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Die Klimax der Theorien [3/4]
Siebentes Kapitel Revision, Peripetie, Neukonstruktion und Abschluß - Die theoretischen Interpolationsmaximen der Erfahrungswissenschaft - Man erinnert sich des kleinen Zwischenfalls im "Hamlet" wie Polonius, vom Prinzen gefragt, ob jene Wolke dort nicht aussehe wie ein Kamel, dieses sofort bejaht; gleich darauf aber, von Neuem gefragt, ob dieselbe Wolke nicht aussehe wie ein Walfisch, Antwort gibt "Ganz wie ein Walfisch!" Dieser kleine Zug ist völlig naturwahr, ohne jede Übertreibung aus dem Leben gegriffen. Ähnliches wiederholt sich auch unter normalen Menschen alltäglich; und schon hieraus kann entnommen werden, wie sehr unsere Auffassung des tatsächlich Gegebenen, unsere intuitive Vorstellung des objektiv Vorhandenen durch innerlich entsprungene Phantasiebilder infiziert, durch Vorurteile oder auch Vorkenntnisse gestempelt und geprägt wird. Ich sehe Etwas mit eigenen Augen, ich höre es mit eigenen Ohren, dies besagt: Ich deute gewisse faktisch gegebene Gesichts- und Schallempfindungen auf dieses oder jenes, so oder so beschaffene, hier oder dort befindliche Objekt. Die Auffassung des Wirklichen ist eine subjektive Interpretation der gegebenen Sinneseindrücke; und ein und derselbe reale Gegenstand kann daher vermöge individueller Verschiedenheiten der Interpretation von mehreren Zuschauern völlig abweichend gesehen, gehört und wahrgenommen werden. Diese Mehrdeutigkeit erstreckt sich nun auch auf die sogenannten Erfahrung. Mehrere Personen, die gleichzeitig aufmerksame Augenzeugen genau desselben Vorgangs gewesen sind, können seltsamerweise nicht Dasselbe, sondern ganz Verschiedenes "erfahren" haben. Man frage z. B. einen Skeptiker, der einer spiritistischen Sitzung beigewohnt hat, was er dabei erlebt und erfahren habe; und man wird finden, daß seine Erlebnisse und Erfahrungen mit denen der gläubigen Teilnehmener an derselben Session schlechterdings nicht kongruent zusammenfallen. Der sachkundige Zoologe und Botaniker, der durch ein Mikroskop ein organisches Präparat beobachtet, sieht und erfährt hier etwas ganz Anderes als ein Laie, der mit neugieriger Spannung und großer Aufmerksamkeit durch dasselbe Glas das gleiche Präparat anblickt. MANZONI in den Promessi Sposi bei Gelegenheit seiner meisterhaften Schilderung der furchtbaren Pest, von welcher Mailand im Jahre 1630 verheert wurde, hat uns nach den Angaben des zuverlässigen Chronisten RIPAMONTI folgende Erzählung mitgeteilt: Zur Zeit als die Pestepidemie im Zunehmen begriffen war, am 17. Mai des Unglücksjahres, hatte man gegen Abend im Dom einige Personen herumgehen sehen, die eine Brettwand mit irgendetwas einsalbten. Das war verdächtig. Am folgenden Morgen waren auf lange Strecken hin die Wände und Türen der Häuser mit einem weißlichen Schmutz beschmiert; RIPAMONTI selbst hat diese Schmutzflecken gesehen und beschreibt sie. Der Verdacht schwoll an und wurde zur Gewißheit. Diese Schmutzsalbe war der ansteckende Pestkeim; verruchte Bösewichter beschäftigten sich nächtlicherweise damit, die Höllensalbe und mit ihr die entsetzliche Epidemie weiter und weiter zu verbreiten; man nannte sie "Salber". Jedermann fahndete nach diesen Schurken. Nach einiger Zeit sah man vor dem Dom einen reisenden französischen Maler stehen; er betrachtete das Bauwerk und trat nahe an die Mauer heran. Dies erregte Aufsehen; Vorübergehenden sammelten sich; da streckte der Fremde, wie um sich zu vergewissern, daß es Marmor sei, die Hand nach den Steinen aus und befühlte sie. Sofort stürzte alles unter dem Ruf "ein Salber!" über ihn her, mißhandelte ihn und schleppte ihn in den Kerker. In der Kirche San Antonio wollte an einem Festtag ein mehr als achtzigjähriger Greis sich setzen und staubte mit dem Mantel die Bank ab. Einige Weiber, die dies erblickten, schrien in einstimmigem Entsetzen auf "der Alte salbt die Bank!" Alsbald fielen die Leute in der Kirche über den Verbrecher her; er war in flagranti ertappt, man raufte ihm die Haare, trat ihn mit Füßen und schleppte den Halbtoten vor Gericht, auf die Folter. RIPAMONTI hat die Szene mit eigenen Augen gesehen. - Weitere Belege sammeln, hieße in der Tat Eulen nach Athen tragen oder Narren nach Abdera bringen. Genug! Das, was man erfährt, richtet sich nach dem, was man ist. Sogenannte Erfahrungstatsachen tragen den abweichenden Stempel der Individualitäten an sich. Selbst bei absolut gleicher Sinnesorganisation und absolut gleicher Beschaffenheit des Empfundenen, bei Ausschluß von Achromatopsie [angeborene Farbenblindheit - wp] und ähnlichen Anomalien der Wahrnehmung, entspringt doch für den einen Beobachter dieses, für den anderen jenes Vorstellungsbild des objektiven Sachverhalts. Und wenn es keine Mittel gäbe, solche individuellen Differenzen der Auffassung in allgemeingültiger Weise zu eliminieren, dann würde es mit der Erfahrungswissenschaft oder der wissenschaftlichen Erfahrung recht schlimm bestellt sein. Soviel zumindest mußte vorausgeschickt werden, um eine neue Wendung zu motivieren, die unser Gedankengang in diesem Kapitel nehmen muß. Sie könnte den Leser überraschen und befremden; denn sie sieht einer wesentlichen Restriktion, ja einem partiellen Widerruf unserer heutigen Aufstellungen äußerst ähnlich. Allein wir sind zu diesem Schritt genötigt; genötigt wie zu allem Bisherigen durch die Wahrheit der Sache selbst. Es vollzieht sich dabei nichts Anderes, als eine ganz natürliche Gedankenperipetie [Gedankenwende - wp] welche für den normalen Verstand, sobald er den von uns beschrittenen Weg weit genug verfolgt hat, ganz unvermeidlich ist. Ich hatte die Theorien der ersten Ordnung rein empirische genannt; ich hatte hervorgehoben, daß sie das Gebiet des Erfahrbaren um keines Fußes Breite transzendieren; ich hatte sie als die gesicherte Basis anerkannt, auf der die Erklärungsversuche anderer Ordnung als höhere Stockwerke aufgebaut sind; ich habe damit zugegeben, daß, wenn diese Basis erschüttert würde, dann, ähnlich wie bei einem Erdbeben, die höheren Stockwerke in bedenkliche Schwankungen geraten und vielleicht zusammenstürzen würden. Was mir von Anfang vorschwebte, war nicht sowohl das cartesianische, als das Wissenschaftsideal BACONs; nicht jene metaphysisch fundierte Methode, die von allgemeinsten Grundbegriffen und Grundsätzen aus, von oben herab oder "a priori" ein Gedankennetzt ausspinnt, dem