Richard Schubert-SoldernGeorg AdlerFriedrich BitzerFranz Staudinger | ||||||
(1828-1875) Die Arbeiterfrage [2/4]
Erstes Kapitel Der Kampf ums Dasein [Fortsetzung] Die Volkswirtschafter führen die Regel, nach welcher die Lohnhöhe durch das Anwachsen der Bevölkerung stets auf das zum Unterhalt erforderliche Minimum herabgedrückt wird, auf RICARDO (1) zurück; das Bevölkerungsgesetz aber, welches sowohl der Lohnregel, als auch überhaupt dem Kampf um das Dasein zugrunde liegt, wird MALTHUS (2) zugeschrieben, obwohl diesem das Verdienst der Entdeckung desselben keineswegs zukommt. Auch hat MALTHUS seine große Berühmtheit wohl weniger dem richtigen theoretischen Teil der nach ihm benannten Lehre zuzuschreiben, als der verkehrten praktischen Anwendung, die er von derselben macht, indem er das Heil der Menschheit lediglich in der Erschwerung der Ehen und künstlicher Hemmung der Volksvermehrung erblickt: ein Weg, den viele bevormundungssüchtige Regierungen zum Nachteil Europas nur allzu bereitwillig betreten haben. Über die Lehren der beiden genannten Männer ist viel fruchtlos hin und her gestritten worden und der Einfluß des Parteistandpunktes auf diesen Streit bietet eine sehr merkwürdige Erscheinung dar. In früheren Zeiten nämlich waren die Kapitalisten in der Regel entschiedene Anhänger von RICARDO und MALTHUS. Es war ihnen eine willkommene Deckung, das Elend der Arbeiter als Folge eines unerbittlichen Naturgesetzes hinzustellen und sich damit der Verantwortlichkeit zu entlasten; allfälligen unbequemen Humanitätsbestrebungen aber mit der wohlfeilen Bemerkung entgegenzutreten: es sei doch alles vergeblich, so lange man nicht das Angebot der Arbeitskraft mindern, d. h. die Fortpflanzung der Arbeiterfamilien hemmen könne. In neuerer Zeit hat sich das Blatt gewandt und die Kapitalisten hören nicht mehr gern von diesem unerbittlichen Naturgesetz sprechen. Sie huldigen den abenteuerlichsten Theorien und klammern sich an den letzten Strohhalm, um nur nicht zugeben zu müssen, daß jene von der Industrie ins Dasein gerufenen Proletariermassen, die sich noch beständig vergrößern, zu ewigem Stllstand auf der untersten Stufe des menschlichen Daseins verurteilt seien, während sie selbst von jeder neuen Erfindung, jedem materiellen und intellektuellen Fortschritt die Früchte allein genießen und sich eines immer reicher ausgestatteten Daseins erfreuen. In dieser veränderten Stimmung spiegelt sich der moralische Fortschritt der Menschheit. Die wachsende Sympathie (3) mit dem Schicksal unserer Mitmenschen läßt jene Vorstellung - zunächst unbekümmert darum, ob sie in der Natur der Dinge begründet sei oder nicht - als eine abscheuliche und hassenswerte erscheinen und das hieraus entstehende Odium heftet sich ganz natürlich auch an die Personen an, welche aus einem so verabscheuungswürdigen Zustand der Dinge den ersten und größten Vorteil ziehen und deren Tätigkeit so eng mit demselben verknüpft ist. Das Gefühl eilt dem Verstand voran und nimmt Partei für die Arbeiter, während das Urteil noch in blinder Einseitigkeit den Standpunkt der Kapitalisten teilt, denen eine gefälschte Wissenschaft (4) nebst zahllosen Mitteln zur Verbreitung und Verteidigung ihrer Anschauungen auf den Wink zu Gebote steht. Nichts bringt die Gefahr einer großen und verwüstenden Explosion im Völkerleben näher, als wenn eine gedrückte und von allen höheren Genüssen der Kultur ausgeschlossene Volksklasse zum Bewußtsein ihrer Kraft und ihrer höheren Ansprüche erwacht, während die herrschenden Klassen ihr nicht mehr mit dem starren Trotz des natürlichen Übermutes entgegentreten, sondern mit einem raffinierten System feiger Quertreiberei, pfäffischer Dogmatik und bittersüßer Bevormundung. Was insbesondere die tendenziös zugestutzten Lehren angeblicher Wissenschaft betrifft, mit denen man die erwachenden Volksklassen beschwichtigen will, so gießen diese durchweg nur Öl ins Feuer, weil das schlichte Volksbewußtsein nun einmal nicht glauben kann und will, daß eine ernsthafte, gerechte und unparteiische Wissenschaft nicht zu Resultaten gelangen sollte, welche das Glück, nicht das Unglück der Massen verbürgen. Es ließe sich wohl nachweisen, daß ein nicht unwesentiches Element der revolutionären Zeitstimmung jetzt, wie auch in der Periode vor der französischen Revolution, in einem großen Vertrauen auf dasjenige liegt, was Wissenschaft und Staatskunst leisten könnten, wenn ihre Träger einmal aufrichtig wollten. Wie damals, so wird auch heute gewiß diese Leistungsfähigkeit in Beziehung auf eine rationelle Gestaltung des Staatslebens ganz bedeutend überschätzt. So Ungeheures auch die Wissenschaft auf technischem Gebiet in den letzten zwei Menschaltern mit immer steigender Rapidität der Entwicklung geleistet hat; so unzweifelhaft es auch ist, daß selbst für eine exakte Staatswissenschaft durch die neuesten Fortschritte der Statistik - der revolutionärsten aller Wissenschaften - der erste Grund gelegt ist; so ungemein viel fehlt doch noch daran, daß man mit völliger Sicherheit sagen könnte, wie die wesentlichsten bestehenden Einrichtungen auf das Wohl und Wehe der Völker wirken. Vollends unmöglich bleibt es für jetzt, neue Formen des Staates und der Gesellschaft zu erfinden, von denen man, wie von einer auf dem Papier konstruierten und berechneten Maschine, die Wirkungsweise im Voraus bestimmen könnte. Es ist trotzdem eine unleugbare Tatsache, daß, während die mittleren Schichten der Bevölkerung sich oft genug hochmütig und achselzuckend von den Theoretikern und Idealisten abwenden, gerade