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JAMES JEANS
Die zwei Sprachen der
Wissenschaft und der Philosophie


Qualität und Quantität
Gewaltsame Vereinfachung
Die Zeitformen der Sprache sind völlig unangemessen zum Ausdruck unendlich feiner Übergänge.

Wir haben gesehen, daß Kenntnis der Außenwelt uns nur durch Beobachtung und Experiment zukommen kann. Diese sagen uns, daß die Welt rational ist - ihre Ereignisse folgen gesetzmäßig aufeinander und gehorchen also einer regelmäßigen Schablone. Das erste Ziel der Physik ist die Entdeckung dieser Schablone; sie kann, wie wir sahen, nur in mathematischen Ausdrücken beschrieben werden.

Wir haben weiterhin gesehen, daß die Physik die mathematischen Symbole dieser Beschreibungen nicht mit ihren wahren physikalischen Bedeutungen umkleiden kann, sondern daß Physik und Philsophie zu diesem Zweck in eine gemeinschaftliche Diskussion eintreten müssen, um die mögliche Bedeutung und die am meisten wahrscheinliche Deutung der Schablone der Ereignisse aufzufinden. Aber einer solchen Diskussion stellen sich mannigfache Hindernisse in den Weg. In diesem Kapitel werden wir versuchen, einige von ihnen ans Licht zu ziehen und auszuschalten, in der Absicht, damit einen sauberen Grund zu schaffen für die Erörterungen, die dann folgen sollen.

Verschiedenheiten der Ausdrucksweise
Zuvorderst unter diesen Hindernissen stehen Verschiedenheiten der Sprache und Ausdrucksweise; wenn Wissenschaft und Philosophie auch nicht völlig verschiedene Sprachen sprechen, so bedienen sie sich doch mindestens oft einer recht verschiedenen Ausdrucksweise.

Mehr als dreihundert Jahre sind vergangen, seit FRANCIS BACON über die "Idole" schrieb, die den Menschengeist besetzt halten, wenn er sich der Erforschung der Wahrheit zuwendet. Die verwirrendsten von ihnen, sagt er, sind die Idole des Marktes - das ist der Platz, wo die Menschen sich treffen, um miteinander zu reden. Denn Worte sind wenig geeignet zum Ausdruck genauer oder wissenschaftlicher Gedanken, und anscheinende Verschiedenheiten der Meinung rühren oft nur daher, daß die in der Diskussion verwendeten Ausdrücke schlecht definiert sind.

In der zwischenliegenden Periode hat die Wissenschaft ihre eigene Sprache aufgebaut - oder ihren Jargon, wie manche Leute lieber sagen werden. So unschön sie mitunter sein mag, so hat sie doch das große Verdienst der Exaktheit; allgemein gesprochen, ihre Ausdrücke sind klar und unzweideutig definiert, jedes Wort hat für jeden Wissenschaftler dieselbe Bedeutung, und diese Bedeutung ist vollkommen präzis. Wenn ein Physiker einen Satz von NEWTON oder EINSTEIN liest, so mag er seinen Sinn verstehen oder auch nicht, aber über die Bedeutung der Worte kann er niemals im Zweifel sein.

Mit dem Fortschreiten der Wissenschaft werden in ihre Terminologie fortdauernd zusätzliche Fäden eingewoben, mit dem Ergebnis, daß sie immerfort zunimmt an Reichtum und Präzision. Bald verlangt eine neue Gruppe von Tatsachen neue Worte; bald müssen alte Worte in ihrer Bedeutung modifiziert werden als Folge neuer Einsichten in alte Tatsachen. Die neuen Einsichten z.B., die wir der Relativitätstheorie verdanken, haben uns genötigt, unsern Gebrauch der Worte "Bewegung", "Geschwindigkeit", "Gleichzeitigkeit", "Zeitintervall" usw. wesentlich zu ändern.

Diesem allem entspricht nichts auf dem Felde der Philosophie, die es noch nicht zu einer präzisen oder allgemein anerkannten Terminologie gebracht hat. Zahlreiche Worte der Umgangssprache, ebenso wie gewisse Fachausdrücke werden in einer bunten Mannigfaltigkeit von Bedeutungen gebraucht, oft sogar vom gleichen Schriftsteller. Und wenn einmal die Philosophie ein Wort in präzisem und einheitlichem Sinne verwendet, so kann dieser Sinn wieder verschieden sein von dem seines wissenschaftlichen Gebrauchs.

