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Die Zukunft der Rechtswissenschaft
Methodische Unterschiede gab es weder in der literarischen, noch in der didaktischen Tätigkeit. Genauso wie etwa der Theologe Apostelbriefe oder der Jurist das corpus iuris bearbeitet und gelehrt hat, so arbeitete der Mediziner mit ARISTOTELES und GALEN, der Historiker mit LIVIUS und TACITUS. Heute ist das ganz anders geworden. Die Wissenschaften, die an den medizinischen und philosophischen Fakultäten betrieben werden, haben eine völlig neue Methode angenommen. An die Stelle der Erläuterung von Texten, einer wesentlich begrifflich-logischen Tätigkeit, ist das "Forschen" getreten, die Feststellung und Zusammenfassung von Tatsachen. Die Jurisprudenz ist wie die dogmatische Theologie dagegen im wesentlichen bei der alten Methode geblieben, deren Technik sie auf das Feinste ausgebildet hat. Es wäre gewiß unrecht, zu leugnen, daß nicht auch die Rechtswissenschaft Fortschritte gemacht hat. Die Texte aus dem Altertum sind durch moderne Gesetzbücher ersetzt worden, damit ist viel historischer, antiquarischer und philologischer Ballast weggefallen. Wir müssen uns bei juristischen Arbeiten nicht mehr künstlich durch die Mittel historischer Hilfswissenschaften in eine entschwundene Kulturwelt versetzen, dieser Umstand allein hat zahllose Rabulistereien [Haarspaltereien - wp] unmöglich gemacht und uns dem Leben näher gebracht. Aber der Geist ist im Wesentlichen doch der alte geblieben. Wir Juristen sind Textleser und Texterklärer geblieben. Es gibt wohl Naturforscher, Geschichtsforscher und Sprachforscher, aber keine Rechtsforscher. Am auffälligsten ist, daß in der Rechtsgeschichte die Jurisprudenz Berührung mit der Geschichtswissenschaft gewonnen und deren forschende Arbeitsweise angenommen hat, ohne daß diese Befruchtung sich auch auf die dogmatischen Fächer der Rechtswissenschaft zu erstrecken vermochte. So kommt es, daß der Rechtshistoriker heute ein durchaus modern arbeitender Gelehrter, ein Forscher ist, während der Lehrer des modernen Rechts in der veralteten Weise arbeitet. Das Überwiegen der Logik und damit der scholastischen Technik in der Rechtswissenschaft erklärt sich daraus, daß der Jurist im Allgemeinen als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen die Rechtssätze, formuliert hat, d. h. mit den Mitteln der Sprache ausgedrückte Willensmeinungen des Gesetzgebers ansieht. Damit ist für die Rechtswissenschaft zwischen den Forscher und die Sache das Wort getreten. Die wissenschaftliche Behandlung erfaßt nicht die Sache, das Recht, sondern das Gesetz, das Wort. Wir haben hier wieder einmal den folgenschweren Irrtum des SOKRATES, dessen Nachwirkungen sich weder PLATO noch ARISTOTELES zu entziehen vermocht haben und der vermöge der Autorität dieser Männer beinahe bis in unsere Tage die Fortschritte der Wissenschaft aufgehalten hat. Das Wort ist Bezeichnung, hinter dem Wort steht der Begriff. Jede Wissenschaft, die mit einer Worterklärung anfängt, kommt darauf, die Begriffe für das Reale, das eigentlich oder wirklich Seiende anzusehen. Diese Konsequenz der sokratischen Lehre zieht die Jurisprudenz heute noch. Die Rechtsnorm ist mehr oder weniger zufällig und wandelbar, der Begriff ist das Bleibende, Unveränderliche. (1) Er ist wesentlich logisch, abstrakt, er scheidet das in sich Widersprechende aus. Hinter einer Norm über den Eigentumserwerb steht der Eigentumsbegriff. Aufgabe der Wissenschaft ist es, diesen Begriff möglichst rein und allgemein, also recht abstrakt zu fassen, Erscheinungen, die diesem Begriff widersprechen, werden als begriffsfremd behandelt. So mußte das geteilte Eigentum, als dem Eigentumsbegriff