die um ihr Dasein ringenden Massen eher ihr Heil von den ernsten und kühnen Pionieren der Wissenschaft erwarten, als von jenen glatten und gewandten Weltleuten, welche sich mit unglaublich wenig Ballast auf den Höhen des äußeren Lebens zu erhalten wissen. Man glaubt an das Unmögliche. Man hält die bestehenden Staatsformen für ein Werk der Mißgunst, welche die Durchführung dessen, was sich zum Wohl des Volkes ins Werk setzen ließe, nicht will aufkommen lassen. Man übersieht, daß dabei allerdings viel böser Wille im Spiel ist, der früher oder später gebrochen werden muß; aber auch oft die berechtigte Vorsicht, welche uns von gewagten Experimenten zurückhält, so lange nicht die Not dazu treibt. Wenn nun die Wissenschaft die Zumutung entschieden ablehnen muß, für irgendeine Ordnung der Gesellschaft Gewähr zu leisten, so ist es andererseits doch äußerst wahrscheinlich, daß unter ihrer Beihilfe, wenn erst die Bahnen der trägen Überlieferung verlassen werden, glücklichere Formen gefunden werden, als die gegenwärtigen. Denn die vom Alter geheiligten Zustände sind großenteils nur deshalb so verehrungswürdig, weil sie eben vom Alter geheiligt sind und weil selbst eine mangelhafte, aber in den Gemütern fest begründete Ordnung der Dinge bis zu einem gewissen Grad zweckmäßiger ist, als eine höhere, jedoch schwankende und bestrittene Ordnung. Deshalb ist es auch nicht ratsam, Institutionen voll Lebenskraft gegen andere, anscheindend bessere, leichthin zu vertauschen. Treten aber die sicheren Zeichen der Weltwende ein und stürzt das Alte zusammen, so kann man immerhin mit erhöhtem Mut in die Zukunft sehen; denn wenn sich auch auf keine Theorie schwören läßt, wenn auch das Stückwerk der Erfahrung wieder bei jedem Neubau das Beste tun muß, so ist doch diese Erfahrung wieder bei jedem Neubau das Beste tun muß, so ist doch diese Erfahrung durch die Geschichte gereift, durch die Statistik aufgeklärt und durch die ganze Fülle der Wissenschaften mit einem trefflichen Werkzeug zur Lösung neuer Probleme ausgestattet. Wenn man sich nun die Frage vorlegt, warum trotz der immer drohenderen Gestalt, welche die Arbeiterfrage annimmt, trotz der reichen Hilfsmittel der Wissenschaft und dem entgegenkommenden Vertrauen des Volkes für jeden aufrichtig gemeinten Lösungsversuch dennoch bisher so wenig wirklich Ersprießliches und unmittelbar Förderndes auf diesem Feld geschehen ist, so dürfen wir die Gründe dafür keineswegs etwa nur im Widerstand der Kapitalmacht oder allgemeiner bezeichnet, überhaupt der herrschenden und bevorzugten Klassen suchen. Zwar reicht der Einfluß derselben sehr weit, da sie nicht nur die Macht der bestehenden Staatseinrichtungen und sogar die Lehren einer ursprünglichen von ganz anderem Geist beseelten Religion sich dienstbar zu machen, sondern, wie bereits bemerkt, selbst die Wissenschaft systematisch zu fälschen und mit dieser gefälschten Ware einen großen Teil der unparteiischen Mittelklassen zu betrügen wußten. Immerhin aber hätte die Macht der Wahrheit und Gerechtigkeit schneller, wo nicht zum Ziel, so doch zu großartigen und kühnen Versuchen führen müssen, wenn nicht auf Seiten derjenigen, die von gutem Geist beseelt sind und durch Neigung oder Kenntnisse in erster Linie zur Mitwirkung berufen scheinen, die Erkenntnis des richtigen Weges oder der entschlossene Wille ihn zu betreten doch mangelte. Es ist leicht zu bemerken, daß die große Masse derjenigen, die sich an der Lösung der sozialen Fragen versuchen, das Naturgesetz der Konkurrenz um das Leben nicht kennt oder nicht hinlänglich beachtet; daß dagegen die Männer der Wissenschaft es in mehr oder weniger deutlicher Form einstimmig anerkennen, ohne sich eben sehr dadurch zu eifriger Bekämpfung dieses Zustandes gestachelt zu fühlen. So herrscht hier eine Teilung der Arbeit von höchst unfruchtbarer Art: die Einen haben den Eifer, die andern die Einsicht. Von jenen werden manche treffliche Dinge angerecht, ja, oft Dinge, die in einem gewissen Sinne betrachtet, mehr Wert haben könnten, als die materielle Verbesserung. Man sucht die Sitten zu veredeln, den Branntweingenuß einzuschränken, den Volksunterricht zu heben, die Segnungen der Kirche oder auch die Segnungen der Aufklärung zu verbreiten und man übersieht dabei gewöhnlich, daß der Wettbewerb um das Dasein stets mit neuem Elend auch neue sittliche Übel erzeugen wird. Von diesen, den Theoretikern, wird in stetigem Streben ein immer vollständigeres Bild der sozialen Zustände entrollt; sie zeigen uns die Sterblichkeitsverhältnisse der Armen und der Reichen, der Landbewohner und der Arbeiter der Industrie. Sie verfolgen den Einfluß einer besseren oder schlechteren Pflege von der Wiege bis zum Grab durch alle Stadien des Lebens; sie zeigen uns durch Jahrhunderte hindurch den Einfluß der Getreidepreise auf die Sterblichkeit, sie berechnen die mittlere Lebensdauer für die verschiedensten Berufsklassen. Fast alle namhaften Nationalökonomen endlich entwickeln, wie die Lohnhöhe durch den Anwachs der Bevölkerungen beschränkt wird. Seit MALTHUS aber hat niemand mehr einen namhaften Versuch gemacht zu zeigen, wie sich die Menschheit den Verwüstungen des Wettbewerbs um das Dasein entziehen könnte. Die Männer der reinen Wissenschaft sind denn auch leicht imstande, ihre Zurückhaltung in dieser Beziehung zu verteidigen. Sie können sich schon auf die Teilung der Arbeit berufen, denn ohne Zweifel bedarf die Förderung der reinen Erkenntnis einer gewissen Gemütsruhe und Freiheit von störenden Gefühlen und Bestrebungen. Sodann