cr-4p-4Josepha KodisAugust MesserKarl Lange    
 
KURT JOACHIM GRAU
Über die Begriffe Perzeption
und Apperzeption bei Leibniz


"Die Monade ist mithin Träger einer  action interne; und diese  action interne  besteht im unablässigen Wechsel der  expressions, reprèsentations, perceptions oder  apparences in der Monade. Man ist in der deutschen philosophischen Literatur seit Christian Wolff gewöhnt, diese Ausdrücke, die bei Leibniz zu festumgrenzten teriminis technicis erhoben sind, schlechtweg mit dem Wort  Vorstellung wiederzugeben. Diese Übersetzungsgewohnheit verliert das Gefährliche, das ihr anhaftet, sobald man sich bewußt bleibt, daß die Bezeichnung  Vorstellung keineswegs eine adäquate Wiedergabe des Leibniz'schen Terminus  perception bedeutet, und daß dieser Terminus im Grunde zu jener großen Gruppe philosophischer Bezeichnungen gehört, die sich - wie Platons  eros, Aristoteles'  entelechia, energeia, ousia, Humes  belief - einer exakten Übersetzungsmöglichkeit nahezu völlig entziehen. Nur unter Anerkennung dieses Faktums sei es im folgenden erlaubt, für perception, représentation usw. bisweilen auch kurz  Vorstellung zu sagen."

Zu seinem fertigen System der Philosophie ist LEIBNIZ erst in einem späten Stadium seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit gelangt. Es ist beinahe erstaunlich, wie lange der so früh-reife, rege und überaus fleißige Denker in einem mehr oder minder unentschlossenen Schwanken verharrt ist, bis ihm - unter dem bestimmenden Einfluß der mannigfachsten Strömungen, besonders der mathematischen und mechanisch-physikalischen Erkenntnis seiner Zeit, der Atomistier und DESCARTES', aber auch der Lehren des ARISTOTELES - die endgültigen begrifflichenn Festsetzungen seiner eigenen Philosophie gelungen sind. Die Ausbildung der Monadenlehre fällt etwa in das vierte Jahrzehnt seines Lebens, also die Jahre zwischen 1676 und 1686; und in der Zeit von 1686 - 1690, also der Epoche des Briefwechsels mit ARNAULD, gewinnt das bereits 1685 - 1686 in seinen Grundlagen konzipierte System noch eine festere und abgerundetere Gestalt.

Es ist hier nicht der Ort, dieser Entwicklung nachzugehen. Die folgende Darstellung der LEIBNIZ'schen Lehre, soweit sie für die Entwicklung der Theorien vom Bewußtsein und besonders des Begriffs des Unbewußten von Bedeutung gewesen ist, beschränkt sich auf die reife Form des Systems, wie sie vor allem in den Schriften und Briefen nach dem Jahr 1685 niedergelegt ist, und sucht unter Zurückstellung des genetischen Gesichtspunktes diejenige Auffassung der LEIBNIZ'schen Lehre vom Bewußtsein zu entwickeln, die sich dem Gesamtzusammenhang des Systems am ungezwungendsten einordnet.

Der Schlüssel zur wahren Philosophie - hat LEIBNIZ gelegentlich geäußert, darin mit der Cartesianisch-Spinozistischen Auffassung übereinstimmend - ist der Begriff der Substanz. Und eben die Überzeugung, daß der Substanzbegriff weder von DESCARTES noch von SPINOZA noch überhaupt von irgendeinem Philosophen bis zu seiner Zeit richtig erkannt worden ist, läßt ihn selbst als Grundlage seiner Metaphysik einen neuen Substanzbegriff entwickeln. Für die reife Lehre von LEIBNIZ besteht das Universum aus einer unendlichen Anzahl gleichartiger, einfacher oder individueller Substanzen, die er im Anschluß an den schon von PLATO, ARISTOTELES, GIORDANO BRUNO und anderen gebrauchten Terminus vom Jahr 1696 an zumeist als "Einheiten" ("Monaden") bezeichnet, obschon sich daneben auch andere Benennungsarten wie z. B. "Entelechien" [innere Wirkkräfte - wp], "substantielle Formen" usw. finden (1). Die Monaden oder einfachen Substanzen sind nach der LEIBNIZ'schen Bestimmung vorerst immaterielle Wesenheiten, d. h. "sans extensions et sans parties" [ohne Erweiterungen und ohne Teile - wp], darum unzerstörbar und ewig wie das Universum selbst, das durch sie konstituiert wird. "Toutes les âmes sont imperissables; morte carent animae." [Alle Seelen sind unsterblich, den Tod ermangelnd. - wp] Wie sie "tout d'un coup" [auf einmal - wp] von Gott geschaffen sind, so können sie auch nicht anders als "tout d'un coup" von Gott wieder vernichtet werden. Unmöglich ist für sie ein sogenanntes "périr naturellement" [natürliches Sterben - wp] vielmehr müßte ihrer "création" eine "annihilation" [Vernichtung - wp] durch Gott entsprechen. Diese einfachen Substanzen machen das Universum aus. Sie bilden, indem sie sich ansammeln und zusammenhäufen, die "substances composées" [gemachten Substanzen - wp] von denen es heißt: "Le composé n'est autre chose qu'un amas ou aggregation des simples" [Die Verbindung ist nichts anderes als ein Haufen oder eine einfache Aggregation. - wp] oder "la substance composée est l'assemblage des substances simples." [Das Verbundmaterial ist die Montage von einfachen Substanzen. - wp]. Die Monaden sind die substantiellen Zentren, die wahrhaften Einheiten, die metaphysischen Punkte der Natur; sie sind "les véritables atomes de la nature et en un mot les Elements des choses." [Die wahren Atome der Natur, mit einem Wort das Element der Dinge. - wp]