widersprechend, verschwinden, das condominium in solidum [Gebiet unter gemeinschaftlicher Herrschaft - wp], eine tatsächlich vorhandene Erscheinung, wird als nicht existierend erklärt. Die reale Welt der Tatsachen muß sich der Ideenwelt, den Begriffen unterordnen. Platonisch ist unsere Rechtslehre auch darin, daß sie umso höher einen Begriff wertet, je allgemeiner und damit je ärmer an Inhalt er ist. Die Gesetzbücher enthalten allgemeine Teile; aus der Lehre vom Schuldvertrag im Allgemeinen ist unter Weglassung der Besonderheiten die Lehre vom Vertrag im Allgemeinen, und daraus wieder die Lehre vom Rechtsgeschäft im Allgemeinen sublimiert [erhöht - wp] worden. Auf sorgfältige, widerspruchsfreie Definitionen wird zumal im Strafrecht geachtet. SOKRATES hat bekanntlich gelehrt, Tugend sei ein Wissen, es komme deshalb darauf an, klare Begriffe von der Tugend und ihren Arten zu erhalten, und dazu bedürfe man der Definitionen. Dasselbe lehren wir vom Recht. Wir legen auf das Rechtswissen und in diesem wieder auf die Begriffsbildung das größte Gewicht. Ein trefflicher Richter ist uns derjenige, der über umfassendes Rechtswissen verfügt. Ob er auch ein gerecht denkender Menschen von lebhaftem Rechtsgefühl ist, vergessen wir darüber fast ganz zu fragen. Es gibt viele Juristen, die ein lebhaftes Rechtsgefühl eher für ein Übel halten, weil es die kühle logische Arbeit, das "Rechnen mit Begriffen" mehr stört als fördert. In der Rechtswissenschaft herrscht somit unbedingter Rationalismus. Die Wissenschaft beschäftigt sich vornehmlich damit, die immer wieder in der Welt der Tatsachen auftauchenden, nicht in das System der Begriffe passenden Erscheinungen irgendwo einzureihen, selbst auf die Gefahr hin, den Tatsachen etwas Gewalt anzutun. Geht es aber absolut nicht, eine Tatsache unter die herkömmlichen Begriffe zu bringen, so wird eben diese Tatsache Grund zur Aufstellung eines neuen Begriffs, den man wenigstens unter einen der höheren Allgemeinbegriffe einzureihen trachtet. So hat uns das Leben schon viele neue Geschäfts- und Verbrechensbegriffe beschert, die nach vergeblichen Bemühungen, die Tatsachen im System unterzubringen, als Begriffe sui generis [eigener Art - wp] eingestellt werden mußten. Die Wissenschaft sucht also stets das Irrationale seines Charakters zu entkleiden und zu rationalisieren. So arbeitet die Rechtswissenschaft noch heute. Sie hat den Wandel der Methode in den Naturwissenschaften und in den historischen Wissenschaften erlebt, aber sie hält am Alten fest. Sie ist heute noch "scholastisch", d. h. ihre Methode ist im Wesentlichen eine durch Schultradition überlieferte Technik der Arbeitsweise. So kommt es, daß ein so hoch und vielseitig gebildeter Mann HOUSTON STEWART CHAMBERLAIN auf den Gedanken gekommen ist, daß die Jurisprudenz gar keine Wissenschaft ist, weil sie nichts erforscht, sie ist bloß eine Technik. Was der Rechtswissenschaft bis heute gefehlt hat, das war eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Erkenntnisproblem. Mit vollem Recht widmet BEROLZHEIMER den ersten Band seines großangelegten Systems der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie der Kritik des Erkenntnisinhalts. Und zwar handel es sich für die Zukunft der Jurisprudenz nicht so sehr um die letzten und tiefsten Probleme der Rechtsphilosophie, sondern um eine Klärung der Anschauungen über das nächste, unmittelbare Objekt der Rechtswissenschaft. Vor allem muß dem Juristen klar werden, welche Bedeutung den Rechtsbegriffen im wirklichen Leben zukommt. Und das kann, wie ich glaube, nur durch eine Vertiefung der psychologischen Bildung geschehen. Wir sind so organisiert, daß uns von dem Inhalt eines sinnlichen Eindrucks nur ein kleiner Teil