ra-2tb-4A. BerkmannR. TreumannK. DiehlA. LiebertG. Ratzenhofer    
 
KARL OLDENBERG
Der russische Nihilismus
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"Die Professoren waren in ihrer lehrenden Tätigkeit durch die einengendsten Vorschriften nahezu auf das Niveau mechanischer Vorleser herabgedrückt und der tölpelhaften Zucht eines alten Soldaten unterworfen, der als Vormund der Universität fungierte; den Studierenden wurde nicht nur Fleiß und loyale Gesinnung vorgeschrieben, sondern ihre ganze Lebensweise bis auf Kleidung und Tageseinteilung herab mit militärischer Peinlichkeit an ein Reglement gebunden."

"Das Unterrichtsministerium wurde einem Mann übertragen, der die akademischen Lehrstühle der Philosophie und des europäischen Staatsrechts in aller Form aufhob, die Zahl der Studenten auf dreihundert für jede Universität beschränkte; und es steht fest, daß der Kaiser eine gänzliche Abschaffung der Universitäten beabsichtigt hatte."


Einleitung
I. Vorgeschichte des Nihilismus

Der russische Nihilismus existiert seit dem Ende der fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts. Mit den sozialisistischen und anarchistischen Strömungen des westlichen Europa in vieler Hinsicht verwandt und mannigfach verknüpft, trägt er doch einen von Grund auf verschiedenen Charakter. Daß, obgleich hier wie dort von der gebildeten Klasse ausgegangen, in Rußland die Bewegung auf ihre ursprüngliche gesellschaftliche Sphäre nahezu beschränkt geblieben ist, hängt wesentlich vom kulturellen Entwicklungsstadium dieses Landes ab: die Entwicklung des Industriewesens mit all ihren Konsequenzen, ebenso wie das Prinzip der allgemeinen Schulbildung, diese mächtigsten Hebel des westeuropäischen Sozialismus, sind in Rußland noch in den Anfängen ihrer revolutionierenden Wirksamkeit. Das soziale Elend ist hier von anderer Art als in den Ländern des Westens, der Sozialismus ist trotzdem von dort importiert worden. Im übrigen kann die innerste Eigenart des Nihilismus nur als geschichtliches Produkt der absonderlichen geistigen Kultur Rußlands verstanden werden. Daß die äußeren Formen, unter welchen derselbe im Laufe der drei Jahrzehnte seines Bestehens in Erscheinung getreten ist, für seine Begriffsbestimmung kein anderes specificum als das des buntesten Wechsels ergeben, wird die Darstellung seiner Geschichte verdeutlichen. Zur Orientierung sei vorweg auf die drei zeitlichen Abschnitte dieses geschichtlichen Prozesses hingewiesen, deren erster, die Zeit des Nihilismus im engeren Sinn, etwa von 1858 bus 1867 gerechnet werden kann, der zweite, die Zeit der populären Propaganda, von 1868 bis 1877, und der dritte, die Periode des Terrorismus, von 1878 bis 1887 dauerte.

Unsere Darstellung beginnt mit einem kurzen Überblick der russischen Kulturgeschichte, deren krankhafte Mißentwicklung während der zwei letztvergangenen Jahrhunderte in gerader Linie auf den Nihilismus hingearbeitet hat.

Dem voreiligen Urteil, welches in der slawischen Rasse nur die von Haus aus unebenbürtige Schwester ihrer westlichen Nachbarn zu sehen geneigt ist, widersprechen die elementaren Erzeugnisse des russischen Volkgsgeistes: Sprache, Volkspoesie, physiognomischer Typus. Vielmehr erscheinen äußere Verhältnisse, deren Einflüssen die russische Geschichte unterlag, als hinreichende Erklärung für das Brachliegen der geistigen Talente selbst eines reich beanlagten Volkes: die geographische Entfernung von den Mittelpunkten der Zivilisation, die Herrschaft der sterilen byzantinischen Bildung und Religion, und die lange Periode mongolischer Dienstbarkeit, die, das 13., 14. und 15. Jahrhundert füllend, die Anfänge der mit dem Abendland geknüpften Beziehungen zerstörte. Als halbbarbarisches Volk in die Neuzeit eintretend, ist Rußland während der seither verflossenen vier, namentlich aber während der letzten zwei Jahrhunderte unablässig bemüht, der westeuropäischen Völkerfamilie, der es durch Abstammung und Nachbarschaft angehört, sich auch durch seine Zivilisation einzugliedern.

