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Otto Liebmans Kampf mit dem Empirismus
LIEBMANNs wichtigste Untersuchungen sind in einzelnen Abhandlungen niedergelegt, die stets in die Tiefe führen, aber mehr auf Herausarbeitung der wesentlichen Züge als auf eine erschöpfende Behandlung und endgültige Beantwortung der Probleme gerichtet zu sein pflegen. Schon aus den Titeln seiner Schriften ersieht man diese Eigentümlichkeit seiner Schaffensweise: "Zur Analysis der Wirklichkeit, eine Erörterung über die Grundprobleme der Philosophie", "Die Klimax der Theorie, eine Untersuchung aus dem Bereich der allgemeinen Wissenschaftslehre", "Gedanken und Tatsachen, philosophische Abhandlungen, Aphorismen und Studien" - in allein diesen Werken haben wir wertvolle Bausteine zur Gedankenwelt ihres Verfassers vor uns, aber nicht eigentlich diese selbst in ihrer systematischen Struktur. Verleiht nun diese Darstellungsform mit ihrer durch keine schulmäßigen Rücksichten beengten Beweglichkeit und Frische den Schriften einen besonderen künstlerischen Reiz, so nötigt sie doch den Leser, den zusammenhängenden Plan, der ihnen zugrunde liegt, sich selber zu konstruieren, die getrennten Glieder zu einem Gnzen zu verbinden. Bei näherer Beschäftigung erkennt man freilich in zunehmendem Maße, mit wie fester Hand der Verfasser uns selber zur Klarheit über die beherrschenden Gedanken verhilft: er weiß sie uns durch eine starke Hervorhebung und mannigfache Beleuchtung auf das Zwingendste einzuprägen. Besonders intensiv treten die Wahrheiten, auf deren Geltendmachung es ihm ankommt, in Verteidigung und Abwehr zutage; hier unterstützt seine hervorstechende Fähigkeit, die Gegensätze der Anschauungen auf den einfachsten und schlagendsten Ausdruck zu bringen, seine Absichten überaus wirkungsvoll. Man fühlt durchweg, wie sich ihm seine philosophischen Überzeugungen gerade im Ringen mit skeptischen und positivistischen Anfechtungen befestigt und vertieft haben. Er hat hier sein eigenes Wort zu bewähren gesucht:
2. LIEBMANNs erkenntnistheoretischer Standpunkt ist in ausgesprochener Weise ein transzendentalphilosophischer. Was ihn in seiner Formulierung auszeichnet, ist die unermüdliche, eindrucksvolle Präzision, womit er ihn seinen Lesern unter Fortlassung allen Beiwerks in einfachen großen Linien vor Augen führt und gegen abweichende Deutungen abgrenzt. Seine eigene Forschung baut sich auf dem Grundgerüst der Prinzipien des Kritizismus auf. Die fundamentale Urtatsache, das unentbehrliche Medium, innerhalb dessen für das Subjekt die gesamte empirische Wirklichkeit, uns selber mit eingeschlossen, als Phänomen entsteht, ist ihm ein- für allemal das erkennende Bewußtsein mit seinen Normen und Formen. Diese höchsten Intellektualgesetze sind die allgemeine Voraussetzung aller Welterkenntnis: sie haben "metakosmische" Bedeutung, liegen der gesamten Außen- und Innenwelt zugrunde, müssen also ebenso für den Erkenntnisakt des Subjekts wie für das erkennbare Objekt schlechthin maßgebend sein. Daher stammt sowohl das subjektive Notwendigkeitsbewußtsein, das den höchsten Erkenntnisgesetzen anhaftet, als auch der Umstand, daß die objektive Erfahrung ihnen niemals widersprechen kann. Apriori heißt nichts anderes, als ein für jede der unsrigen homogene Intelligenz streng Allgemeine und Notwendige, das Nichtanderszudenkende, das, über dem empirischen Subjekt und seinem Objekt gleich erhaben, alle Erfahrung und ihren Gegenstand gestaltet - und den Erscheinungen objektive Realität sichert. Die immanenten Funktionen, die dem metakosmischen Bewußtsein zukommen, beherrschen zusammenwirkend als erfahrungsstiftende Bedingungen alles individuelle Erkennen. So bleiben Subjekt und Objekt, Erkennendes