zu Bewußtsein kommt, und davon wieder nur ein kleiner Teil im Gedächtnis haften bleibt. Von zwei Leuten, die denselben Vorgang beobachten, weiß jeder etwas anderes zu berichten, jeder aber nur blutwenig von dem, was vor seinen Augen geschehen ist. Gerade das ist den Juristen, sie sie sich mit dem Problem der Zeugenaussage befassen, allgemein bekannt. Auf diesem Mangel unserer psychischen Verfassung beruth aber eine unserer wichtigsten Fähigkeiten: die Fähigkeit, Exzerpte der sinnlichen Erfahrung zu machen, zu abstrahieren und damit Allgemeinbegriffe zu bilden. Der Begriff "weiß" oder "blau" ist ein solches Exzerpt aus zahlreichen Gesichtseindrücken weißer und blauer Dinge, von denen eben nichts im Gedächtnis bleibt als der Farbeindruck, und ebenso ist das Wort "Stein" oder "Haus" ein aus zahllosen Einzelwahrnehmungen gemachter Auszug. Die Begriffsbildung ist wesentlich unterstützt durch die Sprache, weil die Worte nicht Einzeleindrücke darstellen, sondern fast durchwegs mehr oder weniger allgemeine Begriffe wiedergeben. Dabei ist besonders zu bemerken, daß die so gebildeten Begriffe fester Grenzen entbehren, sie entstehen gewissermaßen im Zentrum ihres Umfangs. Ob eine Sache weiß oder blau ist, wird in den meisten Fällen nicht zweifelhaft sein, aber es wird Grenzfälle geben, in denen die Entscheidung schwer wird. Ebenso wird man in den meisten Fällen sagen können, ob das, was man sieht, unter den aus früheren Eindrücken gebildeten Begriff "Haus" einzureihen ist. Allein oft wird man doch vor Gegenstände gestellt werden, von denen es sehr fraglich ist, ob man sie als Häuser ansehen darf. (2) Ähnlich wie die Begriffe sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände oder sinnlich wahrnehmbarer Eigenschaften (Allgemeinbegriffe und abstrahierte Begriffe) sind die eigentlichen Rechtsbegriffe entstanden. Man denken an die Begriffe Früchte, Zubehör, Übergabe, Willensübereinstimmung, Vertrag, Verschulden, Versuch, Beihilfe, Diebstahl u. a. Sie sind sicherlich den Rechtssätzen, die sie aussprechen, gegenüber das prius [vor - wp], allein sie sind stets ein posterius [nach - wp] gegenüber der Erfahrung, aus der sie gewonnen sind. Eine Wissenschaft, die hinter die Rechtssätze nur bis zu den Begriffen vordringt, tut nur halbe Arbeit, sie muß bis zu den Erfahrungstatsachen vordringen. Sonst vergewaltigen wir mit den Begriffen, den Hilfsmitteln unserer Vorstellungstätigkeit, die Welt der Tatsachen. Wir Menschen sind nun einmal so, daß uns das Gemeinsame von wenigen, sagen wir fünf Erfahrungstatsachen, sofort zum Allgemeinbegriff wird. Und wenn wir dann 95 Fälle kennen lernen, die uns die Unhaltbarkeit unserer vorschnellen Begriffsbildung zeigen, so leugnen wir anfänglich lieber die Tatsachen oder machen lieber Fehlschlüsse, bevor wir uns entschließen, den Begriff und damit die bereits gewonnen geglaubte Erfahrung zu opfern. Die Tatsachen, zu denen der Jurist vordringen muß, sind allerdings nicht so sinnenfällig, wie die Gegenstände des Naturforschers. Sie sind aber darum nicht weniger bekannt. Sie gehen im Wesentlichen darauf hinaus, daß gewisse Geschehnisse eine eigentümliche seelische Reaktion auslösen, die mehr oder weniger gefühlsmäßig betonte Vorstellung: das darf nicht sein, das sollte verboten sein, das mußt nötigenfalls mit Gewalt rückgängig und für die Zukunft unmöglich gemacht werden. An dieses psychische Phänomen schließt sich ein zweites: die gleichfalls gefühlsmäßig betonte Vorstellung der Herstellung eines befriedigenden Zustandes: so ist es in Ordnung. (3) Auf diese zwei Grundtatsachen des individuellen Seelenlebens baut sich in jedem Menschen ein mehr oder weniger komplizierter Bau von Rechtsvorstellungen auf. Die