Fast auf jedem Gebiet gehen die öffentlichen Zustände des gegenwärtigen Rußland auf eine Schöpfung PETERs des Großen zurück (Regierungsjahre 1689-1725), dessen gewalttätige Politik den bisher schrittweise geförderten Kulturprozeß mit einem Mal um den Zeitraum von Generationen beschleunigte. Es ist für die Geschichte Rußlands von der größten Bedeutung geworden, daß eben zur Zeit seiner lebhaftesten Empfänglichkeit für die Kultur der Westländer hier der Staatsgedanke des aufgeklärten Despotismus herrschend war. Die Aufgabe einer radikalen Umbildung der gesamten Kultur, wie Zar PETER sie unter dem Einfluß dieses Staatsgedankens sich stellte, verbunden mit den Schwierigkeiten eines enormen und stetig zunehmenden Reichsgebietes, schufen das Bedürfnis eines schneidigen bürokratischen Apparats, eines umfangreichen Personals unbedingt lenkbarer Staatsdiener; die gleichzeitig geplante Schaffung eines großen stehenden Heeres verlangte ein nicht weniger stramm diszipliniertes Offizierscorps. Um den unabhängigen Sinn des seinen Neuerungen wenig geneigten moskowitischen Adels unter dieses geistige Joch zu beugen, scheute der Zar nicht vor den rücksichtslosesten Mitteln zurück. Durch den allgemeinen Zwang zum Staatsdienst (bei Strafe des Verlustes der Adelsrechte), durch Einführung des Dienstadels, durch jede Art geflissentlicher Aufstachelung des Strebertums, durch die halbmilitärische Disziplinierung des zivilen Dienstes ist es im Laufe der Generationen gelungen, die gegenwärtig längst vorherrschende Spezies des russischen Beamten zu züchten; eines Bürokraten von vollendeter Fügsamkeit, dessen einziges Streben, von zarter Jugend auf, die Karriere, dessen oberste Sorge die Protektion, die auf jedem Weg zu erlangende Gunst des Vorgesetzten, dessen alleinige Heimat der Petersburger Hof und dessen höchstes Lebensziel eine gesellschaftliche Position in den Petersburger Salons ist. In der sozialen Sphäre, in welcher dieses bürokratische Element den Ton angibt - der einzigen "Gesellschaft", die in Rußland diesen Namen beansprucht -, wurde mit Notwendigkeit ein von unendlichem Klatsch begleiteter Personenkult heimisch, der, in seltsamer Vereinigung mit dem Mangel einer selbständigen Individualität, wie ein Sauerteig alles gesellschaftliche und staatliche Leben durchdringt, und in der literarischen Spiegelung jeden politischen Essai, jedes Stück moderner russischer Geschichtsschreibung dem Ausländer wie ein Mosaik biographischer Fragmente erscheinen läßt. Der brutalste Hochmut im Verkehr mit den Untergebenen und eine zum Sprichwort gewordene Bestechlichkeit und Unredlichkeit im Amt bilden die ergänzende Kehrseite dieses Servilismus [knechtische Gesinnung - wp].

Die sittliche Entartung des russischen Adels zu vollenden, war seit den Tagen PETERs des Großen massenhaft importierten ausländischen Kultur vorbehalten. Die Überflutung des Landes mit den Trägern deutscher Intelligenz, deutschen Technikern und deutschen Beamten - oft abenteuernden Elementen und nicht eben geeignet, das moralische Niveau ihrer neuen Umgebung zu heben -, das Eindringen des Deutschtums gerade in die höheren Würdenstellen, gewöhnte die Vorstellungen der russischen Gesellschaft an die Überlegenheit des Ausländischen. So fand die französische Kultur des 18. Jahrhunderts für ihren Siegeszug die Bahn geebnet. Das Beispiel, welches der Petersburger Hof im Kultus französischer Sitten gab, war zugleich als ein Glied in der Kette von Maßregeln gedacht, die den Adel mit allen seinen Interessen an diesen Hof fesseln sollten. Es ist namentlich KATHARINA II. (geborene Prinzessin von Anhalt-Zerbst, regierte 1762-1796), die Freunding VOLTAIREs und der Enzyklopädisten, die, ganz im Ideenkreis der französischen Aufklärung lebend, die Gallomanie [Franzosenmanie - wp] der russischen Gesellschaft auf den Höhepunkt brachte. Die durch den Glanz ihrer Außenseite gewinnende, durch einen Beigeschmack von haut goût [höherem Geschmack - wp] gewürzte Sentimentalitäts- und Aufklärungsliteratur der Franzosen verschlang die primitiven Bildungselemente des Russentums ohne ernsthaften Widerstand. Gleich der französischen Bildung und Sitte verdrängte selbst die französische Sprache das Vaterländische aus den Salons der Gesellschaftskreise, die auf Vornehmeht Anspruch machten. Ein nicht zu verleugnender Beisatz barbarisierender Reminiszenzen [Rückstände - wp] und blinde Abhängigkeit vom ausländischen Vorbild unterschieden diese sekundär französische Kultur von ihrem Original. Bezeichnend ist die aus jener Zeit überlieferte Notiz über einen Professor des Petersburger geistlichen Seminars, der, wenn er nicht sinnlos betrunken war, seinen Zöglingen die Lehren VOLTAIREs und DIDEROTs vorzutragen liebte. Blasiertheit, Frivolität, eine zunehmende Unfähigkeit zum selbständigen Urteil, eine hoffnungslose geistige Leere bilden seit jener Zeit die typischen Charakterzüge dieses äußerlich brillierenden gesellschaftlichen Lebens, unter dessen Hülle allen barbarischen Lastern und Leidenschaften die freieste Entfaltung erlaubt wurde. Unter den im Gefolge dieses Prozesses auftretenden Krankheitserscheinungen sollen nur zwei hervorgehoben werden, die für Rußlands spätere Geschichte von der verhängnisvollsten Bedeutung geworden sind: die Auflösung des Familienlebens, die an die Stelle elterlicher Erziehung das Amt gemieteter, meist ausländischer Gouverneure und Gouvernanten setzte, die Ideale des häuslichen Herdes im Bewußtsein des künftigen Familienhauptes vor der alles Streben in ihren Kreis bannenden Sonne des Petersburger Hofes erblassen ließ; und zweitens eine nur in Rußland gekannte launenhafte Despotie, wie sie die Mode auf jedem Lebensgebiet, und vornehmlich auf dem Gebiet der öffentlichen Meinung ausübt, und wie sie von TURGENJEW (im Roman "Rauch") in klassischer Weise dargestellt ist.