und Erkanntes durch die gemeinsamen transzendentalen Formen ihrer Existenz als unauflösliche Korrelate zur gegebenen Wirklichkeit miteinander verbunden. In dem berühmten Satze KANTs, daß der menschliche Verstand die Gesetze nicht aus der Natur schöpft, sondern ihr vorschreibt, findet LIEBMANN "den tiefsten Wahrheitsgehalt der Vernunftkritik" ausgesprochen. Dieser konsequent gedacht Apriorismus mußte ihn notgedrungen in einen Gegensatz bringen zu dem zeitweilig zu erneuter Herrschaft gelangten Standpunkt, der die Alleingültigkeit der "reinen Erfahrung" als Lösung des erkenntnistheoretischen Problems verfochten hat. Gegen diesen Neo-Baconismus richtete er 1884 seine Schrift "Die Klimax der Theorien" als deren Motto jener kantische Satz gelten darf. In origineller Durchführung wird hier der Gedanke KANTs verteidigt gegen die Jllusion, lediglich aus Beobachtetem und Beobachtbarem, nach Abzu alles vom Verstand Hinzugebrachten, ein ausreichendes Weltbild gewinnen zu können. Da das geistvolle Büchlein, nach Seiten der Komposition und Formgebung wohl das Meisterstück LIEBMANNs, zur Zeit seines Erscheinens in weiteren Kreisen wegweisend und befreiend gewirkt hat, wird es dem Zweck meiner Ausführungen am Besten entsprechen, seinen wesentlichen Gedankengang zu rekapitulieren, wenn auch - nicht zuletzt Dank dem Erfolg der kleinen Schrift - dem modernen Leser Manches darin selbstverständlich oder überholt vorkommen wird. Im Hinblick auf den bleibenden Wert des Inhalts hat LIEBMANN selber die Hauptgesichtspunkte später in seiner Darstellung des "Geistes der Tranzendentalphilosophie", die der zweite Band der "Gedanken und Tatsachen" enthält, ausdrücklich wiederholt. Thema und Ziel seiner Untersuchung ist der Nachweis, daß alle Erfahrung nur mit Hilfe unerfahrbarer Faktoren zustande kommen kann. Wenn man - so führt LIEBMANN aus - die kausalen Theorien des Geschehens nach ihrer Tragweite und ihren letzten Voraussetzungen ins Auge faßt, so springen drei Hauptstufen als besonders charakteristisch hervorf; er nennt sie Theorien erster, zweiter und dritter Ordnung. Die ersten entnehmen ihre Erklärungsprinzipien aus dem Bereich des unmittelbar Gegebenen; ohne das empirische Beobachtungsfeld mit einem Schritt zu verlassen, leiten sie sekundäre Tatsachen aus ursprünglichen ab. Die Theorien zweiter Ordnung greifen zur Befriedigung des Erklärungsbedürfnisses über das direkt Wahrnehmbare hinaus und nehmen jenseits der Erfahrung Realgründe an, aus denen sie ganze Erscheinungsgebiete deduzieren können. Die dritten Theorien sind metaphysischer Art, sie wollen über allem Relativen ein absolut Reales aus unbedingt obersten Prinzipien erfassen. Zunächst scheint es, als seien die ersten, vom Prinzip bis zu den abgeleitetsten Folgesätzen herunter, empirisch kontrollierbar, als könnten Theorien dieses Ursprungs nur mit den bestehenden Naturgesetzen selber umgestoßen werden. Dagegen können die zweiten nur an ihren Konsequenzen geprüft werden, und selbst wenn das Schlußgewebe vom Prinzip zu den Folgerungen Schritt für Schritt den Anforderungen der Logik entspricht, bleibt der Rückgang von der empirisch gegebenen Wirkung auf eine hypothetische Ursache stets unsicher und mißlich. Bei den Theorien dritter Ordnung bedarf es keiner näheren Darlegung, daß sie sich objektiv-gewissen Wahrheitskriterien gänzlich entziehen. Eine genauere Revision ändert jedoch dieses Resultat erheblich, ja sie führt zu einer förmlichen "Peripatie" [Wendepunkt - wp] und nötigt zur Neukonstruktion der entworfenen Ordnung. Es ergibt sich nämlich, daß bei der Ausscheidung aller subjektiven Verstandeszutat an Begriffen und Grundsätzen Erfahrung überhaupt nicht zustande kommen kann. Eleminiert man dieses Geflecht