sich dann die Welt des Empirischen wohl oder übel fügen soll, sondern die empirisch fundierte Methode, die von einer gewissenhaften Konstatierung beobachteter Erfahrungstatsachen ausgeht und ganz allmählich, die Erfahrung stets im Auge behaltend, zu höheren Erklärungsgründen emporsteigt. Mag das cartesianische Ideal für die rein formalen Theorien, z. B. die reine Mathematik, immerhin maßgebend sein; für die Konstruktion kausaler Theorien, die ich allein in Betracht ziehe, gilt, wie ich angenommen habe, das Ideal BACONs. Wie nun aber? Die obigen Eingangsbemerkungen zeigen bei all ihrer Einfachheit, daß die Erfahrung vielzüngig ist, daß mehreren Beobachtern vermöge individueller Interpretationsdifferenzen trotz Identität ihres Empfindungsinhalts, trotz Identität des realen Beobachtungsobjekts, doch ein nicht identischer, sondern in einem höheren oder geringeren Grad abweichender Erfahrungstatbestand gegeben sein kann. Solche individuelle Unterschiede müssen durch künstliche Veranstaltungen exkludiert werden, wenn ein im gewöhnlichen Sinn objektiver, ein wissenschaftlich brauchbarer Tatbestand hergestellt, eine allgemeingültige Empirie konstruiert werden soll. BACON von VERULAM, der Urheber des modernen Ideals der Erfahrungswissenschaft, weiß dies bekanntlich auch sehr gut. Ein Empiriker nach seinem Sinn soll nicht nur sammeln, sondern auch sichten und bauen, soll nicht Ameise, sondern Biene sein. Er läßt es an Kautelen [Vorbehalten - wp] und Sicherheitsmaßregeln nicht fehlen. Er verlangt eine Kritik der Sinne, der Phantasie, des Verstandes. Er will nicht die gewöhnliche, die rohe, die unbearbeitete Empirie, sondern eine sogenannte "reine Erfahrung" - Mera Experientia. Sein Verfahren zur Herstellung der "Mera Experientia" besteht, was hier nicht näher ausgeführt zu werden braucht, darin, daß zuvörderst alle Idole oder anticipationes mentis, d. h. alle subjektiven Phantasie- und Verstandeszutaten, alle Anthropomorphismen, alle Vorurteile der Tradition, der Autorität, des in der Schule und auf dem Markt herrschenden Sprachgebrauchs etc. charakterisiert und perhorresziert [abgelehnt - wp] werden, worauf dann der "intellectus abrasus", d. h. der zu männlicher Reife gediehene, aber vermöge der Ausrottung sämtlicher Idole zu kindlicher Unbefangenheit zurückgekehrte Verstand dem Beobachtbaren entgegentritt, durch Sammlung und kritische Sichtung der Instanzen, unter sorgfältiger Berücksichtigung der "instantiae contradictoriae" und begünstigt durch "instantiae praerogativae" das objektiv Tatsächliche konstatiert und dessen Gesetze formuliert, um mit deren Hilfe und weiser Benutzung Erfindungen zu machen und die Natur dem regnum hominis mehr und mehr zu unterwerfen. So wenig es nun hier einer eingehenderen Schilderung von BACONs Methodologie bedarf, ebensowenig ist eine Wiederholung der Kritik vonnöten, welche diese gründlichen, zu ihrer Zeit epochemachenden Reformvorschläge seitens der Nachwelt erfahren haben. Man gesteht das Neue, das Großartige und Richtige, ja das Divinatorische in BACONs Bestrebungen bereitwilig zu, man sucht, durch die seit mehr als zweihundert Jahren mächtig entfaltete Praxis der Experimentalwissenschaften gefördert, BACONs Einzelirrtümer zu verbessern, seine methodologischen Postulate zu verschärfen; man hat unter anderem einen wesentlichen Mangel BACONs in seiner völligen Verkennung des Wertes der quantitativen Merkmale, der Messung, der mathematischen Formulierung und Deduktion erkannt; und so hat sich dann eine neubakonische Literatur entwickelt, die bis auf JOHN STUART MILL herab grundsätzlich an den Ideen und Desideraten des Denkers von Verulam festhält (1). Wenn BACON heute von den Toten auferstünde und die Wissenschaft der Gegenwart betrachtet, er müßte stolz und zufrieden sein; das von ihm mit prophetischem Weitblick ersonnene Programm, er sähe es in unerwarteter Breite und Großartigkeit ausgeführt; und kein Zweifel, er würde namentlich solche Erklärungen wie ich sie unter dem Titel der Theorien erster Ordnung angeführt habe, vollständig approbieren, würde sie als eine erfreuliche Frucht jener "Mera Experientia" betrachten, deren Ideal er aufgestellt hat. Indessen leidet BACONs Programm an einer gewissen Einseitigkeit, es fordert ein Komplement. Sehr löblich und weise, wenn man sich einmal zwecks Herausschälung des echten Wahrheitsgehaltes in unserem sogenannten "Wissen" ganz ernsthaft darüber Rechenschaft zu geben sucht, wieviel eigentlich in diesem "Wissen" streng objektiv Gegebenes, wieviel hingegen subjektive Gedankenzutat ist, wobei dann z. B. die Begriffe "Kraft" - "Masse" - "Substanz" - "Wirkung" etc. unschwer als auf die subjektive Seite herüberfallend erkant und demgemäß aus dem objektiven Tatbestand ausgeschieden werden würden. Aber nicht weniger weise und notwendig, zu untersuchen, ob denn bei einer Ausscheidung aller subjektiven Verstandeszutat an Begriffen, Grundsätzen, Hypothesen usw. dasjenige, was den Namen "Erfahrung" führt, überhaupt zustande kommen und weiterbestehen, ob es nicht vielleicht zu einem bedenklichen Minimum zusammenschrumpfen würde. Beide Seiten der erkenntniskritischen Analyse unserer Wissenschaft sind gleich notwendig. Man darf über der ersten die zweite nicht vernachlässigen. Man könnte sonst eventualiter in die Lage jenes energischen Arztes geraten, der, um eine verseuchte Stadt von allen Miasmen und Contagien [Krankheiten verursachende Stoffe - wp] zu purifizieren, den ganzen Ort mit Mann und Maus verbrannte. Sein Parforcemittel [Gewaltmittel - wp] half; die Epidemien waren verschwunden; die Luft war gereinigt; es blieb auch noch etwas von der Stadt übrig, nämlich ... Asche. An diese Untersuchung herantretend, stellen wir das Problem in möglichst scharfer Fassung an die Spitze. Es umfaßt zwei Unterfragen und lautet so:
Und wenn so, worin besteht sie? Ehe wir den entscheidenden Schritt vollziehen, ist es nötig, einen weit verbreiteten Irrtum zu entfernen, der auf einer Homonymie [selbes Wort verschiedene Bedeutung - wp] beruth und sich unserer Kritik störend in den Weg zu werfen droht. Der Ausdruck "empirische Erkenntnis" ist doppelsinnig. Man kann, wenn man einer Erkenntnis das Prädikat "emprisch" zuerteilt, entweder auf deren psychologischen Ursprung reflektieren, oder auf den von ihr beanspruchten Geltungsbereich. Man kann entweder definieren, "empirisch" soll diejenige Erkenntnis sein, die aus der Erfahrung geschöpft ist, (also nicht etwa aus irgendwelchen überempirischen Erkenntnisquellen abstammt); oder diejenige soll "empirisch" sein, die über das empirische Gegebene hinaus keinerlei Gültigkeit in Anspruch nehmen will. Der weitverbreitete Irrtum, von dem ich spreche, beruth auf einer Verwechslung und Konfusion dieser zwei völlig verschiedenen Bedeutungen desselben Wortes; er geht dahin, als ob durch eine Einsicht in die psychologische Entstehungsweise eines Gedankens zugleich ein Urteil über dessen objektive Gültigkeitssphäre gewonnen werden könnte, als ob z. B. ein Gedanke, der im ersten Sinn empirisch ist, deshalb auch im zweiten Sinn empirisch sein müßte. Diese Ansicht ist völlig falsch! Sie bildet das proteron pseudos [erster Irrtum; erste Lüge - wp] bei LOCKE und einer ganzen Partei moderner Erkenntniskritiker (3). Weder folgt aus dem Umstand, daß ein Gedanke auf dem Erfahrungsweg entsprungen ist, seine ausschließliche Anwendbarkeit auf Erfahrbares, noch auch würde umgekehrt aus dem Umstand, daß ein Gedanke nur innerhalb, nicht jenseits des Erfahrbaren anwendbar und objektiv gültig ist, hervorgehen, daß er auch aus der Erfahrung entsprungen ist. Das Erstere deshalb nicht, weil sonst mit gleichem Recht der aberwitzige Schluß gezogen werden dürfte: "Unser Begriff von einer Pflanze und von einem Tier ist nur aus irdischen Objekten abstrahiert; also - gibt es auf anderen Weltkörpern keine Pflanzen und Tiere!" - Hieraus leuchtet nun ein: Für die allgemeine Wissenschaftslehre und Erkenntniskritik, zu deren Aufgaben die Untersuchung der Möglichkeit einer reinen Erfahrung gehört, ist das psychologische Problem der subjektiven Entstehungsweise menschlicher Gedanken und Überzeugungen gleichgültig, und nur mit der Bestimmung der Gültigkeitsgrenzen und Feststellung der logischen Dignität jener Gedanken und Überzeugungen hat sie es zu tun. Ob z. B. der Begriff und Grundsatz der Kausalität "aus der Erfahrung stammt" oder ob er "a priori gegeben ist", das ist für die Frage, ob er auch im Gebiet des Unwahrnehmbaren und Unerfahrbaren Gültigkeit besitzt, ebenso irrelevant wie der Umstand, daß wir Wasser nur auf der Erde kennengelernt haben, für die Frage, ob es auch auf dem Mond Wasser gibt. Wenn Jemand eine Wolke für ein am Himmel dahineilendes Kamel hält, so ist das sicherlich eine "unreine" Erfahrung, obwohl der Begriff des Kamels ganz sicherlich ein empirischer Begriff ist. Sie ist unrein nicht deshalb, weil der Begriff des Kamels auf einem überempirischen Weg entstanden oder "a priori gegeben" wäre, sondern deshalb, weil er aus gewissen Gründen auf eine in der Luft schwebende Nebelmasse nicht in einem ernsthaften Sinn anwendbar ist. Dies führt auf mein Hauptthema zurück. Wenn man einmal Kritik treiben will, so tue man es scharf, energisch und ganz; nicht lahm, lau und halb. Ein anderes Verfahren wäre nicht nur langweilig, sondern, was schlimmer ist, zweckwidrig. Man verfahre nicht so wie ein ungeschickter Chirurg, der zuerst aus falscher Schonung sein Messer zu schärfen unterläßt, und dann, wenn bis zur Hälfte durchgeschnitten ist, aus einem feigen Bedenken heraus zu schneiden aufhört; auch nicht so wie jener Mitleidige, der seinem Hund täglich nur ein Stück vom Schwanz abgeschnitten hat, damit das arme Tier nicht auf einmal soviel leiden muß. Sondern, ist einmal die Operation als notwendig erkannt, so schleife man sein Instrument scharf, setze es fest an der richtigen Stelle und in genauer Richtung an, und dann - schnell durchgeschnitten, daß das kranke oder überflüssige Glied, bis zur letzten Faser losgelöst, abfällt. Nachher wird sich der Erfolg schon zeigen. Entweder der Patient ist ohne dieses Glied noch lebensfähig, während er mit ihm verloren gewesen wäre; so wird er günstigstenfalls kuriert. Oder er ist ohne dieses Glied verloren, wie er es mit ihm gewesen wäre; nun, so ist er von langen Leiden und Qualen erlöst. Unser Patient ist die menschliche Intelligenz, die menschliche Wissenschaft, die menschliche Erfahrung. Man will sie von gewissen Auswüchsen befreien, die man für krankhaft hält. Man schneidet bald hier, bald dort an ihr herum. Aber man schneidet nicht ganz durch. Ich habe dies versucht und bin zu einem Resultat gelangt. Hier ist es: Der Patient liegt auf dem Operationstisch. - Ich setze das Messer an. - Ich schneide! - Ich schneide durch! - Der Schnitt ist geglückt! - Und was ist der Effekt? - - - - Ein pulverisierter Leichnam. Unsere Operation ist also von so letalem [tödlichem - wp] Erfolg, daß das Opfer nicht nur den Geist aufgibt, sondern sogar augenblicklich in einen unartikulierten Staubhaufen auseinanderfällt. Daran wäre nun nichts mehr zu ändern. Damit aber doch das Schicksal des Patienten zumindest in Zukunft anderen Seinesgleichen zu Nutz und Frommen gedeihe, suche ich jetzt nach der eigentlichen inneren Todesursache, um die unentbehrlichen Lebensbedingungen ausfindig zu machen. Und hierbei zeigt sich: Es gibt ein System von Bändern und Arterien, die unvorsichtig durchschnitten worden sind, die aber intakt bleiben müssen, wenn der Patient am Leben bleiben soll. Das Geflecht dieser Arterien und Bänder habe ich herauspräpariert und werde es dem Sachkenner zur Besichtigung vorlegen. Oder, um nun Bilder und Gleichnisse abzustreifen und sensu proprio et strictissimo [im eigentlichsten Sinn - wp] zu reden, wenn man zwecks Herstellung einer reinen Erfahrung sämtliche in der gewöhnlichen und wissenschaftlichen Erfahrung enthaltenen subjektiven Verstandeszutaten eliminiert, so fällt die Erfahrung in ein ungeordnetes, zusammenhangloses Aggregat völlig diskontinuierlicher Wahrnehmungsfragmente auseinander, und das Resultat ist nicht nur keine reine Erfahrung, sondern gar keine Erfahrung. Die genauere Analyse stößt auf ein System über jeden möglichen und wirklichen Beobachtungsinhalt hinausreichender, folglich nichtempirischer Prämissen, und deren Anwendung auf die Wahrnehmungsdata erst Dasjenige zustande gebracht wird, was im wissenschaftlichen, teilweise auch in einem alltäglichen Sinn "Erfahrung" heißt. Diese Prämissen dienen zur Herstellung des Zusammenhangs zwischen Wahrnehmungsdatis, die ihrer Natur nach isoliert sind; sie begründen ein mehrfaches Verfahren der Interpolation (4). Ihre Formulierung und Erläuterung folgt hier: ![]() Die theoretischen Interpolationsmaximen der Erfahrungswissenschaft. 1. Das Prinzip der realen Identität.
