dem unbeachtet gebliebenen trefflichen Buch "Entwicklung der naturwissenschaftlichen Weltanschauung, Gotha 1872, Seite 163f und 166. Boehmer zitiert folgende Sätze von Dubois-Reymond: "Kraft ist nichts als eine versteckte Ausgeburt des unwiderstehlichen Hangs zur Personifikation, gleichsam ein theoretischer Kunstgriff unseres Gehirns, das zur tropischen Wendung greift, weil ihm zum reinen Ausdruck die Klarheit der Vorstellung fehlt", usw., wo die Wirkung der Fiktion ausgezeichnet geschildert ist, besonders der dadurch hervorgebrachte Schein der Begreiflichkeit. Dann ebd. Mohrs Äußerungen: "es gibt keine Kräfte" oder Hegels merkwürdige Äußerung z. B. über den Widerspruch und den Mystizismus in diesem Begriff; ebd. Seite 201f: die Tätigkeit der Einbildungskraft bei der "Fiktion der Kraft". Boehmer gibt eine besondere gute psychogenetische Ableitung der Kraft, speziell der "Anziehungskraft": "die Erfahrung lehrt bloß, daß die Körper sich annähern (d. h. unter der Herrschaft dieses Gesetzes stehen), und die Vorstellung, daß sie sich anziehen, ist nur eine Hypothese (richtiger Fiktion), eine Einbildung, die aus der Sprache das damit am nächsten übereinstimmende Wort genommen hat" (Seite 202). Vgl. Ulrici, Gott und Natur, Seite 54.
Ebenso ist es mit der Lebenskraft und einer großen Reihe anderer Kräfte. Gerade jene galt früher allgemein als eine relativ sichere Hypothese, jetzt gilt sie fast ebenso allgemein (bis auf einige Theologen und theologische Naturforscher) als Fiktion. So äußert sich auch LIEBIG in seinen "Reden und Abhandlungen", die unbekannten Ursachen seien nur Kinder der Einbildungskraft, so z. B. der spiritus rector [treibende Kraft - wp], Brennstoff, Schallstoff, katalytische Kraft der Isomeren; die Lebenskraft sei eine Erfindung des Geistes, Gespenst usw. Indessen wird das Wort als Hilfswort, als summarische Zusammenfassung noch allgemein gebraucht, und es läßt sich als Nominalfiktion (= Hilfswort) auch wohl nicht entbehren. Weiter aber ist die Lebenskraft nicht mehr zu gebrauchen, darüber hinaus wird sie eine schlechte Fiktion.

Hier sinkt die Fiktion freilich zu einer bloßen Nominalfiktion herab, d. h. der Begriff hat weiter keinen praktischen Wert als den, der Zusammenfassung des Vielen und der Erleichterung der Ausdrucksweise zu dienen. In solchen Worten ist eben nichts anderes gesagt, als was die einzelnen Phänomene selbst sagen können.
    Solche bezeichnet man auch als "Hilfsworte" im Unterschied von den "Hilfsbegriffen", welche doch noch wichtigere Dienste leisten. - In dieser Gattung gibt es eine Reihe schlechter Fiktionen; die greulichste ist "das Unbewußte" (Hypostasierung zu einer Person).

    Richtig sagt Noiré, Grundlegung, Seite 58: "Wir leihen ursprünglich jedem Begriff, jeder Abstraktion ein Ich, wenn wir es nachher auch wieder aufheben." Über den Gottesbegriff vgl. Feuerbach, Wesen der Religion, Seite 17.
Wenn man durch solche Worte bzw. Begriffe etwas begriffen zu haben glaubt - eine Naivität, die nicht gar allzufern hinter uns liegt - so vergißt man, daß das alles nur Tautologien sind.
    Dasselbe ist auch der Fall, wenn man glaubt, die unabänderliche Sukzession begriffen zu haben, wenn man sie als Kausalität apperzipiert: das ist nur eine Tautologie; Kausalität ist eine analogische Fiktion und schließlich rein nur ein Wort; zumindest heutzutage ist dieser Begriff für den Philosophen zu einem bloßen Wort herabgesunken, während man früher alles als begriffen ansah, wenn man es unter die Kausalität brachte. So ist aber schließlich alles sogenannte Beweisen und Begreifen nur Tautologie. Auch nach Herbart sind "Kräfte" nur Fiktionen (vgl. Drobisch, Herbartrede, Seite 23); vgl. besonders Laas, a. a. O., Seite 154-156 und die dort angeführten Stellen aus Fechner und Clarke; über Kraft als Hilfsausdruck besonders a. a. O. Seite 236/7, 248, 305/306.