Entscheidung, ob irgendein Vorgang als Recht oder Unrecht angesehen und empfunden wird, kann von den verschiedensten Umständen abhängen, Erziehung, Gewohnheit und die Macht des Bestehenden tragen dazu bei, in jedem einen gewissen Schatz von Rechtsvorstellungen aufzuhäufen, der ähnlich wie die ethischen Vorstellungen (4) bei aller Anerkennung der Selbständigkeit der Persönlichkeit für Zeit- und Volksgenossenk im Großen und Ganzen gleichförmig sein wird. Das Gemeinsame an diesen Rechtsvorstellungen wird, wenn die Macht der Gesellschaft dazutritt, auch zum wirklich erzwungenen Recht. Die Vorstellung "das sollte erzwungen werden" wird zur Tat. Aber nicht alles, was erzwungen wird, ist auch als Recht empfunden, und nicht alles, was in gewissen Kreisen als Recht empfunden wird, kann erzwungen werden (5). So ergeben sich von der anti-sozialen individuellen Rechtsvorstellung eines Kohlhaas bis zu dem allgemein als ungerecht empfundenen Gesetzesbefehl viele Zwischenstufenf. Gerade diese Tatsachen aber sind uns heute so ziemlich unbekannt. Was wissen wir heute über den Satz: "Kauf bricht Miete"? Daß er in den Gesetzbüchern aufgestellt oder abgelehnt wird, und daß die Gerichte, in den seltenen Fällen, wo es zum Prozeß kommt, im Sinne des Gesetzes entscheiden werden. Höchstens wissen wir noch, wenn wir uns überhaupt danach fragen, ob er unserem durch das Studium der Gesetze und Lehrbücher verbildeten, volksfremd gewordenen Rechtsgefühl entspricht. Das ist alles. Wir wissen aber nicht, ob die Tausende, die Mietverträge schließen, und die vermietete Häuser kaufen, den Satz kennen und beobachten, ob die Käufer sich als berechtigt ansehen, Mieter aus dem Haus zu weisen, und ob diese sich solchen Anforderungen fügen. In Wien ist der Satz: "Von einem geschlossenen Vertrag kann jeder Teil binnen 24 Stunden zurücktreten" außerhalb der Handelskreise wirkliches lebendiges geltendes Recht. Er steht zwar im Widerspruch mit dem Gesetz, kein Gericht urteilt nach ihm, aber die Bevölkerung hält ihn für Recht und beobachtet ihne; jeder, der einen Vertrag geschlossen hat, hält sich für berechtigt, zurückzutreten, und der Gegenkontrahent gestattet auch fast immer den Rücktritt. Man empfindet es als Schikane, wenn jemand den Rücktritt unter Berufung auf das Gesetz nicht gestatten würde. Diese Tatsachen zu erforschen, ist unsere nächste Aufgabe. Nicht um unser, der Juristen, Rechtsgefühl handelt es sich, sondern um das der Volksmassen, der verschiedenen Klassen des Volkes, das wir nicht kennen. Wir juristisch Gebildeten handeln in der Regel nach dem geschriebenen Recht, auch wenn es unserem Gefühl widerspricht, die Nichtjuristen handeln dagegen fast ausschließlich nach Motiven, die aus einer sehr unvollkommenen, oft genug irrigen Kenntnis gesetzlicher Vorschriften (6), aus Überlieferungen und Erfahrungen, die in Haus, Schule und Leben gesammelt worden sind, und einem sehr starken gefühlsmäßigen Einschlag zusammengewoben sind. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, stehen wir mitten in einer Bewegung, die dem scholastischen Charakter der Rechtswissenschaft ein Ende machen will und eine auf empirischer Grundlage ruhende Jurisprudenz zu schaffen versucht. Wie immer, wenn Dinge in der Luft liegen, ist es nicht möglich, den ersten Anstoß zu einer einsetzenden allgemeinen Bewegung festzustellen. Ich begnüge mich damit, an ein paar Beispielen zu zeigen, wie von allen Seiten gleichzeitig die neuen Geister über die Zäune der Rechtswissenschaft steigen. Auf dem Gebiet des Rechtsunterrichts ist als der konservativste Versuch SPERLs "Institut für Rechtsanwendung" anzusehen (7), das an der Wiener Universität gegründet worden ist und an deutschen, holländischen