aber ist auch der Fall so verzweifelter Natur; die Mittel, jener Vernichtung des hoffnungslosen Lebens zu entgehen, sind, wenn es deren überhaupt gibt, so ganz außerhalb der gewöhnlichen Wege zu suchen, daß Männer, welche ihrer ganzen Stellung nach auf den Ruf der Besonnenheit und der nüchternen Kritik Anspruch machen, sich nicht sehr geneigt fühlen können, mit ihren etwaigen Einfällen hervorzutreten. Nur wenige Schritte zu weit und man befindet sich auf dem verrufenen Feld der Utopie (5), dessen Berührung so leicht den wissenschaftlichen Kredit eines Mannes untergraben und auch seinen strengeren Arbeiten den gebührenden Einfluß schmälern kann. Wir dürfen jedoch nicht verschweigen, daß es noch einen ganz anderen Grund gibt, welcher gerade Männer von höherer wissenschaftlicher Bildung, die mit ihrem geistigen Dasein in der Überlieferung der Jahrhunderte wurzeln, leicht davon zurückschreckt, auf eine fundamentale Änderung der gesellschaftlichen Zustände bedacht zu sein. Es ist dies ein falscher Begriff vom Wesen des Staates in Verbindung mit der Furcht vor einer allgemeinen Revolution. - Seit den Zeiten des griechischen und römischen Altertums gefallen sich Philosophen und Politiker darin, den Staat als einen großen Menschen zu betrachten, zu dem sich die einzelnen Stände verhalten, wie verschiedene höhere oder niedere Seelenvermögen oder auch wie verschiedene Teile des Körpers. Am bekanntesten ist wohl diese Anschauungsweise geworden durch die plumpe und sophistische Fabel von der Verschwörung der Glieder des menschlichen Körpers gegen den Magen, durch welche MENENIUS AGRIPPA die auf den heiligen Berg ausgewanderten römischen Plebejer zur Umkehr soll bewogen haben. Weit wichtiger jedoch sind die Anschauungen der großen griechischen Philosophen PLATO und ARISTOTELES, von denen einer unserer gelehrtesten Kenner der geschichtlichen Entwicklung der Staatswissenschaften (6) den Ausspruch tut, sie hätten nicht nur für die alte Welt, sondern auch fort und fort für Neuere als Leitstern gedient. Bei PLATO ist der Staat gewissermaßen der Mensch im Großen. Die Hauptfunktionen der Seele, die Vernunft, das mutige und das begehrliche Element werden durch drei Stände vertreten: den der Herrscher, der Krieger und der Handarbeiter. Die letzteren sind von vornherein von allen höheren Funktionen ausgeschlossen; unter den beiden höheren Ständen dagegen soll zur Erhaltung ihres Ranges, zur Vermeidung von Spaltungen unter ihnen und zur Förderung einer idealen Tugend eine vollkommene Gemeinschaft der Güter, der Frauen, der Kinder stattfinden. In einem minder idealen Staatsgebilde läßt er zwar das Privateigentum zu, stellt aber eine Reihe von Schranken auf, durch welche das Entstehen übermäßigen Reichtums gehindert werden soll. Während nun aber dieser platonische Kommunismus meist als eine bloße Spezialität PLATOs beiseite gestellt und erst von den Neueren in utopischen Staatsbildern wieder aufgegriffen wurde, hat sich die Idee einer strengen Gliederung der Stände in der Einheit des Staatsorganismus durch ARISTOTELES, den einflußreichsten aller Philosophen bis auf die Gegenwart herab, nur noch mehr befestigt und ausgebildet. Bei ihm geht ohnehin durch die gesamte Philosophie in ihrer Anwendung auf Natur und Menschenleben der oberste Grundsatz, daß das Ganze früher und wichtiger ist, als der Teil; eine Anschauung, welcher schon im Altertum der Atomismus (7) schroff gegenüberstand und welche auf das Staatsleben angewandt, einen direkten Gegensatz bildet gegen die moderne Hochschätzung des Individuums. Der Mensch kann nach ARISTOTELES seinen höheren Lebenszweck nur als dienendes Glied eines Ganzen erreichen. Er ist von Natur für den Staat bestimmt, der als ein gegliedertes Ganzes die Bürger nicht einander gleichstellt, sondern sie einer bestimmten höheren oder niederen Funktion unabänderlich zuweist und insbesondere ohne Sklaven, deren Tugend einzig im Gehorsam besteht, nicht existieren kann. Aber nicht nur äußerlich soll diese Bestimmung zum Herrschen oder Dienen gegeben sein; sie soll vielmehr schon von Natur aus in den Individuen liegen, so daß die Sklaven sich auch beim Dienen, Gehorchen und bloß mechanischer Tätigkeit am wohlsten fühlen, wie die herrschende Klasse und in dieser wieder vor allen Dingen die Fürsten und Aristokraten, im Herrschen ihren natürlichen Beruf finden. Sehen wir ab von der Vorliebe des ARISTOTELES für die monarchischen Einrichtungen (der Einluß des mazedonischen Hofes!), so stand seine Lehre im besten Einklang mit dem Zustand der antiken Kultur und der Weltanschauung der Hellenen. War doch jene in mancher Beziehung beispiellose und noch heute mustergültige Bildung der bevorzugten Klassen unter den Hellenen, ihre Gymnastik und Musik, ihre politische Tätigkeit, ihre Wissenschaft und ihre unerreicht dastehenden Schöpfungen der Kunst nicht denkbar ohne den dunklen Hintergrund der Sklaverei. Die Alleinberechtigung des Bürgers, die Rechtlosigkeit des Fremden, die Herrschaft der Hellenen über die Barbaren, die Unterordnung nicht nur der Sklaven, sondern der arbeitenden Klasse schlechthin - das waren alles den Griechen selbstverständliche Dinge, während unser heutiges Bewußtsein weit darüber hinaus ist und auch die glänzendste Kultur verschmähen würde, wenn sie sich nicht auf gesunden Grundlagen erheben kann. Der Einfluß jener Nachtseite der antiken Kultur hat sich aber als ebenso zäh erwiesen, als ihre Lichtseite fruchtbar auf die Kultur der Neuzeit zurückgewirkt hat. Der harte, starre Sinn der Römer hat jene Vorurteile