von geistigen "Bändern und Arterien", so fällt die Erfahrung in ein zusammenhangloses Aggregat von diskontinuierlichen Wahrnnehmungsfragmenten auseinander: das Resultat ist nicht reine Erfahrung, sondern gar keine Erfahrung. Diese wird erst möglich durch die stillschweigende Anwendung eines Systems von nichtbeobachtbaren, überempirischen Prämissen, die den Zusammenhang zwischen den isolierten Tatsachen der Wahrnehmung herstellen. LIEBMANN definiert sie als Einschaltungen von ergänzenden Zwischengliedern, als "theoretische Interpolationsmaximen der Erfahrungswissenschaft", und entwickelt eine Reihe von ihnen: reale Identität, Kontinuität der Existenz, durchgängige Kausalität, Kontinuität des Geschehens. Bei allen diesen Maximen führt er den Beweis, daß ohne ihre Befolgung die praktische Erfahrung des Alltags wie die methodische Erfahrung der Wissenschaft gleich unmöglich wären. Und so lautet das endgültige Ergebnis: obwohl diese Prinzipien nicht in einem erkenntnistheoretischen Sinn empirisch sind, gehören sie doch zu den unentbehrlichen Bestandteilen aller Erfahrung; nur indem wir die Beobachtungslücken durch Nichtbeobachtbares ausfüllen, indem wir die Sphäre der Erfahrung um ein Enormes überschreiten, entsteht für uns ein objektives Weltbild statt eines verworrenen und gesetzlosen Vorstellungsspiels. Lediglich in der einleuchtenden Klarheit der Maximen ist es begründet, daß man sie gewöhnlich nicht bemerkt. So ist das Ideal einer reinen Erfahrung, einer bloß aus tatsächlich Beobachteten zusammengesetzten Wissenschaft, als "doktrinäre Fiktion" aufgezeigt. Die Erfahrung ist vielmehr ein Geschenk des Verstandes, und bei näherem Zusehen zeigt sich, daß es eine Theorie erster Ordnung überhaupt nicht gibt, diese vielmehr in die zweite und dritte Ordnung hinaufrücken. Empirie und Empirismus sind eben zwei sehr verschiedene Dinge:
LIEBMANN betont sodann, daß der Einwand der "doktrinären Empiristen hergebrachten Stils": weil unsere Erkenntnisurteile psychologisch aus Wahrnehmungen entstanden sind, besitzen sie auch erkenntnistheoretisch nur im Hinblick auf die bereits beobachteten Einzelfälle Gewißheit - noch aus einem besonderen Grund sein Ziel verfehlt. Der Empirist setzt in seinen psychologischen Theorien die objektive Allgemeingültikeit der gleichen Sätze, die er bestreiten will, selber voraus. Jene transzendentalen Interpolationsmaximen, die für jede Erfahrungswissenschaft gelten, beanspruchen ihr Recht auch in der empirischen Psychologie; von einem individuellen Vorstellungsverlauf kann nur die Rede sein, wenn sie in ihm bereits enthalten sind. Das Gleiche gilt von den Versuchen, die organische Grundlage der psychischen Vorgänge festzustellen: auch diese Hypothesen sind bereits in der Sphäre des erkennenden Bewußtseins entsprungen und von dessen Intellektualformen beherrscht. Aus solchen Erwägungen gewinnt LIEBMANN seine Auffassung vom Wesen des Geistes und seiner Funktionen überhaupt; auch hier haben die Ereignisse, zu denen er gelangt, weithin gewirkt und ebenso rückhaltlose Anerkennung wie fruchtbare Weiterbildung gefunden. Worauf er hinstrebt, ist eine Theorie der Werte, wie sie ihm aus der Unterscheidung von Normalgesetzen und Naturgesetzen des Denkens erwächst. Er nimmt seinen Ausgangspunkt vom Ideal der psychologischen Mechanik, um dazulegen, daß aus dem von ihr behaupteten Assoziations- und Reproduktionsmechanismus das erkennende Denken auf keine Weise erklärbar ist. Wohl steht unzweifelhaft fest, daß dem denkenden Subjekt der Inhalt der Urteile durch eine unwillkürliche Vorstellungsmechanik geliefert wird; aber damit ist noch nicht die Denk- und Urteilsfunktion als solche gegeben. Denn nicht im Verknüpfen und Trennen besteht das