Mit den vorstehenden Bestimmungen ist das wesentlichste Charakteristikum der einfachen Substanz noch nicht erwähnt. "Ce qui n'agit point ne mérite point le nom de substance" [Was nicht wirkt verdient nicht den Namen Stoff. - wp], wendet LEIBNIZ gelegentlich gegen den Substanzbegriff von DESCARTES ein. Dementsprechend sieht er selbst in der wirkenden Kraft, in der Tätigkeit die eigentliche Wesenheit der Substanz: "L'activité est de l'essence de la substance" [Die Aktivität ist das Wesen des Stoffes. -wp] und "tout ce qui est proprement une substance ne fait qu'agir." [Alles ist korrekterweise nur ein Stoff, der wirkt. -wp] Damit rückt der Begriff der Aktivität zum konstitutiven Merkmal der Substanz auf; und die Monaden oder einfachen Substanzen werden zu ursprünglichen Kräften, besser Krafteinheiten, begabt mit einer "activité originale" [ursprünglichen Aktivität - wp]. "La substance est un être capable d'action" [Das Wesen der Substanz ist Wirkfähigkeit. - wp]; und ohne die ihr innewohnende Kraft ist die Monade schlechthin nicht denkbar. "La forme ou l'âme . . . est la source de l'action ayant en soi le principe du mouvement ou du changement: en un mot 'to autokineton,' comme PLATON l'appelle . . .; l'âme est active par elle même ..." [Die Form oder Seele . . . ist die Quelle der Aktion, ist in sich das Prinzip der Bewegung oder Veränderung, in einem Wort  to autokineton  wie Plato sagen würde; Die Seele ist aus selbst aktiv. - wp]. LEIBNIZ sagt dementsprechend, daß der Begriff der Kraft oder Tätigkeit das meiste Licht bringe zu einer wahren Erkenntnis vom Wesen der Substanz, und daß die "potentia" [Macht - wp] oder "vis" [Zwang - wp] eine Eigenschaft darstelle, aus der eine stete Veränderung folge, deren Subjekt eben die Substanz sei. Wirken und Substanz-sein sind so für ihn eines und daselbe; sagt er doch ausdrücklich: "omnem substantiam agere et omne agens substantiam appellari." [Alle Substanz wirkt und alle Wirkung kann als Substanz bezeichnet werden. - wp]

Besteht demnach das Wesen der Substanz in der tätigen Kraft, so ist es nicht verwunderlich, wenn daraus die Folgebestimmung abgeleitet wird, daß die Kraft, welche das Wesen der Substanz ausmacht, in keinem Bruchteil einer Sekunde ohne die ihr eigene Tätigkeit sein kann. Die Monade ist als Träger einer inneren Veränderung zugleich Träger einer steten, einer ununterbrochenen inneren Veränderung. "Tout être créée aussi, et ... ce changement est continuel dans chacune" [Obwohl alles geschaffen ist ... bleibt alles trotz dieser Veränderung konstant. - wp]; oder kürzer gefaßt: "Omnis singularis substantia agit sine intermissione" [Jede einzelne Substanz wirkt unaufhörlich. -wp]; und ähnlich: "Une substance qui sera une fois en action, le sera toujours." [Eine Substanz, die einmal in Aktion ist, wird es immer sein. - wp]

Worin besteht nun jene ununterbrochene, der Substanz wesenhaft eigene innere Tätigkeit einer jeden Monade? "Operatio animae propria" [Dieser Vorgang mit eigener Seele - wp] "est  perceptio."  [ist Wahrnehmung - wp] Die innere Tätigkeit (action interne) der Monade beruth auf Perzeptionen und besteht allein im steten Wechsel (changement continuel) dieser Perzeptionen innerhalb der einfachen Substanz. Die tätige Kraft der Monade ist demnach ein "principe interne" [inneres Prinzip - wp], durch welches in der Monade die unablässige Veränderung der Perzeptionen zustande kommt, das kontinuierliche Fortschreiten von einer Perzeption zur anderen.

Erst durch diese Angaben wird es möglich, das Wesen der Monade genauer zu bestimmen. Alle Monaden haben Perzeptionen und zugleich das Streben, diese Perzeptionen dauernd in Veränderung zu erhalten. Dieses "Streben" nennt LEIBNIZ "appetitus" und definiert es als die "interna tendentia ad mutationem" [innere Tendenz zur Veränderung - wp], die jeder Monade innewohnt, oder auch einfach als "tendence d'une perception á l'autre" [Tendenz zur weiteren Wahrnehmung - wp]. Perzeption und Appetitus machen also das Wesen der Monade aus; und da das ganze Universum aus Monaden besteht, so kann LEIBNIZ sagen: Es gibt in der Natur der Dinge nur Monaden als die wahrhaften Substanzen oder Elemente des Universums und in ihnen Perzeptionen und Appetitus, - ähnlich wie BERKELEY, dessen Spiritualismus dem von LEIBNIZ in manchen Zügen keineswegs unverwandt ist, im Sinne seines Systems sagen konnte: Alles Seiende ist entweder "spirit" oder "idea" oder "notion". - Leibniz schreibt: "Imo rem accurate considerando dicendum est nihil in rebus esse nisi substantias simplices et in his perceptionem atque appetitum." [In der Tat muß die Sache sorgfältig abgewogen werden ob nichts in den Sachen und einfachen Stoffen ist außer Wahrnehmung und Appetit. - wp]

Jede Monade ist also kurz gesagt selbst ein "principe perceptif" oder - wie es dafür ebenso häufig bei LEIBNIZ heißt - ein "principe présentatif" oder "principe représentatif". "Perception" und "représentation" werden dabei zumeist als gleichbedeutend ohne Unterschied gebraucht. Zu diesen beiden Worten gesellt sich noch als weitere ebenfalls im gleichen Sinne gebrauchte Bezeichnung der Terminus: "expression" hinzu, neben dem nur ganz gelegentlich auch in ebenderselben Bedeutung noch "apparence" [Erscheinungsbild - wp] gesagt wird.

Die Monade ist mithin Träger einer "action interne"; und diese "action interne" besteht im unablässigen Wechsel der "expressions, reprèsentations, perceptions oder apparences" in der Monade. Man ist in der deutschen philosophischen Literatur seit CHRISTIAN WOLFF gewöhnt, diese Ausdrücke, die bei LEIBNIZ zu festumgrenzten teriminis technicis erhoben sind, schlechtweg mit dem Wort "Vorstellung" wiederzugeben. Diese Übersetzungsgewohnheit verliert das Gefährliche, das ihr anhaftet, sobald man sich bewußt bleibt, daß die Bezeichnung "Vorstellung" keineswegs eine adäquate Wiedergabe des LEIBNIZ'schen Terminus "perception" bedeutet, und daß dieser Terminus im Grunde zu jener großen Gruppe philosophischer Bezeichnungen gehört, die sich - wie PLATONs  eros,  ARISTOTELES'  entelechia, energeia, ousia,  HUMEs  belief  - einer exakten Übersetzungsmöglichkeit nahezu völlig entziehen. Nur unter Anerkennung dieses Faktums sei es im folgenden erlaubt, für perception, représentation usw. bisweilen auch kurz "Vorstellung" zu sagen.