der Griechen nur einigermaßen umgeformt, nicht gemildert. Nun entstanden aber unsere neueren Staatswissenschaften teils unter dem nachwirkenden Einfluß des Altertums, teils unter dem Einfluß der modernen Fürstengewalt. Vom Standpunkt der letzteren aus löst sich die Frage noch einfacher. Für den absoluten Monarchen ist die Statistik gleichsam nur ein Maßstab für seine *Macht, seinen Reichtum, seine Größe, auf die es vor allen Dingen ankommt. Daß solche Anschauungen auch auf den Männern der Wissenschaft lasten, ist aus der Teilung der Arbeit auf geistigem Gebiet leicht zur erklären. Bei der Seltenheit einer freien, die Resultate aller Wissenschaften in einem Brennpunkt sammelnden Philosophie sind auch unsere gelehrtesten und erfolgreichsten Forscher bis zu einem gewissen Grade Kinder des allgemeinen Vorurteils, indem sie zwar in ihrem engeren Kreise sehr scharf sehen, außerhalb desselben aber nichts. Rechnet man dazu das Unglück einer vom Staat bezahlten und gewerbsmäßig betriebenen "Philosophie", welche stets bereit ist, das Bestehende für das Vernünftige zu erklären, so wird man genug Gründe der Zurückhaltung entdecken, wo einmal die wissenschaftlichen Fragen selbst so ganz unmittelbar auf die Elemente zukünftiger Weltrevolutionen hinführen, wie dies im Gesetz der Konkurrenz um das Dasein der Fall ist. Man hält sich daher meist ruhig daran, daß die wachsende Bevölkerung auch die Macht des Staates vermehrt, daß sich auf der Basis der Industrie mit ihrem ganzen Jammer eine blühende Kultur erhebt und daß endlich sogar die Not, indem sie z. B. zur Auswanderung treibt, die Keime der Kultur in immer neue Weltgegenden verpflanzt. Ganz als ob noch heute die Masse, gleich den Sklaven des Altertums, nur dazu da wäre, die Folio zu bilden für die Entfaltung der Blüten des höheren Lebensgenusses; wie bei einem Baum, der eben auch ein Ganzes bildet, nur der Wipfel dazu da ist, Blüten und Früchte zu treiben, während der Stamm die Last zu tragen und die Wurzeln aus dem Dunkel der Erde - gleichsam als die arbeitenden Klassen dieses Staates - die Nahrung zu saugen haben. Man freut sich über die steigende Macht des Staates, als ob keine Individuen da wären, die unter dem immer steigenden Druck der Konkurrenz um das Dasein zu leiden hätten, als ob es eben nur darauf ankäme, die Herden eines glücklichen Besitzers zu vermehren. Der Gedanke vollends, daß ein Staat sich einmal auflösen, daß dieses "höhere Ganze" untergehen könnte, wird mit der Vorstellung des völligen Ruins, des einfachen Unterganges verknüpft. Daß sich sämtliche Individuen oft nach einem solchen Untergang weit munterer befinden, als früher, kommt gar nicht in Betracht; das "Ganze" ist ja die Hauptsache, die "Macht" ist die erste und wichtigste Eigenschaft dieses Ganzen und der "Staatswillen" muß ja unbedingt durchgeführt werden! Auf diese Weise kommt man dazu, die ganze Geschichte zu vergessen; zu übersehen, daß unsere Staaten wenigstens darin den lebenden Wesen gleichen, daß sie sterben müssen und daß von Zeit zu Zeit neues Leben aus den Ruinen emporkeimen muß, wenn sich das Leben überhaupt erhalten soll. Hand in Hand mit der Überschätzung des Staates gegenüber dem Einzelnen und mit der Idee eines Organismus von herrschenden und dienenden Gliedern geht der Widerwille gegen die Revolution, daher es wohl nicht zufällig ist, daß wir denselben gerade bei einem unserer deutschen Aristoteliker (8), der doch sonst als vielseitig gebildeter Philosoph einen weiteren Blick haben sollte, so kraß ausgesprochen finden, als nur bei irgendeinem blinden Fanatiker des Legitimismus:
"In der Revolution, welche ungehemmt ihrem Zug folgt, kommt das Unheil des entfesselten natürlichen Menschen zutage. Die allgemeine Vernunft wird von leidenschaftlich erregten Kräften überholt und die Leidenschaft, welche nur auf sich hört, hält sich für Vernunft und verzehrt das sittliche Maß, welches sie nur nach sich bestimmt. Die sittlichen Empfindungen, welche an das Alte banden, werden durch Spott zersetzt. Gehorsam heißt nurn Knechtsinn, Mäßigung Feigheit, dagegen Frechheit Freimut, selbst Frevel an der menschlichen und göttlichen Ordnung Heldentum. Nur durch einen solchen Schein, nur durch solche sittliche Spiegelbilder der sophistischen Leidenschaft vermag sich das Unrecht vor sich selbst und vor andern zu halten". Die Frage, ob denn unsere gegenwärtige Kultur, in welcher jedenfalls geschmackloser Luxus, gespreizte Scheinbildung und egoistische Blasiertheit eine hervorragende Rolle spielen, die Sympathie edler Männer wirklich in so hohem Grad verdiene, wollen wir hier ebenso wenig erörtern, als die entsprechende, ob nicht alle Aussicht vorhanden wäre, binnen kurzem die Keime einer einfacheren, aber gesünderen und harmonischeren Bildung aus unseren jetzt durch den Druck des Lebens niedergehaltenen Volksschichten hervorgehen zu sehen. Wer den Menschen wirklich im vollen Sinn des Wotes als Menschen anerkennt, darf auch ohne eine solche Hoffnung nicht zweifelhaft darüber sein, auf welcher Seite er steht, wenn das Bewußtsein einer höheren Bestimmung in den Massen zum Durchbruch kommt. Es gilt für ihn nur, den Übergang in den neuen Zustand zu erleichtern, die Kämpfe zu mildern und von den ewigen Gütern der Menschheit hinüber zu retten, was er vermag. Einen bewußten Widerstand gegen eine solche Bewegung, sobald sie mit unverkennbarer Allgemeinheit und Tiefe hervortritt, würde nach unserer Ansicht der volle Fluch treffen müssen, den der kurzsichtige Doktrinär der Revolution als solcher entgegenschleudert.