Urteil, wie die Assoziationspsychologie annimmt, sondern im Bejahen und Verneinen von Verknüpfung und Trennung; nicht der vom Vorstellungswechsel erzeugte Bewußtseinsinhalt bringt das Urteil hervor, sondern das über dem Vorstellungswechsel herrschende Subjekt erteilt oder verweigert seine Genehmigung. LIEBMANN erklärt den Gedanken eines psychischen Mechanismus zu einer durchaus berechtigten Spezialanwendung des Kausalprinzips: wer nicht das Seelenleben vom allgemeinen Naturzusammenhang ausnehmen will, muß diesen Gedanken akzeptieren. Aber wo die Psychologie auf das Ich trifft, das allem Erkennen vorangeht, hat sie ihre Grenze erreicht: das im Wechsel der Vorstellungen, Gefühle und Willensakte mit sich identisch bleibende Ich ist nicht mehr Untersuchungsobjekt, sondern Fundamentalbedingung aller Psychologie, unter der allein von einem inneren Geschehen die Rede sein kann. "Aus der Mechanik der Vorstellungen die Einheit der Person ableiten, heißt ungefähr soviel wie aus Sand einen Strick drehen." Ohne die Identität des Selbstbewußtseins gäbe es für uns nicht nur keine erkennbare Welt, sondern auch kein Seelenleben. Der Mensch geht im zeitlichen Ablauf seiner Seelenzustände nicht ohne Rest auf, sondern erhebt sich über sich selbst; er tritt aus dem Fluß des psychischen Geschehens heraus und stellt sich seinem eigenen Seelenleben als Richter gegenüber, der seine Gedanken und Taten zum Objekt selbsteigener Kritik macht. Kausal betrachtet ist das Denken ein Naturprozeß; teleologische betrachtet, ist es ein Organ der Erkenntnis. Bei einer tyrannischen Alleinherrschaft des Kausalprinzips im Denken, bei einer Leugnung überpersönlicher Wahrheitsnormen verschwände die Grundvoraussetzung aller Wissenschaft, die Unterscheidung von Wahr und Falsch; eine psychologisch naturnotwendige Meinung wäre dann genauso berechtigt wie eine andere, da es logische Erkenntnisgründe, die Anspruch auf eine allgemeine Anerkennung besitzen, nicht mehr gibt. Der Naturalist widerlegt sich selbst, wenn er eine Anerkennung für die Richtigkeit seiner Ansicht verlangt, obwohl nach seiner Theorie jede Ansicht ein gleichwertiges, kausal notwendiges Naturprodukt sein soll. Dem Denken sind die Regeln der Logik immanent, sie sind "Naturgesetze höherer Art" als die der Assoziation: in unserem Kopf waaltet ein logischer Naturprozeß, der sich der psychologischen Assoziationsgesetze als eines Mittels bedient, ein logisches Apriori, dem sich das Individuum als selbstverständlicher Autorität unterwirft. Diese Freiheit des Denkens ist eine wesentliche Grundbedingung aller Wissenschafft, da nur sie eine objektive Wahrheitserkenntnis verbürgt. Wie beim Intellekt, so betont LIEBMANN auch bei der gestaltenden Phantasie die lenkende Funktion der psychischen Entelechie [Zweck in sich - wp], die lebendige Organik im Gegensatz zum "telegraphenartig klappernden Assoziationsmechanismus". Mag sie aus der Außenwelt ununterbrochen Stoff entnehmen: sich assimilieren, prägen muß sie ihn durch die formgebende Schöpferkraft, die von innen stammt. Die Gebilde der Phantasie, die nach der lehre des "vulgären Sensualismus" als künstliches Mosaik aus fertigen Steinchen und Stiftchen zusammengesetzt erscheinen, versteht die Ästhetik LIEBMANNs als Frucht eines organischen Wachstums, als Offenbarung der Autonomie des Genies; zugleich weist er darauf hin, wie ja die bildende Phantasie als solche nicht isoliert dasteht, sondern zur Dynamik der Stimmungen, Gemütsbewegungen und Leidenschaften in eine Wechselwirkung tritt. Aus demselben Gesichtspunkt beantwortet LIEBMANN die Frage nach dem Kausalverhältnis von Gehirntätigkeit und Geistestätigkeit, speziell nach der Lokalisierung der psychischen Funktionen im Gehirn. Die