Dies bedeutet nicht bloß ein ernsthaftes Hindernis für jede Diskussion zwischen Wissenschaft und Philosophie, sondern muß auch in rein philosophischen Problemen die Zielsetzung verdunkeln. Es ist wirklich kaum zuviel gesagt, daß gar manche der Probleme und Geduldspiele der älteren Philosophie den Unvollkommenheiten der Sprache recht eigentliche ihre Existenz verdanken. Viele dieser alten Probleme sehen sich ganz anders an, sobald man sie in die Sprache der Wissenschaft übersetzt hat, und einige schwinden im Prozeß der Übersetzung völlig dahin.

Es gibt daher offenbar drei Hauptursachen für diese Unterschiede im Sprachgebrauch; wir werden gut tun, sie zuerst aufzuzählen und sie später im einzelnen zu diskutieren und mit Beispielen zu belegen.
  • Die Philosophie hat keine präzise oder allgemein anerkannte Terminologie, weil kein allgemein anerkannter Grundstock von Kenntnissen vorhanden ist, um eine präzise Terminologie darauf zu errichten.
  • Die Sprache der Philosophie weicht in erheblichem Ausmaß von der der Wissenschaft ab, weil die Philosophie die Worte in subjektivem, die Wissenschaft in objektivem Sinne zu gebrauchen strebt.
  • Die Sprache der Philosophie weicht weiterhin von der Wissenschaft ab, weil die Philosophie ihre Denkbegriffe von den Tatsachen abzuleiten strebt, wie sie von unsern primitiven Sinnesorganen, die Wissenschaft dagegen so, wie sie durch Präzisionsinstrumente dargestellt werden.
Als Einleitung zur näheren Betrachtung der erstgenannten Ursache wollen wir bemerken, daß auch die Wissenschaft solange über keine präzise oder allgemein anerkannte Terminologie verfügte, als sie nichts Präzises und allgemein Anerkanntes darzustellen hatte.

Wirklich herrschte vor drei Jahrhunderten noch eine allgemeine Gedankenverwirrung hinsichtlich der drei ganz verschiedenen Maßbegriffe, die wir jetzt als Geschwindigkeit, Impuls und Energie bezeichnen; das gleiche Wort "Bewegung" wurde oft zur Bezeichnung von allen dreien verwendet. Ebenso geht es jetzt in den Abteilungen der Wissenschaft zu, deren Grundtatsachen noch diskutiert werden; z.B. bemerkt EDDINGTON, daß "die Terminologie der Quantentheorie so außerordentlich verworren ist, daß es sehr schwer fällt, darin irgendwelche klare Feststellungen zu treffen".

Ein großer Teil der philosophischen Terminologie hat sich immer in entsprechendem Zustand befunden, und man könnte Gründe dafür anführen, daß dieser Zustand auch jetzt noch unvermeidlich ist und solange unvermeidlich bleiben wird, bis die Philosophen sich über die Grundtatsachen ihres Gebietes geeinigt haben werden. Jedoch, man kann in diesem Punkt auch anderer Meinung sein. Fünfzig Jahre lang hat LEIBNIZ immer wieder gelegentlich versucht, für die Philosophie eine präzise Fachsprache zu erfinden, sozusagen eine philosophische Mathematik. Er hoffte, alle Grundvorstellungen der Vernunft auf eine ganz kleine Anzahl primitiver Elemente oder "Wurzelbegriffe" zurückführen zu können, deren jeder mit einem allgemeinen Buchstaben oder Symbol bezeichnet werden könnte, ähnlich den Symbolen der Algebra.

Wäre dies einmal gelungen, dann müßte es auch möglich sein, für das Operieren mit diesen Symbolen Rechenmethoden auszuarbeiten. LEIBNIZ war der Meinung, daß mit derartigen Rechenmethoden Streitigkeiten zwischen Philosophen ebenso leicht zu schlichten wären, wie die gewöhnliche Arithmetik Streitigkeiten zwischen Buchhaltern erledigt; sind zwei verschiedener Meinung, so sagen sie einfach "Wir wollen die Sache ausrechnen", und setzen sich mit ihren Federhaltern hin.

Aber seine Bemühungen schlugen fehl, und auch neuere Versuche der gleichen Art haben sich nur auf recht kleine Bezirke im Reiche des Denkens als anwendbar erwiesen. Das gesamte Ergebnis ist, daß die Philosophie immer noch damit ringt, sich in den unangemessenen Worten der Umgangssprache verständlich zu machen. Immer noch gilt, was ANATOLE FRANCE gesagt hat, daß "un métaphysicien n'a, pour constituer le systéme du monde, que le cri perfectionné des singes et des chiens".