1) DAVID RICARDO, dessen nationalökonomisches Hauptwerk: "Grundsätze der politischen Ökonomie und des Steuerwesens" im Jahre 1817 in London erschien, hat allerdings hinsichtlich des Arbeitslohnes eine neue und originelle Lehre aufgestellt, allein gerade der Satz von der natürlichen Lohnhöhe, den man jetzt am meisten mit seinem Namen in Verbindung bringt, ist ihm nicht eigentümlich, sondern findet sich, als unmittelbare Folgerung aus dem Kampf ums Dasein, schon beim MALTHUS und andern. Was man unter der "Ricardoschen Regel" gewöhnlich versteht, ist der Satz, daß sich der Arbeitslohn auf die Dauer nicht über das Minimum der Lebensbedürfnisse des Arbeiters erheben könne, weil jede vorübergehende Erhebung alsbald durch stärkere Zunahme der Bevölkerung und im Gefolge derselben Herabdrückung des Arbeitslohnes ausgeglichen werde. RICARDOs wirkliche Lehre über den Arbeitslohn ist nun aber folgende: Jedes Ding hat einen natürlichen Preis und einen wirklichen Preis: so auch die Arbeit. Der "natürliche" Preis besteht in der Arbeitsmenge, die erfordert wird, um ein Gut hervorzubringen. Ist nund das Gut die Arbeit selbst, so ergibt sich daraus, daß der natürliche Preis der Arbeit in den Kosten besteht, die zur Hervorbringung eines Arbeiters nötig sind, d. h. in derjenigen Summe, die genau zur Bestreitung des Lebensunterhaltes für ihn und seine Familie ausreicht. Der "wirkliche" PReis eines jeden Dinges oder der Marktpreis, hängt ab von Angebot und Nachfrage, kann sich aber in der Regel nur wenig und nur für kurze Zeit bedeutend vom "natürlichen" Preis entfernen. Was die Arbeit betrifft, so wird eben ein Steigen der Nachfrage nach Arbeit zwar den Lohn vorübergehend erhöhen, aber zugleich auch die vermehrte Zufuhr von Arbeitskräften bewirken; bei verminderter Nachfrage wird durch das Elend der Arbeiter und die daraus folgende Verminderung ihrer Zahl wieder eine Steigerung hergestellt. Bis dahin finden wir bei RICARDO nur eine schärfere und abstraktere Fassung jener unmittelbaren Folgerung aus dem Kampf ums Dasein; er lehrt nun aber weiterhin auch, daß der Arbeitslohn mit dem Gewinn des Kapitalisten in umgekehrtem Verhältnis stehe: je höher der Lohn, desto niedriger der Profit und umgekehrt. Diese letztere, RICARDO eigentümliche Lehre ist von den neueren Nationalökonomen, namentlich von der BASTIATschen Schule, unbedingt verworfen worden. Diese Schule sucht nämlich den Kapitalgewinn - den sie als eine bloße Zusammensetzung aus Risikoprämie, Zins und Dirigentensalär betrachtet - ganz aus dem Spiel zu bringen und läßt den Arbeitslohn direkt vom Preis der fertigen Ware abhängen. Man wird aber auch in dieser Beziehung bei genauerer Untersuchung finden, daß RICARDO der Wahrheit näher kam, als sein Verbesserer, obwohl er allerdings, nach seiner abstrakten Manier, nur eine bestimmt abgegrenzte Seite der komplizierten Erscheinungen der Wirklichkeit ins Auge faßte. DAVID RICARDO, geboren in London 1772, stammte von einer Familie der in Holland angesiedelten portugiesischen Juden. Sein Vater war schon in jungen Jahren nach England gewandert und hatte sich als Kaufmann in beträchtliches Vermögen erworben. DAVID, der dritte Sohn desselben, geriet mit seinem Vater, angeblich wegen seiner Abneigung gegen den Handelsstand, in Zwiespalt. Er trat zum Christentum über, heiratete früh und hatte, auf sich selbst angewiesen, schon in jungen Jahren durch glückliche Spekulation ein so bedeutendes Vermögen erworben, daß er sich später ohne Sorgen ganz seinen wissenschaftlichen Neigungen hingeben konnte. Er widmete sich anfangs ganz der Mathematik und den Naturwissenschaften, eine Art der Vorbildung, welche ihm neben seinen kaufmännischen Kenntnissen sehr zu gute kam, als er sich seit 1799, durch die Lektüre von ADAM SMITHs Werk über den Nationalreichtum angeregt, ganz der Volkswirtschaft widmete. Durch seine Schriften zu großem Ansehen gekommen, gelangte er 1819 ins Parlament. Er starb 1828. 2) Über MALTHUS und seine Lehre existiert eine ausgedehnte Literatur und es dürfte wenige Theorien geben, welche auf die Gesetzgebung der neueren Staaten so tiefgreifend eingewirkt haben, als die MALTHUSsche Überbevölkerungstheorie. Vgl. MOHL, Geschichte der Literatur der Staatswissenschaften III, Seite 461 - 513, woselbst sowohl die wichtigsten Vertreter der vor MALTHUS herrschenden Ansicht von der Nützlichkeit einer beliebigen Steigerung der Bevölkerungszahl, als auch die Vorläufer der MALTHUSschen Lehre charakterisiert sind und wo die gesamte neuere Literatur über Bevölkerungspolitik nach ihrem Verhältnis zu MALTHUS und seiner Lehre gruppiert wird. Das Wesentliche dieser Lehre gibt MOHL mit folgenden Worten wieder:
Hier sei nur soviel bemerkt, daß wir vom ganzen Malthusianismus weiter nichts brauchen und anerkennen, als die einfache Wahrheit, daß auch der Mensch - obwohl in geringerem Grade als fast alle anderen Organismen - die Tendenz hat, sich stärker zu vermehren, als die auf einem gegebenen Boden zu gewinnenden Nahrungsmittel zulassen und daß er deshalb von jeher und noch heute dem Kampf ums Dasein unterworfen ist. Wir verwerfen dagegen die meisten von MALTHUS und seinen Anhängern gezogenen praktischen Folgerungen, insbesondere jeden Versuch, von Staats wegen durch Erschwerung der Ehen und andere Mittel die Zunahme der Bevölkerung zu hemmen. Ferner ist die Anschauung ganz ungenügend, daß die Vermehrung der Lebensmittel in einer arithmetischen Reihe erfolge. Diese Vermehrung ist überhaupt zur Vermehrung der Bevölkerung in kein einfaches Verhältnis zu bringen, da Umstände denkbar sind, unter welchen dem Boden kein Halm mehr abgewonnen werden kann, wenn man auch die Bevölkerung und damit die Arbeitskräfte verdoppelte; während unter anderen Umständen ein an allen Symptomen der Überbevölkerung leidendes Land von diesem Übel vorübergehend geheilt werden kann, wenn noch mehr Menschen zuströmen, weil dann endlich die Bevölkerung so dicht und der Ansporn zum Fortschritt so groß wird, daß eine bisher nicht durchführbare intensivere Art der Bodenbewirtschaftung rentabel und infolgedessen allgemein wird. Andererseits ist es freilich ein durchaus verwerflicher Optimismus, wenn man sich die Sache so vorstellt, als ständen neue Erfindungen, Kulturverbesserungen usw. dem Menschen stets in solcher Fülle zu Gebote, daß durch permanente Tätigkeit auf diesem Gebiete jedem möglichen Bevölkerungszuwachs genügt werden könnte. Tatsächlich steht in allen alten Kulturstaaten die Bevölkerung stets unter einem Druck auf Leben und Gesundheit der Einzelnen, dessen eigentliche Quelle der Kampf ums Dasein ist. Die große Masse der Bevölkerung hat nirgendwo soviel und so gute Nahrung, so viel Muße neben der Arbeit oder Abwechslung in der Arbeit, so viel Schutz vor den Unbilden der Witterung, so viel Luft und Licht in den Wohnungen und Werkstätten, als zur gesunden und kräftigen Entfaltung ihres physischen Daseins erforderlich wäre. Aus diesem Grund ist auch die "Ricardosche Regel" (vgl. die vorige Anmerkung) in eine richtigere Fassung zu bringen, wenn man nicht sowohl die Zahl der Geburten, als vielmehr die Sterblichkeit in Anschlag bringt und zwar nicht die Sterblichkeit im Allgemeinen, sondern diejenige unter den erwachsenen Arbeitern. Die Zahl der Geburten gibt - abgesehen, daß es lange dauern würde, bis die eben Geborenen auf dem Arbeitsmarkt mit den Erwachsenen konkurrieren - weder für das Anwachsen der Bevölkerung, noch für das Wohlsein derselben einen sicheren Maßstab, da in der Regel hohe Geburtenziffer, hohe Sterblichkeitsziffer und starke Familien mit großem Elend, Überanstrengung und schneller Abnutzung der Arbeitskraft der Erwachsenen Hand in Hand gehen (vgl. MARX, Das Kapital I, Seite 630). Die merkwürdige Erscheinung aber, daß man in Arbeiterdistrikten bisweilen in Zeiten einer Krisis, welche die Arbeiter brotlos macht, eine Abnahme der Sterblichkeit findet, statt der erwarteten Zunahme, mag wohl hauptsächlich darauf beruhen, daß in solchen Zeiten die Mütter zuhause sind und ihre Kleinen pflegen können, statt dem Glockenruf zur Fabrikarbeit folgen zu müssen. Hie und da mögen sich auch die Erwachsenen bei karger Unterstützungskost und gleichzeitiger Ruhe besser stellen, als sonst bei etwas besserer Nahrung und übermäßiger Arbeit. Hier tritt dann aber eben mit der öffentlichen Unterstützung ein neuer Faktor ein. Von diesem abgesehen dürfte es kaum ernsthaftem Zweifel unterliegen, daß mit sinkendem Lohn die Sterblichkeit steigt und umgekehrt. Zur Erläuterung dieser Verhältnisse lassen wir hier noch einen Abschnitt aus demjenigen Teil des 1. Kapitels folgen, welcher in der Umarbeitung weggelassen wurde (Seite 28 - 31):
3) Die Sympathie ist vom bekannten "Vater der modernen Volkswirtschaft", dem Schotten ADAM SMITH (geb. 1728, 1751 Professor der Logik und Moral in Glasgow, gab 1766 nach langjähriger Muße die berühmte Schrift über den Nationalreichtum heraus, gestorben 1790 als königlicher Kommissär für das schottische Zollwesen) zur Grundlage der Moral gemacht worden in seiner 1759 erschienen "Theorie der moralischen Gefühle". Ich habe bereits in meiner "Geschichte des Materialismus", Seite 510, sowie 523f, sowie in der Schrift "Mills Ansichten über die soziale Frage" usw. Seite 21f gezeigt, daß das Moralprinzip von SMITH zu einseitig in den Regungen von Schmerz und Lust gefunden wird, während das ganze Zusammenleben mit unseren Mitmenschen, auch ohne jene subjektiven Erregungen sympathischer Gefühle, die Tendenz hat, ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit mit denselben in uns zu wecken und den Egoismus durch das geistige Leben in der Gemeinschaft mit anderen (Familie, Stadt, Staat usw.) zu brechen. Auch findet man in der "Geschichte des Materialismus" Seite 511f den Versuch, gegenüber der Ansicht BUCKLEs, daß der Mensch nur im geregelten Verhalten infolge seiner Verstandesentwicklung fortschreite, nicht aber in der inneren Moralität, vielmehr den Beweis zu führen, daß der moralische Fortschritt des Menschen eine selbständige Basis hat und daß er ebensosehr dem intellektuellen Fortschritt als Stütze dient, wie dieser wiederum auf das dem Sittengesetz entsprechende Verhalten fördernd zurückwirkt. 