Indessen entwickelte sich gegen diese doppelte Abhängigkeit - Abhängigkeit von Petersburg und von Paris - schon im vorigen Jahrhundert eine mehr oder weniger bewußte Reaktion in zweifacher Gestalt. Auf der einen Seite standen die Vertreter des unverdorbenen russischen Adels: derbe und selbstbewußte Naturen, von Verachtung und Haß gegen das verfeinernde und entnervende Westeuropäertum erfüllt, die in der Einsamkeit ihrer Landwirtschaft oder im Soldatendienst, dem relativ gesündesten Element der neurussischen Kultur, ihre Befriedigung suchten; dieser Klasse, welche die Keime des künftigen Slawophilentums in sich enthielt, ist kein geringerr als der spätere Zar NIKOLAUS beizuzählen. Eine zweite Richtung, in einer literarischen Schule vertreten, von weniger radikaler Natur, beschränkte sich auf eine kritische Sondierung der moralischen Schäden, an denen die russische Gesellschaft krankte. Es verdient jedoch Beachtung, daß ein politisch oppositioneller Charakter in diesen Gegenströmungen zunächst nicht bemerkbar war, vermutlich deshalb, weil man sich zu einem ernsthaften Widerspruch zu schwach fühlte.

Auch der politische Oppositionsgeist kam vielmehr als Importartikel nach Rußland, und zwar in Gemeinschaft mit der Idee des Konstitutionalismus. Die Kaiserin KATHARINA folgte auch darin ihren Pariser Vorbildern, daß sie die politische Tragweite der Aufklärung unterschätzte. Nachdem die französische Revolution diesen Irrtum richtig gestellt hatte, wurde das Manöver eines reaktionären Schwenks, zu welchem der Petersburger Hof das Signal gab, mit bewundernswerter Schlagfertigkeit vom politischen Publikum zur Ausführung gebracht. Die Freimaurerbünde, die auch in Rußland nicht fehlten, fielen damals in Ungnade und brachten die ersten russischen Märtyrer des Liberalismus hervor. Unter dem großen Feind der französischen Revolution, dem despotischen Zaren PAUL I. (1796-1801), konnte von einer freien Regung des Liberalismus noch weniger die Rede sein: ein umso kritischerer Zustand, das damit die gesamte, nach Paris gravitierende russische Kultur ihres Schwerpunkts beraubt erscheint. Ein radikaler Umschwung bereitete sich vor, als durch die Ermordung des zuletzt genannten Monarchen ALEXANDERs I. auf den Thron gelangte, der, unter den Augen seiner kaiserlichen Großmutter KATHARINA durch den Jakobiner LAHARPE erzogen, ein romantisch schwärmender Jüngling, für die Befreiung der Völker und die Liebe seiner Untertanen sich begeisterte. Die unterdrückten Ideen, ihrer Fesseln entledigt, wurden auch durch den in der napoleonischen Zeit erwachten Nationalstolz und Nationalkult nur vorübergehend verdrängt;, zumal nach dem Sturz des bonapartistischen Kaisertums entfalteten sie sich, von den Tausenden französischer Emigranten genährt, von einer Blüte wahlverwandter Poesie begleitet, zu einer Macht, der die Zukunft zu gehören schien. Die liberale Strömung unter den deutschen Nachbarn, mit denen man während der letzten Jahre Fühlung gewonnen hatte, fand warme Sympathie und mannigfache Nachahmung. Umgeben von politischen Zuständen, die der Kritik nur allzu bloß lagen, unter dem Szepter eines Monarchen, der als Kronprinz Republikaner gewesen und als Kaiser eine Konstitution verheißen hatte, erlebte der junge Liberalismus in wenigen Jahren eine unbegrenzte Verbreitung. Während aber beim Großteil der Gesellschaft die Bewegung den Charakter einer oberflächlichen Salonmode nicht verleugnen konnte, schlug sie bei einem Teil der jüngeren Generation als schwärmerische Überzeugung tiefere Wurzeln. Die Heimstätte dieser hoffnungsreichen Bestrebungen war das Offizierskorps; ihre geistigen Führer sind vorzugsweise unter den jungen Gardeoffizieren zu suchen, die, zwischen 1815 und 1820 aus ihren französischen Garnisonen heimkehrend, einen Abscheu gegen die staatlichen und sozialen Zustände ihres Vaterlandes und den festen Entschluß mitbrachten, "Frankreich nach Rußland zu importieren". Wir erkennen in dieser Bewegung die Fortsetzer jener literarischen Schule, die um eine Generation früher, damals noch unpolitisch, den moralischen Niedergang der Gesellschaft beklagte.

Die reaktionäre Wendung, welche die Sinnesrichtung und Politik ALEXANDERs I. - mitunter dem Einfluß METTERNICHs - in der zweiten Hälfte seiner Regierung nahm, nicht entschieden genug, um diese Bestrebungen zu unterdrücken, nötigte ihnen einen oppositionellen Charakter auf. Der Liberalismus verkörperte sich, wie anfangs in literarischen Zirkeln, so jetzt nach ausländischem Vorbild zu politischen, bald auch geheimen Gesellschaften (zuerst 1817), deren wichtigtuendes Gebaren auf die des Luxus einer selbständigen Meinung Entwöhnten einen mächtigen Reiz ausübte. Das Verbot der Freimaurerlogen im Jahr 1823 löste vollends die Gemeinschaft zwischen Regierung und Liberalismus. Der extreme Teil der Liberalen, zum "Bund des Nordens" und "des Südens" vereinigt, beschloß, den seines hohen Amtes unwürdigen Kaiser zu ermorden, um danach eine konstitutionelle Monarchie oder (wie der energischere Südbund dachte) eine föderative Republik zu begründen. Man plante eine Militärrevolte - die Hauptverschwörer waren Offiziere - für den Mai 1826; der Tod des Kaisers beschleunigte die Ausführung des Vorhabens, dessen Erfolg bekannt ist. Der Aufstand mißglückte in Petersburg (Dezember 1825, woher die Bezeichnung "Dekabristenverschwörung" stammt), im Süden kam Verrat seinem Ausbruch zuvor; fünf Verschworene wurden gehängt, mehr als hundert, die Blüte der russischen Intelligenz, nach Sibirien deportiert.