Versuchen wir den Bedeutungsinhalt dieser Bezeichnungen genauer festzulegen. "Chaque substance simple" heißt es mehrfach "est par sa propre nature une concenration et un miroir vivant de tout l'univers." [Jede einzelne Substanz ist ihrem Wesen nach ein Zusammenschluß und ein lebendiger Spiegel des Universums. - wp] Jede Monade ist ein Spiegel des Universums, bringt das Universum zum Ausdruck oder stellt es in sich dar. Der Gegenstand oder Inhalt der in den Substanzen wechselnden Perzeptionen ist das Weltall selbst, das von jeder Monade "selon son point de vue" [nach ihrer Sicht - wp] zur Darstellung gebracht wird. Die Monaden konstituieren das Weltall, und eine jede von ihnen stellt das Universum in bestimmter Weise, unter bestimmten Gesichtspunkten in sich dar, ist demnach gewissermaßen selbst eine kleine Welt oder ein lebendiger Spiegel, eine konzentrierte Darstellung des Weltalls. Soviele Monaden, soviele verschiedene Darstellungen des Universums.

Diese Bestimmung über den gegenständlichen Inhalt der Perzeptionen gibt LEIBNIZ das Material für die weitere Festlegung des Begriffs "perception" oder "expression". Ist das Objekt der Perzeption das Weltall, das aus einer unendlichen Vielheit von Monaden besteht, so ist die Perzeption selbst nichts anderes als der stetig vorübergehende Ausdruck oder die kontinuierlich-wechselnde Darstellung einer sich stetig verändernden Mehrheit, Vielheit oder Mannigfaltigkeit in der Einheit oder, wie LEIBNIZ auch sagt, die Darstellung des Zusammengesetzten im Einfachen, des Teilbaren im Unteilbaren, der äußeren Veränderung durch eine innere. "Nunquam versatur" lautet eine typische Wendung "perceptio circa objectum, in quo non sit aliqua varietas seu multitudo. Cum percipimus, exprimuntur multa in uno, nempe ipso percipiente." [Was die Wahrnehmung eines Objekts betrifft, so gibt es keines bei dem es keine Auswahl in der Vielfalt gibt. Viele Dinge werden in einem Punkt, in der Wahrnehmung ausgedrückt. - wp] Damit wird für die Begriffe "perceptio" oder "expressio" die doppelte Beziehung maßgebend, in der diese stehen: einerseits zur perzipierenden Substanz, als dem Einfachen, andererseits zur perzipierenden Substanz, als dem Einfachen, andererseits zum perzipierten Objekt, als dem Zusammengesetzten. Wie es keine Perzeption geben kann ohne ein Subjekt, welches perzipiert, so auch ebensowenig eine Perzeption ohne Objekt, welches perzipiert wird. Die Perzeption ist also die Darstellung eines Zusammengesetzten im Einfachen und hat eine gesetzliche Beziehung zu demjenigen Gegenstand, den sie repräsentiert. Will man sich die Perzeption ganz im allgemeinen verdeutlichen, sagt LEIBNIZ, so muß man sie sich nach Analogie des menschlichen Bewußtseins vorstellen; denn sie ist "d'un même genre avec le que nous concevons dans la penseé" [von der gleichen Art mit der wir in Gedanken vorstellen - wp].

Welcher Art diese Beziehung zwischen der Perzeption und dem Objekt der Repräsentation ist, kann erst deutlich werden, wenn betont worden ist, daß LEIBNIZ eine kausale Relation zwischen dem Gegenstand der Perzeption und dieser selbst nachdrücklich leugnet, vielmehr nur eine ideale anerkennt, die gegeben ist in der Konformität zwischen der Beschaffenheit von Objekt und Darstellung. Keine Monade wirkt auf die andere, denn es ist völlig unbegreiflich, wie etwas von außen auf die Monade einwirken sollte, um in ihr Perzeptionen hervorzurufen. Eine Perzeption kann immer nur bewirkt sein durch eine andere Perzeption, wie eine Bewegung immer nur durch eine Bewegung. Alle Perzeptionen stammen also ihrem Ursprung nach aus der Monade selbst; und eine ist immer die unmittelbare Ursache der nächstfolgenden. Jede Monade spiegelt das Universum, indem sie die ganze durchgehend kausal verbundene Kette ihrer Perzeption, wie eine Bewegung immer nur durch eine Bewegung. Alle Perzeptionen stammen also ihrem Ursprung nach aus der Monade selbst; und eine ist immer die unmittelbare Ursache der nächstfolgenden. Jede Monade spiegelt das Universum, indem sie die ganze durchgehen kausal verbundene Kette ihrer Perzeptionen aus ihrem eigenen Innern heraus entwickelt. Das Verhältnis der perzipierende Einheiten untereinander ist lediglich ein ideales, kein "influxus realis" [tatsächlicher Einfluß - wp].

Diese Leugnung eines realen Einflusses der Monaden aufeinander und die Behauptung ihrer völligen Abgeschlossenheit nach außen führt LEIBNIZ zu der Anschauung, daß einer jeden Monade der ganze Bestand ihrer künftigen Perzeptionen bereits seit ihrer Erschaffung durch Gott mitgegeben sei und zwar als ein Inbegriff möglicher Perzeptionen, der sich in einer kontinuierlichen Reihe zu entwickeln strebt und dabei eben die gleiche gesetzliche Ordnung aufweist, die sich im gesamtenn übrigen Weltgeschehen als die von Gott bestimmte realisiert. Gott hat von vornherein die Monaden so geschaffen, daß eine jede von Anfang an die ganze Kette ihrer künftigen Perzeptionen in sich enthält, und daß diese Entwicklung von Perzeptionen konform ist mit den Veränderungen aller anderen Monaden. Indem so durch den Schöpferakt Gottes jede Monade ein gesetzlich bestimmtes und kontinuierlich sich aufrollendes Spiegelbild der Welt in sich träg, besteht im Reich der Monaden eine absolute Harmonie, ein vollkommener Einklang, eine höchste Ordnung und Regelmäßigkeit. Diese Bestimmung bildet die höchste Spitze der LEIBNIZ'schen Lehre; mit Rücksich auf sie hat LEIBNIZ seine Philosophie als "le systéme de l'harmonie préétablie" [System der prästabilierten Ordnung - wp] bezeichnet wissen wollen.

