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FERDINAND JAKOB SCHMIDT
Die Demaskierung des Positivismus

"Das Fremde, völlig Undeutsche, womit uns der Positivismus überflutet hat, ist das durchaus unkritische Dogma, daß die sinnliche, psychophysische Erfahrung die einzige Quelle all unserer wirklichen Erkenntnis ist. Die skrupellose Annahme dieses positivistischen Dogmas durch unsere Neukantianer und Psychologisten bedeutet keinen gesunden Fortgang über Kant hinaus, sondern vielmehr die vollständige Preisgabe und Verwerfung seines kritischen Grundgedankens."

"Echt positivistisch wird zur Voraussetzung gemacht, daß Empfindungen der Ausgangspunkt aller logischen Tätigkeit sind und zugleich die Endstation, in die dieselbe einmünden muß. Daher ist der Zweck des Denkens kurz dahin zu präzisieren, daß es in der Verarbeitung und Vermittlung des Empfindungsmaterials zur Erreichung eines reicheren und volleren Empfindungslebens seine Bestimmung findet."

"Das Denken gebraucht, um vorwärts zu kommen, einen Kunstgriff; es fingiert ein Ding und schreibt diesem Eigenschaften zu und verbindet beide Momente im Urteil. Das Denken würde nicht vorwärts kommen ohne diese Fiktion eines Dings: es kann sich im Wirrwarr der Empfindungen nur auf diese Weise orientieren. Allein tatsächlich sind "Ding" und "Eigenschaft" nur logische Fiktionen. Ein Irrtum aber ist es, in solchen logischen Mitteln Selbstzwecke zu sehen und ihnen daher einen selbständigen Erkenntniswert zuzuschreiben. Alle diese Kategorien sind Analogien, sind Anwendungen eines zwar analogen, aber doch schließlich unpassenden Verhältnisses auf die objektiven Verhältnisse."

Und so geschah's! - Endlich hat ein scharfsinniger Kopf den Mut gefunden, in einer gut gewählten Verkleidung darzulegen, wie es mit der Menschheit bestellt ist, wenn sie sich entschlossen auf den Boden des Positivismus stellt. Solange dies nicht geschehen war, konnten von den Positivisten unter den Philosophen und Theologen, wie unter den Historikern, Juristen und Nationalökonomen noch Scheinkompromisse geschlossen werden, sei es mit dem philosophischen Idealismus, sei es mit der Religion und der Ethik des Christentums. Das aber ist nun endgültig vorbei. Wer fortan unter den Anhängern des Positivismus nicht als Flachkopf und Konfusionarus erscheinen will, muß einzusehen vermögen, daß von diesem Standpunkt als solche Mächte wie die sittliche Weltordnung, Gott, Freiheit usw. keine Wirklichkeitsgrößen, sondern nur mit dem Menschen notwendig sich bildende Fiktionen oder Produkte der Einbildungskraft sind. Die Religion nicht nur, sondern die ganze Geisteswelt überhaupt kann für den Positivisten, der offen und ehrlich verfährt, lediglich die Bedeutung eines Inbegriffs von Hilfsvorstellungen haben, die von unserer Psyche erzeugt werden, um uns dem sinnlichen Dasein zweckmäßig anpassen zu können. Die wahre Welt die Welt des Geistes, das Reich Gottes, worin uns das Christentum und ebenso unsere klassischen Denker und Dichter heimisch zu machen suchten, hat danach keinen objektiven Wahrheitsgehalt, sondern ist nur eine geniale Hilfskonstruktion unseres pragmatischen Nützlichkeitssinns.

Das Werk, dem wir diese vollständige Demaskierung des Positivismus verdanken, ist den Lesern der "Preußischen Jahrbücher" bereits durch die Besprechung im Dezemberheft 1911 vor die Augen gerückt worden; es ist die "Philosophie des Als Ob" von HANS VAIHINGER. Vom ersten, über ein Menschenalter zurückliegenden Entwurf dieser Publikation hat FRIEDRICH ALBERT LANGE gesagt: "Ich bin überzeugt, daß der hier hervorgehobene Punkt einmal ein Eckstein der philosophischen Erkenntnistheorie werden wird." Dem stimme ich zu, aber in einem anderen Sinn, als es der Verfasser der "Geschichte des Materialismus" gemeint hat. Mir scheint, daß dieses "System der Fiktionen" unmittelbar oder mittelbar den Antrieb zu einer Scheidung der Geister in unserem gegenwärtigen Zeitalter enthält, und zwar in der Hinsicht, daß alle die Halben auf den Kanzeln und Kathedern endlich einmal werden Farbe bekennen müssen, ob sie die schöpferischen Potenzen unserer Geisteskultur für lebendige Wirklichkeiten oder, dem Positivismus getreu, für bloße Kunstgriffe unserer subjektiven Einbildungskraft zu erfassen vermögen. Zu dieser Entscheidung treibt die "Philosophie des Als Ob".

Der Positivismus ist kein ursprünglich deutsches Gewächs; er hat sich gebildet aus Schößlingen, die aus der Fremde importiert wurden. Hauptsächlich mitgewirkt hat dabei der englische Psychologismus LOCKEs und HUMEs und der Materialismus der französischen Enzyklopädisten. Aus diesen beiden Hauptfaktoren entwickelte sich eine Erkenntnisrichtung, die man im Unterschied vom rein physischen Naturalismus der Materialisten als eine psychophysischen Naturalismus bezeichnen kann. COMTE hat dafür den Namen Positivismus in Aufnahme gebracht. Wie die ganze neuere Philosophie, so geht nun auch dieser Positivismus von der Erkenntnistätigkeit des menschlichen Individuums aus, indem er, ebenso wie KANT, darauf gerichtet ist, Ursprung, Umfang und objektive Gültigkkeit dieser unserer menschlichen Erkenntnisleistung festzustellen. Jedoch das Fremde, völlig Undeutsche, womit uns der Positivismus überflutet hat, ist das durchaus unkritische Dogma, daß die sinnliche, psychophysische Erfahrung die einzige Quelle all unserer wirklichen Erkenntnis ist. Die skrupellose Annahme dieses positivistischen Dogmas durch unsere Neukantianer und Psychologisten bedeutet keinen gesunden Fortgang über KANT hinaus, sondern vielmehr die vollständige Preisgabe und Verwerfung seines kritischen Grundgedankens. Denn, wenn KANT von der sinnlichen Erfahrung auf die Bedingung ihrer Möglichkeit zurückgeht, was heißt das anderes, als daß es außer jener notwendigerweis noch eine andere Erkenntnisquelle geben muß, die ihrerseits erst ein Wissen von objektiver Gültigkeit ermöglicht. Diesen Angelpunkt des ganzen Kritizismus zerstörte aber der Positivismus, indem er erklärte, daß unsere gesamte wissenschaftliche Erkenntnis einzig und allein ein Entwicklungsprodukt unserer sinnlichen Erfahrung ist. Mit dem verwegensten Dogmatismus behaupteten daher die positivistischen Neukantianer, daß nicht der KANT des transzendentalen Idealismus, sondern ihr physiologisch interpretierter KANT der wahre ist. Daß so der ausländische Positivismus im Widerspruch mit der ganzen bisherigen Geistesentwicklung unseres Volkes zur herrschenden Doktrin werden konnte, beweist nur, daß inzwischen auch bei uns die Kraft echt philosophischen Denkens gelähmt ist.