Wer heute die Sonne sieht, der ist überzeugt, es sei dieselbe Sonne, die gestern geschienen hat. Wenn der Mond hinter einer Wolke verschwindet und nach einigen Minuten wieder hervortritt, so halten wir ihn für denselben Mond wie vorhin. Wenn ich nach einem halbstündigen Ausgang in mein Zimmer zurückkehre, so bin ich überzeugt, daß es sich noch um dasselbe Zimmer handelt, welches ich vor einer halben Stunde verlassen habe. Wenn man im Gespräch mit Jemand begriffen für einen Moment den Blick von ihm abwendet, gleich darauf aber ihn an derselben Stellen von Neuem erblickt, so ist man überzeugt, es sei derselbe Mensch. Es wäre nicht unrichtig, dieses das aus der Sprache der Ontologie ins Erkenntnistheoretische übersetzte principium identitatis indiscernibilium [Satz der Identität des Ununterscheidbaren - wp] zu nennen. Wie nun diese Überzeugung von der realen Identität des in getrennten Zeitpunkt Perzipierten psychologisch entstanden ist, dies ist für den Erkenntniskritiker vollkommen irrelevant (siehe oben!); für ihn handelt es sich allein darum, ob sie objektiv berechtigt ist, und speziell in unserem Fall noch darum, ob sie in einem strikten Sinn empirisch ist, d. h. die Sphäre des streng Beobachtbaren gar nicht transzendiert. Gewiß hat man nun mit der angeführten Überzeugung Recht; - Recht nämlich zumindest insofern, als ohne eine Befolgung der formulierten Denkmaxime die praktische Erfahrung des Alltags und die methodische Erfahrung der Wissenschaft unmöglich sein und die wohlgeordnete Welt des Tatsächlichen in ein sinnloses Chaos auseinanderfallen würde. Aber absolut gewiß oder gar ein wohlfundiertes Empeirem, ein der strikten Beobachtung entnommenes Faktum ist die präsumierte reale Identität durchaus nicht. Denn was mit einem Gegenstand in der Pause seines Nichtbeobachtetseins realiter geschehen sein mag, darüber vermag selbstverständlich die Beobachtung nichts auszusagen; dies ist eben, sofern jeder Zeuge darüber fehlt, empirisch nicht konstatierbar. Es könnte während der Pause der frühere Zustand total verschwunden, völlig annihiliert und mit einem zweiten, ihm allen beobachtbaren Merkmalen nach schlechthin ähnlichen Gegenstand vertauscht sein. Ja, wenn man im Geiste der strengen Wissenschaft mit penibler Genauigkeit urteilen will, so gilt bei den angezogenen Beispielen und allen Ihresgleichen der Satz von der realen Identität nur approximativ [ungefähr - wp], keineswegs mit voller Strenge. Das Sonnenbild, welches heute für mein Auge entspringt, ist mit dem gestrigen Sonnenbild realiter nicht identisch, sondern heute ein ganz neues, noch nie dagewesenes, heute durch andere Lichtstrahlen und andere Nervenerregungen erzeugt, als gestern; auch würde der Physiker von seinem Standpunkt aus bemerken müssen, daß die heute scheinende Sonne vermöge des an der Oberfläche und im Innern eines Weltkörpers sich rastlos vollziehenden Stromes physikalischer Veränderungen gar nicht mehr im Sinne unterschiedsloser Identität die gestrige Sonne ist. Und Analoges gilt für alle Wer heute die Sonne sieht, der ist überzeugt, es sei dieselbe Sonne, die gestern geschienen hat. Wenn der Mond hinter einer Wolke verschwindet und nach einigen Minuten wieder hervortritt, so halten wir ihn für denselben Mond wie vorhin. Wenn ich nach einem halbstündigen Ausgang in mein Zimmer zurückkehre, so bin ich überzeugt, daß es sich noch um dasselbe Zimmer handelt, welches ich vor einer halben Stunde verlassen habe. Wenn man im Gespräch mit Jemand begriffen für einen Moment den Blick von ihm abwendet, gleich darauf aber ihn an derselben Stellen von Neuem erblickt, so ist man überzeugt, es sei derselbe Mensch. Es wäre nicht unrichtig, dieses das aus der Sprache der Ontologie ins Erkenntnistheoretische übersetzte principium identitatis indiscernibilium [Satz der Identität des Ununterscheidbaren - wp] zu nennen. Wie nun diese Überzeugung von der realen Identität des in getrennten Zeitpunkt Perzipierten psychologisch entstanden ist, dies ist für den Erkenntniskritiker vollkommen irrelevant (siehe oben!); für ihn handelt es sich allein darum, ob sie objektiv berechtigt ist, und speziell in unserem Fall noch darum, ob sie in einem strikten Sinn empirisch ist, d. h. die Sphäre des streng Beobachtbaren gar nicht transzendiert. Gewiß hat man nun mit der angeführten Überzeugung Recht; - Recht nämlich zumindest insofern, als ohne eine Befolgung der formulierten Denkmaxime die praktische Erfahrung des Alltags und die methodische Erfahrung der Wissenschaft unmöglich sein und die wohlgeordnete Welt des Tatsächlichen in ein sinnloses Chaos auseinanderfallen würde. Aber absolut gewiß oder gar ein wohlfundiertes Empeirem, ein der strikten Beobachtung entnommenes Faktum ist die präsumierte reale Identität durchaus nicht. Denn was mit einem Gegenstand in der Pause seines Nichtbeobachtetseins realiter geschehen sein mag, darüber vermag selbstverständlich die Beobachtung nichts auszusagen; dies ist eben, sofern jeder Zeuge darüber fehlt, empirisch nicht konstatierbar. Es könnte während der Pause der frühere Zustand total verschwunden, völlig annihiliert und mit einem zweiten, ihm allen beobachtbaren Merkmalen nach schlechthin ähnlichen Gegenstand vertauscht sein. Ja, wenn man im Geiste der strengen Wissenschaft mit penibler Genauigkeit urteilen will, so gilt bei den angezogenen Beispielen und allen Ihresgleichen der Satz von der realen Identität nur approximativ [ungefähr - wp], keineswegs mit voller Strenge. Das Sonnenbild, welches heute für mein Auge entspringt, ist mit dem gestrigen Sonnenbild realiter nicht identisch, sondern heute ein ganz neues, noch nie dagewesenes, heute durch andere Lichtstrahlen und andere Nervenerregungen erzeugt, als gestern; auch würde der Physiker von seinem Standpunkt aus bemerken müssen, daß die heute scheinende Sonne vermöge des an der Oberfläche und im Innern eines Weltkörpers sich rastlos vollziehenden Stromes physikalischer Veränderungen gar