Diese Skizze der Fundamentalsätze der LEIBNIZ'schen Metaphysik gibt die Grundlage für die Entwicklung seiner Lehren vom Bewußtsein. Jede Monade - so war gesagt worden - ist in jedem Augenblick ein Spiegel oder eine konzentrierte Darstellung des gesamten Universums; und jede Monade spiegelt nicht nur die Gegenwart, sondern auch die ganze Zukunft der Welt. Das aber genügt noch nicht. Auch die Vergangenheit bleibt in der Monade wirksam; denn es gibt kein Erleben in der Monade, von der nicht Spuren oder Dispositionen in ihr zrückblieben, die die Möglichkeit einer Erinnerung an früher Geschehenes begreiflich machen. Es bleiben "des traces te tous ses estats precedents" [die Spuren aller bisherigen Vorgänger - wp] Die Monade enthält also in jedem Augenblick das gesamte Weltgeschehen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich. Für jeden Moment gilt es: "le présent est gros de l'avenir et chargé du passé." [Die Gegenwart ist schwanger mit der Zukunft und hat die Vergangenheit zur Verfügung. - wp] Ein überlegener Geist, der im Innern der Monade zu lesen wüßte, schreibt LEIBNIZ, sähe in ihr zu gleicher Zeit das gesamte Weltgeschehen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; denn der jedesmal gegenwärtige Bestand der Perzeptionen in der Monade birgt alles Gewesene und alles Werdende in sich. Die Monade ist ein Spiegel all dessen, was im Universum war, ist und sein wird; ihre Erkenntnis ist unbegrenzt, ihr Bestand an Perzeptionen eine "connaissance infinie" [unendliches Wissen - wp].

Diese Äußerungen sind nur verständlich unter Betonung der Tatsache, daß im LEIBNIZ'schen Sprachgebrauch der Begriff  Perzeption  an Umfang so weit ist, daß er als Ausdruck für graduell sehr verschiedene Zustände der Monade gebraucht wird. Es gibt innerhalb der Perzeptionen eine unendliche Reihe von kontinuierlich abgestuften Graden der Klarheit und Deutlichkeit, und zwar so, daß von den unendlich klaren Perzeptionen an bis herab zu den unendlich dunklen entsprechend der "lex continui" [Gesetz der Kontinuität - wp] (:tout va par degres dans la nature et rien par saut. [In der Natur geht alles nach und nach und nichts durch einen Sprung. - wp]) eine beständige Reihe von ununterbrochen an Klarheit abnehmenden Perzeptionen besteht. Als besondere Stufen in dieser Reihe unterscheidet LEIBNIZ die genannten zwei: die klaren und die dunklen Perzeptionen. Klare Perzeptionen sind diejenigen, die nicht genügend Merkmale zu einer solchen Erkenntnis bieten. Die klaren Perzeptionen teilt LEIBNIZ in verworrene (confuse) und deutliche (distincte); die verworrenen Perzeptionen sind diejenigen, durch die wir zwar die Sache als Ganzes erkennen, sie aber nicht in ihren einzelnen Merkmalen und Bestimmungen analysieren können; die deutlichen diejenigen, die bis in ihre Einzelheiten hinein klar sind, d. h. bei denen wir auch die einzelnen Merkmale kennen, eine Vorstellungsart, für die etwa die Vorstellung der Goldscheider vom Gold ein Beispiel bietet.

Diese Bestimmungen über die Verschiedenheit der Perzeptionen sind grundlegend für die weitere Ausgestaltung der LEIBNIZ'schen Lehre. Durch sie ist die von LEIBNIZ behauptete Verschiedenheit aller Monaden bedingt. Jede einfache Substanz ist zwar ein immaterielles Kraftzentrum, das in sich eine Darstellung des Universums enthält; aber der Grad der Klarheit und Deutlichkeit, mit der eine jede die Veränderungen des Weltalls in sich abbildet, ist bei jeder verschieden. Entsprechend der Reihe durchgehend graduell verschiedener Perzeptionen gibt es eine Reihe durchgehend graduell verschiedener Monaden, deren jede innerhalb dieser Stufenfolge einfacher Substanzen eine wohlbestimmte Stelle behauptet. "Die Monaden bilden eine stetige, ganz allmählich aufsteigende Reihe von der untersten, die dem Nichts am nächsten steht, bis zur obersten, so aber, daß nirgends zwei vorkommen, die ganz dieselbe Stelle einnehmen; jede ist einzig in ihrer Art; und es gibt unendlich viele Grade derselben." Gott oder die höchste, die letzte, die absolute Monade steht mit seinen nur völlig klaren, allervollkommensten Perzeptionen an der Spitze der Reihe. Von ihm an folgen entsprechend dem Gesetz der Kontinuität unendlich viele Zwischenstufen von Monaden bis hinab zu den Menschen und weiterhin von Menschen abwärts bis zu den Tieren. Und tiefer hinab - bis zu den völlig unvollkommenen und weiter abwärts immer noch unvollkommener werdenden "schlafenden Monaden" - folgen immer neue Gradabstufungen einfacher perzipierender Substanzen.

Auch in dieser Stufenfolge der Monaden hat LEIBNIZ typische Gruppen herausgehoben und einer näheren Analyse unterzogen. Gott als die unendliche oder höchste Monade (la monade suprême), zugleich als Schöpfer und Urheber aller endlichen Monaden, dem absolute Vollkommenheit und Unendlichkeit zugesprochen werden muß, hat zugleich auch die denkbar vollkommenste Erkenntnis des Seienden, d. h. die klarsten und deutlichsten Vorstellungen des Universums. Die geschaffenen Monaden spiegeln das Universums virtualiter, Gott dagegen eminenter; er perzipiert alles in adäquater Weise, das Endliche wie das Unendliche, und seine Vorstellungen sind wie er selbst unendlich. "Dieu seul a une connaissance distincte du tout, car il en est la source." [Gott allein hat eine deutliche Erkenntnis überhaupt, weil er die Quelle ist. - wp]

Abwärts von Gott bis zum Menschen folgen unendlich viele Stufen von Wesen, die zwischen Schöpfer und Geschöpf in der Mitte stehen, so daß man vom Menschen an sowohl hinauf- wie hinabsteigen kann. Der Grad der Vollkommenheit der menschlichen Monaden wird bei LEIBNIZ wegen unserer unvermeidlichen Unkenntnis der höheren Monaden (- die Annahme ihrer Existenz ist ein bloßes Postulat des Kontiguitätsgesetzes -) mehr in ihrer Beziehung nach unten als nach oben gemessen. Die Menschen stehen gewissermaßen innerhalb der Kontinuität der Wesen in der Mitte zwischen Gott und Tierseele. Sie sind unendlich klein gegenüber Gott; aber sie sind auch unendlich erhaben über die Seelen der Tiere. Die Gruppe der menschlichen Monaden, die innerhalb ihrer selbst wieder unendlich viele Stufen aufweist, bezeichnet LEIBNIZ als "esprit ou âmes raisonnables" [vernünftiger Geist und Seele - wp]. Hat Gott als die höchste Monade nur völlig klare Perzeptionen, so haben die Menschen entsprechend ihrer tieferen Stellung in der Reihe der Wesen ein Gemisch von Vorstellungen, in das klare, deutliche, verworrene und dunkle zusammen eingehen. Das aber alles doch wieder in einem höheren Grad der Vollendung als die Tiere.