Nicht wir, sondern Ausländer haben es gesagt, daß es, streng genommen, nur zwei Völker sind, die im großen Stil zu philosophieren wissen; das sind die Hellenen und die Deutschen. Mögen andere Völker andere Gaben haben, so war doch jenen beiden Nationen in der Tat vor den übrigen die überwiegende Stärke spekulativer Vertiefung eigen. Der himmelstürmende Glaube LUTHERs wie die ideenschöpferische Dichtung GOETHEs und SCHILLERs sind dieser selben Urkraft unseres Volkstums entsprungen, aus dem der philosophische Idealismus hervorging. Aber auch dieses Salz [der Erde - wp] ist dumm geworden [hat seinen Geschmack verloren - wp], und seitdem läuft gerade die gebildete Schicht unserer Nation den fremden Götzenanbetern nach, die uns mit ihrer naturalistischen Scheinweisheit nur immer weiter in die Irre geführt haben. Was der alten Sophistik nicht gelungen war, heute ist es gelungen: nicht der geistige Mensch, sondern der sinnliche Mensch ist zum Maß aller Dinge gemacht worden.

Wie verheerend diese positivistische Weisheit um sich gegriffen hat, ist besonders daran zu erkennen, daß, abgesehen von allen anderen Wissenschaften, selbst die Theologie davon umstrickt worden ist. Statt vieler braucht hier nur der Name RITSCHL genannt zu werden. Sein Beispiel ist geradezu typisch. Man muß sich schon zu den geistesärmsten Nominalisten des ausgehenden Mittelalters zurückwenden, um einen solchen Mangel an spekulativem Denken in der Theologie wiederzufinden. Echt neukantisch, nominalistisch huldigte er dem positistischen Dogma, daß unsere theoretische Erkenntnis, wie sie aus der psychophysischen Erfahrung entsprint, auch lediglich auf diese eingeschränkt ist. Und wie alle die Halben unter den Positivisten macht er die weitere Annahme, daß die geistigen, übersinnlichen, göttlichen Lebensmächte nun nicht etwa bloß eine zweckmäßige Fiktion, sondern zwar wirklich, aber ein der theoretischen Einsicht unzulängliches Gebiet sind. Dieses liegt daher außerhalb der Sphäre exakter und d. h. bei den Positivisten: sinnlich kontrollierbarer Wissenschaft; infolgedessen soll auch eine theoretische Metaphysik unmöglich und von der Theologie zu verwerfen sein. Man wähnte, damit ein ausgezeichnetes Mittel gefunden zu haben, um die kirchliche Glaubenslehre gegen alle Angriffe von Seiten der Wissenschaft sicher zu stellen. Denn, sobald die streng wissenschaftliche Erkenntnis tatsächlich an der Erforschung und Berechnung des sinnlichen Erfahrungszusammenhangs ihre Grenze hat, so ist alles, was jenseits dieser Grenze liegt, wie vor allem die religiöse Glaubenswelt, davon unabhängig und nur noch ein Gegenstand praktischer, geschichtlicher Entwicklung. So ist dann auf diese Weise der schönste Kompromiß möglich zwischen der Erkenntnistheorie des Positivismus einerseits und dem religiösen Historismus andererseits. Nur schade, daß dieses "Hinken auf beide Seiten" sich nicht bloß vor der spekulativen Philosophie und Theologie, sondern schließlich auch vor dem Positivismus als eine Halbheit der bedenklichsten Art zu erkennen gibt. Denn, wer sich wie RITSCHL einerseits auf die Grundlage des neukantischen Positivismus stellt, muß dann andererseits auch zugeben, daß der Gottesglaube und das Gottesreich des theologischen Historismus lediglich eine zweckmäßige Fiktion ist. Eben diesen Nachweis erbringt die "Philosophie des Als Ob".

Diese Schrift gehört zu jener merkwürdigen Gruppe von Werken, die ich maskierte Bücher nennen möchte. Ihre Eigentümlichkeit besteht darin, daß ihr Verfasser sich so stellt, als ob er sich eine bestimmte Auffassung zu eigen macht, um sie dann durch die Entwicklung ihrer Konsequenzen in ihrer Unhaltbarkeit zu demaskieren. Man wird daher diese Als-Ob-Theorie nur dann recht zu würdigen vermögen, wenn man sie so aufnimmt, "als ob" uns der Verfasser zuruft: Ihr mögt die positivistische Doktrin selber prüfen und könnt sie dann annehmen oder verwerfen. Wenn ihr sie aber annehmt, dann gibt es auch kein Ausweichen mehr vor dem folgerichtigen Ergebnis, daß in diesem Fall die Faktoren des geistigen Lebens, also Gott, die sittliche Freiheit, die Bestimmungen des reinen Denkens usw. keinerlei Wirklichkeiten, sondern nur eine Art von zweckmäßig erzeugten Hilfsmitteln unseres psychischen Vorstellungsorganismus sind, d. h. Kunstgriffe (Fiktionen) zur Sicherung und Steigerung unserer natürlichen Lebensentwicklung. Wer dagegen auf der einen Seite Positivist sein will und auf der anderen Seite doch an Gott als einer Wirklichkeitsgröße festhalten zu können vermeint, ist nur das Opfer einer beklagenswerten Selbsttäuschung. In der methodischen Aufdeckung dieser notwendigen Konsequenzen des Positivismus besteht die ausgezeichnete Leistung des Als-Ob-Systems. Es ist ein wahrhaftes Verdienst, gegenüber aller Verschwommenheit klar gelegt zu haben, daß den Anhänger der positivistischen Erkenntnistheorie auch keine noch so ideale Maske davor schützt, die Geisteswelt für etwas anderes zu halten, als lediglich für einen fiktiven Hilfsapparat der Erkenntnistätigkeit des natürlichen Individuums.

