tb-1LiebmannAdickesSternNatorpPfleidererAchelisLiebmann    
 
HUGO FALKENHEIM
Otto Liebmanns Kampf
mit dem Empirismus


"Es ergibt sich nämlich, daß bei der Ausscheidung aller subjektiven Verstandeszutat an Begriffen und Grundsätzen Erfahrung überhaupt nicht zustande kommen kann. Eleminiert man dieses Geflecht von geistigen Bändern und Arterien, so fällt die Erfahrung in ein zusammenhang- loses Aggregat von diskontinuierlichen Wahrnnehmungsfragmenten auseinander: das Resultat ist nicht reine Erfahrung, sondern gar keine Erfahrung. Diese wird erst möglich durch die stillschweigende Anwendung eines Systems von nichtbeobachtbaren, überempirischen Prämissen, die den Zusammenhang zwischen den isolierten Tatsachen der Wahrnehmung herstellen."

"Nur indem wir die Beobachtungslücken durch Nichtbeobachtbares ausfüllen, indem wir die Sphäre der Erfahrung um ein Enormes überschreiten, entsteht für uns ein objektives Weltbild statt eines verworrenen und gesetzlosen Vorstellungsspiels. ... So ist das Ideal einer reinen Erfahrung, einer bloß aus tatsächlich Beobachteten zusammengesetzten Wissenschaft, als doktrinäre Fiktion aufgezeigt. ... Aller reine Empirismus und Positivismus, indem er die überempirische Interpolationsmaximen irrtümlicherweise für Erfahrungssätze hält, also das Nichtwahrgenommene mit dem Wahrgenommenen auf dieselbe Stufe stellt, ist genau genommen nichts anderes als eine besondere Art von dogmatischer Metaphysik."

"Daß durch die Einsicht in die Genesis eines Gedankens zugleich ein Urteil über dessen Gültigkeitssphäre und Erkenntniswert gewonnen werden kann, ist der verhängnisvolle psychologistische Irrtum. Nicht mit der psychogenetischen Frage nach dem subjektiven Ursprung unserer Gedanken hat es die Erkenntniskritik zu tun, sondern mit der Feststellung ihrer logischen Dignität, und so liegt aller Unterschied zwischen apriorischen und aposteriorischen Erkenntnissen nicht in der verschiedenen Art ihrer Entstehung, sondern in der grundverschiedenen Art ihrer Evidenz."

"Bei einer tyrannischen Alleinherrschaft des Kausalprinzips im Denken, bei einer Leugnung überpersönlicher Wahrheitsnormen verschwände die Grundvoraussetzung aller Wissenschaft, die Unterscheidung von Wahr und Falsch; eine psychologisch naturnotwendige Meinung wäre dann genauso berechtigt wie eine andere, da es logische Erkenntnisgründe, die Anspruch auf eine allgemeine Anerkennung besitzen, nicht mehr gibt."

1. OTTO LIEBMANNs Erstlingsschrift "Kant und die Epigonen" ist 1865 erschienen. Dies besagt, daß er die bestimmenden wissenschaftlichen Eindrücke seines Lebens in einer aller Philosophie feindlichen Periode empfangen hatte und sich in die Reihe der Männer stellte, die der Philosophie den entrissenen Boden schrittweise wiederzuerobern strebten. So vorsichtig wie ausdauernd hat seine Lebensarbeit das Ziel verfolgt, von den Voraussetzungen des kantischen Systems her, wie er sie auffaßte und konsequen gegen Mißdeutungen verfochten hat, einen sich stetig erweiternden Kernbestand gesicherter Ergebnisse zu gewinnen. In stets betonter Anknüpfung an KANT hat er seine Untersuchungen von der Erkenntnistheorie aus auf die anderen Gebiete der Philosophie namentlich auf Naturphilosophie und Metaphysik, ausgedehnt und im Laufe seiner Entwicklung zu fast allen Hauptwerken des Meisters Stellung genommen. In der lebendigen Darlegung und selbständigen Weiterführung kantischer Grundgedanken besteht in der Hauptsache sein Lebenswerk, ohne daß er sich jedoch ängstlich an den Buchstaben der kritischen Lehre geklammert hat; vielmehr ist es für ihn charakteristisch, daß er da, wo seine Ansichten mit den geschichtlich gegebenen Resultaten anders gearteter Systeme zusammentreffen, gern ihren Wahrheitserwerb in seine eigenen Gedankengänge aufnimmt, daß er z. B. die kantische Teleologie durch die Einschmelzung gewisser Grundbegriffe der platonisch-aristotelischen Metaphysik eigenartig modifiziert. In den entscheidenden Motiven seines Denkens aber bleibt er überzeugter Kantianer, auch wo er - wie wir sehen werden - sich von seiner ursprünglichen Grundlage so weit zu entfernen scheint, wie in der Anerkennung einer "Vernunft im Universum" und in der Forderung einer "kritischen Metaphysik".

LIEBMANNs wichtigste Untersuchungen sind in einzelnen Abhandlungen niedergelegt, die stets in die Tiefe führen, aber mehr auf Herausarbeitung der wesentlichen Züge als auf eine erschöpfende Behandlung und endgültige Beantwortung der Probleme gerichtet zu sein pflegen. Schon aus den Titeln seiner Schriften ersieht man diese Eigentümlichkeit seiner Schaffensweise: "Zur Analysis der Wirklichkeit, eine Erörterung über die Grundprobleme der Philosophie", "Die Klimax der Theorie, eine Untersuchung aus dem Bereich der allgemeinen Wissenschaftslehre", "Gedanken und Tatsachen, philosophische Abhandlungen, Aphorismen und Studien" - in allein diesen Werken haben wir wertvolle Bausteine zur Gedankenwelt ihres Verfassers vor uns, aber nicht eigentlich diese selbst in ihrer systematischen Struktur. Verleiht nun diese Darstellungsform mit ihrer durch keine schulmäßigen Rücksichten beengten Beweglichkeit und Frische den Schriften einen besonderen künstlerischen Reiz, so nötigt sie doch den Leser, den zusammenhängenden Plan, der ihnen zugrunde liegt, sich selber zu konstruieren, die getrennten Glieder zu einem Gnzen zu verbinden. Bei näherer Beschäftigung erkennt man freilich in zunehmendem Maße, mit wie fester Hand der Verfasser uns selber zur Klarheit über die beherrschenden Gedanken verhilft: er weiß sie uns durch eine starke Hervorhebung und mannigfache Beleuchtung auf das Zwingendste einzuprägen. Besonders intensiv treten die Wahrheiten, auf deren Geltendmachung es ihm ankommt, in Verteidigung und Abwehr zutage; hier unterstützt seine hervorstechende Fähigkeit, die Gegensätze der Anschauungen auf den einfachsten und schlagendsten Ausdruck zu bringen, seine Absichten überaus wirkungsvoll. Man fühlt durchweg, wie sich ihm seine philosophischen Überzeugungen gerade im Ringen mit skeptischen und positivistischen Anfechtungen befestigt und vertieft haben. Er hat hier sein eigenes Wort zu bewähren gesucht:
    "Die skeptischen Reaktionen, weit entfernt den Hang zur Theorie abzutöten, dienen nur zu dessen Reinigung, Selbstbesinnung, stiller Sammlung und Höherbildung."
Um sich in Kürze die Stellung zu vergegenwärtigen, die OTTO LIEBMANN in der modernen philosophischen Bewegung einnimmt, mag es deshalb nicht unangebracht erscheinen, einen konzentrierenden Blick auf die seine Arbeiten durchziehende polemische Auseinandersetzung mit dem Empirismus zu werfen, wie er von ihm in seinen mancherlei Spielarten - als Psychologismus und als Nominalismus, als Atomismus und als mechanische Weltansicht - in den Bereich der Erörterung gezogen wird. Dabei soll es sich in dieser Skizze nicht darum handeln, LIEBMANNs Argumentation in ihre Einzelheiten zu verfolgen, sondern nur sie im Zusammenhang mit dem Ganzen seiner Anschauungen soweit klarzulegen, daß die Grundstimmung seines Geistes sowie überhaupt sein Verhältnis zur Philosophie der Gegenwart und ihren Richtungen aus seinen eigenen Formulierungen einleuchtet. Wir können uns diese Beschränkung ohne Furcht vor Mißverständnissen, wie sie sonst aus allzu knapper Charakteristik allgemeinster Gedanken leicht entstehen können, hier sehr wohl auferlegen, da die anderen Beiträge dieses Heftes für die Kenntnis der spezielleren Züge von LIEBMANNs Denken ja ergänzend eintreten. Auch eine kritische Kommentierung liegt mir fern: je ausschließlicher wir in diesem Rückblick den Jenenser Philosophen an seinem Ehrentag selber zu Wort kommen lassen, je geschlossener unser Referat seine Ideen in Reih und Glied hinstellt, desto objektiver wird das Urteil ausfallen können über das schwerwiegende Verdienst, das ihm am Durchdringen heiß umstrittener, von ihm frühzeitig mit dem vollen Einsatz seiner Persönlichkeit vertretener Einsichten zukommt - mögen auch viele von diesen heute dem kundigen Leser nicht Neues mehr sagen, andere nur in veränderter Gestalt Verwendung gefunden haben.