Zar NIKOLAUS, der glückliche Sieger des Dezemberaufstandes, war in Charakter und Neigungen das gerade Gegenteil seines verstorbenen Bruders ALEXANDER. Eine energische, selbstbewußte, soldatische Natur, wechselnder Beeinflussung ebenso unzugänglich, wie ALEXANDERs weicher Sinn empfänglich gewesen, blieb er den modernen Ideen der westlichen Kultur fremd, deren Sentimentalität er ebenso verachtete, wie er ihren politischen Neuerungsgeist haßte. Mit ihm kam die seit 1812 neu aufgelebte altrussische Reaktion in ihrer konservativsten Gestalt an das Regiment. Ohne sich oder Anderen gegen die Politik seiner Vorgänger einen Tadel zu erlauben, und ohne dem von altrussischer Seite scheel angesehenen deutschen Element in der Bürokratie seinen Platz zu schmälern, proklamierte der neue Herrscher als leitendes Prinzip seiner Regierung den Grundsatz, daß von jetzt an die geistige Entwicklung Rußlands ihre eigenen Wege nehmen muß. Daß der in ihren Grundlagen eigenartigen russischen Geschichte die Irrwege der westeuropäischen Zivilisation, ihre freiheitliche Entartung in Religion und Staat, erspart bleiben könnten, dafür bietet der in der griechischen Kirche lebendige Geist des ursprünglichen Christentums und die Kraft der in den Herzen des Volkes tief eingewurzelten patriarchalischen Autokratie die Bürgschaft. Die von der allgemeinen Verderbnis unberührten Bestandteile der unleugbar entwickelteren westeuropäischen Zivilisation mit Sorgfalt auszuscheiden, sei die Aufgabe landesväterlicher Fürsorge, die sich zu diesem Zweck der Zensur bedient. - Die Ausführung dieses in erster Linie gegen den politischen Liberalismus sich richtenden Programms ließ an Gewissenhaftigkeit nichts zu wünschen übrig. Die Eindrücke jenes Empfangs, der dem Kaiser im Augenblick seiner Thronbesteigung bereitet wurde, schienen maßgebend zu bleiben für die rücksichtslose Strenge, mit der während einer dreißigjährigen Regierung Dichten und Trachten des denkfähigen Teils der Nation in diejenigen Bahnen hineingezwängt wurden, deren Innehaltung nach kaiserlichem Dafürhalten das Staatswohl forderte. Die Strenge einer präventiv arbeitenden Zensur fand ihre Ergänzung im Regiment derjenigen Geheimpolizei, welche NIKOLAUS unter dem berüchtigt gewordenen Namen einer "Dritten Abteilung Seiner Majestät Höchsteigener Kanzlei" mit fast schrankenloser Machtfülle der ordentlichen Polizei an die Seite stellte. Der schwerste Druck lastets schon damals auf den öffentlichen Bildungsanstalten, insbesondere den Universitäten, die als Opfer einer mißtrauischen Überwachung und militärisch groben Reglementierung verkümmerten. Die periodische Presse, bis auf den Abdruck offizieller Mitteilungen ihres politischen Charakters entkleidet, blieb im wesentlichen auf eine Anzahl belletristischer Revuen beschränkt, in deren Spalten die Rivalität des alten Klassizismus mit der aufstrebenden Romantik ihre Kämpfe ausfocht. Die Prügelstrafe in ihrer entehrendsten Form, gegen die kein gesellschaftlicher Rang, so wenig wie die Zugehörigkeit zum schönen Geschlecht Schutz bot, warnte vor der unvorsichtigen Äußerung einer illoyalen oder gar oppositionslustigen Empfindung; der Moskauer Schriftsteller TSCHAADAEW, der die beispiellose Kühnheit hatte, öffentlich seine Stimme zugunsten der westeuropäischen Kultur zu erheben, wurde auf eine kaiserliche Order hin als wahnsinnig behandelt. Wie schon die Möglichkeit einer derartigen Maßregel beweist, war das Prohibitionssystem nicht ohne Erfolg geblieben; ja mehr noch: der Zauber der imponierenden Persönlichkeit des Monarchen, die Gewalt seines überlegenen Charakters, der patriotische Stolz auf die europäische Machtstellung, die unter seinem Szepter das Vaterland einnahm, ließen die Elite der russischen Gesellschaft in enthusiastischer Huldigung vor dem Thron auf den Knien liegen. Ein gnädiger Blick, ein huldvolles Wort des Monarchen war ein vielbeneidetes Glück in den Augen der Petersburger großen Welt, das unerreichbare Ideal eines an die Provinzialstadt gefesselten Adels. Es gab eine Zeit, wo die bescheidenste Kritik einer kaiserlichen Entschließung ausreichte, um ihren unbefangenen Urheber in der Gesellschaft unmöglich zu machen. Die von oben her geflissentlich begünstigte Mode einer Verherrlichung aller russischen Zustände bereitete eine Stimmung offiziös gefärbter politischer Selbstzufriedenheit aus, deren Charakter auf das Treffendste der klassische Ausdruck eines zeitgenössischen Petersburger Staatsmannes kennzeichnet:
    "Rußlands Vergangenheit war bewundernswert, die Gegenwart ist mehr als herrlich und die Zukuft wird alles übertreffen, was menschliche Einbildungskraft zu fassen vermag." (1)
Eine ununterbrochene Reihe rauschender Hoffestlichkeiten ließ es dieser Gesellschaft möglichst selten zu Bewußtsein kommen, eine wie müssige und unwürdige Rolle sie zu spielen gezwungen wurde.