Als solche tautologischen Nominalfiktionen sind nun eine Reihe von Begriffen zu betrachten; z. B. faßt die Chemie eine Reihe von Prozessen unter dem Namen einer "katalytischen Kraft" (siehe hierüber Hüfner, Lebenskraft, Seite 24) zusammen, der sie eben einstweilen zugeschrieben werden.
    Vgl. hierüber noch Langes treffliche Bemerkung, "Beiträge", Seite 46: "Bekanntlich hat sich die Chemie fast durchweg in metaphysischen Vorstellungen entwickelt. Die Elemente, die Affinität, die Essenz, die Ursäure waren lauter Begriffe, die nicht der Erfahrung, sondern der Metaphysik entstammten, und alle diese Begriffe haben die Forschung zwar bisweilen gehemmt, aber im Ganzen weit mehr gefördert. Sie bildeten die Leitsterne der Forschung und hätten notwendig irregeleitet, wenn die Forscher vom abstrakten Inhalt dieser Begriffe ausgehend metaphysisch weiter konstruiert hätten; da sie sich aber an den konkreten Umfang hielten, übernahm die Natur selbst die beständige Verbesserung und Vervollkommnung der Methode bis zur Zerstörung des metaphysischen Begriffs, welcher anfangs als Leitfaden gedient hatte" usw. (Wichtig ist hier der Hinweis auf die Methode der Korrektug; vgl. weiter unten.)
Solche Begriffe hat besonders das 18. Jahrhundert in allen Wissenschaften viele geschaffen; damals glaubte man, damit wirklich etwas begriffen zu haben; aber ein solches Wort ist nur eine Schale, welche den sachlichen Kern zusammenhalten und aufbewahren soll. Und wie die Schale in allen ihren Formen sich dem Kern anschmiegt und ihn einfach verdoppelt äußerlich wiedergibt, so sind auch diese Worte oder Begriffe nur Tautologien, welche die eigentliche Sache in einam anderen Gewand wiederholen. Das bekannteste Beispiel ist hier die "vis dormitiva" [einschläfernde Kraft - wp]; überhaupt ist daran zu erinnern, daß das meiste, was man nicht bloß im gewöhnlichen Leben, sondern auch in der Wissenschaft Erkenntnis heißt, in solchen Schalen besteht, in Begriffen, unter welchen das faktisch Gegebene einfach zusammengefaßt wird, ohne daß sie irgendeine neue Erkenntnis schaffen. Eine Lösung des sogenannten Welträtsels wird es nie geben, weil das meiste, was uns rätselhaft erscheint, von uns selbst geschaffene Widersprüche sind, die aus der spielenden Beschäftigung mit den bloßen Formen und Schalen der Erkenntnis entstehen.
LITERATUR - Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob - System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, Leipzig 1922
    Anmerkungen
    1) Im Manuskript = § 22.
    2) Im Manuskript = § 23 (erste Hälfte).
    3) Carl Friedrich Bachmann, System der Logik, Leipzig 1828
    4) Im Manuskript = § 23 (zweite Hälfte).
    5) Solche Fiktionen sind bei Ludwig Noiré, Grundlegung einer zeitgemäßen Philosophie, Seite 34: "Wagen wir die kühnste Abstraktion, abstrahieren wir von der Empfindung, nehmen wir die Welt als ein bloßes System bewegter und bewegender Atome." Über die erkenntnistheoretische Bedeutung der Abstraktion überhaupt siehe Noiré, a. a. O., Seite 53f (ziemlich richtig), 60, 61, 64, 69.
    6) Wahrscheinlich ist auch Hobbes "bellum omnium contra omnes" [Krieg aller gegen alle - wp] nur als nützliche Fiktion zu betrachten. Auch Dühring faßt sie so auf (Kursus Seite 203), er nennt sie gut "eine schematische Zuspitzung" (vgl. Seite 208).