Als die wesentlichsten Merkmale des Unterschiedes zwischen Mensch und Tier gibt LEIBNIZ an, daß die Menschen - hier wirken noch deutlich arsistotelische Bestimmungen nach - Vernunft haben, die Tiere nicht. Tiere kennen entsprechend der Tatsache, daß sie Gedächtnis und Erfahrung besitzen, zwar einen Teil der tatsächlichen und zufälligen Wahrheiten, nicht aber wie die Menschen die Vernunftwahrheiten oder notwendigen und ewigen Wahrheit; diese vielmehr bilden ein spezifisches Eigentum der Menschen und der über diesen stehenden Wesen. Die Menschen haben danach "une connaissance intellectuelle" [intellektuelles Wissen - wp] (entendement [Verständnis - wp], intellectus), die den Tieren abgeht; sie haben Bewußtsein, das sich zum Selbstbewußtsein steigert (pensée [= cogitatio] und reflexion [puissance de reflechir / Kraft zu Denken], wobei die "cogitatio" von LEIBNIZ definiert wird als "perceptio cum ratione coniuncta" [kombiniert mit der Wahrnehmung - wp]. "Cogitatio" und "reflexion" werden von LEIBNIZ den Tieren abgesprochen; denn weder die "cogitatio" noch die "reflexion" - Termini, über deren Sprachgebrauch bei LEIBNIZ noch an späterer Stelle zu handeln sein wird - sind ohne die "ratio" oder "connaissance intellectuelle" möglich. Zu diesen Unterschieden zwischen den menschlichen und tierischen Monade kommt noch eine weitere Differenz, die sich auf den Umfang der klar perzipierten Objekte bezieht. Keine Monade außer Gott - sagt LEIBNIZ - spiegelt das gesamte Universum mit gleicher absoluter Deutlichkeit. Immer sind entsprechend der Vollkommenheit der Monade und ihrer besonderen Stellung innerhalb des Weltalls die ihr am nächsten zugewandten Objekte am deutlichsten, die ferneren weniger klar und deutlich. Nun aber steht Gott, der ja auch zum Universum, d. h. dem Gesamtbestand der existierenden Monaden gehört, dem Menschen näher als dem Tier. Danach muß man sagen, daß die Perzeptionen der Menschen das Universum einschließlich einer klaren Erkenntnis Gottes, die der Tiere das Universum ohne eine klare Erkenntnis Gottes zum Gegenstand haben.

Es ist schon gesagt worden, das natürlich die Monaden, die den Bestand des Tierreichs bilden - LEIBNIZ nennt sie einfach Seelen (âmes) -, noch weit weniger klare Vorstellungen besitzen als die Menschen; dennoch kommt doch auch den Perzeptionen der Tiere, die ja wie alle Perzeptionenn sich von denen der Menschen nur graduell unterscheiden, noch ein gewisser Grad von Klarheit und Deutlichkeit zu. LEIBNIZ nennt diese Perzeptionen, die nicht wie der der Menschen mit Vernunft (raison) oder Verstand (entendement) verbunden sind, "sentimental animal" oder schlechtweg "sensio". Tiere haben in ihren Perzeptionen einen gewissen Grad von Deutlichkeit, sowie auch Aufmerksamkeit und Gedächtnis. Nur geht ihnen infolge des Mangels an Vernunft oder Verstand das Selbstbewußtsein ab, das den Menschen zur Person oder zum unsterblichen Wesen erhebt, während das Tier nicht unsterblich, sondern nur unzerstörbar, unvergänglich genannt werden darf. Ausdrücklich sagt LEIBNIZ von den Tieren: "ils sont sans conscience ou reflexion" [sie sind ohne Gewissen oder Reflexion - wp], wobei diese Bezeichnungen - im Sinne der LEIBNIZ'schen Terminologie - nicht als  Bewußtsein,  sondern als  Selbst bewußtsein übersetzt werden müssen. "Les bêtes ... manquent de cette reflexion qui nous fait penser à nous-mêmes." [Tieren fehlt diese Reflexion und das erinnert uns an uns. - wp]

Von der Stufe der Tiere führt die Reihenfolge der Monaden zu immer tieferen Graden herab: Aufmerksamkeit und Gedächtnis schwinden allmählich, während der Grad der Klarheit und Deutlichkeit der Perzeptionen sich einem Minimum nähert. Die Perzeptionen werden dunkler und dunkler, je tiefer man in die Reihe der nackten oder schlafenden Monaden unterhalb der Tierwelt hinabsteigt. Diese Monaden haben in ihren Perzeptionen schließlich nichts mehr, was ihnen die Möglichkeit gäbe, die perzipierten Gegenstände als Ganzes oder in ihren Teilen als das, was sie sind, zu erkennen; ihre Vorstellungen sind mithin völlig dunkel. Sie selbst befinden sich dauernd in einem Stadium, das wir Menschen uns deutlich machen können, wenn wir an gewisse Zustände unseres eigenen Lebens denken, wo - wie in Fällen der Ohnmacht, Betäubung, des traumlosen Schlafes - die Perzeptionen ihre Klarheit soweit verlieren, daß sie überhaupt nicht mehr dazusein scheinen, umso mehr als auch von ihnen nur so geringe Spuren im Gedächtnis zurückbleiben, daß selbst die Möglichkeit einer späteren Erinnerung an sie ausgeschlossen werden kann. Diese Art von Perzeptionen nennt LEIBNIZ "perceptions naturelles" oder auch "perceptions inférieurs" [nachrangige Wahrnehmungen - wp]; sie steht in der Stufenreihe der Perzeptionen am tiefsten und charakterisiert dementsprechend auch die niedersten Monaden.