Daß für die Aufnahme liberaler Ideen in Rußland die moralische Reife in noch höherem Grad als im Westen mangelte, wird niemand zu leugnen geneigt sein. Aber angenommen selbst, das Heilmittel des nikolaischen Unterdrückungssystems sei nicht ärger als das zu heilende Übel gewesen, so konnte doch der Erfolg in keinem Fall ein dauerhafter sein. Der trotz Zensur und Polizei kontinuierlich fortwirkende Einfluß der mit allem Reiz des Verbotenen ausgestatteten Ideen, die in den Stammländern der höheren Bildung immer neue Keime trieben; der alltäglich sich aufdrängende Vergleich jener offiziellen prahlerischen Schönfärberei mit den Tatsachen der Realität: mit der inneren Hohlheit des gesellschaftlichen Lebens, der Herrschaft von Brutalität und Unbildung, der gerade damals ihren Höhepunkt erreichenden Unredlichkeit des Beamtentums, dem erbärmlichen Elend des leibeigenen Bauernstandes - untergruben langsam und sicher den Bestand jenes harmonischen Verhältnisses zwischen Hof und Gesellschaft. Man machte die eigentümliche Erfahrung, wie die allmächtige Gewalt der Mode, bisher die sicherste Garantie gegen selbständige Regungen innerhalb der Gesellschaft, jetzt zum wirksamsten Hebel gerade dieser oppositionellen Tendenz wurde. Hatte ehemals ein Zweifel an der kaiserlichen Unfehlbarkeit als höchste Taktlosigkeit gegolten, so wurde mit dem großen Umschwung der öffentlichen Stimmung, dessen Zeitpunkt am Zutreffendsten 1836 anzusetzen sein dürfte, zuerst in gewissen Kreisen der beiden Residenzstädte und bald aller Orten ein gewohnheitsmäßiges Absprechen über alles, was von der Regierung kam, zum wesentlichen Erfordernis gesellschaftlicher Observanz [Gewohnheit - wp], zur unentbehrlichen Würze jeder auf esprit [Geist - wp] Anspruch erhebenden Konversation. Am Anfang auf allgemeines Räsonnieren [Argumentieren - wp] gegen alles Gouvernementale sich beschränkend, nahm diese neue Mode bei ihren fortgeschritteneren Vertretern bald eine revolutionäre Färbung an, welche, vom konstitutionellen Liberalismus der zwanziger Jahre grundsätzlich verschieden, eine neue Phase in der russischen Revolutionsgeschichte bezeichnet: die demokratisch-sozialistische Färbung. Die diesen Tendenzen Bahn brechende französische Literatur, die abermals die Lehrerin der russischen Gesellschaft wurde, fand in Rußland einen umso ergiebigeren Boden, als hier der Gegensatz einer bloß wirtschaftlichen Klassenscheidung nicht nur durch das demoralisierende Elend der Leibeigenschaft verschärft war, sondern vielleicht mehr noch durch die kulturelle Absonderung eines dem eigenen Volkstum sich entfremdenden, sittenlosen und verdienstlosen Adels, die geistige Verlassenheit des seiner natürlichen Führer entbehrenden Volkes. Die Leibeigenschaft im Besonderen, als eine Institution, über die Europa sein Urteil gesprochen hatte, wurde zum beliebtesten Angriffsobjekt des Petersburger Salonpolitikers, dessen Opposition doch weder den Ernst noch den Mut zu einem offenen Hervortreten besaß. Während öffendlich der Schein tiefer Ergebenheit und Loyalität mit peinlicher Ängstlichkeit gewahrt bliebt, erschien an der Oberfläche als die einzig wahrnehmbare Veränderung das Emporkommen eines neuen Geistes, der sich in der belletristischen Literatur und der ästhetischen Kritik regte. Der durch GOGOL in der schönen Literatur zur Herrschaft gebrachte ironisch-satirische Realismus, der in einem schroffen Gegensatz zur romantischen wie klassischen Poesie in der getreuen Kopierung der Wirklichkeit seine einzige Aufgabe zu erkennen behauptete, war wie dazu geschaffen, den heimlichen Interessen des Publikums Nahrung zuzuführen. Den Argwohn des vorwiegend gegen den älteren Liberalismus abgerichteten, oft ziemlich bornierten Zensors mit Geschick meidend, dem realistischen Sinn des Zaren eher sympatisch, bildete diese literarische Gattung die Kunst des zwischen den Zeilen Schreibens und zwischen den Zeilen Lesens zu einer in anderen Staaten nicht gekannten Vollkommenheit aus; so an ihrem Teil beitragend, den widerspruchsvollen Gegensatz in Staat und Gesellschaft auf die Spitze zu treiben.

Schon damals war die radikalste Strömung - und zum großen Teil auch die Urheberschaft - dieser oppositionellen Bewegung in den Kreisen der gebildeten oder sich bildenden Jugend zuhause. Nach lokalen und individuellen Verhältnissen variierend, war diese Strömung in einer kleinen Zahl eng umgrenzter Zirkel konzentriert, von denen der Geist des Widerspruchs sich in die Kreise der großen Gesellschaft hinein ausbreitete, an Umfang gewinnend, was er an Energie dabei einbüßte. Zu den wichtigsten dieser revolutionären Brutstätten, in denen die Erinnerungen des einstigen Liberalismus und seiner Märtyrer mit leidenschaftlicher Pietät gepflegt wurden, gehört das erste Petersburger Kadettenkorps und nach diesem die Petersburger Artillerieschule; ein anderer in diese Kategorie gehöriger Kreis, der in den ersten dreißiger Jahren sich an der Moskauer Universität gebildet hatte, ist aus verschiedenen Gründen einer ausführlichen Beachtung wert.