2. LIEBMANNs erkenntnistheoretischer Standpunkt ist in ausgesprochener Weise ein transzendentalphilosophischer. Was ihn in seiner Formulierung auszeichnet, ist die unermüdliche, eindrucksvolle Präzision, womit er ihn seinen Lesern unter Fortlassung allen Beiwerks in einfachen großen Linien vor Augen führt und gegen abweichende Deutungen abgrenzt. Seine eigene Forschung baut sich auf dem Grundgerüst der Prinzipien des Kritizismus auf. Die fundamentale Urtatsache, das unentbehrliche Medium, innerhalb dessen für das Subjekt die gesamte empirische Wirklichkeit, uns selber mit eingeschlossen, als Phänomen entsteht, ist ihm ein- für allemal das erkennende Bewußtsein mit seinen Normen und Formen. Diese höchsten Intellektualgesetze sind die allgemeine Voraussetzung aller Welterkenntnis: sie haben "metakosmische" Bedeutung, liegen der gesamten Außen- und Innenwelt zugrunde, müssen also ebenso für den Erkenntnisakt des Subjekts wie für das erkennbare Objekt schlechthin maßgebend sein. Daher stammt sowohl das subjektive Notwendigkeitsbewußtsein, das den höchsten Erkenntnisgesetzen anhaftet, als auch der Umstand, daß die objektive Erfahrung ihnen niemals widersprechen kann. Apriori heißt nichts anderes, als ein für jede der unsrigen homogene Intelligenz streng Allgemeine und Notwendige, das Nichtanderszudenkende, das, über dem empirischen Subjekt und seinem Objekt gleich erhaben, alle Erfahrung und ihren Gegenstand gestaltet - und den Erscheinungen objektive Realität sichert. Die immanenten Funktionen, die dem metakosmischen Bewußtsein zukommen, beherrschen zusammenwirkend als erfahrungsstiftende Bedingungen alles individuelle Erkennen. So bleiben Subjekt und Objekt, Erkennendes und Erkanntes durch die gemeinsamen transzendentalen Formen ihrer Existenz als unauflösliche Korrelate zur gegebenen Wirklichkeit miteinander verbunden. In dem berühmten Satze KANTs, daß der menschliche Verstand die Gesetze nicht aus der Natur schöpft, sondern ihr vorschreibt, findet LIEBMANN "den tiefsten Wahrheitsgehalt der Vernunftkritik" ausgesprochen.

Dieser konsequent gedacht Apriorismus mußte ihn notgedrungen in einen Gegensatz bringen zu dem zeitweilig zu erneuter Herrschaft gelangten Standpunkt, der die Alleingültigkeit der "reinen Erfahrung" als Lösung des erkenntnistheoretischen Problems verfochten hat. Gegen diesen Neo-Baconismus richtete er 1884 seine Schrift "Die Klimax der Theorien" als deren Motto jener kantische Satz gelten darf. In origineller Durchführung wird hier der Gedanke KANTs verteidigt gegen die Jllusion, lediglich aus Beobachtetem und Beobachtbarem, nach Abzu alles vom Verstand Hinzugebrachten, ein ausreichendes Weltbild gewinnen zu können. Da das geistvolle Büchlein, nach Seiten der Komposition und Formgebung wohl das Meisterstück LIEBMANNs, zur Zeit seines Erscheinens in weiteren Kreisen wegweisend und befreiend gewirkt hat, wird es dem Zweck meiner Ausführungen am Besten entsprechen, seinen wesentlichen Gedankengang zu rekapitulieren, wenn auch - nicht zuletzt Dank dem Erfolg der kleinen Schrift - dem modernen Leser Manches darin selbstverständlich oder überholt vorkommen wird. Im Hinblick auf den bleibenden Wert des Inhalts hat LIEBMANN selber die Hauptgesichtspunkte später in seiner Darstellung des "Geistes der Tranzendentalphilosophie", die der zweite Band der "Gedanken und Tatsachen" enthält, ausdrücklich wiederholt. Thema und Ziel seiner Untersuchung ist der Nachweis, daß alle Erfahrung nur mit Hilfe unerfahrbarer Faktoren zustande kommen kann.

Wenn man - so führt LIEBMANN aus - die kausalen Theorien des Geschehens nach ihrer Tragweite und ihren letzten Voraussetzungen ins Auge faßt, so springen drei Hauptstufen als besonders charakteristisch hervorf; er nennt sie Theorien erster, zweiter und dritter Ordnung. Die ersten entnehmen ihre Erklärungsprinzipien aus dem Bereich des unmittelbar Gegebenen; ohne das empirische Beobachtungsfeld mit einem Schritt zu verlassen, leiten sie sekundäre Tatsachen aus ursprünglichen ab. Die Theorien zweiter Ordnung greifen zur Befriedigung des Erklärungsbedürfnisses über das direkt Wahrnehmbare hinaus und nehmen jenseits der Erfahrung Realgründe an, aus denen sie ganze Erscheinungsgebiete deduzieren können. Die dritten Theorien sind metaphysischer Art, sie wollen über allem Relativen ein absolut Reales aus unbedingt obersten Prinzipien erfassen. Zunächst scheint es, als seien die ersten, vom Prinzip bis zu den abgeleitetsten Folgesätzen herunter, empirisch kontrollierbar, als könnten Theorien dieses Ursprungs nur mit den bestehenden Naturgesetzen selber umgestoßen werden. Dagegen können die zweiten nur an ihren Konsequenzen geprüft werden, und selbst wenn das Schlußgewebe vom Prinzip zu den Folgerungen Schritt für Schritt den Anforderungen der Logik entspricht, bleibt der Rückgang von der empirisch gegebenen Wirkung auf eine hypothetische Ursache stets unsicher und mißlich. Bei den Theorien dritter Ordnung bedarf es keiner näheren Darlegung, daß sie sich objektiv-gewissen Wahrheitskriterien gänzlich entziehen.