und ungarischen Universitäten Nachahmung findet. Anstelle der Gesetze soll der Student die Urkunden und Akten des wirklichen Rechtslebens zu sehen bekommen. Also wirkliches Leben statt der Abstraktionen, allerdings das wirkliche Leben aus zweiter Hand, nämlich bereits in der Abstraktion, wie es durch die schriftliche Formulierung geworden ist. Weiter geht EHRLICH (Czernowitz) mit seinem "Institut für lebendes Recht" (8). Er will die im Volk lebenden Rechtszustände selbst sammeln, und dazu dienen ihm die verschiedensten Beobachtungsmethoden, besonders die Enquête [wirtschaftspolitische Untersuchung - wp]. Auf andere Weise versucht BOZI (9) das Problem von der pädagogisch-didaktischen Seite zu lösen. Er versucht das geltende Recht nach induktiver Methode zu lehren. Die Grundtatsachen, auf die er seine induktiven Schlüsse aufbaut, sind allerdings ziemlich verschiedenartig. Bald gibt er dem Schüler einen Rechtssatz, einen Paragraphen, bald baut er auf dessen von der Lebenserfahrung mitgebrachten ungeordneten oft irrigen Rechtskenntnisse, aus denen er mit wunderbarem Geschick zu immer größerer Klarheit und Allgemeinheit aufzusteigen versteht. Im möchte aus seinem Buch vor allem den Satz herauslesen: "Weg mit allen allgemeinen Lehren, bevor die Einzeltatsachen bekannt sind, aus denen sie abstrahiert sind!" Schon bei EHRLICH ist das Neue nicht mehr eine Unterrichtsreform, sondern eine Wissenschaftsreform, eine Reform der Forschung. Eine solche Umwälzung versucht mit einer Kritik der allgemeinen Rechtslehre KORNFELD (10) zu bieten. Recht ist ihm nicht der Ausdruck des Willens eines Gesetzgebers, sondern die Rechtsregeln sind ihm nur empirische Regeln, Voraussagen des Inhalts, daß die Rechtsgenossen unter bestimmten Voraussetzungen bestimmte Verhaltensweisen beobachten werden. Der gleiche Gedanke, daß das Recht ein soziales Phänomen ist, das in den Gesetzen nur zum kleinen Teil und nur unvollkommen Ausdruck findet, ist in den letzten Jahren wiederholt ausgesprochen worden. Ich verweise nur auf AMIRA (Vom Wesen des Rechts, Allgemeine Zeitung, 1906, Nr. 284) und SPIEGEL (Jurisprudenz und Sozialwissenschaft, Grünhuts-Zeitschrift, Bd. 36, Seite 1f). Wir kommen damit zu einem ganz neuen Rechtsbegriff, wir verlassen damit die alte Autoritätslehre, die "Imperativtheorie" BINDINGs, die da gelehrt hat: "Das Gesetz ist Recht, weil der Gesetzgeber es gewollt hat." Vor KORNFELD haben bereits WURZEL, "Das juristische Denken" und LOENING, "Über Wurzel und Wesen des Rechts" dagegen Front gemacht. Wir kommen dazu, das Wesen des Rechts statt in einer äußeren Autorität in inneren Kriterien zu suchen, und auf diese Weise das "richtige" Recht von all dem, was Recht zu sein vortäuscht, aber es innerlich nicht ist, zu scheiden. So STAMMLER, "Die Lehre vom richtigen Recht", der allerdings die Kriterien nicht empirisch feststellt, sondern gewissermaßen a priori aus der Rechtsidee ableitet. Dabei ist aber zu betonen, daß STAMMLER als echter Kantianer nur für formale Sätze Allgemeingültigkeit beansprucht, während er den materiellen Inhalt der Rechtssätze der nur empirisch zu erkennenden Sozialwirtschaft zuweist. Die Richtung der Rechtswissenschaft, die sich Interessenjurisprudenz im Gegensatz zur Begriffsjurisprudenz nennt, stellt sich gleichfalls auf den Standpunkt, daß dem empirischen Element, dem Interesse, gegenüber dem logischen, der Vorrang gebührt. So MÜLLER-ERZBACH, MAUCZKA u. a. Die empirische Natur des Rechts anerkennen auch diejenigen Gelehrten, die den psychologischen Ursprung des Rechts betonen. Das hat in entschiedener Weise JELLINEK getan, indem er im elften Kapitel seiner "Allgemeinen Staatslehre" von der Tatsache ausgeht, daß jede bewußte