Will man die Haupttypen der Perzeptionen danach ordnen, wie sie sich auf die Arten der Monaden verteilen, so muß man sagen: die Perzeptionen der Menschen sind im wesentlichen klar und deutlich; die der Tiere zwar klar, aber verworren: die der schlafenden Monaden dunkel. So korrespondieren den drei großen Gruppen von endlichen Monaden drei Gruppen von Perzeptionen oder Repräsentationen.

Der aufgestellten These, daß jeder bestimmten Stufe von Monaden eine bestimmte Stufe von Perzeptionen zukommen, widerspricht es jedoch keineswegs, daß bei ein und demselben Individuum die jeweilig in einem Augenblick vorhandenen oder aufeinander folgenden Perzeptionen sehr verschiedene Grade der Klarheit aufweisen. So sinken z. B. die Perzeptionen, die der Mensch im Schlaf hat, auf die Stufe jener völligen Dunkelheit herab, die sonst als charakteristisches Eigentum der Perzeptionen der nackten oder ursprünglichen Monaden zukommt. Und auch dem im Wachzustand jeweilig gegenwärtigen Bestand der Perzeptionen des Menschen findet sich neben den relativ klaren und deutlichen Perzeptionen ein Fülle von kontinuierlich an Klarheit abnehmenden Vorstellungen, bis hinab zu solchen, denen überhaupt nur noch ein unendlich kleiner und ganz geringfügiger Grad von Klarheit zukommt. Im allgemeinen ist dabei nach LEIBNIZ diejenige Perzeption am klarsten, der am meisten Unterscheidbares (dinstinguable) zukommt, d. h. deren Merkmale am leichtesten unterschieden werden können, sowie sie selbst zugleich als Ganzes von anderen Perzeptionen. Und umso verworrener und dunkler ist eine Perzeption, je weniger sie zu einer solchen Unterscheidungsmöglichkeit Anlaß gewährt. Danach hört zwar der Mensch, bei dem im Zustand des Schlafs diese Unterscheidungsmöglichkeit völlig erlischt, nicht auf, Perzeptionen zu haben; wohl aber hört er auf,  klare  Perzeptionen zu haben. Mit anderen Worten: er drückt die Vorgänge des Universums nur noch mehr oder minder  dunkel  aus; der Klarheitsgrad dieser Vorstellungen ist ein so geringer, daß sie beim Erwachen gar nicht dagewesen zu sein scheinen. Denn es fehlt bei ihrem Erleben infolge des unendlich kleinen Grades der Lebhaftigkeit, der ihnen zukommt, jede Spur von Aufmerksamkeit, sodaß ein mit Bewußtsein verbundenes Wissen oder Bemerken ihrer Existenz überhaupt nicht zustande kommt und dementsprechend auch - trotz der notwendig von jeder Perzeption zurückbleibenden Gedächtnisspuren - eine Erinnerung an sie nahezu ausgeschlossen.

Solche Perzeptionen ohne ein bewußtes Bemerken oder ein deutliches Wissen um ihr Dasein gibt es nach LEIBNIZ in allen geschaffenen Monaden zu jeder Zeit unendlich viele. LEIBNIZ nennt sie mit einem von ihm geprägten, im Jahre 1706 zuerst angewandten Terminus: "perceptions sans apperception" [Perzeption ohne Apperzeption - wp]. Es ist der Fehler der Cartesianer, schreibt er, daß sie diejenigen Perzeptionen für nichts gerechnet haben, die man nicht apperzipiert, d. h. von deren Existenz man gemeinhin nichts weiß, die man nicht im Bestand unseres Bewußtseins bemerkt, deren man sich nicht klar bewußt ist, weil der Grad ihrer Stärke und Deutlichkeit und dementsprechend ihrer Aufmerksamkeitserregung und Gedächtniswirkung zu geringfügig ist. Ausdrücklich betont LEIBNIZ: "C'est une grande erreur de croire qu'il n'y a aucune perception dans l'âme que celles dont elle s'appercoit." [Es ist ein großer Fehler zu glauben, daß es keine andere Wahrnehmung in der Seele gibt, als die, die wahrgenommen wird. - wp]