funktionelle Wechselwirkung, die trotz des radikalen Gegensatzes zwischen Materiellem und Geistigem hier herrscht, erkennt er in vollem Umfang an, wenn auch mit erheblichen Einschränkungen in Bezug auf die Möglichkeit einer eigentlichen physiologischen Deduktion geistiger Vorgänge; in einer bedeutenden Abhandlung seiner "Analysis der Wirklichkeit" hat er aus diesem Parallelismus sogar wichtige Folgerungen hinsichtlich einer Korrektur des herrschenden Naturbegriffs gezogen. Aber zugleich legt er dar, daß der Nachweis eines solchen Zusammenhangs seine unüberschreitbare Grenze findet an der rätselhaften Urtatsache der Identität des Selbstbewußtseins. Auch wenn die Lokalisation der psychischen Vorgänge restlos abgeschlossen wäre, so würde doch ein materielles Substrat für den geistigen Mittelpunkt des Seelenlebens fehlen: das identische Ich, das den zeitlichen Wechsel seiner Zustände als zeitlos höhere Instanz überragt, steht auch über der Gesamtheit der psychophysischen Tatsachen. In einem geistreichen Aphorismus hat LIEBMANN eine epigrammatische Formulierung dieses Sachverhalts gegeben:
Allerdings - entgegnet LIEBMANN - sind unsere Naturgesetze, wie sie als Formeln ausgesprochen werden, universalia post rem [Verallgemeinerungen die auf die Sache folgen - wp]. "Naturgesetze werden gedacht in intellectu humano; sie gelten und herrschen aber in rerum natura." Die reale Gesetzlichkeit, die neben dem gedachten Formelsystem existiert, ist Vorbedingung für die nominale: sie besteht in der Tatsache, daß die Dinge selbst sich so regelmäßig betragen, daß uns Menschen die Abstraktion von Gesetzesformeln überhaupt möglich wird. Wäre der Gang der Natur nicht objektiv so geregelt, daß wir auf subjektiver Seite zur Konzeption von Allgemeinbegriffen genötigt werden, ginge der Weltlauf chaotisch oder launenhaft vonstatten, so wäre unser Verstand dem Gang der Natur gegenüber zur Ohnmacht verurteilt. Sind die Gesetze auch ein Unsichtbares, Übersinnliches, nur in Verstandesbegriffen Erfaßbares, so ist dafür ihre Realität eine solidere, konstantere, als die des vergänglichen Einzelphänomens. Die Erscheinungen wechseln, die Gesetze verharren:
Aus solchen Überlegungen ist LIEBMANN einer der Kerngedanken seiner Philosophie entstanden, der Begriff der "Logik der Tatsachen". Er ist nichts anderes als der Ausdruck für die Realität konstanter Gesetze, ohne die es keine Naturerklärung geben kann. Die strenge Gesetzmäßigkeit des Weltlaufs im Ganzen wie im Einzelnen fällt zusammen mit seiner Begreiflichkeit. Wo sie aufhört, steht der Verstand still; ohne sie tritt anstelle des Kosmos der Wirrwarr, anstelle der Logik der Wahnwitz; wer ihr seine Zustimmung versagt, muß an Wunder in seinem Kopf glauben. Was auf subjektiver Seite vom menschlichen Verstand aus richtigen Prämissen richtig erschlossen ist, eben dies ist die Natur, vermöge der durchgängigen Gesetzlichkeit des Geschehens, genötigt auf objektiver Seite wirklich zu vollziehen. Bei vorausgesetzter Gültigkeit des Kausalprinzips stellt sich jeder der zahllosen Vorgänge der Natur unter eine bestimmte Schlußformel: der Zusammenhang der Ereignisse muß mit der Logik des korrekten Denkens völlig harmonieren. Insofern die allgemeine Gesetzlichkeit des natürlichen Geschehens das objektive Korrelat dessen in uns ist, was wir Vernunft nennen, darf LIEBMANN sie als die Vernunft im Universum bezeichnen. Wer an die allgemeine Gesetzlichkeit glaubt, der glaubt an eine realisierte Weltvernunft, an eine große Ideenordnung in der Natur. Und eine beträchtliche Verstärkung empfängt dieser Begriff der Weltlogik noch durch den Umstand, daß in vielen Fällen eine Mehrheit spezieller Naturgesetze als notwendige Konsequenz höherer Gesetze erkennbar ist, daß auf manchen Gebieten sich sämtliche Spezialgesetze als zusammenhängendes System aus weniger allgemeinen Grundgesetzen ergeben haben. Für eine absolute Weltintelligenz würde das System sämtlicher Naturgesetze als logisch gegliederte Totalität offen zutage liegen:
Hier ist die Stelle, an der LIEBMANN den Grundideen des spekulativen Idealismus am nächsten kommt. Im Hinausgreifen über das Erfahrbare, sagt er, sucht unser Denken "einen innersten Kern, ein bleibendes Wesen des empirischen Universums" zu erfassen, das, von der Vielheit wechselnder räumlich-zeitlicher Phänomene verhüllt, dem sinnlichen Blick unzugänglich bleibt:
Auch von der Bedeutung des Kraftbegriffs für die Mechanik der Atome gilt, daß sie ohne dieses "unentbehrliche Inventarstück des naturwissenschaftlichen Begriffsapparates" nicht durchzuführen ist. Die Körper sind nach der Definition LIEBMANNs "krafterfüllte Räume voll raumerfüllender Kräfte". Das Phänomen körperlicher Ausdehnung und Raumerfüllung, das von der Korpuskulartheorie als unerklärte Tatsache hingenommen wird, erkennt der Dynamismus als Folge von Kräften, die ja auch der Korpuskulartheoretiker - in Gestalt von Attraktions- und Repulsionskräften - nicht entbehren kann. So steigt der Dynamismus in der Erklärung nicht nur tiefer hinab als der Atomismus, sondern erklärt auch aus weniger Prinzipien mehr. In seiner meisterhaften Kritik der Atomistik, die das Hypothetische, Widerspruchsvolle, nicht selten Abenteuerlich der verschiedenen Atomtheorien einläßlich entwickelt, stellt LIEBMANN zwei Gedankenreihen auf, die den ausschließlich mechanischen Atombegriff von Grund auf umgestalten müßten. Einmal würde, falls das Atom überhaupt Volumen und Gestalt haben soll, seine Denkbarkeit an der Relativität unserer Größenvorstellungen scheitern, die in endloser Perspektive zu immer kleineren Bestandteilen fortgehen müssen; der einzige Ausweg bleibt dann, aus der Vorstellung räumlicher Extensität ganz herauszutreten und die Atome als ausdehnungslose Massen- und Kraftzentren anzunehmen: Diese aber wären gar kein Materielles mehr, sondern nur Etwas, das nach außen im Zusammenwirkennn mit anderen seinesgleichen das Phänomen der Materialität hervorbrächte. Sodann bliebe, wenn die Atome leblose Massenpünktchen wären, die Entstehung geistiger Wesen unerklärlich; überwindet man diese Schwierigkeit, indem man den Atomen selbst psychische Attribute beilegt, so "beschreitet man einen transzendenten Gedankenweg, der über die theoretischen Vorstellungen der heute herrschenden Physik und Chemie himmelweit hinausführt". LIEBMANN betont, daß es ewige, metaphysische Grenzen der Atomistik sind, die er hiermit fixiert hat. Auch an den Einwendungen, die gegen die Realität des kosmischen Gesamtagens, der actio in distans [Fernwirkung - wp], gerichtet worden sind, geht LIEBMANN keineswegs achtlos vorüber - freilich nur um nachzuweisen, daß der vorgeschlagene Ersatz durch die Kontaktwirkung seinen Zweck nicht erfüllt. Denn wenn wir vorurteilslos die Erfahrung befragen, so spricht der fühlbare unsichtbare Zug gegen den Erdmittelpunkt weit eher für die Fernwirkung als für den Kontaktmechanismus. Aber die Kontaktwirkung ist nicht bloß um nichts gewöhnlicher, sie ist auch um nichts begreiflicher. Er beruth auf der Selbsttäuschung, wenn man meint, durch sie das vermeintliche Axiom zu retten, daß ein Körper da nicht wirken kann, wo er nicht ist. Schon oft ist gezeigt worden, daß dieser Glaube sich auf die Verwechslung von mathematischer und physischer Berührung gründet; auch die Kontaktwirkung würde in Wahrheit auf eine in minimaler Entfernung stattfindende actio in distans hinauslaufen: "Zwischen der physischen Bewegung und der bloß phoronomischen Bewegung