Immerhin muß man zugestehen, daß die Hauptprobleme der Philosophie großenteils außerordentlich schwierig sind; manche von ihnen nehmen den menschlichen Geist bis zu den äußersten Grenzen seiner Fähigkeiten in Anspruch, sie haben die schärfsten Intellekte unseres Geschlechts Jahrtausende hindurch genarrt - und es ist kaum zuviel gesagt, daß nicht eines von ihnen bis jetzt wirklich gelöst ist.

In der Behandlung dieser Probleme haben wir es mit den zartesten und feinsten Bedeutungsnuancen zu tun und müssen uns in Gedankenbezirken bewegen, die von unserm täglichen Leben weit entfernt sind; das alles würd ein vollkommen präzises, vollkommen schmiegsames und vollkommen verfeinertes Instrumentarium verlangen. Die gewöhnliche Sprache genügt keiner dieser Forderungen; sie ist ein rauhes Werkzeug zum praktischen Gebrauch, das der gemeine Mann oder vielmehr sein Vorfahr, der gedankenlose Wilde, aus seinen ersten rauhen Berührungen mit der Wirklichkeit entwickelt hat, um die Gedanken auszudrücken, die sich aus diesen Bemühungen für ihn ergaben.

Es wäre wirklich ein überraschendes Zusammentreffen, wenn sich ein solches Werkzeug für abstrakte Diskussionen geeignet erwiese, die mit der Welt des täglichen Lebens recht wenig zu tun haben. Wir könnten ebensogut erwarten, daß ein Chirurg eine schwierige Operation mit Tischlerwerkzeugen - Hobel, Stemmeisen und Hammer - ausführt!

Die Unangemessenheit der Vulgärsprache für den Ausdruck philosophischer Feinheiten läßt sich recht gut an dem berühmten Satz von DESCARTES aufzeigen -  cogito ergo sum. 

DESCARTES hielt diesen Satz für wahr und über jeden Zweifel erhaben, so sehr, daß er ihn zur Grundlage der gesamten Philosophie zu machen gedachte. Eine spätere philosophische Generation hat die Brüchigkeit des Satzes aufgezeigt, und ihre Kritik stützt sich hauptsächlich auf DESCARTES' Gebrauch der Vulgärsprache. Denn diese zwingt das Subjekt des Satzes, sich für eine von drei klar geschiedenen Kategorien zu entscheiden - cogito, cogitas, cogitat - oder ihren Plural; wenn der Gedanke nicht in eines dieser Gefäße paßt, kann die Vulgärsprache ihn nicht ausdrücken.

Alles Telepathische z.B. ist von vornherein ausgeschlossen, nicht aus dem Grund, weil es nicht vorkommt oder vorkommen kann, sondern bloß, weil die Vulgärsprache keine Beziehung dazu hat; dadurch wird das Denken ein Vorrecht der Einzelpersönlichkeit. Aber auch die Einzelpersönlichkeit ändert sich mit jeder Erfahrung; ich, der gedacht habe, bin verschieden von dem andern Ich, der existierte, bevor der Gedanke in mir aufstieg. Und wiederum sind die Zeitformen der Sprache -  sum, fui, eram, ero  - völlig unangemessen zum Ausdruck der unendlich feinen Übergänge.

BERTRAND RUSSELL sagt, daß "Grammatik und Vulgärsprache schlechte Führer zur Metaphysik sind. Man könnte ein dickes Buch schreiben über den Einfluß der Syntax auf die Philosophie". Zur Illustration erwähnt er DESCARTES, der "sich keine Bewegung vorstellen konnte ohne etwas, das sich bewegt, und kein Denken ohne jemanden, der denkt. Kein Zweifel, daß die meisten Leute auch heute noch dieser Ansicht anhängen; sie hat aber in Wirklichkeit ihren Ursprung in der - meist unbewußten - Vorstellung, daß die Kategorien der Grammatik auch die Kategorien der Wirklichkeit sind".

Ein modernes Beispiel der gleichen Tendenz findet sich in der Physik des 18. und 19. Jahrunderts. Nachdem die Wellennatur des Lichtes anerkannt war, schlossen die Physiker weiter, wo Wellenbewegung, dort muß auch etwas sein, was sich in Wellen bewegt - es gibt kein Verb ohne zugehöriges Substantiv. Und so wurde der lichtfortpflanzende Äther ins wissenschaftliche Denken eingeführt als "Substantiv zum Verbalausdruck  sich in Wellen bewegen",  und konnte die Physik für mehr als ein Jahrhundert irreführen.

Sogar, wenn die philosophischen Schriftsteller einmal ein Wort durchgängig im gleichen Sinne gebrauchen, ist ihr Gebrauch oft verschieden von dem der Wissenschaft, und das führt uns zum zweiten unserer Hauptgründe.