Der Terminus "apperception" gehört für die Interpretaion zu den schwierigsten, mit denen das LEIBNIZ'sche System operiert. Schwierig darum, weil die Stellen, an denen LEIBNIZ selbst ihn zu erklären sucht, mehr mit Beispielen und Beschreibungen arbeiten, als mit einheitlich das Wesentliche heraushebenden Definitionen; schwierig aber auch darum, weil LEIBNIZ im Gebraucht dieser und anderer mit ihm eng verbundener Termini - wie z. B.  pensée, conscience, reflexion  - eine gewisse Freiheit walten läßt, aus der sich für das Verständnis und die Darstellung seiner Auffassungsweise Schwierigkeiten entwickeln müssen. Diese Tatsache erklärt auch jene Fülle von Sonderuntersuchungen, die diesem einen Gegenstand der LEIBNIZ'schen Lehre innerhalb der neueren philosophisch-historischen Literatur zuteil geworden ist, und ebenso die mannigfachen Auffassunsdifferenzen, die sich in Bezug auf die genannten Begriffe des LEIBNIZ'schen Systems gegenüberstehen. Nachdem frühere Bearbeiter, so vor allem STAUDE, sich damit begnügt hatten, mehr oder weniger WUNDT'sche Anschauungen in den LEIBNIZ'schen Begriff der Apperzeption hineinzuinterpretieren; nachdem andere, wie NIEDEN (und neuerdings wieder LÜDTKE), sich anmaßten, mit einer vermeintlichen Kritik dieses Begriffs zu kommen, ehe sie seinen Sinn auch nur zum kleinsten Teil verstanden hatten, traten gründlichere Untersuchungen auf den Plan, die - wie z. B. die Arbeit von STICKER - von der Tendenz Zeugnis ablegten, nichts in LEIBNIZ hineinzutraen, was nicht selbst schon in seinen Äußerungen enthalten ist, und die sich darum zunächst einmal die Aufgabe stellten, ein möglichst vollständiges Quellenmaterial ihren Untersuchungen zugrunde zu legen. Von diesem Gesichtspunkt aus ist die kleine Studie von STICKER - gewisse Mängel, die sich leicht hätten vermeiden lassen, in Kauf genommen - immer noch die wertvollste Leistung unter den genannten bisherigen Bemühungen. Dessenungeachtet sind die Meinungsverschiedenheiten über den Sinn des Wortes "Apperzeption" auch heute noch nicht geringer geworden. Dafür nur ein Beispiel: RICHARD HERBERTZ übersetzt in seiner 1905 erschienenen Leibniz-Monographie "apperception" schlechtweg mit "Bewußtsein", faßt dementsprechend die "perceptions sans apperception" als  "unbewußte  Vorstellungen" auf (d. h. als ein Psychisches, von dessen Existenz die Seele gar nichts weiß) und feiert so LEIBNIZ als den "Vater der Psychologie des Unbewußten"; der schon oben erwähnte FRANZ LÜDTKE dagegen schreibt in seiner 1911 erschienenen Dissertation - wahrscheinlich unter dem Einfluß seines Lehrers REHMKE -: "LEIBNIZ hat an ein unbewußtes Seelenleben nie gedacht; jede Philosophie des Unbewußten war ihm fremd. Nicht die unbewußte, sondern die unbemerkte Vorstellung ist ihm die Perzeption"; und ebenso an einer anderen Stelle: "Apperzeption ist bei LEIBNIZ nicht bewußt, sondern bemerkte Vorstellung; "être appercu" [der eigene Blick - wp] heißt nicht bewußt, sondern bemerkt sein." Sachlich kann zu Differenz natürlich noch nicht hier, sondern erst in dem später folgenden Zusammenhang Stellung genommen werden. Soviel indessen - das sei vorweg gesagt - ist jedenfalls an der zitierten Behauptung von HERBERTZ sicher richtig, daß LEIBNIZ tatsächlich in der Richtung einer Psychologie und Philosophie des Unbewußten gewirkt hat. Und wenn er selbst wirklich niemals an ein unbewußtes, sondern immer nur an ein unbemerktes Psychisches gedacht haben sollte, so bleibt doch das eine bestehen, daß eben gerade LEIBNIZ und nur er als "Vater der Psychologie des Unbewußten" bezeichnet zu werden verdient. Dafür seien nur drei Stützpunkte hier gegeben: erstens der Hinweis auf die Entwicklung der deutschen Psychologie des 18. Jahrhunderts, soweit sie von WOLFF ihren Ausgangspunkt nimmt; zweitens die Tatsache, daß HERBARTs Lehre (2) von den aus dem Bewußtsein verdrängten und ins Bewußtsein zurückstrebenden Vorstellungen stark durch LEIBNIZ'sche Anregungen beeinflußt ist; und drittens das Bekenntnis eines unlängst verstorbenen, sehr produktiven philosophischen Schriftstellers unserer Zeit (3), der eine "Philosophie des Unbewußten" geschrieben hat, in der er einleitend bemerkt: "Ich bekenne freudig, daß die Lektüre des LEIBNIZ es war, was mich zuerst zu den hier niedergelegten Untersuchungen angeregt hat." Schließlich ließe sich in diesem Zusammenhang wohl auch noch GUSTAV THEODOR FECHNER nennen (4), dessen Lehre von den negativen Empfindungen, besonders in der Art der Beispiele, an denen er sie verdeutlicht, sicherlich nicht frei von LEIBNIZ'schen Einwirkungen geblieben ist.

Durch den Begriff "apperception" ist in die Lehre des LEIBNIZ eine neue Einteilung der Perzeptionen oder Expressionen gekommen. Danach ist Perzeption, Expression, Repräsentation (Bezeichnungsarten, die von LEIBNIZ im wesentlichen als gleichbedeutend gebraucht werden) der Oberbegriff für die Perzeptionen "avec apperction" (für die es auch "perceptions sensibles oder remarquables oder notables" oder schlechthin "apperceptions" heißt) und die Perceptionen "sans apperception" (für die auch "perceptions insensibles" oder "petites perceptions" gesagt wird). Diese Einteilung deckt sich der Sache nach aber wieder mit der von LEIBNIZ vollzogenen, oben erwähnten Scheidung der Perzeptionen in klare und dunkle. Die klaren als die "perceptions assez distinguables" sind zugleich die Perzeptionen mit Apperzeption oder apperzipierten Vorstellungen; die dunklen, "qui ne se distinguent pas assez" [die nicht genug unterschiedenen - wp] sind die "perceptions insensibles" oder "perceptions sans apperception". Daraus ergibt sich für den Sinn der Unterscheidung von apperzipierten und nichtapperzipierten Vorstellungen mit Sicherheit jedenfalls zunächst soviel, daß der Unterschied zwischen beiden - wie auch in der neueren LEIBNIZ-Literatur fast durchgehend zugestanden wird - keine spezifischer oder qualitativer, sondern, wie es sich für LEIBNIZ im Grunde von selbst versteht, nur ein gradueller ist. Die apperzipierten Vorstellungen bedeuten einen höheren Grad in der Stufenreihe der Perzeptionen als die nichtapperzipierten. Es wird sich demgemäß im folgenden zeigen, daß die Perzeptionen mit Apperzeption gradweise oder stufenweise aus den "perceptions sans apperception" oder "petites perceptions" herauswachsen.

Bevor der Versuch gemacht sei, die genauere Bedeutung dieser beiden Begriffe im LEIBNIZ'schen Sinne herauszuarbeiten, ist es zweckmäßig, diejenigen Elemente einer näheren Betrachtung zu unterziehen, die LEIBNIZ zur Konzeption der besagten Unterscheidung veranlaßt haben, sowie aus der Füllen von Beispielen, die LEIBNIZ zur Verdeutlichung seiner Anschauungen gegeben hat, die instruktivsten heranzuziehen. Vorerst sei noch bemerkt, daß der Terminus "apperception" mit seinem Korrelat "perception" das eine gemeinsam hat, daß er ebensowenig übersetzbar ist wie dieser selbst. Kein Begriff der deutschen philosophischen Terminologie - weder Bewußtsein noch Bemerken - hat eine so festumrissene Bedeutung, daß er als Wiedergabe des LEIBNIZ'schen "apperception" dienen könnte, obgleich zugestanden werden soll, daß Ausdrücke wie  Bewußtsein,  Bemerken, aufmerksame Wahrnehmung dem Sinn der LEIBNIZ'schen Bezeichnung noch am nächsten kommen. (5)