bleibt stets der Unterschied, daß erstere wirkt, während letztere nicht wirkt." Zudem bleiben auch bei konsequentester Durchführung der Kontakfiktion immer gewisse intensive Merkmale übrig: wie die Fernwirkung Trägheit und beschleunigende Kraft annehmen muß, so hat die Kontaktwirkung Undurchdringlichkeit und Trägheit zur Voraussetzung. So sind in letzter Instanz beide Tatsachen gleich unerklärt; beide sind gleichermaßen Äußerungen derselben rätselhaften Bewegungstendenz, der Schwerkraft. Will man aber, wie es im Hinblick hierauf versucht worden ist, gar das abstrakte Bewegungsgesetz hypostasieren, so setzt man sich mit dem gesunden Menschenverstand in einen weit schärferen Konflikt als durch die Annahme der Fernwirkung und lädt den dieser gemachten Vorwurf in erhöhtem Maß auf sich. 6. LIEBMANN hat in seiner "Weltwanderung" die Ergebnisse seines Denkens auch in poetischer Form niedergelegt. Im Anschluß an die zuletzt wiedergegebenen Betrachtungen sind hier die Verse geschrieben:
Zermalme Perlen, und Du hast den Sand, wirst aus Sand Du keine Perlen machen. Staubwolke der Natur? Sandwirbel? Dunst? Formloser Nebel? Nein, da fehlt Jemand: Gestaltenbildend schöpferische Kunst."
Aus Knospen, Keimen, was sich selbst gestaltet, Nach Zielen strebt aus zukunftsreichem Samen, Was planvoll schafft." Daß LIEBMANN von hier aus schon vor mehr als einem Menschenalter zur Abrechnung mit dem Darwinismus kommen mußte, liegt auf der Hand. Er gesellt sich zu denjenigen Kritikern der Deszendenztheorie, die bei aller Anerkennung des großen Verdienstes und relativen Rechts ihrer historisch-mechanischen Betrachtungsweise doch zu dem Ergebnis kommen, daß sie das Problem der zweckmäßigen Entwicklung unerklärt läßt.
So machen die unüberwindlichen Grenzen des kausalen Verfahrens der Naturforschung eine prinzipielle Ergänzung und Weiterführung nötig. Ob es außer den Naturkräften noch besondere Zweckursachen gibt, darüber kann ein Schulstreit herrschen; daß es in der Natur eine vom Menschen unabhängige, seiner Kunst unendlich überlegene Zweckmäßigkeit gibt, darüber nicht. Die den Naturlauf regulierenden Gesetze und in ihm zusammenwirkenden tätigen Substanzen sind so gerartet, daß daraus die bewunderungswürdige Zweckmäßigkeit normaler Naturprodukte resultieren muß. Das mechanische Erklärungsideal koexistiert noch heute, wie einst im Altertum, mit der Lehre von der Substanzialität der Form. Je genaueren Einblick man in das Getriebe des Naturmechanismus gewinnt, desto genauer erkennt man seine Zweckmäßigkeit. Selbst aus dem Gesichtspunkt der mechanischen Kausalität bliebe doch der Unterschied größerer oder geringerer Kompliziertheit der Naturphänomene bestehen; sie bilden eine "wohlgegliederte Hierarchi", eine vom Unvollkommenen und Niedrigen zum Vollkommenen und Höheren emporsteigende Stufenleiter. In das Begriffsschema der aristotelischen Metaphysik passen die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaft vortrefflich hinein, - nur daß diese den bei ARISTOTELES noch fehlenden Mechanismus der Höherentwicklung hinzufügt: ARISTOTELES betrachtet von einem teleologischen Standpunkt aus den Plan der Welt, die Naturwissenschaft erkennt aus dem Getriebe der Kräfte die Mittel zur Realisierung des Weltplans. Der blinde Mechanismus dieser wirkenden Kräfte steht im Dienst einer Naturlogik; in den Augen einer rationalen Teleologie fallen beide, das System notwendiger Mittel und Zwecke und das System der Ursachen und Wirkungen, kongruent zusammen, "wie die vorwärts gelesene und die rückwärts buchstabierte Rede". Und zwar reicht diese Technik samt dem ihr dienstbaren Mechanismus bis in die idealen Werturteile des menschlichen Geistes hinaus. Der landläufige Naturbegriff freilich