Echt positivistisch wird demgemäß hier zur Voraussetzung gemacht, daß Empfindungen der Ausgangspunkt aller logischen Tätigkeit sind und zugleich die Endstation, in die dieselbe einmünden muß. Daher sei der Zweck des Denkens kurz dahin zu präzisieren, daß es in der Verarbeitung und Vermittlung des Empfindungsmaterials zur Erreichung eines reicheren und volleren Empfindungslebens seine Bestimmung findet. Ob nun das Denken als lediglich subjektive Tätigkeit diesen seinen Zweck erreicht, kann nur praktisch erprobt werden; denn das Gedankensystem ist keine theoretische Abbildung der Außenwelt im Spiegel des Bewußtseins, sondern nur ein Instrument, um sich leichter in der Welt der sinnlichen Wirklichkeit zu orientieren. Wörtlich heißt es:
    "Nur die praktische Erprobung ist die letzte Bürgschaft; aber auch hier kann nur erschlossen werden, daß die gebildeten Vorstellungsverknüpfungen ihren Zweck erfüllen, richtig gebildet sind. Von einer Wahrheit im gewöhnlichen Sinn des Wortes kann daher auf dem heutigen erkenntnistheoretischen Standpunkt gar nicht mehr die Rede sein."
Nachdrücklicher und freimütiger ist der Bankrott des neukantischen Positivismus niemals ausgesprochen worden. Möge es sich daher jeder, welcher Wissenschaft er auch dient, nicht siebenmal, nein siebzigmal siebenmal gesagt sein lasen: von der positivistischen Erkenntnistheorie aus führt kein Weg zur Wahrheit, sondern stets und ständig nur zur zweckmäßigen Anpassung an die Sinnenwelt.

Welches ist nach der positivistischen, neukantischen Erkenntnistheorie das Wesen und die Bedeutung des Denkens? - Von der Beantwortung dieser Frage hängt alles Weitere ab. Daß es einmal eine Philosophie gab, die von dem Vertrauen erfüllt war, daß das Denken das wahre Sein entweder selbst ist oder es zumindest zu erkennen vermag, das kann vom konsequenten Positivisten nur noch als ein Kuriosum der Weltgeschichte betrachtet werden. Wir erfahren jetzt: die logischen Funktionen sind organisch zweckmäßige Prozesse, welche sich wesentlich vom äußeren Geschehen unterscheiden. Das subjektive Denken macht ganz andere Wege als das objektive Geschehen; und es ist recht logisch, organisch und teleologisch, daß dem so ist, daß das Sein nicht logisch ist. Dann fielen ja Sein und Denken zusammen, und eines derselben wäre unnötig; die Natur ist aber nicht so eingerichtet, daß Unnötiges schaffen würde. Wir dürfen also die Wege und Umwege des Denkens nicht mit dem wirklichen Geschehen verwechseln. Die eigentliche Kunst und Aufgabe des Denkens ist, das Sein auf ganz anderen Wegen zu erreichen, als diejenigen sind, welche das Sein selbst einschlägt. Mit Hilfe seiner kunstvollen Operationen und auf Umwegen gelingt es dem Denken, das Sein einzuholen und sogar den Fluß des Geschehens zu überholen. Durch die Reduktion des Denkens auf schließlich physiologische Elemente, auf Empfindungen gewinnen wir allein den richtigen Maßstab für die Abschätzung der logischen Arbeit, welche Empfindungselemente in logische Gebilde umsetzt, wobei letztere wieder schließlich dazu da sind, um in Empfindungen umgesetzt zu werden, bzw. zur Kontrolle von Empfindungseindrücken und zur Vermittlung von Willensimpulsen, "Innervationen", d. h. Nervenimpulsen zu dienen. Das Denken ist also als ein Mechanismus, eine Maschine, ein Instrument im Dienst des Lebens zu betrachten: es besteht nur in einem System von Hilfsmitteln, Instrumenten.

Ausgezeichneter konnte die sich vom physiologischen Psychologismus aus ergebende Bewertung des Denkens wohl nicht charakterisiert werden. Stilistisch aber ist das Prächtige daran, daß der "Philosoph des Als Ob" seine Maskerade so weit treibt, daß er so tut, als ob er damit seine eigene Auffassung vom Denken ausspräche. So gelingt es ihm, seine angenommene "Als-Ob-Rolle" auf das Trefflichste durchzuführen. Macht doch wirklich einmal Ernst, ihr Positivisten, so ruft er ihnen in dieser seiner Rolle zu, bleibt konsequent dabei, daß die Sinnesempfindungen die alleinigen Elemente aller menschlichen Erkenntnis sind und ihr müßt zugeben, daß das Denken nichts anderes ist, als ein physiologisch bedingter Fiktionsmechanismus. Nicht nur Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sind solche fiktiven Gebilde, sondern auch Raum, Zeit und die Kategorien.

Ja - aber, so werden ihm die positivistishen Neukantianer antworten, wenn wir diese Konsequenz offen eingestehen, würde sich dann KANT nicht, wie man zu sagen pflegt, im Grab umdrehen! Ist er es nicht gerade gewesen, der außer Sinnesempfindungen noch Erkenntnisfaktoren ganz anderen Ursprungs geltend gemacht hat? Hat er nicht gerade von den Kategorien gesagt:
    "Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteil Einheit gibtk, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt. Derselbe Verstand also, und zwar durch eben dieselben Handlungen, wodurch er in Begriffen mittels einer analytischen Einheit die logische Form eines Urteils zustande brachte, bringt auch mittels der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt in seine Vorstellungen einen transzendentalen Inhalt, weswegen sie reine Verstandesbegriffe heißen, die apriori auf Objekte gehen!"
Demnach geht doch die Begründung KANTs dahin, daß die Einheitsfunktion des Denkens nicht bloß die Einheit des Urteils, sondern zugleich diejenige der objektiven Erfahrungseinheit des Dings stiftet. Wie kann da der Neukantianer, auch wenn er seinen KANT nicht transzendental, sondern physiologisch interpretiert, zugeben, daß die Kategorien und der durch sie gestiftete objektive Erfahrungszusammenhang nur Fiktionen sind?