Die Krönungsstadt und zweite Residenz des Reiches galt schon seit den Tagen PETERs des Großen für den Hauptsitz der altrussischen Opposition und als "Zentralschmollwinkel" aller unzufriedenen Elemente; die Moskauer Universität, welche überdies den Ruf ernster Wissenschaftlichkeit genoß, unterlag deshalb jetzt einer doppelt strengen Überwachung. Die Professoren waren in ihrer lehrenden Tätigkeit durch die einengendsten Vorschriften nahezu auf das Niveau mechanischer Vorleser herabgedrückt und der tölpelhaften Zucht eines alten Soldaten unterworfen, der als Kurator [Treuhänder - wp] der Universität fungierte; den Studierenden wurde nicht nur Fleiß und loyale Gesinnung "vorgeschrieben", sondern ihre ganze Lebensweise bis auf Kleidung und Tageseinteilung herab mit militärischer Peinlichkeit an ein Reglement gebunden; Lehrer wie Lernende sahen sich auf Schritt und Tritt im täglichen Leben von der gierigen Wachsamkeit dienstfertiger Denunzianten belauscht. Dennoch fand hier eine heimliche Vereinigung von begeisterten Jüngern der Wissenschaft ihre Lebenslust, Lehrern wie Studierenden, zum Teil dem vornehmsten Adel angehörig, die aller Spionage zum Trotz die verbotenen Früchte der streng verpönten deutschen Philosophie zu pflücken verstanden und dem freien Gedanken in der Verborgenheit einen Altar aufrichteten. Gemeinschaftlich wurden hier die Geheimnisse der Philosophie HEGELs und SCHELLINGs von wetteiferndem Scharfsinn enträtselt, die auf geheimen Wegen verschriebenen Originalwerke bis zur Abnutzung zerlesen; gegenseitig bestärkten sich hier die Genossen im Haß gegen die gemeinschaftlich erduldete Unterdrückung, in der Verachtung einer unter der glänzenden Hülle schlecht verborgenen Armseligkeit und sittlichen Verkommenheit, die sich in der großen Welt breit machte, und in der Sehnsucht nach dem Ideal einer besseren Zukunft ihres entwürdigten Vaterlandes, der sie dereinst die Bahn zu brechen den heiligen Beruf in sich fühlten. Die Gedanken der großen Berliner Philosophen wandelten sich unter ihren Händen um zu Revolutionsideen; die Lehre von der geschichtlichen Entwicklung gab den Anlaß zu der in der Folge so bedeutungsvoll gewordenen Theorie von einer großartigen Zukunft des befreiten russischen Volkes, von einem europäischen Primat der slawischen Rasse.

Über die Gestaltung dieser Zukunft standen sich jedoch zwei Meinungen in getrennten Lagern gegenüber. Die eine Gruppe, deren Programm sich an das schroffe Moskauer Altrussentum anlehnte, glaubte alles Heil in einer Renaissance der primitiven russischen Kultur entlegener, byzantinischer Jahrhunderte zu sehen. Vom Standpunkt des offiziellen Nationalitätskultus trennte sie ihr weitergehender Radikalismus, ihre Verurteilung der von PETER dem Großen ausgehenden Reform wie der Duldung des deutschen Elements am gegenwärtigen Hof; vor allem aber eine bis zum demokratischen Extrem gesteigerte Vorliebe für das Volkstümliche, das dem Begriff des Nationalen in Rußland näher steht als anderswo. Von diesem Kreis sind die Anregungen ausgegangen, welche die antiquarische Erforschung des russischen Altertums belebt haben. Allein ganz auf die Spekulation angewiesen, mit dem praktischen Leben durch keinerlei Brücke verbunden, verirrten sich die Heißsporne dieser slawophilen Richtung, die die Ähnlichkeit mit ihrem germanischen Urbild nicht verleugnen kann, in tiefsinnigen Deutungen des griechisch-kirchlichen Formalismus, in einer extravaganten Betätigung ihres unverfälschten Russentums bis zu Absonderlichkeiten, die dem unbefangenen Beobachter albern oder verrückt erscheinen mußten.

Neben dieser Richtung gedieh in demselben Moskauer Studentenzirkel eine zweite, die obwohl von den gleichen Prämissen ausgegangen, sich in gewissem Sinne diametral von der ersteren entfernte. Ihr war die Abneigung gegen europäische Kultur ebenso fremd wie die Vorliebe für primitive Entwicklungsstufen und byzantinisches Kirchentum. Ihre Anhänger erkannten vielmehr ebenso die Aneignung der europäischen Bildung wie die Verwirklichung des europäischen Freiheitsgedankens als notwendige Bedingung für jeden Fortschritt der russischen Nation; daß in diesen Zukunftsplänen das neueste und radikalste Produkt des Westens, die vom Grafen SAINT-SIMON gepredigte Sozialreform, die erste Rolle spielte, daß eine nur politische (statt: soziale) Revolution als verwerfliche Halbheit verurteilt wurde, war nicht anders als natürlich. Entsprechend den Prinzipien des politischen Liberalismus, dem sie selbstverständlich huldigten, unter dem präjudizierenden Einfluß der polenfreundlichen Stellungnahme des liberalen Westens, nahm das nationale, slawophile oder vielmehr panslawistische (2) Staatsideal dieser Schule die Gestalt einer föderativ vereinigten Republik der slawischen Stämme an.