nicht mehr im Sinne unterschiedsloser Identität die gestrige Sonne ist. Und Analoges gilt für alle ist. Und Analoges gilt für alle ähnlichen Beispiele. Sämtliche phänomenal-empirischen Objekte sind, gerade nach der Auffassung der modern naturalistischen Weltansicht, recht eigentlich dem heraklitischen panta rhei alles fließt - wp] unterworfen; und wenn man sich exakt an das Begriffssystem dieser herrschenden Weltansicht halten will, so würde das Einzige im Ablauf der Zeit realiter mit sich identisch Bleibende etwas Unwahrnehmbares, Nichtempirisches sein - : die Atome. Indessen auch das wäre, aus einem höheren Gesichtspunkt beurteilt, ungenau und bedürfte noch der Korrektur. Denn die Atome, obwohl ihren äußeren Merkmalen nach durch chemische und physikalische Prozesse, in die sie verflochten sind, nicht alteriert [verändert - wp], wirken doch beim Wechsel ihrer Distanzen, Konstellationen, Gruppierungen nicht mit immer gleichbleibender, sondern mit veränderter Kraftintensität, erleiden also bei Gelegenheit ihres äußeren Ortswechsels innerliche Veränderungen und verharren also nicht in unterschiedsloser Identität. Und so würden denn in Wahrheit die Gesetze des Seins und Geschehens das Einzige sein, was konstant und beharrlich ist. Die konstanten Gesetze allein bilden
Genug! Zweierlei ist hiernach evident:
Zweitens: Das Prinzip ist jedoch bei der Herstellung der gewöhnlichen wie der wissenschaftlichen Empirie schon als gültig vorausgesetzt, eine objektiv angewendete, unentbehrliche Regel der Interpolation. der Existenz
Das Sein des Realen intermittiert nicht. Dies ist ein Satz, über dessen Wahrheit zwischen dem alltäglichen Denken und der strengen Wissenschaft völlige Übereinstimmung herrscht. Aber woher wissen wir das? Und inwiefern ist es wahr? Unsere Wahrnehmung eines objektiv Seienden ist, wie schon aus der Exposition des vorangehenden Prinzips sattsam einleuchtet, in zeitlicher Hinsicht durchaus untätig, diskontinuierlich und durchlöchert; dennoch nehmen wir eine kontinuierliche, zeitlich lückenlose Existenz des Realen an. Und wenn diese Präsumtion als für die gewöhnliche Erfahrung "wahr", d. h. als zum praktischen Lebenkönnen hinreichend genau und unentbehrlich, insofern auch als gerechtfertigt betrachtet werden darf, so involviert sie doch, wenn in der wissenschaftlichen Forschung als objektiv gültig anerkannt und angewandt, ein über das direkt Beobachtbare weit hinausgreifendes Theorem, eine zu rationaler Ergänzung der Beobachtungsfragmente dienliche Behauptung, die auf strenge Wahrheit und wissenschaftliche Anerkennung Anspruch erhebt, deren logische Dignität sich zum Bewußtsein zu bringen daher wissenschaftliche Pflicht ist. Wir haben eben durchgehend die Gewohnheit, dasjenige, was uns zur Herstellung einer geordneten Erfahrung unentbehrlich erscheint, als etwas Selbstverständliches zu betrachten. Ein verzeihlicher Irrtum! Aber ein Irrtum. Weder in der Erfahrungspraxis des Alltags, noch in der methodischen Empirie ist es möglich, ein Objekt in einem exakten Sinn kontinuierlich zu beobachten, es keinen Augenblick außer Acht zu lassen, ihm ohne jede Pause die konzentrierte Aufmerksamkeit zuzuwenden, und so die zeitliche Ununterbrochenheit seiner Existenz auf rein empirischem Weg zu konstatieren. Dennoch setzen wir letztere voraus, in der Wissenschaft wie im gewöhnlichen Leben. Sobald man die empirische Unerwiesenheit und Unerweisbarkeit dieser Annahme kontinuierlicher Existenz des Realen einsieht, trotzdem aber letztere festhält, so erkennt man sie entweder als eine Hypothese an, oder man erhebt sie zu einem metaphysischen Dogma. Wenn Irgendetwas wie ein flackerndes Licht, ein in Schwebungen begriffener Ton, oder der bald springende, bald pausierende Wasserstrahl des intermittierenden Brunnens für unsere Beobachtung alternierend da ist, dann wieder nicht da ist, um nach regelmäßigen oder unregelmäßigen Intervallen der Nichtexistenz von Neuem wiederzukehren, wenn es zwischen Sein und Nichtsein oszilliert, so entnimmt schon das alltägliche Denken hieraus die Relativität und Bedingtheit des betreffenden Etwas und reflektiert auf irgendwelche Gründe eines solchen Existenzwechsels; die strenge Wissenschaft aber erklärt mit größter Zuversicht diesen Wechsel für ein bloßes Phänomen, substituiert ihm ein der Existenz nach Kontinuierliches, ein im Ablauf der Zeit konstantes Reales und sucht das empirische Alternieren von Sein und Nichtsein, Erscheinen und Verschwinden dadurch begreiflich zu machen, daß sie es auf den gesetzlich verursachten Wechsel bloß der Verhältnisse zwischen solchen Grundfaktoren reduziert, deren kontinuierliche Existenz sie voraussetzt. Genug! Unser Kontininuitätsprinzip geht über die Sphäre wirklicher und möglicher Beobachtung weit hinaus, und ist also in einem erkenntnistheoretischen Sinn nicht empirisch. Welches das Erste wäre. Ein unserem schlechthin universell gedachten, über Dinge, Eigenschaften und Relationen gleichmäßig ausgedehnten Prinzip in einer Hinsicht logisch subordiniertes Theorem ist der bekannte Grundsatz von der Beharrlichkeit der Substanz, der, schon von den Eleaten und EMPEDOKLES in die Philosophie eingeführt, unter die am festesten eingebürgerten Inventarstücke der neueren, von GALILEI und DESCARTES inaugurierten Weltauffassung gehört. Das logische Verhältnis des Beharrlichkeitsgrundsatzes zu unserem allgemeineren Kontinuitätsprinzip ist, genauer betrachtet, dieses, daß ersterer das letztere bereits als gültig voraussetzt, aber noch ein spezifisches Merkmal hinzufügt: die quantitative Unveränderlichkeit, d. h. die Unvermehrbarkeit und Unverminderbarkeit des Realen. An der objektiven Geltung des Satzes von der Beharrlichkeit der Substanz zu zweifeln, kommt heute nur Sonderlingen in den Sinn; der Satz ist längst aus der Region des streng wissenschaftlichen Denkens in die allgemeine Meinung der Gebildeten übergegangen und steht hier als kaum erschütterbares Dogma fest. Fragt man nun aber