Eine genauere Revision ändert jedoch dieses Resultat erheblich, ja sie führt zu einer förmlichen "Peripatie" [Wendepunkt - wp] und nötigt zur Neukonstruktion der entworfenen Ordnung. Es ergibt sich nämlich, daß bei der Ausscheidung aller subjektiven Verstandeszutat an Begriffen und Grundsätzen Erfahrung überhaupt nicht zustande kommen kann. Eleminiert man dieses Geflecht von geistigen "Bändern und Arterien", so fällt die Erfahrung in ein zusammenhangloses Aggregat von diskontinuierlichen Wahrnnehmungsfragmenten auseinander: das Resultat ist nicht reine Erfahrung, sondern gar keine Erfahrung. Diese wird erst möglich durch die stillschweigende Anwendung eines Systems von nichtbeobachtbaren, überempirischen Prämissen, die den Zusammenhang zwischen den isolierten Tatsachen der Wahrnehmung herstellen. LIEBMANN definiert sie als Einschaltungen von ergänzenden Zwischengliedern, als "theoretische Interpolationsmaximen der Erfahrungswissenschaft", und entwickelt eine Reihe von ihnen: reale Identität, Kontinuität der Existenz, durchgängige Kausalität, Kontinuität des Geschehens. Bei allen diesen Maximen führt er den Beweis, daß ohne ihre Befolgung die praktische Erfahrung des Alltags wie die methodische Erfahrung der Wissenschaft gleich unmöglich wären. Und so lautet das endgültige Ergebnis: obwohl diese Prinzipien nicht in einem erkenntnistheoretischen Sinn empirisch sind, gehören sie doch zu den unentbehrlichen Bestandteilen aller Erfahrung; nur indem wir die Beobachtungslücken durch Nichtbeobachtbares ausfüllen, indem wir die Sphäre der Erfahrung um ein Enormes überschreiten, entsteht für uns ein objektives Weltbild statt eines verworrenen und gesetzlosen Vorstellungsspiels. Lediglich in der einleuchtenden Klarheit der Maximen ist es begründet, daß man sie gewöhnlich nicht bemerkt. So ist das Ideal einer reinen Erfahrung, einer bloß aus tatsächlich Beobachteten zusammengesetzten Wissenschaft, als "doktrinäre Fiktion" aufgezeigt. Die Erfahrung ist vielmehr ein Geschenk des Verstandes, und bei näherem Zusehen zeigt sich, daß es eine Theorie erster Ordnung überhaupt nicht gibt, diese vielmehr in die zweite und dritte Ordnung hinaufrücken. Empirie und Empirismus sind eben zwei sehr verschiedene Dinge:
    "Aller reine Empirismus und Positivismus, indem er die überempirische Interpolationsmaximen irrtümlicherweise für Erfahrungssätze hält, also das Nichtwahrgenommene mit dem Wahrgenommenen auf dieselbe Stufe stellt, ist genau genommen nichts anderes als eine besondere Art von dogmatischer Metaphysik."
3. Eine Hauptquelle, aus welcher der Empirismus bei seiner Bestreitung der aprioristischen Theorie seine Argumente schöpft, deckt LIEBMANN auf in der Vermischung und Verwechslung des erkenntnistheoretischen Problems mit dem psychologischen. Nachdem sich die Erörterungen der letzten Jahrzehnte so vielfach um diese Streitfrage gedreht haben, darf es heute als Ruhmestitel LIEBMANNs hervorgehoben werden, wie einfach, klar und überzeugend er von Anfang an die für seine Stellung ausschlaggebenden Gesichtspunkte vertreten hat. Wir finden in er Tat bei ihm mit großer Eindringlichkeit diejenigen Grundgedanken in den Vordergrund gestellt, die seither das gemeinsame Eigentum aller antipsychologistischen Philosophie geworden sind. Wer die Transzendentalphilosophie in Psychologie "verwässern" oder durch Psychologie ersetzen will, verdrängt nach der Auffassung LIEBMANNs die zentrale Frage nach den Vorbedingungen aller Erkenntnis durch die untergeordnete, wie im individuellen Menschengeist die Vorstellungen empirisch entstehen und das Erkennen allmählich in zeitlicher Entwicklung heranreift. Daß durch die Einsicht in die Genesis eines Gedankens zugleich ein Urteil über dessen Gültigkeitssphäre und Erkenntniswert gewonnen werden kann, ist der verhängnisvolle psychologistische Irrtum. Nicht mit der psychogenetischen Frage nach dem subjektiven Ursprung unserer Gedanken hat es die Erkenntniskritik zu tun, sondern mit der Feststellung ihrer logischen Dignität, und so liegt aller Unterschied zwischen apriorischen und aposteriorischen Erkenntnissen nicht in der verschiedenen Art ihrer Entstehung, sondern in der grundverschiedenen Art ihrer Evidenz." Mit der Aufsuchung der Kriterien der Wahrheit eröffnet sich ein neues, eigentümliches Gebiet in souveräner Höhe über aller psychologischen Gesetzmäßigkeit. Einmal erkannt, wird eine apriorische Wahrheit mit einem solchen Grad an Gewißheit anerkannt, daß jede empirische Widerlegung ausgeschlossen, jede empirische Bestätigung überflüssig wird; wer sie verstanden hat, glaubt sie sofort ein für allemal. Im Gegensatz zu den psychischen Naturgesetzen sind die Erkenntnisgesetze kategorische Vorschriften, bei deren Einhaltung der natürliche Gedankenverlauf die Wahrheit trifft, bei deren Verletzung er sie verfehlt.

LIEBMANN betont sodann, daß der Einwand der "doktrinären Empiristen hergebrachten Stils": weil unsere Erkenntnisurteile psychologisch aus Wahrnehmungen entstanden sind, besitzen sie auch erkenntnistheoretisch nur im Hinblick auf die bereits beobachteten Einzelfälle Gewißheit - noch aus einem besonderen Grund sein Ziel verfehlt. Der Empirist setzt in seinen psychologischen Theorien die objektive Allgemeingültikeit der gleichen Sätze, die er bestreiten will, selber voraus. Jene transzendentalen Interpolationsmaximen, die für jede Erfahrungswissenschaft gelten, beanspruchen ihr Recht auch in der empirischen Psychologie; von einem individuellen Vorstellungsverlauf kann nur die Rede sein, wenn sie in ihm bereits enthalten sind. Das Gleiche gilt von den Versuchen, die organische Grundlage der psychischen Vorgänge festzustellen: auch diese Hypothesen sind bereits in der Sphäre des erkennenden Bewußtseins entsprungen und von dessen Intellektualformen beherrscht.

Aus solchen Erwägungen gewinnt LIEBMANN seine Auffassung vom Wesen des Geistes und seiner Funktionen überhaupt; auch hier haben die Ereignisse, zu denen er gelangt, weithin gewirkt und ebenso rückhaltlose Anerkennung wie fruchtbare Weiterbildung gefunden. Worauf er hinstrebt, ist eine Theorie der Werte, wie sie ihm aus der Unterscheidung von Normalgesetzen und Naturgesetzen des Denkens erwächst. Er nimmt seinen Ausgangspunkt vom Ideal der psychologischen Mechanik, um dazulegen, daß aus dem von ihr behaupteten Assoziations- und Reproduktionsmechanismus das erkennende Denken auf keine Weise erklärbar ist. Wohl steht unzweifelhaft fest, daß dem denkenden Subjekt der Inhalt der Urteile durch eine unwillkürliche Vorstellungsmechanik geliefert wird; aber damit ist noch nicht die Denk- und Urteilsfunktion als solche gegeben. Denn nicht im Verknüpfen und Trennen besteht das Urteil, wie die Assoziationspsychologie annimmt, sondern im Bejahen und Verneinen von Verknüpfung und Trennung; nicht der vom Vorstellungswechsel erzeugte Bewußtseinsinhalt bringt das Urteil hervor, sondern das über dem Vorstellungswechsel herrschende Subjekt erteilt oder verweigert seine Genehmigung.