Rechtsbildung von einem de lege ferenda [vom Standpunkt des zukünftigen Rechts aus - wp] als richtig erkannten Inhalt ausgeht. Die Jurisprudenz tritt mit dieser Wendung zur Psychologie in die Reihe der Schwesterwissenschaften, der Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaft und der Ethik, die aus der Berührung mit der Psychologie alle reichen Gewinn gezogen haben. Namentlich die Rechtsgeschichte scheint mir dazu berufen zu sein, das Bindeglied zwischen der psychologisch orientierten Geschichtswissenschaft (11) und der Rechtswissenschaft zu bilden. Ähnliche Gedanken hat in einigen kleinen aphoristisch gehaltenen Aufsätzen vor wenigen Jahren erst BAUER (12) vertreten. Die psychologische Wurzel jeder Rechtsgeltung hat neuerdings KLEIN (a. a. O.) in überzeugender Weise dargelegt, während WIESER in seinen Untersuchungen über "Macht und Recht" schon früher darauf hingewiesen hatte, daß Macht in den seltensten Fällen physische Gewaltanwendung bedeutet, daß vielmehr schon die Voraussicht einer allfälligen Machtanwendung und andere noch idealere Faktoren Macht gewähren, somit auch auf dem Gebiet der äußeren Rechtsdurchsetzung psychologische Vorgänge die Unterwerfung unter das Recht hervorbringen. Von Versuchen, psychologische Grundsätze auch in juristischen Monographien anzuwenden, kann ich allerdings nur meine eigene Abhandlung über "Die Uneigennützigkeit im Privatrecht" (Allgemeine österreichische Gerichtszeitung, 1910) anführen. Sehen wir auf das Gebiet der Rechtsanwendung. Hier sind es zwei Schlachtrufe, die die Gegenwart charakterisieren: "Freie Rechtsfindung" und "Laienrichter". Beide Forderungen hängen eng zusammen, sie sind nur Ausdruck der Opposition gegen die logisch-scholastische Begriffsjurisprudenz. Die freie Rechtsfindung, das Schlagwort der Freirechtsschule, kehrt sich gegen die Denkweise der Rechtsscholastik, nicht mehr die Rechtssätze, diese Gebilde der logischen Bearbeitung des Rechts, sollen das Leben beherrschen, sondern aus dem Leben, der Welt der Tatsachen, sollen die Rechtssätze abstrahiert werden. Gegen die erste bedeutende Schrift dieser Richtung: "Der Kampf um die Rechtswissenschaft", von GNAEUS FLAVIUS, hat sich lebhafter Widerspruch erhoben. Seither ist die Beurteilung der Bewegung milder geworden. Der Ruf nach Laienrichtern gründet sich auf die Behauptung der Weltfremdheit der Berufsrichter. Diese Weltfremdheit, von der einen Seite so lebhaft behauptet wie von der anderen bestritten, ist nichts anderes als die Befangenheit in der Begriffswelt. Sie ist die notwendige Folge der logisch konstruierenden Methode. Sie war da, sobald diese Methode die Tätigkeit der Richter zu beherrschen begann und sie wird erst verschwinden, wenn die Methode der Rechtswissenschaft eine andere werden wird. Nicht daß es römische Rechtssätze waren, die die Gelehrten in die Gerichte einführten, hat die Kluft zwischen Volksempfinden und Juristenrecht geschaffen, sondern daß die Rechtssätze nach scholastisch-deduktiver Methode angewendet wurden. Daß auch die große Masse der Juristen, die sich naturgemäß durch das Verlangen nach Laienrichtern verkant und verletzt fühlt, von einem neuen Geist erfaßt wird, zeigt der Aufschwung der Bewegung "Recht und Wirtschaft". Sie sucht die alten Formen der Rechtswissenschaft mit neuem Gehalt zu füllen, indem sie die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Vordergrund stellt. Allein man wird sich hüten müssen, sich von dieser Bewegung allzuviel zu versprechen, wenn nicht auch die Formen des juristischen Denkens von Grund auf neu gebaut werden, wenn nicht die Jurisprudenz sich entschließt, aufzuhören, eine normative Wissenschaft zu sein und eine Erfahrungswissenschaft zu werden. Alle