Bis vor kurzem hat die Wissenschaft es für ausgemacht gehalten, daß eine objektive Welt völlig unabhängig und außerhalb unseres Geistes existiert, und hat ihre Terminologie für die Beschreibung einer solchen objektiven Welt eingerichtet. Die Philosophie hat eine solche Welt niemals für eine ausgemachte Sache gehalten, mochten auch einzelne Philosophen dafür eintreten; sie hatte vielmehr die Auffassung, daß ihr allererstes Anliegen die Empfindungen und Gedanken unseres Inneren sein müssen, die uns erst die Vorstellung eingeben, daß eine solche Welt existiert. Daher die unverkennbare Tendenz der Wissenschaft, die Worte in objektivem, und der Philosophie in subjektivem Sinne zu gebrauchen.

Als Beispiele dieses verschiedenen Gebrauchs wollen wir das Verbum  sehen  und das Adjektiv  rot  betrachten.

Der wissenschaftliche Gebrauch des Wortes  sehen  ist klar definiert; wenn der Wissenschaftler sagt, er sehe den Sirius, so drückt er die Meinung aus, daß der Sirius außerhalb seines Geistes existiert, und daß die Lichtstrahlen, die vom Sirius kommen, ein Abbild des Sirius auf seiner Retina erzeugen und auf diesem Wege dem Gehirn vermitteln. Wenn ein Betrunkener sagt, er sehe Purpurschlangen, wird der Wissenschaftler ihm entgegenhalten, daß er keine Purpurschlangen sehen kann, weil keine da sind - für den Wissenschaftler besteht das Wesen des Sehens in der Fortpflanzung der Lichtstrahlen vom gesehenen Objekt zu der Netzhaut dessen, der sieht.

Die Philosophen erheben dagegen ihre Einwände. Sie betonen, daß, wenn ich sage, ich sehe den Sirius, ich etwas zu sehen behaupte, was vielleicht gar nicht mehr existiert, da er ja verschwunden sein kann im Lauf der acht Jahre, seit das Licht den Sirius verlassen hat. BERTRAND RUSSELL betrachtet es als ebenso inkorrekt, zu sagen, man sehe einen Stern, wenn man nur das Licht des Sterns sieht, als zu sagen, man sehe Neuseeland, wenn man einen Neuseeländer in London sieht.

In gleicher Weise behandelt er den Fall eines Physiologen, der das Gehirn seines Patienten untersucht; die meisten Menschen, meint er, würden sagen, was der Physiologe sieht, ist im Hirn des Patienten, der Philosoph hingegen muß darauf bestehen, daß es im Gehirn des Physiologen ist. So betrachtet kann der Betrunkene wirklich Purpurschlangen in seinem Schlafzimmer sehen, während der Nüchterne niemals grüne Schlangen im Grase sehen kann, denn sie könnten ja zu existieren aufgehört haben, indessen das Licht von ihnen zu seinem Auge geht.

Kurz gesagt, der Philosoph steht auf dem Standpunkt, daß wir nur sehen können, was in unserm Kopfe ist, während der Wissenschaftler, mehr dem gewöhnlichen Sprachgebrauch folgend, die Ansicht vertritt, daß wir nur sehen können, was außerhalb unseres Kopfes ist.

Das Adjektiv  rot  dient in der Wissenschaft zur Beschreibung eines Lichtes von genau definierten objektiven Eigenschaften; diese können dargestellt werden durch Angabe der Zahl der Wellenlängen pro Zoll oder der Schwingungen pro Sekunde - die beiden Definitionen sind genau gleichwertig. Wenn die so definierte Lichtart ein normales Auge trifft, erzeugt sie das, was wir eine Rotempfindung nennen.

Der Mechanismus, durch den sich dies vollzieht, ist uns noch nicht in allen Teilen verständlich, aber ungefähr dürfte es folgendermaßen zugehen. Der Sehnerv des menschlichen Auges besteht aus einem Bündel von Nervenfasern, die in der Netzhaut in Form von Stäbchen und Zapfen enden. Wenn Licht auf diese Nervenendigungen fällt, vollziehen sich chemische Veränderungen in ihnen, die gewisse elektrische Strömungen durch die Nervenfasern zum Gehirn senden; diese erzeugen die Empfindung von Licht und Farbe in unserem Geist.