LIEBMANN erklärt den Gedanken eines psychischen Mechanismus zu einer durchaus berechtigten Spezialanwendung des Kausalprinzips: wer nicht das Seelenleben vom allgemeinen Naturzusammenhang ausnehmen will, muß diesen Gedanken akzeptieren. Aber wo die Psychologie auf das Ich trifft, das allem Erkennen vorangeht, hat sie ihre Grenze erreicht: das im Wechsel der Vorstellungen, Gefühle und Willensakte mit sich identisch bleibende Ich ist nicht mehr Untersuchungsobjekt, sondern Fundamentalbedingung aller Psychologie, unter der allein von einem inneren Geschehen die Rede sein kann. "Aus der Mechanik der Vorstellungen die Einheit der Person ableiten, heißt ungefähr soviel wie aus Sand einen Strick drehen." Ohne die Identität des Selbstbewußtseins gäbe es für uns nicht nur keine erkennbare Welt, sondern auch kein Seelenleben. Der Mensch geht im zeitlichen Ablauf seiner Seelenzustände nicht ohne Rest auf, sondern erhebt sich über sich selbst; er tritt aus dem Fluß des psychischen Geschehens heraus und stellt sich seinem eigenen Seelenleben als Richter gegenüber, der seine Gedanken und Taten zum Objekt selbsteigener Kritik macht. Kausal betrachtet ist das Denken ein Naturprozeß; teleologische betrachtet, ist es ein Organ der Erkenntnis. Bei einer tyrannischen Alleinherrschaft des Kausalprinzips im Denken, bei einer Leugnung überpersönlicher Wahrheitsnormen verschwände die Grundvoraussetzung aller Wissenschaft, die Unterscheidung von Wahr und Falsch; eine psychologisch naturnotwendige Meinung wäre dann genauso berechtigt wie eine andere, da es logische Erkenntnisgründe, die Anspruch auf eine allgemeine Anerkennung besitzen, nicht mehr gibt. Der Naturalist widerlegt sich selbst, wenn er eine Anerkennung für die Richtigkeit seiner Ansicht verlangt, obwohl nach seiner Theorie jede Ansicht ein gleichwertiges, kausal notwendiges Naturprodukt sein soll. Dem Denken sind die Regeln der Logik immanent, sie sind "Naturgesetze höherer Art" als die der Assoziation: in unserem Kopf waaltet ein logischer Naturprozeß, der sich der psychologischen Assoziationsgesetze als eines Mittels bedient, ein logisches Apriori, dem sich das Individuum als selbstverständlicher Autorität unterwirft. Diese Freiheit des Denkens ist eine wesentliche Grundbedingung aller Wissenschafft, da nur sie eine objektive Wahrheitserkenntnis verbürgt.

Wie beim Intellekt, so betont LIEBMANN auch bei der gestaltenden Phantasie die lenkende Funktion der psychischen Entelechie [Zweck in sich - wp], die lebendige Organik im Gegensatz zum "telegraphenartig klappernden Assoziationsmechanismus". Mag sie aus der Außenwelt ununterbrochen Stoff entnehmen: sich assimilieren, prägen muß sie ihn durch die formgebende Schöpferkraft, die von innen stammt. Die Gebilde der Phantasie, die nach der lehre des "vulgären Sensualismus" als künstliches Mosaik aus fertigen Steinchen und Stiftchen zusammengesetzt erscheinen, versteht die Ästhetik LIEBMANNs als Frucht eines organischen Wachstums, als Offenbarung der Autonomie des Genies; zugleich weist er darauf hin, wie ja die bildende Phantasie als solche nicht isoliert dasteht, sondern zur Dynamik der Stimmungen, Gemütsbewegungen und Leidenschaften in eine Wechselwirkung tritt.

Aus demselben Gesichtspunkt beantwortet LIEBMANN die Frage nach dem Kausalverhältnis von Gehirntätigkeit und Geistestätigkeit, speziell nach der Lokalisierung der psychischen Funktionen im Gehirn. Die funktionelle Wechselwirkung, die trotz des radikalen Gegensatzes zwischen Materiellem und Geistigem hier herrscht, erkennt er in vollem Umfang an, wenn auch mit erheblichen Einschränkungen in Bezug auf die Möglichkeit einer eigentlichen physiologischen Deduktion geistiger Vorgänge; in einer bedeutenden Abhandlung seiner "Analysis der Wirklichkeit" hat er aus diesem Parallelismus sogar wichtige Folgerungen hinsichtlich einer Korrektur des herrschenden Naturbegriffs gezogen. Aber zugleich legt er dar, daß der Nachweis eines solchen Zusammenhangs seine unüberschreitbare Grenze findet an der rätselhaften Urtatsache der Identität des Selbstbewußtseins. Auch wenn die Lokalisation der psychischen Vorgänge restlos abgeschlossen wäre, so würde doch ein materielles Substrat für den geistigen Mittelpunkt des Seelenlebens fehlen: das identische Ich, das den zeitlichen Wechsel seiner Zustände als zeitlos höhere Instanz überragt, steht auch über der Gesamtheit der psychophysischen Tatsachen. In einem geistreichen Aphorismus hat LIEBMANN eine epigrammatische Formulierung dieses Sachverhalts gegeben:
    "Die neueren Versuche zur Lokalisation der Geistesfähigkeiten im Gehirn haben die alte Wahrheit, daß man mit den Augen sieht, mit den Ohren hört und mit der Zunge spricht, etwas weiter nach oben, innen und hinten zurückverfolgt. Ob aber der Weg von der Zunge, den Ohren und den Augen bis zu mir weiter ist, als der Weg von der Brocaschen Windung [Zentrum der Sprachproduktion - wp], dem Schläfenlappen und dem Hinterlappen der Gehirnrinde bis zu mir, das bleibt fraglich."
4. Wenn für LIEBMANN eine der hauptsächlichsten Aufgaben der Philosophie in der "Erweiterung unseres Gedankenhorizonts über die beschränkte Sphäre der Tatsächlichkeit hinaus" bestand, so mußte er durch dieses Programm dazu geführt werden, die Aufweisung der übersinnlichen Voraussetzungen unseres Weltbildes nicht nur vom Subjekt, sondern auch vom Objekt her in Angriff zu nehmen. Freilich fast mehr noch als vorher stößt er hier auf die Einwendungen des Positivismus,
    "der nicht müde wird, feierlich und trocken die Verunsicherung zu geben, daß die Welt genau da zu Ende ist, wo der Horizont unseres empirischen Wissens liegt."
Im gegenüber weist LIEBMANN durchgängig darauf hin, wie sehr es aller gesunden Logik widerspricht, das Unbegriffene dem Unmöglichen gleichzustellen, Denkschwierigkeiten dadurch zu überwinden, daß man die Unfähigkeit zu erschöpfender begrifflicher Analyse mit objektiver Existenzunfähigkeit identifiziert und dabei nötigenfalls Realitäten zu subjektiven Vorstellungsphänomenen herabsetzt. Es gibt unausdenkbare Gedanken, die uns doch durch die Logik der Tatsachen unvermeidlich aufgedrängt werden. Nachdrücklich wendet sich LIEBMANN gegen "die kurzsichtig-beschränkte Sorte von Nominalismus, wie sie seit HOBBES namentlich bei englischen Philosophen grassiert" und die Naturgesetze für etwas lediglich Ideelles, für bequeme Abbreviaturen [Abkürzungen - wp] erklärt, die der Zusammenfassung des Ähnlichen und Gleichen an einer Vielheit von Einzelheiten ihre Entstehung verdanken sollen.