4) Daß die Nationalökonomie im Interesse der Kapitalisten und zwecks Niederhaltung der Sozialreform systematisch gefälscht worden ist und noch fort und fort gefälscht wird, kann man leicht sehen, wenn man die Lehren, die sich als Ausflüsse der Wissenschaft in der Presse, in den Parlamenten und der populären Literatur breit machen, mit den reineren Grundlagen, wie wir sie in der britischen Volkswirtschaft von RICARDO bis auf MILL ausgeprägt finden, vergleicht. Dort tritt uns die Nationalökonomie des Industrialismus mit allen ihren für den Arbeiterstand so trostlosen Konsequenzn unverhüllt entgegen. Der eine beklagt diese Konsequenzen und verwünscht den Zustand der Dinge, aus welchem sie hervorgehen, der andere behandelt sie mit kalter Objektivität und wieder andere sind naiv genug, in der Erhabenheit ihres Bewußtseins, zu der bevorzugten Klasse zu gehören, in jenen Verhältnissen eine weise Einrichtung des gütigen Schöpfers zugunsten der "Gesellschaft", d. h. der bevorzugten Klassen, zu erblicken. KARL MARX hat eine ganze Reihe von Käuzen dieser letzteren Art ans Licht gezogen, wie z. B. den "Pfaffen Townsend" (Kaptial, Seite 634), welcher sich freut, daß durch den Überschuß von Menschen, die zu den servilsten, schmutzigsten und gemeinsten Funktionen des Gemeinwesens bereit sind, der Fonds von menschlichem Glück sehr vermehrt werde und der deshalb dem Armengesetz vorwirft, es strebe die "Harmonie und Schönheit, die Symmetrie und Ordnung dieses Systems, welches Gott und die Natur in der Welt errichtet haben, zu zerstören." Ein solcher Standpunkt zeugt zwar von stupidem Egoismus, aber er ist doch noch ehrenwerter, als der Versuch BASTIATs, durch ein Plagiat von CAREY jene Konsequenzen wegzueskamotieren und ein System der Interessenharmonie aus widersprechenden Elementen mittels einer bestechenden Rhetorik und einer unglaublichen Fertigkeit in logischen Seiltänzersprüngen zusammenzuschwindeln. Seit BASTIAT ist die Fälschung, bald als frommer Betrug zur Verhütung einer Sozialrevolution mit Bewußtsein geübt, bald durch kritikloses Schwimmen im Strom der Überlieferung fortgepflanzt und weitergebildet, so allgemein und mundgerecht gewordn, daß die Interessenharmonie (nicht jene TOWNSENDsche, mit der man sich heutzutage nicht mehr hervorwagen würde!) zu einer Art von Dogma geworden und als Ergebnis der "Wissenschaft" zitiert wird, obwohl kein einziger Versuch in der gesamten volkswirtschaftlichen Literatur namhaft gemacht werden kann, die Interessenharmonie in streng wissenschaftlicher Form zu erweisen. Man bewegt sich vielmehr im Kreis jener Volkswirtschaftler, welche die Tagespresse und die öffentliche Meinung beherrschen, in allen allgemein kommerziellen, industriellen und volkswirtschaftlichen Fragen ganz auf dem Boden der britischen Ökonomie und flickt ihr, sobald die Rede auf Arbeiterfragen kommt, Sätze ein, die mit jener Grundlage unvereinbar sind, wie z. B., daß mit steigendem Profit des Kapitalisten in gleichem oder gar stärkerem Verhältnis auch der Arbeitslohn von selbst und ohne Zutun des Arbeiters steigen müsse, daß die Lohnarbeiter unter keinen wesentlichanderen Bedingungen produzieren, als die Unternehmer, daß der Industrialismus eine immer größere Gleichheit zwischen Arbeiter und Arbeitgeber hervorbringe, daß die "Ricardosche Regel" durch CAREY (unter der Voraussetzung des Schutzzolls, den man verwirft!) widerlegt sei usw. - Der Umstand, daß alle diese Modifikationen des Systems, in welchem man steht, konsequent in einem und demselben Sinne erfolgen, nämlich mit der Tendenz, die Klagen der Arbeiterklasse zurückzuweisen und der schrankenlosen Entfaltung des Industrialismus alle sozialen und thischen Bedenken aus dem Weg zu räumen, beweist klar, daß sie im Dienst bestimmter Interessen in eine Wissenschaft hineingebracht sind, die sonst auf ganz entgegengesetzte Resultate führen müßte. Mit einem Wort, wie die ganze überlieferte "Weltgeschichte" (noch weit entfernt, ein gerechtes "Weltgericht" zu sein, was sie hoffentlich einmal werden wird!) im Sinne der Herrscher, der Fürsten und der siegreichen Parteien gefälscht ist, so ist die populäre und auf allen Gassen sich mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit breit machende Volkswirtschaft im Interesse der Kapitalisten und der bevorzugten Volksklassen gefälscht und selbst die Behandlung in strengerer wissenschaftlicher Form (der "Katheder-Sozialismus", wie die Gründer-Ökonomen sagen) hat sich vom Einfluß dieser Fälschungen nicht hinlänglich frei gehalten. - Daß wir es übrigens mit dieser Fälschung hier nur als mit einer objektiven Tatsache zu tun haben und weit entfernt sind, der großen Mehrzahl unserer Volkswirtschaftler etwas anderes vorzuwerfen, als kritikloses Schwimmen in den Vorurteilen der bevorzugten Klassen, bedarf wohl kaum der Erinnerung. 5) Die Utopie, d. h. im eigentlichen Sinne des Wortes, die Schilderung des Landes "Nirgendheim", gemeinhin einer fabelhalften Insel mit Bewohnern von eigentümlichen Sitten und Gebräuchen, war von jeher ein beliebtes Mittel, in harmloser und ansprechender Form absonderlichen Ideen über die Menschen und ihre Staaten, Religionen, Sitten und Gebräuche Ausdruck zu geben. Neben religiösen Dichtungen dieser Art (wie von der Insel der Glückseligen), rein märchenhaften (Schlaraffenland) oder satirischen (Gullivers Reisen) bilden diejenigen eine besondere Gattung, in welchen der Verfasser ein Ideal menschlicher Zustände, wie sie sein sollten und nach seiner Meinung vielleicht auch sein könnten, darzustellen sucht. Die Einkleidung ist dabei entweder so, daß die Absicht, das Ideal eines Staates zu suchen oder zu schildern, offen ausgesprochen wird (so in PLATOs Büchern über den Staat) oder daß das Ideal als irgendwo in einem fabelhaften Land verwirklicht dargestellt wird (so in der von THOMAS MORUS, dem Kanzler HEINRICHs VIII von England, im Jahre 1515 herausgegebenen "Utopia", von welcher der Begriff der Utopie seine Bezeichnung erhalten hat. Das Wort ist ausdem Griechischen gebildet und kann etwa mit "Nirgendheim" verdeutscht werden). Die letztere Darstellungsweise wurde namentlich deshalb häufig gewählt, weil der Schriftsteller in der märchenhaften Einkleidung des Ganzen nicht nur ein Mittel fand, seinen Ideen leichter Eingang zu verschaffen, sondern zugleich