diese Erscheinungen zusammengefaßt sind Anzeichen einer mächtigen, nicht endgültig aufzuhaltenden Bewegung. Natürlich hat diese auch ihre Gegner. Das sind alle diejenigen, die ihrer ganzen Veranlagung nach weniger zum Sammeln von Tatsachen als mehr zur logischen Verstandestätigkeit geeignet sind (13). Sodann kommt vielfach eine Art Bequemlichkeit dazu. Ich habe es wiederholt erfahren, daß der junge Jurist sich mit Vorliebe auf Verstandesprobleme, selbst auf Rabulistik stürzt und ernsthafte Forschung, wie sie Rechtsgeschichte und Rechtsstatistik erfordern, vernachlässigt. Es ist ja so hübsch, zu diskutieren und seinen im Gymnasium geübten Verstand zu benutzen, man wiegt sich so angenehm in dem Gefühl, auf diese Weise etwas leisten zu können, während die Forschung ungemein mehr Fleiß, Kenntnisse und Geduld verlang und dem Anfänger doch erst nach langem Arbeiten spärliche und oft zweifelhafte Erfolge zu bieten vermag. So findet die alte Schule immer wieder neue Schüler, dazu kommt, daß unsere Schultraditionen, wie sie in Seminaren gepflegt werden, und die für den Anfänger vorbildliche Monographienliteratur durchaus der alten Richtung angehören. Daß endlich die Gelehrten, die Jahrzehnte in der logischen Weise gearbeitet haben, nicht mehr umlernen können und die Zwecklosigkeit selbst Schädlichkeit ihrer Richtung nicht einsehen, das ist für jeden, der die Geschichte der Wissenschaften einigermaßen kennt, selbstverständlich. Derartige Umwälzungen setzen sich überhaupt nicht in der Weise durch, daß man die Anhänger des Alten überzeugt, sondern nur dadurch, daß die kommenden Generationen ihnen immer spärlicher Gefolgschaft leisten. Nur eine Folgeerscheinung der neuen Richtung möchte ich noch kurz erwähnen: Das Verhältnis von Recht und Gesetz verschiebt sich nicht unwesentlich. (Unter Gesetz bezeichne ich kurz das, was man als positives Recht bezeichnet.) Das Naturrecht hat bekanntlich behauptet, das Gesetz enthalte allerdings das wirklich geltende Recht, allein das, was als gerecht erkannt und empfunden wird, trete ihm als dasjenige gegenüber, was Recht sein soll. Die neue empirisch-psychologische Richtung kehrt das Verhältnis gerade um: das was von Millionen Nichtjuristen täglich als Recht empfunden und geübt wird, das ist das wirkliche, lebendige Recht, das Gesetz ist dagegen "nur Projekt eines Rechts, ein Projekt, das erst auf Ausführung wartet, - vielleicht in Ewigkeit vergebens wartet, wenn es nämlich unausführbar ist." (AMIRA, a. a. O.) Dringt die neue Richtung durch, dann dürfen wir hoffen, daß die Vereinsamung der Juristen unter den anderen Gelehrten aufhört. Es werden Institute geschaffen werden, die die Feststellung der Rechtserscheinungen in ähnlicher Weise pflegen werden, wie man etwa meteorologische oder chemische Vorgänge feststellt (14). Das seit langem aufgestellte Projekt einer Rechtsklinik, in die Leute kommen, denen wirkliche Rechtsfälle zugestoßen sind, und die nun Rat suchen, wird sich verwirklichen und es werden diese Anstalten die vornehmsten Stätten des Rechtsunterrichts werden. Es wird aufhören, daß einer sich Jurist nennt und Staatsprüfungen besteht, der nie die Universität gesehen hat, und sich nur vom Repetitor notdürftig Begriffe, Definitionen und Rechtssätze hat einpauken lassen. Es wird aber ebenso unmöglich werden, daß Monographien über Rechtsinstitute geschrieben werden, die zwar unsere Gesetzbücher regeln, die aber nie wirklich gelebt haben, ebenso wie es unmöglich ist, daß ein Hygieniker über die Schädlichkeiten einer Speise schreibt, die niemand essen wird oder über Vorsichtsmaßregeln bei Lebensgewohnheiten, die niemand hat. Aus der Verjüngung der Rechtswissenschaft wird aber auch die Rechtsanwendung