Als strenge Positivisten, so erwidert der "Als-Ob-Philosoph" darauf, könnt ihr das nicht nur, sondern ihr müßt es. Ihr müßt KANT besser verstehen, als er sich selber verstanden hat! Denn wenn ihr fest darauf besteht, daß das Denken lediglich eine Umformung des Empfindungsmaterials nach subjektiven Kategorien ist, so müßt ihr auch über KANT hinaus anerkennen, daß dann durch die Denktätigkeit keine wirkliche, sondern nur eine fiktive Objektivierung gestiftet wird. Ihr müßt sogar das Ding der Anschauung im Urteil verschwinden lasen und sagen: Das Urteil ist ein Rechnungsansatz des Denkens, mit dem es das praktische Handeln vorausberechnen kann. Trotzdem es kein Ding gibt, welches z. B. "süß ist", so schadet doch diese Formel nicht nur nicht dem praktischen Handeln, sie ermöglicht es sogar allein. Der Grund hiervon kann einzig und allein darin liegen, daß die begangenen Fehler auf irgendeine Weise unschädlich gemacht werden; und bis zu einem gewissen Punkt ist es möglich, die Welt so zu betrachten, als ob es Dinge gäbe, welche [ansich - wp] Eigenschaften haben. Das allein Zutreffende ist dies, daß das Denken, um vorwärts zu kommen, einen Kunstgriff gebraucht; es fingiert ein Ding und schreibt diesem Eigenschaften zu und verbindet beide Momente im Urteil. Das Denken würde nicht vorwärts kommen ohne diese Fiktion eines Dings: es kann sich im Wirrwarr der Empfindungen nur auf diese Weise orientieren, sich vorwärts bewegen. Allein tatsächlich sind "Ding" und "Eigenschaft" nur logische Fiktionen, nur Mittel, welche das Denken anwendet, um vorwärts zu kommen, um den Erkenntnisprozeß einzuleiten. Ein Irrtum aber ist es, in solchen logischen Mitteln Selbstzwecke zu sehen und ihnen daher einen selbständigen Erkenntniswert zuzuschreiben. Alle diese Kategorien sind Analogien, sind Anwendungen eines zwar analogen, aber doch schließlich unpassenden Verhältnisses auf die objektiven Verhältnisse, und solche Analogien, bei denen die Erfahrungskomplexe so betrachtet werden, als ob sich das Sein ähnlich verhält, sind reine Fiktionen.

In geradezu köstlicher Weise zeigt hier der "Philosoph des Als Ob" den Positivisten, daß sie KANT erst völlig verwirren müssen, um sich mit seinem Namen decken zu können. Denn sie müssen die objektive Erfahrung, auf deren Konstituierung in KANTs theoretischem Kritizismus alles ankommt, erst stillschweigend in ein rein subjektives Erfahrungsgebilde umwandeln, um dieses dann dem Gespenst eines vom Denken unabhängigen Seins entgegenzusetzen. Nachdem dies geschehen ist, können diese Neukantianer dann behaupten:
    "Kant hat nachgewiesen, daß die Kategorien nur auf die Erfahrung anwendbar sind - dieser Nachweis ist ein anderer Ausdruck dessen, was wir behaupten. All jene Umsetzungen haben ursprünglich nur einen praktischen Zweck. Die Kategorien sind nichts als bequeme Hilfsmittel, um die Empfindungsmassen zu bewältigen; weiter haben sie ursprünglich keinen Zweck. Sie sind entstanden aus diesem praktischen Bedürfnis, und die Zahl und die spezielle Art derselben war bestimmt durch die verschiedenen Äußerungsformen des Seienden, denen sich die Psyche mit diesen Formen anpaßte - aber oft recht äußerlich."
Die Vollendung der positivistischen Weisheit besteht daher in der tiefsinnigen Einsicht, daß die Welt selbst nicht begreiflich, sondern nur subjektiv wahrnehmbar gemacht werden kann. Die Welt als Ganzes "begreifen" zu wollen ist ein törichter Wunsch: töricht nicht in dem Sinn, als ob der menschliche Verstand dazu zu unvollkommen wäre, sondern in dem Sinn, daß jeder, auch ein übermenschlicher Geist, die letzten für uns konstatierbaren Wirklichkeiten einfach als Gegenstand des Wissens hinnehmen muß: sie noch zu begreifen zu wollen, ist ein in sich widerspruchsvoller, also törichter, kindischer Wunsch - das ist der positivistischen Weisheit letzter Schluß.

Dieses philosophische Maskenspiel erreicht aber erst da seinen Höhepunkt, wo für die Positivisten die "historischen Bestätigungen" der Als-Ob-Philosophie gegeben werden. Mit feinster Ironie wird hier zunächst gezeigt, wie sich die Neukantianer den transzendentalen KANT kurz entschlossen zu einer Puppe zurechtschneiden müssen, um diesen lappigen Puppen-KANT dann als Aushängeschild für ihren Positivismus gebrauchen zu können. Diese ironische Feinheit des Buches besteht eben darin, daß so die Sache des Positivismus und zwar vom "Als Ob"-Titel und der verschleierten Form der Herausgabe an durch den "Als-Ob-Philosophen" wie von einem guten Sachwalter überall mit strengstem Ernst geführt wird. Was aber kommt dabei für ein KANT heraus?

Bisher zumindest hat noch immer die Überzeugung geherrscht, daß als der wahre KANT derjenige des transzendentalen Idealismus anzusehen ist. Das aber ist der KANT, der den Nachweis geführt hat, daß gerade die Wissenschaft stiftenden Erkenntnisquellen unabhängig von der sinnlichen Erfahrung entspringen und daß sie nur deshalb, weil dies so ist, ein Wissen von objektiver Gültigkeit zu konstituieren vermögen. Hält man daran fest, dann ist daran auch nicht zu drehen und zu deuteln, daß KANT nicht der Schildhalter, sondern der schärfste Gegner des positivistischen Neukantianismus gewesen ist. Aber es wäre doch wunderlich, wenn es menschlichen Interpretationskünsten nicht gelingen sollte, aus Schwarz Weiß oder aus Weiß Schwarz zu machen! Irgendein Punkt, an dem sich zu einem solchen Unternehmen einhaken läßt, wird sich immer finden. Und auch ein so gewaltiger Denker wie KANT vermag solchen Künsten nicht zu entgehen.

Ich will euch zeigen, so erklärt darum der verkappte Verfasser dieses Werkes, wie man aus dem Idealisten KANT einen waschechten Positivisten macht. An nicht wenigen Stellen seiner Schriften verweist nämlich KANT darauf, welchen Einfluß die Fiktionsbildung im menschlichen Vorstellungsvermögen hat. Seine kritische Aufklärung mußte daher auch darauf gerichtet sein, diese Fiktionen als solche erkennbar zu machen und sie auf ihr wahres Maß zurückzuführen. Die berühmtesten unter diesen Vorstellungsgebilden sind die Vernunftideen: Gott, Freiheit und die unsterbliche Seele. Sie sind für die theoretische Erkenntnis lediglich Fiktionen, weil ihnen kein Gegenstand der sinnlichen Erfahrung entspricht. Aber sie sind deshalb nicht überflüssig und nichtig, sondern sie können dem Verstand zum Kanon dienen, dadurch er zwar keinen Gegenstand mehr erkennt, als er nach seinen Begriffen erkennen würde, aber doch in dieser Erkenntnis besser und weiter geleitet wird. Sie sind nicht konstitutive, sondern nur regulative Prinzipien der reinen Vernunft oder "heuristische" Fiktionen. Das aber ist der Punkt, von dem aus nun der ganze Kant positivistisch umgedeutet werden kann. Sind die Vernunftideen lediglich Als-Ob-Vorstellungen, so braucht man den Entwicklungsgang der kritischen Philosophie nur umzukehren, und die ganze Sache ist fertig. Geht man nämlich davon aus, daß der eigentliche Sinn der kritischen Erörterungen KANTs endgültig erst darin zum Ausdruck kommt, daß die Vernunftideen Fiktionen sind, so muß man dann von hier aus auch nach rückwärts erklären, daß die apriorischen Anschauungs- und Denkformen ebenfalls von ihm als Fiktionen gemeint wurden.