wird dadurch "von Grund auf revolutioniert". Man wird zu der Idee genötigt, dem Naturmechanismus müsse etwas eminent Logisches zugrunde liegen: "Ist die Vernunft ein Naturprodukt, so muß die Natur Vernunft haben", so muß sie in ihrem Kern etwas dem menschlichen Logos Analoges sein. In diesem Gedanken erreicht LIEBMANNs Teleologie ihr abschließendes Ergebnis. Doch ein schiefer Zug würde in das von mir entworfene urkundliche Bild kommen, wenn wir beim Rückblick von dieser gewonnenen Höhe nicht eine Einschränkung hinzufügen würden. Bei allem energievollen logischen Vordringen ins Reich des Überempirischen bleibt LIEBMANN sich seines transzendentalen Ausgangspunktes wohl bewußt, und so hält er sich stets vor Augen, daß unsere Gedanken über den Weltgrund, bei vollkommener Übereinstimmung ihrer Konsequenzen mit der tatsächlich gegebenen Erscheinungswelt, im günstigsten Fall nichts Anderes enthalten können als die notwendige Art und Weise, wie sich das absolut Reale für eine Intelligenz von spezifisch menschlicher Geisteskonstruktion repräsentiert. Daraus geht LIEBMANNs charakteristisches Postulat einer "kritischen Metaphysik" hervor, die nicht apodiktische Wissenschaft, sondern hypothetische Erörterung menschlicher Vorstellungen über Wesen, Grund und Zusammenhang der Dinge sein will; ihre Begriffe sind demgemäß keine ontologischen Dogmen, sondern der Ausdruck logisch konsequenter Interpretationen der Erfahrung. Nicht jede metaphysische Hypothese ist mit den Tatsachen der Empirie logisch vereinbar; den Spielraum denknotwendiger Hypothesen zu finden, ist die Aufgabe sorgfältiger kritischer Untersuchung. In diesem Sinne bleibt die Metaphysik als Theorie der Vorbedingungen des empirisch Gegebenen Verstandespflich und behauptet zugleich als stillschweigend angerufene Instanz über den grundsätzlichen Kontroversen der Spezialforschung den Rang einer Fundamentalwissenschaft. - Wieweit ein jeder, insbesondere der kantisch gesinnte Leser, den Gedanken OTTO LIEBMMANNs im Ganzen wie im Einzzelnen folgen will, mag er bei sich beantworten. Un auch das mag jeder nunmehr in seiner Weise prüfen, welche Bestandteile aus LIEBMANNNs Philosophie im Laufe der Jahrzehnte Gemeingut geworden sind, um welche noch heute gestritten wird, und schließlich mit welchen er verhältnismäßig einsam dasteht. Daß sein Wirken in mehr als einer Hinsicht ein wegbahnendes Verdienst gehabt und tiefgehende Spuren hinterlassen hat, kann trotz aller Wandlungen und Korrekturen, denen Fassung und Behandlung der Probleme in der Folgezeit unterworfen gewesen sind, gerechterweise nicht in Zweifel gezogen werden; zu jedem Gedankengang LIEBMANNs wird der mit den philosophischen Erörterungen der Gegenwart vertraute Leser eine Fülle von erläuternden oder kritischen Glossen hinzufügen können, die dafür Zeugnis ablegen würden. Wem es dann bei der Beurteiung einer solchen Leistung nicht auf den Grad der Übereinstimmung mit den eigenen Ansichten, sondern auf die darin bekundete Energie des philosophischen Denkens ankommt, der wird dem Siebzigjährigen gern den Zoll der Verehrung darbringen, der einer so eindringenden und umfassenden Geistesarbeit gebührt. Und umso herzlicher wird diese Anerkennung sein dürfen, als unter den Vorzügen LIEBMANNs nicht der geringste jederzeit der Mut einer mannhaften Überzeugung gewesen ist, womit er, oft genug im Widerspruch zur herrschenden Meinung des Tages, die ihm am Herzen liegenden Wahrheiten verfochten hat. Deshalb ließ sich gerade aus seinem lebenslänglichen Kampf mit dem Empirismus das Endziel seiner Bestrebungen besonders klar erkennen, wie wir es zum Schluß nochmals mit seinen eigenen Worten aussprechen wollen:
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