einen Vorteil ziehen. Grundsatz für die Auslegung von Gesetzen wird nicht mehr die logische Konsequenz aus allgemeinen Begriffen sein, sondern die Eingliederung des Gesetzesbefehls in den als geltend erkannten, durch die Wissenschaft angesammelten Tatsachenstoff. Nicht die Tatsachen werden unter Begriffe subsumiert, die vielleicht aus ganz anderen Tatsachen durch eine unvollständige Induktion gewonnen sind, sondern der Gesetzesbefehlt wird nur als Sonderfall einer allgemein geltenden Rechtsüberzeugung gelten dürfen. Auch die Gesetzgebung wird sich auf neue Grundlagen stellen. Jede Gesetzgebung ist zum Teil eine Kodifikation [Sammlung von Normen in ein nachschlagbares Regelwerk - wp] des bestehenden Rechts, zum Teil Reform, bewußte Änderung des Rechts. Beides wird heute am Maßstab des geltenden Gesetzes, nicht des lebendigen Volksrechts gemessen. Künftige Kodifikationen werden sich nicht auf die bestehenden Gesetze beschränken dürfen, sie werden umfassende Enquêten über das geltende lebendige Recht erforderlich machen. Und die Reformgesetze wird man nur dann erlassen dürfen, wenn ihr Inhalt fähig ist, Volksüberzeugung zu werden. Schließlich wenn die neue - empirisch-psychologische Methode - weiter nichts zur Folge hätte, als daß wir Juristen endlich wieder das Volk verstehen lernen, so wäre das ein großes Glück für beide Teile. Das Volk würde darum noch nicht die Juristen verstehen, dazu ist das Rechtsleben zu kompliziert - aber es würde vielleicht wieder lernen, was wir ihm so gründlich vertrieben haben - den Juristen zu vertrauen. ![]() ![]()
1) Die Rechtswissenschaft gehört daher der realistischen Richtung im Sinne des Mittelalters an, universalia ante rem, die Allgemeinbegriffe gehen der Einzelerscheinung voraus. 2) Diese Skizze der Entstehung der Allgemeinbegriffe geht auf Locke zurück. Sie ist heute in der Naturwissenschaft allgemein herrschend. Vgl. Ebbinghaus, "Grundzüge der Psychologie" und Ostwald,< "Grundzüge der Naturphilosophie". 3) vgl. Kuhlenbeck, "Zur Psychologie des Rechtsgefühls" im ersten Band dieser Zeitschrift, Seite 25f. 4) vgl. Klein, "Die psychischen Quellen des Rechtsgehorsams und der Rechtsgeltung", 1912. 5) z. B. die Regeln, nach denen Verbrecher die Beute teilen. 6) vgl. Steinbach, Rechtskenntnisse des Publikums. 7) Sperl, Ein Institut für angewandtes Recht an der Universität Wien. 8) Ehrlich, "Die Erforschung des lebenden Rechts", Schmollers Jahrbuch, 1911; "Ein Institut für lebendes Recht", Juristische Blätter 1911; Verhandlungen des 31. Deutschen Juristentages, II. 9) Bozi, Die Schule der Jurisprudenz 10) Ignatz Kornfeld "Soziale Machtverhältnisse", 1911. 11) In dieser Hinsicht wäre auf Simmel, "Probleme der Geschichtsphilosophie" und auf Lamprecht, "Moderne Geschichtswissenschaft" zu verweisen, namentlich aber auf die großartige Ausführung dieser Ideen in Lamprechts "Deutscher Geschichte". 12) Dr. Bauer, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft, Grünhuts Zeitschrift, Bd. 36, Seite 426; "Über die geschichtspsychologische Grundlage juristischer Forschung", ebd. Seite 431. 13) Dazu rechne ich z. B. Kelsen dessen "Hauptproblem der Staatslehre" 1911, gerade durch ihre Übertreibung und einseitige Betonung der formalen Auffassung des Rechts von der logisch-deduktiven Rechtsbehandlung abschrecken müssen. 14) Siehe darüber Kobler, "Die Erforschung des Rechtsbewußtseins durch Beobachtung und Experiment", Juristische Blätter, 1912. Ofner hat die gleiche Idee in Vorträgen in der Wiener juristischen Gesellschaft: "Die naturwissenschaftliche Methode im Recht, das Experiment im Recht" schon vor 30 Jahren und kürzlich erst wieder in einem Referat auf dem 31. deutschen Juristentag vertreten. |