Selbstverständlich ist dieser Schluß nicht zutreffend. Aber darauf kommt es auch dem Positivismus nicht an. Man sammelt vielmehr lediglich das Material; man zeigt, daß KANT überall von Als-Ob-Vorstellungen redet, und daraus geht induktiv hervor, daß die Fiktionstheorie sich nicht bloß auf die Vernunftideen erstrecken sollte, sondern daß sie überhaupt der Grundgedanke seiner Philosophie ist. Und so heißt es im vorliegenden Werk:
    "Die überwältigende Menge von Stellen aus Kant beweisen zur Genüge, daß die Als-Ob-Betrachtung bei Kant eine außerordentlich große Rolle spielt. Man hat diese Seite Kants bis jetzt fast ganz übersehen, und wo die Als-Ob-Lehre Kants flüchtig berührt worden ist, hat man sie nur auf die Ideenlehre bezogen, ohne zu ahnen, daß bei Kant diese Betrachtungsweise auch in seinen religionsphilosophischen, ethischen, juristischen, sowie in seinen naturphilosophischen und mathematischen Anschauungen eine entscheidende Bedeutung besitzt. Man kann sagen: in Kants Denken, im System seiner logischen Operationen spiel das Als-Ob überhaupt die Rolle einer Kategorie, - es ist die ihm eigentümliche Betrachtungsweise der Dinge überhaupt."
Was erstrebt wurde, ist damit erreicht: der transzendentale Idealismus verflüchtigt sich, und KANT kann seine Wiedergeburt feiern als der eigentliche Vater der positivistischen Fiktionstheorie.

Wohin ist doch die tiefbohrende Kraft deutschen Denkens entschwunden! Noch immer galt es als feststehend, daß das wahre Wissen gerade da aufhört, wo das Reich der Analogie, des Relativismus, des Als-Ob anfängt. Und KANT vor allem war es, der dem wüsten Meer des bloß gewohnheitsmäßigen, praktischen Als-Ob-Wissens HUMEs zuerst einen weit ausgebreiteten Landstreifen notwendiger und allgemeingültigker Erkenntnis abgerungen hat. Er gelangte damit freilich nur bis an die Grenze, wo das Walten der Vernunftideen beginnt. Noch war es ihm versagt, auch dieses geistige Lebensgebiet den wilden Fluten der relativistischen Erkenntnis zu entreißen, und darum mußte für ihn hier das Nebelmeer des Als-Ob beginnen. Aber die Schranken des kantischen Geistes sind nicht die Schranken des Geistes überhaupt. Hatte er einmal den Grund gelegt für ein Wissen von streng objektiver Gültigkeit, so mußte der nächste Schritt nun der sein, auch das Reich der Vernunftideen dem schwankenden und wankenden Relativismus zu entziehen. Vor die Lösung dieser Aufgabe sahen sich KANTs echte Nachfolger gestellt. Und dieses Problem ist gelöst worden, und zwar, alles in allem genommen, dadurch, daß im Gegensatz zur Objektivität der natürlichen Welt auch die davon wesentlich verschiedene Objektivität der geistigen Welt, die KANT noch nicht zu fassen vermochte, denkend sichergestellt worden ist. (1) Aber das Verständnis für diese universelle Leistung der deutschen Philosophie ist den positivistischen Köpfen noch immer nicht aufgegangen. Ja, trotz ihrer lauten Berufung auf KANT ist auch die Errungenschaft dieses Denkers ihren schwächlichen Händen wieder entglitten. Denn es ist ganz richtig: wenn der Positivismus konsequent verfährt, so löst sich von seinem Standpunkt aus nicht nur die objektive Erkenntnistätigkeit der Vernunftideen, sondern auch diejenige der transzendentalen Anschauungs- und Begriffsformen in eine bloße Als-Ob-Wisserei unserer psychologischen Fiktionsmaschinerie auf. Nicht "Zurück zu Kant!", sondern "Zurück zu Hume und Protagoras!" hätte daher das Feldgeschrei dieses physiologischen Positivismus lauten müssen. Das ist es, was zu zeigen war und was im vorliegenden Werk auf das Bündigste gezeigt worden ist: Kants Kritizismus ist, positivistisch betrachtet, auch nur ein psychologisches Fiktionssystem.


Wie beißender Sarkasmus wirkt es daher, wenn der "Als-Ob-Philosoph" darlegt, daß nicht FICHTE, SCHELLING, HEGEL, sondern vielmehr FORBERG, LANGE und NIETZSCHE die wahren Fortsetzer KANTs im Hinblick auf die Fiktionstheorie sind. In der Tat muß zugestanden werden, daß der aus dem Atheismusstreit FICHTEs nur noch dem Namen nach bekannte FORBERG dem positivistischen Neukantianismus schon lange vor seinem Auftreten alle Konsequenzen vorweggenommen hat. Er ist es, der zuerst versucht hat, den transzendentalen Idealismus KANTs von der Als-Ob-Fiktion aus praktisch umzudeuten. Von dem kindischen Wahn ausgehend, daß dem menschlichen Geist die Wahrheit deshalb ewig unerreichbar ist, weil die Gesamtheit der Individuen niemals zu einer vollen Einstimmigkeit ihres Urteils zu bringen ist, erklärt er:
    "Das Reich der Wahrheit ist ein Ideal. Denn es ist bei der unendlichen Verschiedenheit der Fähigkeiten, in der sich die Natur so sehr gefallen zu haben scheint, niemals zu erwarten, daß je ein Einverständnis aller Menschen in allen Urteilen stattfinden wird. Das Reich der Wahrheit wird also zuverlässig niemals kommen, und der Endzweck der Republik der Gelehrten wird allem Ansehen nach in Ewigkeit nicht erreicht werden. Gleichwohl wird das in der Brust jedes denkenden Menschen unvertilgbare Interesse für Wahrheit in Ewigkeit fordern, dem Irrtum aus allen Kräften entgegenzuarbeiten und Wahrheit von allen Seiten zu verbreiten, d. h. gerade so zu verfahren, als ob der Irrtum einmal gänzlich aussterben könnte und die Alleinherrschaft der Wahrheit zu erwarten wäre. Und eben dies ist der Charakter einer Natur, die, wie die menschliche, bestimmt ist, ins Unendliche sich Idealen zu nähern."
Echt individualistische versteht FORBERG also unter einem Ideal der Wahrheit das Einverständnis aller Menschen in allen Urteilen. Es ist nur gut, daß uns der Himmel vor der Erreichung dieses Ideals für alle Zeiten bewahrt hat, denn das ist nicht das Ideal der Wahrheit, sondern dasjenige der alles Leben abtötenden Einerleiheit und Gleichheit. Die Verwirklichung dieses Ideals wäre nichts anderes als die Auflösung der konkreten Wirklichkeit in die leere Allgemeinheit des unbestimmten Alls. Im Gegensatz dazu beginnt mit dem Kritizismus gerade die Überwindung dieses angeblichen und völlig nichtigen Wahrheitsdogmas und damit die Verwerfung des FORBERGschen "Pseudo-Kant" durch den richtigen KANT. Wohl aber trifft FORBERG das psychologistische Wissensideal des Positivismus. Denn wozu kann es dieser anders bringen, als dazu, die induktive Verallgemeinerung des Empfindungswissens ihrem Grenzideal immer näher zu bringen. Dieser Zustand wäre aber nach der psychologischen Erkenntnistheorie erreicht, wenn alle Menschen in allen Urteilen einverstanden wären. Gröblicher konnte der große Königsberger Denker wohl nicht mißverstanden werden, als von jenem vermeintlichen Kantianer.