Die großen Parteiströmungen des späteren Rußland, welche sich keimförmig in den Glaubensbekenntnissen dieser akademischen Zirkel widerspiegeln, haben hier nicht nur ihre am meisten charakteristische Gestalt, sondern auch diejenigen leitenden Persönlichkeiten gefunden, in deren Gefolgschaft sie zu ihrer späteren Bedeutung gelangt sind. BELINSKI, HERZEN, OGAREW, BAKUNIN, KONSTANTIN und IWAN AKSAKOW, CHOMJÄKOW, KATKOW u. a. haben diesem Kreis angehört und sind fasst alle hier, was sie waren, geworden. Übrigens fühlten sich die beiden Gruppen in ihrem damaligen protoplastischen [erstgeformten - wp] Stadium viel weniger durch ihre Sondermeinung geschieden, als durch den gemeinsamen Idealismus und die gemeinschaftliche Gefahr miteinander verbunden; und bald trat auch ein sachliches Bindeglied hinzu mit der für die Revolutionsgeschichte höchst wichtigen Entdeckung des russischen Gemeindebesitzes durch AUGUST von HARTHAUSEN.

Im Jahr 1842 nämlich führten den westfälischen Freiherrn seine agrarisch-konservativen und kirchlichen Interessen nach Rußland. Frucht war - außer der in diesem Zusammenhang nicht interessierenden Erforschung des russischen Sektenwesens - die förmliche Entdeckung der oben genannten, bis dahin in der Wissenschaft unbeachtet und unbekannt gebliebenen altrussischen Institution. Der Gemeindebesitzt ist, kurz gesagt, ein in Großrußland aus ältester Zeit erhaltener, übrigens in ähnlicher Form auch bei verwandten Völkern vorkommender Gebrauch, demzufolge die zu einer Gemeindes vereinigten Bauern ihr Land (mit Ausnahme der Haus- und Gartengrundstüce) gemeinschaftlich besaßen: Wald, Weide und Wasser blieben ungeteilt, während das Ackerland periodisch (meist nach je neun Jahren) unter alle Gemeindemitglieder zu möglichst gleichen Teilen verlost wurde. Auch die Leibeigenschaft änderte hieran nicht viel; nur bestand jetzt das Land aus Rittergütern bzw. Domänengütern: der Gutsherr war Eigentümer des ganzen Gutes, überließ aber einen Teil desselben, etwa zwei Drittel, der leibeigenen Gemeinde zur Nutzung, die wieder den früheren Verteilungsmodus anwandte; die wesentliche Neuerung lag in der persönlichen Abhängigkeit und dem Frohnzwang der Bauern auf der einen, in der Unterstützungspflicht des Gutsherrn in Notfällen auf der anderen Seite. Auch die Gemeindemitglieder, welche mit Erlaubnis des Herrn (regelmäßig gegen jährlichen Zins) nach der Stadt zogen, konnten, wenn sie in die Gemeinde zurückkehrten, bei der nächsten Verlosung ihren Anteil von Neuem verlangen.

In Moskau erregte die durch Herrn von HARTHAUSEN mündlich mitgeteilte Entdeckung bei den Sozialisten nicht geringere Sensation als bei den Slawophilen. Wie jene, die Verkörperung ihrer Idee in ungeahnter Realität erblickend, dem Gemeindebesitz in ihrem sozialistischen Programm den Ehrenplatz einzuräumen sich beeilten, so fiel es auch den Slawophilen wie Schuppen von den Augen in der aufleuchtenden Erkenntnis, daß hier die herrlichste Offenbarung des russischen Volksgeistes greifbar vor Augen liegt: die nationalökonomische Verwirklichung der christlichen Nächstenliebe, das bisher nur geglaubte und geahnte "Prinzip", mit welchem das Slawentum demnächst die Mitwelt zu beglücken berufen ist, sobald dasselbe in der nach philosophischer Notwendigkeit ihm gebührenden Rolle des europäischen Primats seine romanischen und germanischen Vorläufer wird abgelöst haben. Der verachtete Bauernstand hat mit rührender Treue dieses Kleinod durch die Jahrhunderte der Knechtschaft gerettet. - Die nächste Aufgabe aber mußte es sein, das kostbare Prinzip (dessen Beibehaltung in der Folge viel Unheil angerichtet hat) im eigenen Land zur Durchführung zu bringen, d. h. ihm in diejenigen Provinzen Eingang zu verschaffen, wo es noch nicht oder nicht mehr in Geltung war und vor allem die Rittergüter zu beseitigen; und in diesem Bestreben konnte Slawophile und Sozialisten sich die Hand reichen.

Schon ein Jahrzehnt vor den Tagen dieses glücklichen Fundes hatte den Kreis der jungen Moskauer Philosophen ein Unglück heimgesucht, das für längere Zeit dem lebhaften Treiben eine Schranke setzte. Die Bemühungen der kaiserlichen Spionage waren bereits 1832 insofern erfolgreich, als man in diesem Jahr in Moskau mit nächtlichen Verhaftungen einzelner Studenten begann, die dann für ihre Kameraden einfach verschollen blieben. Nicht lange später wurden vom gleichen Schicksal die hervorragendsten Genossen des sozialistischen Kreises erreicht; unter der Anschuldigung, eine Gesellschaft zur Verbreitung der Ideen SAINT-SIMONs gebildet zu haben, wurden die jungen Edelleute nach vielmonatlicher strenger Untersuchungshaft und einem mit skandalöser Formlosigkeit verlaufenden Prozeßgang auf unbestimmte Zeit in die Verbannung geschickt.