nach seiner Dignität und seinem Gewißheitsmodus, so zeigt sich, daß er weder ein Axiom, noch ein Empeirem ist, weder eine notwendige Wahrheit a priori, noch eine tatsächlich erweisbare Wahrheit a posteriori. Notwendige Wahrheit a priori deshalb nicht, weil er keineswegs, wie die Prinzipien der Logik und der reinen Mathematik, durch die Undenkbarkeit des kontradiktorischen Gegenteils legitimiert werden kann. Denn bei einiger Berücksichtigung der Glaubensvorstellungen der Mythologie, der Vorstellungswelt des Kindes, des Naturmenschen, des Ungebildeten, zeigt sich ja evident, daß in all diesen Sphären der Begriff einer Entstehung aus Nichts und eines Verschwindens zu Nichts faktisch vorkommt und auf mancherlei Phänomene der Innen- und Außenwelt ganz unbedenklich angewandt wird. Ebensowenig ist der Satz ein Empeirem. Im strengsten Sinn des Wortes ist er dies schon deshalb nicht, weil er zugestandenermaßen das Feld des Beobachtbaren erklecklich transzendiert und sich das Unbeobachtete und Unbeobachtbare zu unterjochen strebt. Er ist aber auch nicht in einem gewöhnlichen, laxeren Sinn Empeirem. Denn daß der seitens der Experimentalchemie angeblich gelieferte Beweis seiner objektiven Allgemeingültigkeit unstichhaltig ist, habe ich anderwärts unwiderleglich nachgewiesen (6). In einem laxerem Sinn experimentell erhärtbar ist nur die Beharrlichkeit des Gewichts beim chemischen Verbindungs- und Zersetzungsprozeß. Aber das Gewicht ist nicht Substanz, sondern eine Eigenschaft. Sodann bleibt das Gewicht eines Körpers zwar in der chemischen Metamorphose unverändert; aber es ändert sich bei einer Annäherung des Körpers an das Gravitationszentrum und bei seiner Entfernung vom Gravitationszentrum; es ist eine veränderliche Größe, als Funktion der wechselnden Distanz vom Gravitationsmittelpunkt. Beharrlich kann höchstens das Gesetz der Gravitation genannt werden, nach welchem sich die Veränderlichkeit des Körpergewichts richtet. Dabei gebe ich jedoch ohne Weiteres zu, daß dieser weder empirisch, noch a priori feststehende Beharrlichkeitsgrundsatz insofern unter die unentbehrlichen Bestandteile des heute herrschenden wissenschaftlichen Begriffssystems gehört, als bei einer Festhaltung der übrigen Bestandteile dieses Systems eine rationale Deutung der Beobachtungsdata ohne ihn nicht möglich zu sein scheint. Wie steht es aber in dieser Hinsicht mit dem allgemeineren, ihm logisch übergeordneten Prinzip der Kontinuität der Existenz? Wenn man im übertriebenen Sinn eines radikalen Purismus der reinen Empirie bloß Dasjenige als objektiv Tatsächlich gelten lassen wollte, was wirklich beobachtet und beobachtbar ist, dann müßte wegen der räumlichen und zeitlichen Diskontinuität unserer Wahrnehmungen ein dem entsprechendes Intermittieren der Existenz des Realen selbst angenommen werden; dann wären wir nicht berechtigt, die durchlöcherte Reihe unserer vereinzelten Wahrnehmungsfragmente zu interpolieren durch die Annahme, daß das wahrgenommene Reale auch während der Zeit seines Nichtwahrgenommenwerdens weiterexistiert. Die Folge hiervor wäre aber offenbar die, daß jede feste und eindeutige Beziehung unserer Wahrnehmungsinhalte auf Objektives zur Unmöglichkeit würde und Dasjenige, was man "Erfahrung" zu nennen pflegt, in Staub auseinanderfiele. Diese Konsequenz ist unabweisbar. Insofern ist meine Kontinuitätsannahme eine unentbehrliche Voraussetzung der Empirie; insofern ist sie legitim. Welches das Zweite wäre. durchgängigen Gesetzlichkeit des Geschehens.
Daß dieses Prinzip eine für alle wissenschaftliche Empirie feststehende Maxime ist, unterliegt ebensowenig einem Zweifel, als daß von ihm die Sphäre des Beobachtbaren um ein Enormes überschritten wird. Bei der Erörterung des Prinzips ist ein scharfer Unterschied zu machen zwischen einem populären und dem streng wissenschaftlichen Gedanken der Kausalität. Jener ist viel vager, dieser viel bestimmter. Der populäre Kausalitätsgedanke besagt und fordert weiter nichts, als daß jeder tatsächliche Vorgang in der Welt die Wirkung irgendeiner Ursache ist und daß er unterblieben sein würde, falls diese Ursache gefehlt hätte. Das wissenschaftliche Kausalitätsprinzip geht viel weiter, behauptet viel mehr, fordert viel rigoroser, daß mit absoluter Regelmäßigkeit in jedem Punkt des Raumes und der Zeit aus gleichen Ursachen die gleiche Wirkung entspringt. Nun muß zugestanden werden, daß - höchstens mit Ausnahme der abstrakten reinen Mechanik, - eine strenge, allgemein anerkannte Realdefinition dessen, was denn eigentlich in rerum natura als Ursache, und was als Wirkung zu betrachten ist, bis auf den heutigen Tag noch unter die Desiderien [Wunschvorstellungen - wp] gehört. Aber für unseren gegenwärtigen Zweck ist die Lösung dieser Aufgabe nicht unbedingt notwendig. Ein Desiderium anderer Art wäre eine erschöpfende kulturhistorische Untersuchung über die mancherlei Wandlungen und Transformationen, die der Kausalitätsgedanke in der Entwicklung des Bewußtseins der Menschheit erlebt hat. Ebenfalls ein dankbares Thema! Aber für uns hier ebenfalls ein Parergon [Nebensächlichkeit - wp]. Bei eingehender Behandlung des letzteren Themas würde sich im Einzelnen Dasjenige bestätigen, was im Großen und Ganzen schon bekannt ist; daß nämlich in der anthropomorphen Vorstellungswelt nicht allein barbarischer Naturvölker, sondern selbst noch so hochzivilisierter Nationen, wie der Griechen und Römer, jenes unserem wissenschaftlichen Kausalitätsprinzip charakteristische Merkmal der Konstanz und Unveränderlichkeit der Gesetze des Geschehens bloß partiell vorhanden war, bloß für solche durch eine augenscheinliche Regelmäßigkeit ausgezeichnete Gebiete, wie die astronomischen Bewegungen der Weltkörper; daß die Überzeugung, alles Geschehen überhaupt, das gesamte Getriebe des Universums sei unverbrüchlichen Gesetzen unterworfen, sich sehr allmählich hervorentwickelt und erst seit ein paar Jahrhunderten bei der Majorität der Gelehrten definitiv