einen gewissen Schutz gegenüber intoleranter Verfolgungssucht. Von THOMAS MORUS bis auf die Gegenwart ist eine große Reihe solcher Utopien erschienen, die neben recht abgeschmackten Phantastereien auch manchen wertvollen Gedanken enthalten und abgesehen von Verwirklichungsversuchen, die schon als solche ein Mißverständnis dessen in sich schließen, was die Utopie sein kann und soll - einen nicht gering anzuschlagenden Einfluß auf den Ideenkreis der Zeitgenossen und der Nachwelt ausgeübt haben. Die Fortschritt in humaneren Staatseinrichtungen, Wertschätzung der öffentlichen Erziehung, Achtung vor der Arbeit und den Arbeitern, sowie zahlreiche wohltätig wirkende Einrichtungen (z. B. das ganze moderne Genossenschaftswesen) verdanken dem Utopismus einen mächtigen Impuls. Von den hierher gehörenden Schriften, so weit sie sich auf den Staat beziehen, handeln mit Verstand und Belesenheit der Engländer LEWIS und R. v. MOHL (Geschichte und Literatur der Staatswissenschaft I, Seite 167f); mit Unverstand H. FICK in HILDEBRANDs Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik 5. Jahrgang, Seite 225f. - Die letztere Arbeit kann man als eine im Manter der Wissenschaft auftretende (übrigens in literarischer Hinsicht nichts Wesentliches, was nicht schon bei MOHL zu lesen wäre, darbietende) Verkörperung des platten Vorurteils ansehen, welchem das "Belächeln" sozialistischer Reformvorschläge und "strammes Festhalten unserer heutigen Rechts- und Staatsordnung" als einziges Resultat der Beschäftigung mit diesem Stoff gilt. Wie dagegen denkende Männer von anerkannter Gediegenheit des Urteils sich zu den Utopisten stellen, mag das Beispiel STUART MILLs zeigen in seiner "Prüfung des Kommunismus", des "Saint-Simonismus und Fourierismus" (Grundsätze der politischen Ökonomie, Buch II, Kap. 1). - ROBERT von MOHL, dem bei seiner durch und durch konservativen Geistesrichtung ein freies und meist objektives Urteil über die Utopien hoch anzurechnen ist, hebt in seiner Abhandlung über "die Staatsromane" (a. a. O.) wiederhold das Wertvolle hervor, was sich neben Phantastischem und selbst Fratzenhaftem in den Utopien findet und schließt seine Abhandlung mit folgender Äußerung:
6) ROBERT von MOHL, Geschichte und Literatur der Staatswissenschaft I, Seite 221, woselbst auch die merkwürdige Äußerung vorkommt: PLATO bleibt immer das Muster einer idealen Auffassung; und es nötigt sogar eine merkwürdige, wenn schon krankhafte, Entwicklung unserer gesellschaftlichen Zustände eben jetzt wieder mit Gewalt zur ernstesten Überlegung seiner Grundsätze. 7) Der "Atomismus", d. h. die Lehre, daß die Welt mit allen ihren organischen und unorganischen Bildungen aus nichts bestehe, als aus den Atomen (unteilbaren, über alle Beschreibung kleinen Körperchen) und dem leeren Raum, ist im Altertum von DEMOKRIT und EPIKUR als naturphilosophisches System ausgebildet worden und diese Anschauungsweise, welche schon damals der aristotelischen feindlich gegenüberstand, hat sich, hauptsächlich durch das Werk des römischen Dichters LUKREZ, auf die Neuzeit fortgepflanzt, bis durch die Entwicklung der Physik und Chemie der Begriff des Atoms und damit auch die Grundlage des Atomismus eine ganz veränderte Fassung erhielt. Gleichwohl blieb der Atomismus, wenn auch in wechselnder Gestalt, vom Altertum bis auf die Gegenwart die wichtigste theoretische Grundlage der materialistischen Weltanschauung, welche in schroffem Gegensatz steht zu der formalistischen (oder idealistischen), die das Wesen der Dinge in ihren Formen (das Wort "Idee" bedeutet seinem Grundbegriff nach ebenfalls "Form", "Gestalt") findet und die Materie als allenthalben im Raum verbreitet und an und für sich formlos und bestimmungslos betrachtet. - Es ist nicht zu leugnen, daß geschichtlich im großen und Ganzen mit der Herrschaft des Formalismus (durch die aristotelisch-scholastische Philosophie) auch die übermäßige Geltund der Einheit in Staat und Kirche zusammenhängt, bei welcher das geschlossene Ganze in seiner charaktervollen Form als Hauptsache galt, während Wohl und Weh des Einzelnen wenig Rücksicht fanden; daß dagegen in den neueren Jahrhunderten mit der Ausbreitung des Atomismus in den Naturwissenschaften auch die größere Wertschätzung des Individuums in Staat und Gesellschaft Hand in Hand gegangen ist. In der Tat ist das "Individuum" das "Atom" der Gesellschaft (beide Worte bedeuten: "das Unteilbare"). Trotzdem hinkt der Vergleich in zwei sehr wesentlichen Punkten. Einmal nämlich ist das Atom der Naturwissenschaften immer nur Theorie; das Individuum als Basis der Gesellschaft dagegen unleugbare Wirklichkeit. Sodann aber denkt man sich bei Individualismus oder sozialen Atomismus stets die Tendenz, den Einzelnen vom Ganzen so unabhängig als möglich hinzustellen; der Atomismus der Natur aber hat im Grunde durchaus keine derartige Tendenz. Er ist nur eine Art, die Dinge zu begreifen und paßt auf die kompliziertesten Organismen, die in strenger Unterordnung der Teile ein Ganzes bilden, ebenso gut, als auf den Ozean oder eine Sandwüste. Mit dieser Bemerkung soll übrigens die Analogie nur auf ihre richtigen Grenzen zurückgeführt, nicht aber abgewiesen werden, denn es liegt allerdings in der Natur des menschlichen Geistes begründet, demjenigen Element der Wirklichkeit, von welchem wir ausgehen, um dieselbe zu begreifen, auch eine erhöhte Bedeutung und Wichtigkeit beizulegen. 8) FRIEDRICH ADOLF TRENDELENBURG, Naturrecht auf dem Grunde der Ethik, Leipzig 1860, Seite 492f |