Allerdings - entgegnet LIEBMANN - sind unsere Naturgesetze, wie sie als Formeln ausgesprochen werden, universalia post rem [Verallgemeinerungen die auf die Sache folgen - wp]. "Naturgesetze werden gedacht in intellectu humano; sie gelten und herrschen aber in rerum natura." Die reale Gesetzlichkeit, die neben dem gedachten Formelsystem existiert, ist Vorbedingung für die nominale: sie besteht in der Tatsache, daß die Dinge selbst sich so regelmäßig betragen, daß uns Menschen die Abstraktion von Gesetzesformeln überhaupt möglich wird. Wäre der Gang der Natur nicht objektiv so geregelt, daß wir auf subjektiver Seite zur Konzeption von Allgemeinbegriffen genötigt werden, ginge der Weltlauf chaotisch oder launenhaft vonstatten, so wäre unser Verstand dem Gang der Natur gegenüber zur Ohnmacht verurteilt. Sind die Gesetze auch ein Unsichtbares, Übersinnliches, nur in Verstandesbegriffen Erfaßbares, so ist dafür ihre Realität eine solidere, konstantere, als die des vergänglichen Einzelphänomens. Die Erscheinungen wechseln, die Gesetze verharren:
    "Das Eis auf dem Wasser schmilzt im Frühling, aber das Gesetz, wonach beim Eintritt des Winters alsbald auf dem Wasser neues Eis entsteht, schmilzt nicht."
Ja, das einzelne Faktum verdankt seine vorübergehende Existenz den Gesetzen: es ist nur wirklich, weil es notwendig, d. h. gesetzlich ist. In der Tat läßt sich nachweisen, daß die positivistischen Theorien von DEMOKRIT und EPIKUR bis zur modernen Zeit, so sehr sie die Herrschaft des Allgemeinen über das Einzelne ableugnen, stillschweigend eine Gesetzmäßigkeit überempirischer Art voraussetzen. Ohne eine solche Anerkennung würde eben jedes Naturverständnis zu einem Ding der Unmöglichkeit; im Zweifel an der allgemeinen Gesetzlichkeit würde konsequenterweise der skeptische Empirismus mit einem irrationalen Mystizismus zusammentreffen: wie der eine aus Abscheu gegen die Annahme einer realen Allgemeinheit nur im Zwang der sinnlichen Einzelwahrnehmung eine Art von Naturnotwendigkeit erblickt, so will der andere zugunsten gemütlicher Bedürfnisse die immanente Vernunft des Weltlaufs aufgehoben wissen und behält nur die empirische Einzelheit als sicher in der Hand. Erst durch ein System von Naturgesetzen, dem alles Einzelne in der Welt unweigerlich Folge leistet, wird der Weltprozeß begreiflich; weit entfernt, nur den ökonomischen Wert einer Gedächtnishilfe zu besitzen, ist das Gesetz ein unmittelbarer Beleg für die objektive Weltordnung, ist es "ein Einblick in die Weltlogik".

Aus solchen Überlegungen ist LIEBMANN einer der Kerngedanken seiner Philosophie entstanden, der Begriff der "Logik der Tatsachen". Er ist nichts anderes als der Ausdruck für die Realität konstanter Gesetze, ohne die es keine Naturerklärung geben kann. Die strenge Gesetzmäßigkeit des Weltlaufs im Ganzen wie im Einzelnen fällt zusammen mit seiner Begreiflichkeit. Wo sie aufhört, steht der Verstand still; ohne sie tritt anstelle des Kosmos der Wirrwarr, anstelle der Logik der Wahnwitz; wer ihr seine Zustimmung versagt, muß an Wunder in seinem Kopf glauben. Was auf subjektiver Seite vom menschlichen Verstand aus richtigen Prämissen richtig erschlossen ist, eben dies ist die Natur, vermöge der durchgängigen Gesetzlichkeit des Geschehens, genötigt auf objektiver Seite wirklich zu vollziehen. Bei vorausgesetzter Gültigkeit des Kausalprinzips stellt sich jeder der zahllosen Vorgänge der Natur unter eine bestimmte Schlußformel: der Zusammenhang der Ereignisse muß mit der Logik des korrekten Denkens völlig harmonieren. Insofern die allgemeine Gesetzlichkeit des natürlichen Geschehens das objektive Korrelat dessen in uns ist, was wir Vernunft nennen, darf LIEBMANN sie als die Vernunft im Universum bezeichnen. Wer an die allgemeine Gesetzlichkeit glaubt, der glaubt an eine realisierte Weltvernunft, an eine große Ideenordnung in der Natur. Und eine beträchtliche Verstärkung empfängt dieser Begriff der Weltlogik noch durch den Umstand, daß in vielen Fällen eine Mehrheit spezieller Naturgesetze als notwendige Konsequenz höherer Gesetze erkennbar ist, daß auf manchen Gebieten sich sämtliche Spezialgesetze als zusammenhängendes System aus weniger allgemeinen Grundgesetzen ergeben haben. Für eine absolute Weltintelligenz würde das System sämtlicher Naturgesetze als logisch gegliederte Totalität offen zutage liegen:
    "Da ist es dann nicht vage Konjektur, sondern ein Aufdämmern des Lichts der Wahrheit, wenn wir glauben, daß die Gesamtheit aller Naturgesetze ein logisches Vernunftganzes bildet."
LIEBMANN weiß wohl, daß nach Ansicht des Empirismus, der die Dinge "nur von außen her, nur von der sinnlich wahrnehmbaren Oberfläche her" betrachtet, eine solche Überzeugung von der Logik der Tatsachen aus einer unerlaubten Hypostasierung [Vergegenständlichung - wp] subjektiver Abstraktionen entspringt. Und weit genug liegt sie freilich entfernt von einer Theorie, wie etwa der atomistischen, die unserem Denken bei der Existenz unendlich vieler im Raum zusammengeschneiter Massenpünktchen Halt gebieten will. Doch gerade dieser Theorie hält LIEBMANN entgegen: sie selber macht sich ja einer offenkundigen Inkonsequenz schuldig, insofer ihre Atome eine durchaus empirische Annahme sind. Was den Atomen recht ist, das darf den Gesetzen billig sein; so geht LIEBMANN auf seinem Weg unbeirrt sogar noch einen Schritt weiter fort zum Begriff eines gemeinsamen Realgrundes der Dinge. Wenn in allen Vorgängen der Welt Übereinstimmung und Gesetzmäßigkeit herrscht, so weist dies auf eine tiefere Einheit zurück, die sich zwar der empirischen Beobachtung entzieht, die wir aber "der Organisation unseres Verstandes gemäß hinzuzudenken nicht umhin können". Wir ahnen und fühlen den Allzusammenhang, wir begreifen die Tatsache der Welteinheit, wenn uns auch ihr "Wie" und "Was" unerreichbar bleibt. Für unlösbar kann man dieses Problem halten, aber es abzuleugnen hat man kein Recht. In scharfgeprägten Sätzen charakterisiert es LIEBMANN als Forderung der Denknotwendigkeit, die natura naturata [bereits geschaffene Natur - wp] als Wirkung einer natura naturans [die naturende Natur - wp] zu erklären, dem uralten Gedanken einer substantiellen Einheit des Universums zuzustimmen, der die Vielheit der Einzeldinge und Einzelereignisse entstammt. Die kausale Reduktion über das Gebiet des Geschehens hinaus in das des Seins vollzieht methodisch nichts Anderes, als die Theorie des Geschehens selbst mit ihrer Zurückführung empirisch-tatsächlicher Gesetze auf höhere, nicht-empirische als zureichenden Grund. Wenn innerhalb des der Empirie zugänglichen Gebietes die Ableitung z. B. der KEPLERschen Gesetze aus den Prinzipien der Gravitationstheorie gestattet ist, so ist durchaus nicht einzusehen, weshalb die Zurückführung der Naturgesetzlichkeit auf einen einheitlichen Weltgrund als unstatthaft zurückgewiesen werden darf. Ohne die Welt als Ganzes mit ihrem einheitlichen gesetzlichen Zusammenhang - das gilt auch hier - würden die Einzeldinge gar nicht existenzfähig sein; Natur überhaupt ist "Einheit in der Vielheit, allwaltende Gesetzlichkeit in der verwirrenden Überfülle der Einzelfälle".