festgesetzt hat. Fassen wir hier allein die strenge, die wissenschaftliche Form des Prinzips ins Auge, so repräsentiert dasselbe, wie zunächst einleuchtet, eine durchaus unentbehrliche Interpolationsmaxime unserer Erfahrungswissenschaft. Die fingierte Annahme des Gegenteils beweist das. Denn gesetzt, ein empirisch beobachteter, experimentell konstatierter Kausalnexus fände zwar in allen wirklich beobachteten Einzelfällen statt, in allen nicht faktisch beobachteten aber, d. h. in der ungeheuren Mehrzahl aller Fälle bliebe er aus, oder an seine Stelle träte hinter unserem Rücken ein völlig regelloser Zufall, so wäre unsere Wissenschaft null und nichtig. Gesetzt z. B. eine Magnetnadel, die frei aufgehängt wird, dreht sich zwar, so oft dies vor den Augen eines Menschen geschieht, unter einem bestimmten Inklinations- und Deklinationswinkel gegen den Pol, hingegen jeder faktisch unbeobachtete Moment würde von ihr heimtückisch dazu benutzt, bei genau denselben objektiven Bedingungen bald rechts, bald links, bald nach oben, bald nach unten auszuschlagen, jetzt in rapide schnelle, jetzt wieder in verschwindend langsame Schwingungen zu geraten, dann wäre unsere empirische Wissenschaft vom Magnetismus eine völlig bodenlose Jllusion. Die Erfahrungswissenschaft setzt mit Bestimmtheit voraus, daß, gleichviel ob beobachtet oder nicht, unter identischen Bedingungen A stets und überall derselbe Effekt B erfolgt: sie interpoliert dieser Regel gemäß die ganz diskrete, fragmentarische Reihe faktischer Beobachtungen durch die Ausfüllung der Beobachtungslücken mit dem Vorstellungsbild des uns bekannten Effekts. Und angenommen, sie wollte dies nicht tun, - was dann? Die Antwort liegt auf der Hand. Wenn wir die Anwendung dieser Interpolationsregel verpönen, wenn wir verlangen wollten, daß die empirische Wissenschaft einzig und allein dasjenige für wahr ausgeben darf, was in der Tat empirische konstatiert ist, - welche Zerstörung müßten wir da in unseren Bibliotheken anrichten! Ganze Bändereihen, ja Repositoriensäle voll solidester Experimentalwissenschaft müßten dann ins Feuer! In ebendasselbe Feuer, welchem vor ungefähr hundertvierzig Jahren der scharfsinnige Philosoph DAVID HUME nur die Werke über Theologie und Metaphysik anzuvertrauen die Weisheit besessen hat. (7) Ich meinerseits bin toleranter und vorsichtiger. Ich lasse der Wissenschaft die unbewiesenen Voraussetzungen, ohne die sie ihre Lebensfähigkeit total einbüßen würde. Man muß aber noch weiter gehen; man muß bekennen: Nicht nur Erfahrungswissenschaft, sondern überhaupt alles, was zum Unterschied vom rein individuellen, singulären, unwiederbringlichen und unkontrollierbaren Erlebnis den Namen Erfahrung verdient, beruth auf derselben Maxime und wäre ohne ein deutlicheres oder dunkleres Bewußtsein des strengen Kausalprinzips unmöglich. Und wenn hierauf etwa mit dem Hinweis auf Griechen und Römer, Kinder, Ungebildete und Barbaren repliziert [wiederholt - wp], wenn das Argument ins Feld geführt würde, daß es doch heutzutage aufrichtig wundergläubige Orthodoxe gibt, und daß doch diese Leute ohne Zweifen "Erfahrungen machen" und "Erfahrung besitzen", ohne die strenge Allgemeingültigkeit des wissenschaftlichen Kausalitätsprinzips zuzugestehen, so lautet meine Antwort folgendermaßen: Es liegt ein unentrinnbares Dilemma vor. Entweder jemand ist ein aufrichtiger und ganz echter Wundergläubiger; ein Standpunkt, dessen Berechtigung oder Haltbarkeit hier gar nicht diskutiert zu werden braucht. Nun wohl! Dann leugnet er für die seiner Meinung nach dem Wunder ausgesetzten Gebiete oder Einzelfälle in Natur und Geschichte die Gültigkeit des Kausalgesetzes, d. h. dann gibt er zu, daß in solchen Fällen zwar individuelle Erlebnisse, aber gar keine Erfahrungssätze möglich sind. Denn ein wirkliches Wunder begründet nicht, sondern widerlegt vielmehr die Erfahrung; es straft sie Lügen. Oder jemand ist im Herzen weit entfernt, die reale Möglichkeit und geschichtliche Wahrheit irgendwelcher Wunder, d. h. Durchbrechungen der allgemeinen Naturgesetzlichkeit zuzugeben, er erklärt alle Wundererzählungen für falsch, für Jllusion, Mythos, Erfindung und dgl. mehr; und trotzdem spricht er öffentlich Zweifel an der Gewißheit des allgemeinen Kausalprinzips aus. Nun wohl! Dann ist sein Zweifel ein gemeines Sophisma, eine heuchlerische Schikane, eine bare Unehrlichkeit. Er spricht anders, als er denkt. Er verleugnet mit den Lippen dasselbe, woran er im Herzen glaubt. Als nicht Wundergläubiger glaubt er eo ipso [schlechthin - wp] an die objektive Allgemeingültigkeit desselben erfahrungsstiftenden Prinzips, dessen objektive Allgemeingültigkeit er mit dem Mund anzuzweifeln wagt. Denn "nich Wundergläubiger sein" und "an eine ganz strenge, ausnahmslose Gesetzlichkeit allen Geschehens glauben, d. h. an der unbedingten objektiven Allgemeingültigkeit des Kausalitätsprinzips schlechterdings nicht zweifeln, - dies beides sind einfach Wechselbegriffe oder Synonyme. - Genug hiervon! - Im Übrigen bedarf es nicht vieler Worte, daß unser Kausalitätsprinzip, gleich den vorher besprochenen Interpolationsregeln, auf sämtlichen Gebieten menschlichen Denkens, Forschens und Erkennens überhaupt, also in den Wissenschaften der moralischen Welt ebensogut wie in denen der physischen Welt, genau dieselbe Rolle einer unentbehrlichen, zur Herstellung des objektiven Tatbestandes selber notwendigen Ergänzungs- und Einschaltungsmaxime spielen muß. Ob es sich nun um die Bewegung von Gestirnen und Atomen oder um die der Marktpreise und Papierkurse handelt, ob die Reihe der geologischen Revolutionen und Metamorphosen unseres Erdballs oder die hinter den Märchen des LIVIUS versteckte Urgeschichte Roms rekonstruiert werden soll, ob menschliche Charaktere, Entschlüsse und Handlungen oder Meeresströmungen und meteorologische Prozesse in Frage stehen, überall beruth rationale Wissenschaft zum Unterschied vom kindlichen Aberglauben auf der Fundamentalvoraussetzung, daß