Seitdem war in der öffentlichen Stimmung jene stille, aber gründliche Umwandlung eingetreten, von der an einer früheren Stell die Rede gewesen ist. Dem schlecht unterrichteten Zaren, der, in einem verblendeten Übermut auf die revolutionäre Fäulnis des Westens herabsehend, mit jungfräulichen Integrität seines Rußland zu prahlen gewohnt war, sollte das Jahr 1848 eine zumindest partielle Aufklärung bringen. Eine im März dieses Jahres an den Minister des Innern gelangende Denunziation über die in einer Adelsversammlung der hauptstädtischen Provinz erfolgte Austeilung zensurwidriger Schriftstücke, als deren Verfasser ein Ministerialbeamter PETRASCHEWSKI genannt war, mußte dem überraschten Monarchen in einem umso bedenklicheren Licht erscheinen, als die im Verlauf der Sache unter Beobachtung strengster Verschwiegenheit angestellten und durch dreizehn Monate fortgesetzten Nachspürungen Tatsachen ans Licht förderten, von denen die Allwissenheit der (von dem mit der Untersuchung beauftragten Ministerium des Innern unabhängigen) Dritten Abteilung sich nichts hätte träumen lassen. Die Entdeckung, daß nicht nur in der Residenz, sondern ebenso in einer Reihe von Provinzialstädten vornehmlich von jüngeren Leuten besuchte Gesellschaften in Mode waren, in denen gewohnheitsmäßig Politik getrieben, über die Regierung, die Person des Zaren nicht ausgeschlossen, in respektwidrigster Weise räsonniert und sogar über kommunistische und andere staatsgefährdende Theoreme Debatten gepflogen wurden, erhielt dadurch einen noch beunruhigenderen Charakter, daß die Vorgeschichte dieser Gesellschaften sich bis in das Jahr 1842 zurückverfolgen ließ, daß eine vorsätzliche Propaganda der illoyalen Gesinnung in der Sphäre des niederen Beamten- und Bürgerstandes mehrfach mit Erfolg in Angriff genommen und eine raffinierte Aufwiegelung der leibeigenen Massen in die Überlegung gezogen zu sein schien; ja man hatte in Erfahrung gebracht, daß einige unruhige Köpfe sich mit fertigen Plänen tragen, deren Zweck der Sturz des Absolutismus und die Errichtung der "Anarchie" war.

Die nächste Folge der Entdeckung dieses sogenannten Komplotts der Petraschewzen [Anhänger des Zirkels "Petraschewski" - wp] war die Verhaftung von 33 der am meisten belasteten Personen, ihre Verweisung vor einen ad hoc [im Moment - wp] bestellten Gerichtshof und das Todesurteil gegen 21 junge Leute, denen allem Anschein nach nicht viel mehr als eine illoyale Gesinnung vorgeworfen werden konnte, durch kaiserliche Begnadigung in lebenslängliche Zwangsarbeit und Soldatendienst umgewandelt. Als weitere Konsequenz folgte die äußerste Anspannung der bürokratischen Kräfte im Kampf gegen alles, was zu den revolutionären Ideen eine Beziehung haben konnte, und die Vollendung desjenigen Polizeisystems, das den letzten Jahren dieser sprichwörtlich gewordenen Regierung charakteristisch ist. Die dritte Abteilung der kaiserlichen Kanzlei wurde tatsächlich zu einer allmächtigen obersten Reichsbehörde, der sich auch die Minister unterordnen mußten. Die Intoleranz der Zensur steigerte sich ins Unglaubliche. Fast alle hervorragenden Erzeugnisse der deutschen, französischen und englischen Literatur, und 90 Prozent aller Organe der periodischen Presse standen auf dem Index. Die inländischen Zeitungen wurden mit entsprechender Strenge zensiert. Zu einer Reise ins Ausland war außer der Allerhöchsten Erlaubnis die Hinterlegung von 500 Rubeln erforderlich. Von der Ausdehnung des kaum in Angriff genommenen Eisenbahnnetzes war nicht mehr die Rede. Das Unterrichtsministerium wurde einem Mann übertragen, der die akademischen Lehrstühle der Philosophie und des europäischen Staatsrechts in aller Form aufhob, die Zahl der Studenten auf dreihundert für jede Universität beschränkte; und es steht fest, daß der Kaiser eine gänzliche Abschaffung der Universitäten beabsichtigt hatte.

Der Unfehlbarkeitswahn und die Selbstherrlichkeit des alternden Zaren nahmen während seiner letzten Regierungszeit - insbesondere nach dem Tod seines Finanzministers CANCRIN - in einem Maß zu, daß die ergebensten und vertrautesten Ratgeber seiner Umgebung über die Zurechnungsfähigkeit eines Monarchen Zweifel zu hegen begannen, den nicht nur der geringste Widerspruch eines Untertans zum gefährlichen Jähzorn reizte, sondern der ebenso den Gesetzen der Volkswirtschaft und des Geldumlaufs glaubte gebieten zu können.

Die unheimliche Schwüle, welche über dem Reich lastete, ließ das Nahen einer Krisis mit Sicherheit voraussetzen, ohne daß auch nur vermutet werden konnte, in welcher Gestalt dieselbe hereinbrechen würde. Anlaß und Gestalt ergaben sich bekanntlich durch den Krimkrieg und den Tod von Kaiser NIKOLAUS.
LITERATUR - Karl Oldenberg, Der russische Nihilismus, Leizpig 1888
    Anmerkungen
    1) "Le passé de la Russie a été admirable, le présent est plus que magnifique, et l'avenir surpassera tout ce que l'imagination humaine peut concevoir."
    2) Dem panslawistischen Gedanken, der, wenn er dem Slawophilentum entgegengesetzt wird, immer das Ziel eines föderativen slawischen Staates bezeichnet, vertrat auf russischem Boden schon der "Bund der vereinigten Slawen", der sich vor der Dezemberverschwörung dem russischen Südbund anschloß und in Litauen, Wolhynien [ehem. Teil der Ukraine - wp] und Podolien [Provinz des Königreichs Polen-Litauen - wp] - die Polen hatten ihre eigene Organisation - verbreitet war.