Hier ist die Stelle, an der LIEBMANN den Grundideen des spekulativen Idealismus am nächsten kommt. Im Hinausgreifen über das Erfahrbare, sagt er, sucht unser Denken "einen innersten Kern, ein bleibendes Wesen des empirischen Universums" zu erfassen, das, von der Vielheit wechselnder räumlich-zeitlicher Phänomene verhüllt, dem sinnlichen Blick unzugänglich bleibt:
    "Kein gründlich denkender Verstand kann sich dieses Forschens nach der Tiefe hin entschlagen und den Gedanken des wesenhaften Weltgrundes entbehren; kein philosophisches System kann an dieser letzten Endfrage gleichgültig vorübergehen" -
nur über den Grad der Erkennbarkeit dieses Weltwesens können die Meinungen auseinander gehen. In mannigfacher Gestalt tritt dieser Zentralgedanke in LIEBMANNs Arbeiten hervor. So erklärt er die empirische Welt für ein phaenomenon bene fundatum [wohlbegründete Erscheinung - wp], weil sie in einer absolut-realen Weltordnung wurzelt; so bemerkt er, daß sich in allem Äußeren ein Inneres, im sichtbaren Realen ein unsichtbares Reales kundgibt und deshalb die der Betrachtung des Materiellen zugewandte Naturwissenschaft nicht die ganze Natur, sondern nur eine Seite derselben erfaßt. Von den Atomen sagt er: sie seien, falls es welche gibt, "nicht die Natur, sondern nur Material der Natur". In den Abänderungen der räumlichen Konstellation erkennt er bloß Symptome eines innerlichen, räumlich nicht wahrnehmbaren Geschehens, ja im Raum selbst eine von den Gesetzen unserer Anschauung bedingte Manifestation eines rein intensiven, ansich unräumlichen Seins und Geschehens, und demgemäß in der Mechanik "nicht eine Ätiologie des absolut Realen, sondern bloße Semiotik der für den Menschen wahrnehmbaren Symptome des Realen." Ein Ausspruch, der wie ein letztes persönliches Bekenntnis klingt, schließt alle diese Gedankengänge folgendermaßen ab:
    "Der Mensch trägt in seinem Innern, in seines Herzens Herzen jenes Unsichtbare, wahrhaft Reale, welches ewig ist, welches allem individuellen Bewußtsein, allem Gegensatz von Subjekt und Objekt vorangeht, welchem er sich vielleicht durch zunehmende Vertiefung mehr und mehr annähern kann, und welches der reflektierende, in endlichen Bestimmungen diskursiv denkende Verstand immer nur als unnahbaren Grenzgedanken am Horizont der sichtbaren Welt schweben sieht."
5. Meine Zeichnung der anti-empiristischen Tendenz von LIEBMANNs Naturanschauung würde unvollständig bleiben, wenn wir nicht auf zwei ihrer tragenden Begriffe noch einen zusammenfassenden Blick werfen würden: auf die Begriffe der Kraft und des Zwecks. Beide stellt LIEBMANN in den Dienst seines durchgängigen Strebens nach einer geistigeren Fassung des Weltproblems. Die dynamische Auffassung, die in den Naturkräften die Urfaktoren und Grundagenzien alles materiellen Geschehens und seiner sinnlich wahrnehmbaren Veränderungen erblickt, gehört zu den Gedanken, die er mit besonderer Entschiedenheit akzentuiert. Kraft ist ihm eine unvermeidliche Grund- und Grenzvorstellung, mit der alle Naturerklärung operieren, auf die alle Mechanik ihr Erscheinungsgebiet zurückführen muß. Kräfte sind permanente Realgründe, ohne deren Wirksamkeit alle Gelegenheitsursachen ohnmächtig zur Hervorbringung von Veränderungen sein würden; sie sind die nach ihrer Intensität genau bestimmten Realprinzipien des Geschehens, somit Kraft und Gesetz notwendige Ergänzungsbegriffe. Gesetze sind der Ausdruck immer und überall gleichmäßig wirkender Kräfte: "Die Kraft ist der in rerum natura liegende, objektive Realgrund dafür, daß das Gesetz gilt. Kräfte sind Kausalgespenster, aber reale, nicht imaginäre." Sie sind ein Naturrätsel, aber sie sind da, sie wirken - gleich so manchem Andern in der Welt, das unsichtbar ist und doch realiter existiert. Denken wir etwa an die Begriffe der Spannkraft und der kinetischen Energie, so haben wir - ganz im Einklang mit dem alten aristotelischen Gedanken der dynamis - eine reale, den Dingen selbst innewohnende Tendenz zur Aktion vor uns, die sich beim Hinzutritt äußerer Bedingungen in ein Geschehen umsetzt. Will man diese reale Tendenz, weil sie kein wahrgenommenes Faktum, sondern nur eine interpretatorische Hypothese ist, eine subjektive Idee nennen, so vergißt man, daß sie dies in keinem anderen Sinne ist, als die übrigen Fundamentalprädikate des Räumlich-Realen auch, Trägheit, Masse, Dichte usw.

Auch von der Bedeutung des Kraftbegriffs für die Mechanik der Atome gilt, daß sie ohne dieses "unentbehrliche Inventarstück des naturwissenschaftlichen Begriffsapparates" nicht durchzuführen ist. Die Körper sind nach der Definition LIEBMANNs "krafterfüllte Räume voll raumerfüllender Kräfte". Das Phänomen körperlicher Ausdehnung und Raumerfüllung, das von der Korpuskulartheorie als unerklärte Tatsache hingenommen wird, erkennt der Dynamismus als Folge von Kräften, die ja auch der Korpuskulartheoretiker - in Gestalt von Attraktions- und Repulsionskräften - nicht entbehren kann. So steigt der Dynamismus in der Erklärung nicht nur tiefer hinab als der Atomismus, sondern erklärt auch aus weniger Prinzipien mehr. In seiner meisterhaften Kritik der Atomistik, die das Hypothetische, Widerspruchsvolle, nicht selten Abenteuerlich der verschiedenen Atomtheorien einläßlich entwickelt, stellt LIEBMANN zwei Gedankenreihen auf, die den ausschließlich mechanischen Atombegriff von Grund auf umgestalten müßten. Einmal würde, falls das Atom überhaupt Volumen und Gestalt haben soll, seine Denkbarkeit an der Relativität unserer Größenvorstellungen scheitern, die in endloser Perspektive zu immer kleineren Bestandteilen fortgehen müssen; der einzige Ausweg bleibt dann, aus der Vorstellung räumlicher Extensität ganz herauszutreten und die Atome als ausdehnungslose Massen- und Kraftzentren anzunehmen: Diese aber wären gar kein Materielles mehr, sondern nur Etwas, das nach außen im Zusammenwirkennn mit anderen seinesgleichen das Phänomen der Materialität hervorbrächte. Sodann bliebe, wenn die Atome leblose Massenpünktchen wären, die Entstehung geistiger Wesen unerklärlich; überwindet man diese Schwierigkeit, indem man den Atomen selbst psychische Attribute beilegt, so "beschreitet man einen transzendenten Gedankenweg, der über die theoretischen Vorstellungen der heute herrschenden Physik und Chemie himmelweit hinausführt". LIEBMANN betont, daß es ewige, metaphysische Grenzen der Atomistik sind, die er hiermit fixiert hat.