Die Stäbchen werden von Licht jeder Farbe erregt, auch, wenn es nur sehr schwach ist - sie sind es, mittels deren wir in der Dämmerung oder zur Nachtzeit sehen -, aber sie erzeugen nur Empfindungen von hell und dunkel, nicht von Farbe. Erregung der Zapfen wiederum erzeugt bestimmte Farbempfindungen. Sind die Stäbchen in unbefriedigendem Zustand, so leiden wir an Nachtblindheit; sind es die Zapfen, an Farbenblindheit.

Die Entwicklung der Zapfen ist an gewisse Erbfaktoren gebunden, die, wie man annimmt, sich in einem bestimmten Chromosom (dem X-Chromosom) befinden, wovon jeder Mann eines und jedes Weib zwei in jeder Körperzelle haben. Im westlichen Europa bekommt ungefähr jeder vierzigste Mann bei seiner Erzeugung diesen Erbfaktor in defektem Zustand und ist daher dauernd und unheilbar farbenblind; das Weib! ist nur farbenblind, wenn sie zwei derartige defekte Erbelemente überkommt, und als Folge davon finden wir nur eine farbenblinde Frau auf mehrere hundert.

Außerhalb der Gattung Mensch besitzen, wie man glaubt, nur wenige von den größeren Tieren die Fähigkeit des Farbensehens; die meisten von ihnen sehen die Welt nur in Hell-Dunkel-Darstellung, ungefähr wie wir bei Mondschein. Die menschliche Empfindung der Röte ist zwar die Quelle unserer Vorstellung von der Röte als einer Eigenschaft, aber liefert doch nur einen ganz ungefähren Anhaltspunkt dafür; die zuverlässige Prüfung geschieht durch das Zusammenwirken von völlig leblosen Instrumenten - Spektroskop, Kamera und photographische Platte.

Wenn ein Wissenschaftler sagt, diese Blume oder dieser Autobus ist rot, so meint er, daß alles Licht, das von ihnen reflektiert wird, rot ist in de oben definierten wissenschaftlichen Sinn. Wenn Sonnenlicht, welches eine Mischung von Licht verschiedenster Farben ist, auf eine rote Blume fällt, so werfen die Blumenblätter den roten Bestandteil des Lichts und nur diesen in mein Auge zurück, so daß ich die Blume in rotem Licht sehe. Verfüge ich über normales Sehvermögen, so erzeugt dies eine Rotempfindung in meinem Geist, und ich sage, die Blume ist rot.

Habe ich kein normales Sehvermögen, sondern bin farbenblind für Rot, so werde ich die Blume immer noch in einem Licht sehen, das in wissenschaftlichem Sinne des Wortes rot ist; aber meine Farbenblindheit wird bewirken, daß das Licht mir in einer andern Tönung erscheint, vielleicht überhaupt keinen wesentlichen Eindruck auf meine Netzhaut macht, vielleicht den eines trüben anstatt eines lebhaften Rot.

Wenn aber ein Philosoph sagt, ein Objekt sei rot, so meint er in der Regel, daß es in seinem oder eines andern Auge eine Rotempfindung hervorruft. Wie wir früher hinsichtlich des Wortes  sehen  auseinandergesetzt haben, so wendet ganz entsprechend der Wissenschaftler das Adjektiv  rot  auf etwas außerhalb seines Kopfes an - zunächst auf ein Licht - während der Philosoph es auf etwas innerhalb seines Kopfes anwendet - zunächst auf eine Farbempfindung. Also kann Farbenblindheit im philosophischen Sinn die Farben verändern, aber nicht im Sinne der Wissenschaft.

Nicht genug an diesen groben und elementaren Schwierigkeiten der eigentlichen Sprache: weitere Schwierigkeiten haben ihren Ursprung in den Unterschieden des sprachlichen Ausdrucks, dessen sich Philosoph und Wissenschaftler bedienen. Sie drücken nicht bloß ihre Gedanken in verschiedenen Sprachen aus, die Gedanken selber haben die Tendenz, auf verschiedenen Wegen zu gehen. Das ist offenbar, wenigstens zum Teil, die Folge des dritten und letzten unserer oben aufgeführten Gründe.

Die Philosophen denken immer noch auf eine Art, die von den Frühzeiten der Menschheit her datiert, als es noch keine genaueren Meßinstrumente gab als die fünf Sinne; sie beschreiben die Dinge immer noch in Ausdrücken, die ihre Wirkung auf die Sinnesorgane bezeichnen, während der Wissenschaftler Ausdrücke gebraucht, welche der Wirkung auf seine empfindlichen Meßinstrumente entsprechen. Der Philosoph spricht nicht bloß, er denkt in subjektiven Begriffen, der Wissenschaftler in objektiven.
LITERATUR - James Jeans, Physik und Philosophie, Zürich 1944