Aber viel drastischer als jene theoretischen Ausführungen sind noch die praktisch-religiösen Erörterungen FORBERGs. Hier tritt erst zutage, zu welch gespensterhaften Mumien die Ethik und die Religion vertrocknen müssen, wenn der ganze KANT vom Gesichtspunkt der positivistischen Fiktionstheorie aus interpretiert wird. Es sollte daher ein Neudruck dieser FORBERGschen Abhandlung veranstaltet und vor allem den zum Positivismus neigenden Theologen in die Hand gedrückt werden, damit sie endlich erkennen, wie weit es mit der religiös-sittlichen Geistesmacht bestellt ist, wenn die psychologistische Erkenntnistheorie nach allen Seiten hin streng durchgeführt wird. Wer unter den Anhängern dieser positivistischen Richtung noch an eine göttliche Weltordnung, an die Vergeistigung der sinnlichen Welt und an eine geistige Erlösung des Menschen von seinen sinnlichen Banden glauben zu dürfen meint, ist nach dieser wieder ausgegrabenen Schrift FORBERGs nur ein betrogener Betrüger. Denn hier ist der Schleier des Bildes zu Sais ein für allemal gelüftet und was bekommen wir zu sehen? - Fiktionen -, Fiktionen - und abermals Fiktionen!

Der große, weltbewegende Gedanke des deutschen Idealismus, daß nicht das physische, sinnliche, sondern das geistige, sittliche Sein das wahre Sein ist, und daß wir Menschen schlechterdings zu nichts anderem da sind, als zum dem Zweck, dieses unser wahres göttliches Sein durch die Vergeistigung der ihm entgegengesetzten sinnlichen Natursphäre zu verwirklichen, - dieser Gedanke, nun wissen wir es, ist nichts als ein mechanisches Fiktionsprodukt unseres psychologischen Organismus. Er ist nicht die fundamentale Wahrheit unseres Erkennens und Lebens, sondern er ist nur eine unentbehrliche, weil praktisch-nützliche Einbildung, die lediglich als solche bewertet werden muß. Der aufgeklärte, brave positivistische Mensch weiß, daß es für uns keine Erkenntnis der Wahrheit gibt. Nur gefühlvolle Erlebnisse sagen ihm: du mußt so handeln, als ob es so etwas wie einen Gott oder eine Tugend gäbe, sonst handelst du unpraktisch, schädigst dein eigenes Interesse und störst das Gleichgewicht der Seele. Was sind doch dieser Weisheit gegenüber LUTHER und unsere großen Dichter und Denker für Narren gewesen!

Durch FORBERG aber ist uns nun endlich zur Einsicht gebracht worden, wie es mit der Verwirklichung des sittlichen Lebenszusammenhangs steht. Der gute Mensch, so sagt er, trachtet danach, daß das Reich Gottes, das Reich der Wahrheit und des Rechts komme auf Erden: aber am Ende seiner Laufbahn sieht er es ferner als je zuvor. Was soll er nun, der Einzelne, gegen eine unmoralische Welt? Soll er aufhören, sich dem Strom des Unrechts entgegenzusetzen? Soll er es fortan in der Welt gehen lassen, wie es geht, ohne sich weiter anzustrengen oder wohl gar aufzuopfern, für einen idealistischen Zweck, der niemals erreicht werden wird? Nein! - ruft ihm mit lauter Stimme sein gutes Herz zu - du sollst Gutes tun und nicht müde werden! Glaube, d. h. fingiere, daß die Tugend am Ende siegen wird! Fingiere, daß dem Lauf der Dinge ein, dir freilich unübersehbarer, Plan zugrunde liegt, in dem auf das endliche Gelingen des Guten gerechnet ist! Fingiere, daß das Reich Gottes, das Reich der Wahrheit und des Rechts kommen wird auf die Erde, und trachte danach, daß es kommt! Es ist wahr, du kannst von all dem nicht szientifisch beweisen, daß es so sein muß, aber genug, dein Herz sagt dir, du sollst so handeln, als ob es so wäre, und wenn du so handelst, so zeigst du eben dadurch, daß du Religion hast! Religion ist demnach keine gleichgültige Sache, mit der man es halten kann, wie man will, sondern sie ist Pflicht. Es ist Pflicht, eine solche Ordnung der Dinge in der Welt zu fingieren, wo man auf das endliche Gelingen aller guten Pläne rechnen kann und wo das Bestreben, das Gute zu befördern und das Böse zu hindern, nicht schlechterdings vergeblich ist; oder, was dasselbe ist: eine moralische Weltordnung zu fingieren oder einen Gott, der die Welt nach moralischen Gesetzen regiert. Nur ist diese Fiktion keineswegs insofern Pflicht, sofern sie eine theoretische, d. h. eine müßige Spekulation ist, sondern bloß und allein insofern, soforn sie praktisch ist, d. h. sofern sie eine Maxime wirklicher Handlungen ist. Mit anderen Worten: es ist nicht Pflicht zu glauben, daß eine moralische Weltregierung oder ein Gott als moralischer Weltregent existiert, sondern es ist bloß und allein Pflicht, so zu handeln, als ob man es glaubt. In den Augenblicken des Nachdenkens oder des Disputierens kann man es halten, wie man will, man kann sich zum Theismus oder zu einem Atheismus bekennen, je nachdem man es vor dem Forum der spekulativen Vernunft verantworten zu können vermeint. Die Religion ist demnach nichts anderes als der Glaube an das Gelingen der guten Sache, so wie Irreligion nichts anderes ist als Verzweiflung an der guten Sache. Kann denn auch ein Atheist Religion haben? Antwort: Allerdings. Von einem tugendhaften Atheisten kann man sagen, daß er denselben Gott im Herzen erkennt, den er mit dem Mund verleugnet. Praktischer Glaube und theoretischer Unglaube auf der einen, sowie auf der anderen Seite theoretischer Glaube, der dann aber ein Aberglaube ist, und praktischer Unglaube können ganz wohl beisammen bestehen.