Auch an den Einwendungen, die gegen die Realität des kosmischen Gesamtagens, der actio in distans [Fernwirkung - wp], gerichtet worden sind, geht LIEBMANN keineswegs achtlos vorüber - freilich nur um nachzuweisen, daß der vorgeschlagene Ersatz durch die Kontaktwirkung seinen Zweck nicht erfüllt. Denn wenn wir vorurteilslos die Erfahrung befragen, so spricht der fühlbare unsichtbare Zug gegen den Erdmittelpunkt weit eher für die Fernwirkung als für den Kontaktmechanismus. Aber die Kontaktwirkung ist nicht bloß um nichts gewöhnlicher, sie ist auch um nichts begreiflicher. Er beruth auf der Selbsttäuschung, wenn man meint, durch sie das vermeintliche Axiom zu retten, daß ein Körper da nicht wirken kann, wo er nicht ist. Schon oft ist gezeigt worden, daß dieser Glaube sich auf die Verwechslung von mathematischer und physischer Berührung gründet; auch die Kontaktwirkung würde in Wahrheit auf eine in minimaler Entfernung stattfindende actio in distans hinauslaufen: "Zwischen der physischen Bewegung und der bloß phoronomischen Bewegung bleibt stets der Unterschied, daß erstere wirkt, während letztere nicht wirkt." Zudem bleiben auch bei konsequentester Durchführung der Kontakfiktion immer gewisse intensive Merkmale übrig: wie die Fernwirkung Trägheit und beschleunigende Kraft annehmen muß, so hat die Kontaktwirkung Undurchdringlichkeit und Trägheit zur Voraussetzung. So sind in letzter Instanz beide Tatsachen gleich unerklärt; beide sind gleichermaßen Äußerungen derselben rätselhaften Bewegungstendenz, der Schwerkraft. Will man aber, wie es im Hinblick hierauf versucht worden ist, gar das abstrakte Bewegungsgesetz hypostasieren, so setzt man sich mit dem gesunden Menschenverstand in einen weit schärferen Konflikt als durch die Annahme der Fernwirkung und lädt den dieser gemachten Vorwurf in erhöhtem Maß auf sich.

6. LIEBMANN hat in seiner "Weltwanderung" die Ergebnisse seines Denkens auch in poetischer Form niedergelegt. Im Anschluß an die zuletzt wiedergegebenen Betrachtungen sind hier die Verse geschrieben:
    "Was verbindet Staub zu Sachen?
    Zermalme Perlen, und Du hast den Sand,
    wirst aus Sand Du keine Perlen machen.

    Staubwolke der Natur? Sandwirbel? Dunst?
    Formloser Nebel? Nein, da fehlt Jemand:
    Gestaltenbildend schöpferische Kunst."
Mit der letzten Wendung leitet er zu einem Thema über, das er mit besonderer Vorliebe behandelt: zur Realität des Zwecks, der Entelechie - um auch hier Worte seiner Dichtung zu zitieren:
                                              "Was sich entfaltet
    Aus Knospen, Keimen, was sich selbst gestaltet,
    Nach Zielen strebt aus zukunftsreichem Samen,
    Was planvoll schafft."
Anhand einer erschöpfenden Zergliederung des komplizierten Phänomens der organischen Zweckmäßigkeit stellt er eine Reihe von Funktionen fest, denen im Unorganischen jede Analogie fehlt. Das substantielle Beharren der Form im Wechsel des Stoffs, das zielstrebige Hineinwachsen des Keims in einen prädestinierten Typus, die autoplastische Hervorbringung der Organe durch eigene Triebkraft, das generelle Vermögen zur Fortpflanzung des Gattungstypus, die wechselseitige Beziehung der sämtlichen Teile zu einander als Zweck und Mittel, die Berechnung der Struktur und der Funktionen auf Selbsterhaltung des Lebens - alle diese Momente werden der Reihe nach lichtvoll erörtert und im Anschluß daran die Unmöglichkeit gekennzeichnet, solche beispiellosen Eigentümlichkeiten aus dem bloßen Stoffwechsel herzuleiten. Stattdessen wird, lange bevor in der modernen Biologie die gleiche Tendenz wieder aufkam, mit kritischer Vorsicht die totgesagte Lebenskraft in ihre Rechte eingesetzt. LIEBMANN läßt alle die gegen die Lebenskraft vorgebrachten triftigen Gründe in geschlossener Phalanx aufmarschieren; dann aber wendet er das Blatt um und fordert, indem er überaus fein und geistreich die Möglichkeit von Gegenbedenken aufzeigt, für den über Physik und Chemie hinausreichenden Rest ebenfalls Beachtung. Auf mechanistischer Seite hat man für das unbequeme Etwas, das der Theorie nicht gehorchen will, Bezeichnungen wie "organischer Bildungstrieb" oder "organische Bildungsgesetze" in Bereitschaft; übersetzt man das auf Griechisch, so heißt es - Entelechie. LIEBMANN fügt hinzu: "Wenn das Wort für manche Nasen einen unangenehmen Geruch hat, - was werden sich ernsthafte Männer um Wort streiten?" Die Irrtümer des alten Vitalismus, der das ganze Getriebe des Lebens durch die Annahme einer spezifischen Kraft erklären wollte und dabei den anorganischen Naturprozeß vernachlässigt hat, will er damit nicht von Neuem erwecken; aber das Wort "Lebenskraft" behält seinen guten Sinn, wenn man darunter nicht sowohl einen Begriff als auch eine Begriffslücke versteht, nämlich jenes rätselhafte Plus, das in der organischen Natur zum Mechanismus und Chemismus hinzukommt und das formlose Aggregat in eine bedeutungsvolle Gestalt umwandelt. Eine Begriffslücke aber, ein Nichtgewußtes - das schärft LIEBMANN auch hier wieder ein - "ist keineswegs ein Nichts, sondern eben ein X".