    7) Auch dies hat Lange, a. a. O., Bd. 2, Seite 470f sehr richtig betont.
    8) Eine gute Analyse der Bonnet-Condillac'schen Fiktion in Engels, Philosoph für die Welt, 21. Stück: sie diene zur Simplifikation der Untersuchung.
    9) Siehe das hypothetische Tier Lotzes bei Laas, a. a. O., Seite 83, ebenso bei Lotze die Fiktion des Menschen mit mikroskopischen Augen. Ähnliches schon bei Locke und Berkeley.
    10) Bona-Meyer, Philosophische Zeitfragen, zweite Auflage, Seite 165; dieser Punkt zeigt deutlich, nicht nur, wie solche Vorstellungsgebilde zwischen Fiktion und Hypothese schwanken, sondern auch, wie leicht eine Fiktion in eine Hypothese verwandelt und als solche aufgefaßt wird.
    11) Im Manuskript = § 24 (erste Hälfte).
    12) Einen anderen Sinn hat das Schema in Schleiermachers "Dialektik": Gott und Welt sind nur unausgefüllte Gedanken, bloße Schemata (vgl. Strauss, Alter und neuer Glaube, Seite 122). Sodann ist damit nicht der kantische Begriff eines Schemas zu verwechseln. Kant versteht darunter teils das, was ich illustrative Fiktion nenne, teils die schematische Allgemeinvorstellung, teils analogische Fiktionen.
    13) Vgl. auch Noiré, a. a. O., Seite 22: Fiktion des einfachen Falles eines einzelnen Atoms.
    14) Auch zur Feststellung moralischer Grundverhältnisse hat Dühring ein Schema der zwei Personen aufgestellt (vgl. "Kursus", Seite 202f). Dühring hält auch die Vertragsfiktion teilweise aufrecht (ebd. Seite 254: Reduktion des politischen Rechts auf dasselbe Schema).
    15) Emil Dubois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens", Leipzig 1872.
    16) Eine eigentümliche Wendung des Begriffs des Urtiers findet sich bei Schopenhauer (im Anschluß an Goethe und Lamarck).
    17) Im Manuskript = § 24 (zweite Hälfte).
    18) Als eine spezielle Abart können die illustrativen Fiktionen betrachtet werden, sinnliche Bilder, um abstrakte Begriffe zu verallgemeinern, so z. B. Lockes Hilfsvorstellung des leeren, weißen Blattes (vgl. Riehl, Der Kritizismus, Bd. 1, Seite 23); so Platos Mythen als ein ganzes Gewebe solcher Bilder, worüber unten noch Näheres zu sagen ist.
    19) Kritik dieser symbolischen Fiktionen bei Strauss, Alter und neuer Glaube, Bd. 1.
    20) Über das kantische Als-Ob (besonders Prolegomena § 57/58) vgl. Laas, Kants Analogien der Erfahrung, Seite 18f. Diese kantische Analogie fällt nicht unter den Begriff realer Analogie, sondern fiktiver (vgl. Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, Seite 262).
    21) Ähnlich die Analogie der Welt mit einem Organismus oder Kunstwerk (siehe Riehl, Kritizismus, Bd. 1, Seite 159). Über die Beschreibung der vorläufigen Fiktion eines Staatsorganismus siehe Dilthey in den "Philosophischen Monatsheften", Bd. 11, Seite 257, Fußnote.
    22) Qualitäten der Monaden sind z. B. nach Herbart nur fiktive Analogien. Vgl. Drobisch, Herbartrede, Seite 20.
    23) Von der Verwechslung der realen Analogie mit analogischen Fiktionen ist auch Trendelenburg nicht loszusprechen (siehe dessen Logische Untersuchungen II, XIX, zweite Auflage, Seite 379).
    24) Im Manuskript = § 25 (erste Hälfte).
    25) Über die den juristischen Fiktionen verwandte Fiktion des Staatsvertrages findet sich weiteres noch unten. (Vgl. auch Dühring, Kritische Geschichte der Philosophie, Seite 502). Über die sehr wichtige Fiktion der "juristischen Person" siehe ebenfalls weiter unten.
    26) Im Manuskript ein Teil von § 25.