Es wäre überflüssig, zu diesen überaus klaren Darlegungen FORBERGs auch nur ein Wort hinzuzusetzen. Genug! Der Neukantianismus hat endlich den Mann gefunden, der ihm die Mühe abnimmt, selbst die moralischen und religiösen Konsequenzen seiner positivistischen Erkenntnistheorie zu ziehen, und der noch dazu das Mittel angibt, wie man sich dabei am Besten mit KANT abfindet. Denn FORBERG erklärt, er habe mit Aufmerksamkeit die verschiedenen Wendungen untersucht, die man dem sogenannten praktischen Glaubensgrund für das Dasein Gottes zu geben versucht hat. Aber der eigentliche Sinn des Königsberger Philosophen ist ihm gerade in diesem Punkt geraume Zeit unüberwindlich dunkel geblieben, und er habe in den Schriften seiner zahlreichen Kommentatieren noch weniger Trost gefunden. Dagegen glaubte er bemerkt zu haben, daß man den kantischen Begriff eines praktischen Glaubens häufig mißverstanden hat, indem man fortfuhr, die Religion doch immer als einen theoretischen Glauben zu denken. Denn überall erschien der Glaube an die Gottheit als Glaube an den Erklärungsgrund einer moralischen Weltordnung, folglich als etwas, was man zur Befriedigung eines bloßen Bedürfnisses der Spekulation annimmt. Vielmehr hat er niemals begreifen können, warum eine Spekulation darum im mindesten weniger Spekulation sein soll, weil sie von moralischen, als darum, weil sie von physischen oder metaphysischen Prinzipien ausgeht. Eine Annahme zur Erklärung von etwas, das sein soll, ist in dem einen Fall so gut eine spekulative Hypothese, wie in dem andern. Fordern, daß etwas geschieht, ist etwas ganz anderes, als fordern, daß erklärt wird, wie es geschehen kann. Ich will die Möglichkeit des Zufälligen erklären und nehme deswegen eine Gottheit an; und dies, meint man, ist Spekulation. Ich will die Zweckmäßigkeit der physischen Welteinrichtung erklären und nehme zu diesem Zweck eine Gottheit an; und dies, meint man, ist auch Spekulation. Ich will die Möglichkeit einer moralischen Welteinrichtung erklären und glaube zu diesem Zweck das Dasein einer Gottheit; und dies, sollte man meinen, ist nicht weniger Spekulation? Die Frage, ob wirklich einst ein Reich Gottes kommen wird, liegt, streng genommen, gar nicht auf dem Gebiet der Theologie. Ihres Amtes ist es nicht, die Existenz des Reiches Gottes, sondern nur die Existenz der Idee eines Reiches Gottes aus unserem moralischen Bewußtsein zu deduzieren. Und die religiöse Gesinnung sollte sich begnügen, zu erklären, daß sie trotz allen Anscheins vom Gegenteil, dann doch entschlossen ist, zu handeln, als ob ein Reich Gottes bevorsteht und daß es dann doch zumindest möglich ist, hier und da Spuren der Annäherung eines Reiches Gottes zu erblicken. Begnügte sie sich damit, so würde ihr niemand wegen einer Schwäche Schuld geben, man würde sie vielmehr ihres Mutes wegen als unfehlbar bewundern. - Anders, wenn auch weniger bestimmt, hätte auch der theologische Neukantianer RITSCHL seine positivistische und agnostische Auffassung nicht darlegen können.

Äußerst treffend erklärt daher unser Als-Ob-Philosoph in seiner angenommenen Maske:
    "Mit unnachahmlich klaren Argumenten hat Forberg hier das Mißverständnis aufgedeckt, an dem der hergebrachte Kantianismus krankt: nach diesem Vulgär-Kantianismus ist Kants moralischer Gottesbeweis ein theoretischer Schluß aus moralischen Tatsachen, während der echte (positivistische) Kritizismus den moralischen Gottesbeweis so versteht: wer nach dem kategorischen Imperativ handelt, handelt so, als ob die Pflicht Gebot eines Gottes wäre; er glaubt also in diesem Sinn an Gott, und das moralische Handeln ist in diesem Sinne ein Gottesbeweis. Nimmt freilich dieser Beweis statt der Form des Als-Ob die Form eines Daß an, findet man also die Erfüllung der Pflicht, ja schon die Forderung derselben ohne reale Existenz eines Gottes unmöglich, so würde dieser Glaubensgrund wohl eher den Namen des unmoralischen verdienen."
In der Abhandlung der Ereignisse ergibt sich dann im Übergang vom Rationalismus zu einem gemäßigten Kritizismus KANTs und von diesem zum radikalen Kritizismus der positivistischen Neukantianer das große geschichtsphilosphische Resultat:
    "Die Aufklärung wollte geläuterte Begriffe von der Gottheit geben und gab diese als wirkliche Erkenntnisse aus; darin eben besteht ja der Rationalismus, nenne er sich nun nach Leibniz oder nach Locke. Ganz anders der Kritizismus; für den gemäßigten Kritizismus ist alle Erkenntnis des Übersinnlichen vollständig eingebildet; für den radikalen Kritizismus ist das Übersinnliche selbst bloße Einbildung. Beiden Richtungen des Kritizismus aber lassen die alten, traditionellen Vorstellungen, die man sich vom Übersinnlichen macht, bestehen, aber nicht mehr als Dogmen, sondern als Fiktionen. So führt der Radikalismus der kritischen Philosophie geradezu zu einer Konservierung der alten Vorstellungen, allerdings unter ganz anderer Flagge." -
Wie herrlich! Endlich ist dem Positivismus die Maske abgerissen worden, und was zeigt sich? Die ganze abendländische Geistesentwicklung war eine einzige, lang verhüllte, aber nun offenbarte Fiktion. Jetzt wissen wir es doch, wem wir die siegreiche Überlegenheit unserer ganzen Kultur zu verdanken haben, nämlich der Erzeugung von Einbildungsvorstellungen. Der schöpferische Weltgeist und seine sittliche Weltordnung, die Verlebendigung des Vernunftmenschen und der sich durch ihn vollziehenden Vernünftigung des sinnlichen Daseins, - all das sind keine Wirklichkeiten, ja nicht einmal Dogmen von solchen, sondern lediglich praktische Fiktionen. Alle Geistesmächte sind ein Produkt bloßer Einbildung; das ist die wahrhaft überwältigende Einsicht, zu der uns nunmehr der Positivismus verholfen hat. Aber nicht nur diese Erleuchtung hat er uns gebracht, sondern in seiner Herzensgüte geht er noch so weit, daß er, voll der konservativen Gesinnung, die alten traditionellen Vorstellungen vom Walten des Weltgeistes gelassen bestehen läßt, - bestehen als nützliche Fiktionen. Wer hätte dem Positivismus soviel Edelmut gegen den Idealismus zugetraut!