Daß LIEBMANN von hier aus schon vor mehr als einem Menschenalter zur Abrechnung mit dem Darwinismus kommen mußte, liegt auf der Hand. Er gesellt sich zu denjenigen Kritikern der Deszendenztheorie, die bei aller Anerkennung des großen Verdienstes und relativen Rechts ihrer historisch-mechanischen Betrachtungsweise doch zu dem Ergebnis kommen, daß sie das Problem der zweckmäßigen Entwicklung unerklärt läßt.
    "Selbst wenn man", so resümiert er sich, "dem Kampf ums Dasein absolute Vollmacht erteilt und ihn sämtliches Unpassende schonungslos ekrasieren [zerschmettern - wp] läßt, so bleiben auch bei dieser denkbar gründlichsten Durchsiebung doch als Urfaktoren die Fortpflanzungsfähigkeit, Erblichkeit, Entwicklungsfähigkeit stehen, ohne die gar kein Organismus existieren, kein Kampf ums Dasein stattfinden könnte".
Diese Faktoren aber sind eminent und ausschließlich teleologische, mechanisch unerklärte, für Physik und Chemie unbegreifliche Urtatsachen in der lebendigen Natur; der ganze Darwinismus ruht auf einer teleologischen Basis. Oder wie LIEBMANN diesen Gedanken an anderer Stelle mit epigrammatischer Zuspitzung ausdrückt: "Der Darwinismus ist die Teleologie, moderiert durch den Kampf ums Dasein."

So machen die unüberwindlichen Grenzen des kausalen Verfahrens der Naturforschung eine prinzipielle Ergänzung und Weiterführung nötig. Ob es außer den Naturkräften noch besondere Zweckursachen gibt, darüber kann ein Schulstreit herrschen; daß es in der Natur eine vom Menschen unabhängige, seiner Kunst unendlich überlegene Zweckmäßigkeit gibt, darüber nicht. Die den Naturlauf regulierenden Gesetze und in ihm zusammenwirkenden tätigen Substanzen sind so gerartet, daß daraus die bewunderungswürdige Zweckmäßigkeit normaler Naturprodukte resultieren muß. Das mechanische Erklärungsideal koexistiert noch heute, wie einst im Altertum, mit der Lehre von der Substanzialität der Form. Je genaueren Einblick man in das Getriebe des Naturmechanismus gewinnt, desto genauer erkennt man seine Zweckmäßigkeit. Selbst aus dem Gesichtspunkt der mechanischen Kausalität bliebe doch der Unterschied größerer oder geringerer Kompliziertheit der Naturphänomene bestehen; sie bilden eine "wohlgegliederte Hierarchi", eine vom Unvollkommenen und Niedrigen zum Vollkommenen und Höheren emporsteigende Stufenleiter. In das Begriffsschema der aristotelischen Metaphysik passen die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaft vortrefflich hinein, - nur daß diese den bei ARISTOTELES noch fehlenden Mechanismus der Höherentwicklung hinzufügt: ARISTOTELES betrachtet von einem teleologischen Standpunkt aus den Plan der Welt, die Naturwissenschaft erkennt aus dem Getriebe der Kräfte die Mittel zur Realisierung des Weltplans. Der blinde Mechanismus dieser wirkenden Kräfte steht im Dienst einer Naturlogik; in den Augen einer rationalen Teleologie fallen beide, das System notwendiger Mittel und Zwecke und das System der Ursachen und Wirkungen, kongruent zusammen, "wie die vorwärts gelesene und die rückwärts buchstabierte Rede". Und zwar reicht diese Technik samt dem ihr dienstbaren Mechanismus bis in die idealen Werturteile des menschlichen Geistes hinaus. Der landläufige Naturbegriff freilich wird dadurch "von Grund auf revolutioniert". Man wird zu der Idee genötigt, dem Naturmechanismus müsse etwas eminent Logisches zugrunde liegen: "Ist die Vernunft ein Naturprodukt, so muß die Natur Vernunft haben", so muß sie in ihrem Kern etwas dem menschlichen Logos Analoges sein. In diesem Gedanken erreicht LIEBMANNs Teleologie ihr abschließendes Ergebnis.

Doch ein schiefer Zug würde in das von mir entworfene urkundliche Bild kommen, wenn wir beim Rückblick von dieser gewonnenen Höhe nicht eine Einschränkung hinzufügen würden. Bei allem energievollen logischen Vordringen ins Reich des Überempirischen bleibt LIEBMANN sich seines transzendentalen Ausgangspunktes wohl bewußt, und so hält er sich stets vor Augen, daß unsere Gedanken über den Weltgrund, bei vollkommener Übereinstimmung ihrer Konsequenzen mit der tatsächlich gegebenen Erscheinungswelt, im günstigsten Fall nichts Anderes enthalten können als die notwendige Art und Weise, wie sich das absolut Reale für eine Intelligenz von spezifisch menschlicher Geisteskonstruktion repräsentiert. Daraus geht LIEBMANNs charakteristisches Postulat einer "kritischen Metaphysik" hervor, die nicht apodiktische Wissenschaft, sondern hypothetische Erörterung menschlicher Vorstellungen über Wesen, Grund und Zusammenhang der Dinge sein will; ihre Begriffe sind demgemäß keine ontologischen Dogmen, sondern der Ausdruck logisch konsequenter Interpretationen der Erfahrung. Nicht jede metaphysische Hypothese ist mit den Tatsachen der Empirie logisch vereinbar; den Spielraum denknotwendiger Hypothesen zu finden, ist die Aufgabe sorgfältiger kritischer Untersuchung. In diesem Sinne bleibt die Metaphysik als Theorie der Vorbedingungen des empirisch Gegebenen Verstandespflich und behauptet zugleich als stillschweigend angerufene Instanz über den grundsätzlichen Kontroversen der Spezialforschung den Rang einer Fundamentalwissenschaft. -

Wieweit ein jeder, insbesondere der kantisch gesinnte Leser, den Gedanken OTTO LIEBMMANNs im Ganzen wie im Einzzelnen folgen will, mag er bei sich beantworten. Un auch das mag jeder nunmehr in seiner Weise prüfen, welche Bestandteile aus LIEBMANNNs Philosophie im Laufe der Jahrzehnte Gemeingut geworden sind, um welche noch heute gestritten wird, und schließlich mit welchen er verhältnismäßig einsam dasteht. Daß sein Wirken in mehr als einer Hinsicht ein wegbahnendes Verdienst gehabt und tiefgehende Spuren hinterlassen hat, kann trotz aller Wandlungen und Korrekturen, denen Fassung und Behandlung der Probleme in der Folgezeit unterworfen gewesen sind, gerechterweise nicht in Zweifel gezogen werden; zu jedem Gedankengang LIEBMANNs wird der mit den philosophischen Erörterungen der Gegenwart vertraute Leser eine Fülle von erläuternden oder kritischen Glossen hinzufügen können, die dafür Zeugnis ablegen würden. Wem es dann bei der Beurteiung einer solchen Leistung nicht auf den Grad der Übereinstimmung mit den eigenen Ansichten, sondern auf die darin bekundete Energie des philosophischen Denkens ankommt, der wird dem Siebzigjährigen gern den Zoll der Verehrung darbringen, der einer so eindringenden und umfassenden Geistesarbeit gebührt. Und umso herzlicher wird diese Anerkennung sein dürfen, als unter den Vorzügen LIEBMANNs nicht der geringste jederzeit der Mut einer mannhaften Überzeugung gewesen ist, womit er, oft genug im Widerspruch zur herrschenden Meinung des Tages, die ihm am Herzen liegenden Wahrheiten verfochten hat. Deshalb ließ sich gerade aus seinem lebenslänglichen Kampf mit dem Empirismus das Endziel seiner Bestrebungen besonders klar erkennen, wie wir es zum Schluß nochmals mit seinen eigenen Worten aussprechen wollen:
    "Die Emanzipation von der puren Tatsächlichkeit ist zwar nicht die einzige, aber eine Hauptquelle aller Religion und Kunst, aller Philosophie und Theorie."
LITERATUR Hugo Falkenheim, Otto Liebmans Kampf mit dem Empirismus, Festschrift der "Kantstudien", Zum 70. Geburtstag Otto Liebmanns, Berlin 1910