in den unserer Beobachtung unzugänglichen Partien des realen Geschehens ein strenger Kausalnexus herrscht, welcher dem in unseren Erfahrungsfragmenten sporadisch konstatierten Kausalnexus aufs Genaueste entspricht. Das schwere Problem aber, wie mit dieser wissenschaftlichen Grundüberzeugung die sittliche Freiheit des Willens und die logische Freiheit des Denkens zu vereinigen ist, ist transzendent und darf, nach welcher Seite hin auch immer die Lösung des Problems gesucht werden mag, in unsere erkenntnistheoretische Untersuchung schlechterdings nicht eingemengt werden. Hier wäre es ein fremdartiger, störender Eindringling und würde nur Verwirrung stiften. Es gehört an einen ganz anderen Ort. Was den zweiten Punkt der Erläuterung anbelangt, so darf ich kurz sein: Das Prinzip der Kausalität ist nicht empirisch, sondern theoretisch; nicht in der Erfahrung gegeben, sondern zum Zweck der Erfahrung vom Verstand supponiert [unterstellt - wp]; einfach deshalb, weil es sich über die erdrückende Menge sämtlicher nichtbeobachteter Fälle erstreckt. Ein Einwand hiergegen, wenn auch ein kurzsichtiger, wäre denkbar. Man könnte etwa hinweisen, auf gewisse berühhmte Entdeckungen der neueren Astronomie, welche so verlaufen sind, daß zuerst aus sichtbaren Perturbationen [Störung in der Bewegung eines Sterns - wp] sichtbarer Gestirne der Gravitationstheorie gemäß die Existenz dunkler oder noch nicht gesehener Weltkörper erschlossen wurde, nachher aber diese noch unbekannten Weltkörper an der durch Rechnung ausfindig gemachten Stelle des Himmels wirklich gesehen worden sind; es genügt die Nennung der Namen LEVERRIER, GALLE, Neptun und unsichtbar gewesener Begleiter des Sirius. Man könnte, auf solche wissenschaftlichen Triumphe sich berufend, die Meinung aussprechen: Hier ist doch die objektive Gültigkeit des Kausalprinzips, d. h. seine Geltung auch in den unbeobachteten Fällen, empirisch bewährt; das Prinzip ist ein durch ähnliche Vorkommnisse in verschiedenen Provinzen der Wissenschaft hinreichend gestütztes indirektes Empeirem. Allein, überlegen wir doch! Was diese namhaften Triumpfe der Wissenschaft strikt beweisen können, ist ja nur dies, daß der Naturlauf, sobald er von Menschen beobachtet wird, augenblicklich ins Gleis der allgemeinen Gesetzlichkeit einlenkt, aber keineswegs, daß er auch, wenn der Mensch ihm den Rücken zukehrt, sich in demselben Gleis weiterbewegt. Wenn jeder sachkundige Gelehrte, wir können fast sagen jeder ernsthaft denkende Mensch, insbesondere jeder empirische Forscher das Letztere mit Bestimmtheit annimmt, wenn er die höchst fragmentarisch bekannte subjektive Regelmäßigkeit gewisser Wahrnehmungsukzessionen auf eine vom subjektiven Bewußtsein unabhängige, mit objektiver Regelmäßigkeit ununterbrochen fortwirkende Natur zurückführt, so urteilt er nach dem nicht empirischen, aber für alle Empirie unentbehrlichen Prinzip der Kausalität. Nur noch ein Wort! Mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung wäre in dieser Angelegenheit natürlich nichts getan. Ich meine, man kann nicht etwa aus dem Umstand, daß in sehr vielen oder in sämtlichen uns bekannten Fällen aus gleichen Ursachen derselbe Effekt hervorgegangen ist, die Wahrscheinlichkeit dafür berechnen wollen, daß dasselbe auch in den nichtbeobachteten Fällen stattfindet. Dieses Unternehmen wäre absurd. Denn die Berechnungen des calculus probabilium [Wahrscheinlichkeitsrechnung - wp] sind eben schon auf die Annahme einer konstanten Gesetzlicheit des Geschehens basiert und würden, falls etwa diese Annahme objektiv falsch wäre, zu einer ohnmächtigen, bedeutungslosen Zahlenspielerei. Wer ausgerechnet hat, daß beim Ziehen aus einer verdeckten Urne, welche w weiße und s schwarze Kugeln enthält, die Wahrscheinlichkeit im einzelnen Fall weiß zu ziehen die Anzahl der weißen Kugeln geteilt durch die Anzahl der weißen plus der schwarzen entspricht, der setzt eben schon voraus, daß nicht etwa durch ein Zauberkunststück oder ein Wunder die Anzahl der Kugeln unter der Hand vermehrt oder verringert wird; d. h. er setzt die objektive Gültigkeit des Kausalitätsprinzips voraus. Folglich kann die Wahrscheinlichkeit dafür, daß eben dieses Prinzip objektiv gültig ist, in keiner Weise berechnet werden. Wie nun das erste unserer Prinzipien unmittelbar auf ein zweites zurückweist, so weist der Satz der Kausalität auf ein viertes zurück. ![]() ![]()
1) Herrn Stuart Mills oft erwähnte und weit überschätzte vier Methoden der Induktion sind in der Tat nichts anderes als eine etwas weitschweifige Paraphrase der Instanzenlehre Bacons. Dabei haben sich zwei Grundmängel Bacons ganz unverändert auf Herrn Mill vererbt. Erstens die Vernachlässigung des Wertes der quantitativen Bestimmungen; zweitens die Unklarheit über die aller empirischen Forschung zugrunde liegenden Prämissen. Hiervon weiter unten! 2) siehe Gedanken und Tatsachen, Heft 1, Seite 35-37. 3) Dieser error principalis Lockes tritt schon in der Einleitung seines "Essay concerning human understandig" scharf genug zutage und zieht sich dann durch das ganze in psychologischer Hinsicht so lehrreiche Werk hindurch. Er war vielleicht zu damaliger Zeit entschuldbar und ist für den Sachkenner aus Lockes polemischer Stellung zu Cartesius historisch sehr leicht erklärbar. Deshalb hört er aber nicht auf, ein Fehlgriff und starker Irrtum zu sein, wie oben im Text gezeigt wird. 4) Der Ausdruck Interpolation hat bekanntlich in der Philologie einen anderen Sinn als in der Mathematik. Dort bezeichnet er ein illegitimes Verfahren und ist mit Tadel behaftet, hier wird eine durchaus legitime Denkmethode so genannt. Ich gebrauche ihn natürlich im letzteren Sinn. 5) siehe "Gedanken und Tatsachen", Heft 1, Seite 64 und 106-107. 6) siehe "Gedanken und Tatsachen", Heft 1, Seite 63-64. 7) "Commit it then to the flames! For it can cantain nothing but sophistry and illusion". Siehe "David Humes Enquiry concerning human understanding", § 12 am Ende. |