Es ist wahrhaft herzerfrischen zu sehen, wie der Als-Ob-Philosoph die Grundtendenz des Positivismus bis ans Ende verfolgt hat. Und nur eins hat er versäumt, nämlich den Nachweis, daß es noch eine weitere Entwicklungsstufe auf diesem Weg gibt: diejenige vom radikalen zum anarchistischen Kritizismus. Erst in dieser äußersten Form kommt der Positivismus zu seinem endgültigen Abschluß, und zwar mit der welterschütternden Erklärung, daß es überhaupt keine Kultur gibt, sondern daß der Glaube an sie auch nur eine alte, traditionelle Fiktion ist. Oder sollte auch diese Stufe noch zu überholen sein? Vielleicht erwägt unser mutiger Philosoph einmal, ob sich der Positivismus aufgrund seiner Fiktionstheorie nicht schließlich selber als Fiktion zu erkennen gibt, aber nicht als eine zu konservierende, sondern in die Rumpelkammer zu verweisende Fiktion! Zumindest macht die Entwicklung der Fiktionstheorie von FORBERG über LANGE zu NIETZSCHE, die hier nicht weiter verfolgt zu werden braucht, in der Tat den Eindruck, als ob sie sich schließlich durch die Zarathustra-Prophetie selbst als eine der abenteuerlichsten Fiktionen hätte enthüllen sollen. Aber das Werk NIETZSCHEs ist unvollendet geblieben, und unser "Als-Ob-Philosoph" hat mit aller Geschicklichkeit sein Spiel so angelegt, daß er nicht das letzte Wort zu sprechen hatte, sondern daß er uns zwingt, jenen Schluß selbst zu ziehen.

Daß es einmal mit dem Positivismus bei und dahin kommen würde, war eigentlich vorauszusehen. Der Geist des deutschen Volkes hätte ja Verrat an sich selbst geübt, wenn seine Hinneigung zu dem im tiefsten Grund undeutschen Positivismus mehr als eine vorübergehende Faschingslaune gewesen wäre. Denn von den Tagen des MEISTERs ECKART an, jenen Tagen, in welchen auch der Germane endlich selbständig zu denken anfing, ist vornehmlich unserem Volk unter den abendländischen Kulturnationen die weltgeschichtliche Aufgabe zugefallen, durch die spekulative Kraft des Geistes auch die übrigen Völkerschaften immer wieder vor dem Versinken in den Sensualismus und Materialismus, den Utilitarismus und Pragmatismus, den Psychologismus und Positivismus zu bewahren. Der göttliche Geist als der Grund und Zweck aller Dinge und allen Lebens ist mit nichten eine bloße Fiktion, sondern er ist die vollendete Wirklichkeit; ja, er ist die einzige Wirklichkeit, vor der alle anderen niederen Wirklichkeiten zu vorübergehenden Erscheinungen herabsinken. Und dieser Geist ist keine unerkennbare, noch eine bloß von außen her einmal geschichtlich offenbarte Macht, sondern er wirkt unmittelbar und lebendig in uns selbst und ist das wahre Wesen unserer Humanität. Er ist es, der den Menschen durch die Vergeistigung der natürlichen Sinnlichkeit erst wahrhaft zu Menschen macht; er ist es, durch dessen lebendige Vergegenwärtigung sich der Mensch als Eins mit der Totalität der Welt und des Lebens zu erfassen bestimmt ist, um dieser denkenden Erfassung gemäß d. h. wahrhaft sittlich seine partikularen Zwecke zu verwirklichen; und so ist auch er es, in dem der Mensch die Wahrheit zu begreifen vermag, denn was dieser Geist geschaffen hat, das vermag er auch zu erkennen. In dieser göttlichen Lebensmacht selbsttätig heimisch zu werden, ist der Grundzug des deutschen Wesens, und aus ihm ist der religiöse und sittliche, wie der künstlerische und philosophische Idealismus unseres Volkes geboren. Mit ihm steht und fällt daher auch unsere Kulturmission.

Wie Israel den Baalspfaffen, so ist auch der Deutsche nicht selten den falschen Propheten nachgelaufen. Aber der kernhafte Geist unseres Volkstums hat es noch immer verhütet, daß daraus mehr als eine vorübergehende Verirrung wurde. Die jüngste dieser Verirrungen war die Hingabe an den Positivismus. Und was war dieser? Im letzten Grund ein Parasit der mechanischen Naturwissenschaft! Nicht bloß die physiologischen, sondern auch die psychischen und geistigen Lebenstätigkeiten als ein Produkt des Naturmechanismus geltend zu machen, das war der große Rausch, von dem man sich plötzlich ergriffen fühlte und um deswillen man alles als Fiktion hinstellen mußte, was nicht in jenen Rahmen paßte. Da aber traf das große Unglück ein. Fast über Nacht brach die mechanische Theorie der Naturwissenschaften selber zusammen, und sowohl die Physik, wie die Chemie ist in einer fundamentalen Umwälzung begriffen. Eine Erschütterung ist erfolgt, wie sie die Naturwissenschaft noch nie erlebt hat; die mechanische Auffassungsweise reicht nicht mehr aus, den Naturzusammenhang zu begreifen. Damit aber stürzt auch der psychologistische Positivismus und sein *Schwanenlied ist die Fiktionstheorie der Als-Ob-Philosophie.
LITERATUR - Ferdinand Jakob Schmidt, Die Demaskierung des Positivismus, Preußische Jahrbücher, Bd. 148, Berlin 1912
    Anmerkungen
    1) Vgl. dazu meine soeben erschienene Schrift "Der philosophische Sinn", Göttingen 1912.