Es war weiter oben gesagt worden, daß die Monade nach LEIBNIZ die ganze gesetzlich vorbestimmte Reihe ihrer Perzeptionen aus ihrem eigenen Inneren heraus entwickelt, da ein "influxus internus" einer Monade auf die andere nicht möglich ist. Nun sind die Monaden als unzerstörbare Wesenheiten so alt wie das Universum selbst; und wegen ihrer Unzerstörbarkeit haben sie in sich eine unendliche, d. h. unbegrenzte Folge von Perzeptionen, die selbst bis in die Ewigkeit hinausreicht. Diese Folge besteht in ihr bereits vom Augenblick ihrer Schöpfung an; denn Gott selbst gibt ihr diesen Bestand von Perzeptionen als ursprüngliches Eigentum mit; und Gott selbst vermag bereits in diesem ursprünglichen Bestand die ganze künftige Weltentwicklung zu lesen. Anders die geschaffene Monade. Dieses ihres eingeborenen Wissens ist sie sich selbst zu Anfang nicht bewußt; und sie wird sich seines niemals völlig bewußt; denn dieses Wissen ist eingehüllt, verborgen in einer unendlichen Mannigfaltigkeit, einer verworrenen Vielheit und Fülle von kleinen Perzeptionen, aus der sich erst allmählich einzelne Bestandteile zu klaren Vorstellungen entwickeln. Die Monade hat danach zwar von Uranfang an eine vollständige Kenntnis all dessen, was in der Weltgeschichte sich ereignen wird. Diese Gesamtkenntnis des Universums aber ist begleitet von einem so unendlich kleinen Bewußtsein, daß die Monade, der sie angehört, von diesem ihr eingeborenen Schatz nichts weiß. Die Vorstellungen entwickeln sich ferner so langsam und stetig, daß die Monade ihren Inhalt nur sehr allmählich durch die in ihr fortschreitenden Perzeptionen erfährt.

Diese Anschauungen bilden den Gipfel all der Lehren, die ein angeborenes, ursprüngliches Wissen behaupten. LEIBNIZ macht sich nicht allein zum Verteidiger der Cartesianischen Theorie, daß gewisse Grundwahrheiten (von ihm als "vérités de raissonement" [Vernunftwahrheiten - wp] oder "vérités nécessaires" [notwendige Wahrheiten - wp] bezeichnet) der Seele ursprünglich eingeboren seien. Er geht selbst noch viel weiter: Er leugnet mit seiner metaphysisch-rationalistischen These der "Fensterlosigkeit" der Monaden jedes Sinneswahrnehmung im überlieferten Sinn. Er lehrt, daß alles, was je in der Monade zur irgendeiner Zeit als vorübergehender Zustand Wirklichkeit hat, ihr bereits ursprünglich eingeboren gewesen ist. Am ausführlichsten verteidigt er diese seine Auffassung gegen die entgegenstehende Annahme LOCKEs. LOCKEs Essay war 1689 erschienen, zu einer Zeit, in der LEIBNIZ' philosophische Anschauungen in ihren Grundlagen bereits völlig feststanden. Wollte er damals das von ihm (wie es nach seinen mehrfachen Äußerungen nicht bezweifelt werden kann) hochgeschätzte Werk nicht völlig ignorieren, so mußte er zu ihm Stellung nehmen. Er tat das, indem er sich in den 1704 verfaßten "Nouveaux Essays" vom Standpunkt seiner Metaphysik aus mit LOCKE auseinandersetzte, freilich auch das nicht , ohne LOCKE - was gerade bei LEIBNIZ kaum wunder nehmen kann - gelegentlich Konzessionen zu machen. Das aber doch nur in engen Grenzen. Hätte LEIBNIZ sich nämlich gezwungen gesehen, LOCKEs Festsetzungenn in wichtigeren Punkten zuzustimmen, so wäre das einer Preisgabe seines eigenen Systems gleichgekommen. Ließe er sie wieder - wie das tatsächlich der Fall war - in entscheidenden Grundfragen  nicht  gelten, so erwuchs ihm daraus bei einer Auseinandersetzung mit LOCKE die nicht geringe Aufgabe, ihn zu widerlegen. Schwierigkeiten bot ein solcher Versuch von vornherein genug. Denn denkbar größere Gegensätze konnte es zunächst kaum geben: bei LOCKE - um nur einige der zahlreichen Differenzpunkte zu erwähnen - das empirisch-errungene Resultat, nach dem aller Stoff unserer Erkenntnis in seinen letzten Elementen aus einer doppelseitig gewendeten Erfhrung seinen Ursprung nicht; bei LEIBNIZ die rationalistisch-aufgestellte Bestimmung, daß die Seele als völlig abgeschlossene Welt für sich ursprünglich bereits ihren gesamten künftigen Bewußtseinsinhalt latent in sich trägt. Bei LOCKE werden der Seele bei der Geburt nichts als gewisse, noch unausgebildete Fähigkeiten zur Erkenntnis zugesprochen; bei LEIBNIZ wird bereits von Uranfang an ein bestimmter fixierter, gesetzlich geregelter, unendlicher Erkenntnisinhalt in sie hineinlegt.

LEIBNIZ schreibt, daß aller Inhalt der Monade aus ihrem eigenen Innern stammt, ohne ihr von außen gegeben zu sein. Das gilt für alle Perzeptionen; mithin für die "vérités des fait" [Glaubenswahrheiten - wp] sowohl wie für die "vérités des raison" [Vernunftwahrheiten - wp]. Im Hinblick auf den Ursprung dieser beiden besteht also kein Unterschied. Dennoch gewinnt die Behandlung, die LEIBNIZ diesen beiden Begriffen in den "Nouveaux Essays" zuteil werden läßt, ein etwas anderes Aussehen. Dort nämlich erscheinen in der Polemik gegen LOCKE die notwendigen Wahrheiten als die eigentlich und sozusagen angeborenen, die angeborenen Inhalte der Monade  kat exochen  [ansich - wp], während die tatsächlichen oder zufälligen Wahrheiten - diejenigen, die nicht dem Satz des Widerspruchs, sondern dem Satz des zureichenden Grundes unterworfen sind - als "von den Sinnen kommend" bezeichnet werden. Das aber darf nicht als ein Zugeständnis LEIBNIZens an LOCKE betrachtet werden, etwa als eine unvorsichtige Preisgabe der Lehre von der "Fensterlosigkeit" der Monaden. Vielmehr handelt es sich hierbei nur um eine Anlehnung an LOCKEs Sprachgebrauch, die hervorgeht aus dem Bemühen, das dem Menschen logisch- oder intellektuelle-angeborene (also den Inbegriff der  Vernunftwahrheiten)  vom perzeptionell- oder besser sensuell-angeborenen (dem Inbegriff der bloß  tatsächlichen  Wahrheiten) deutlich zur Unterscheidung zu bringen. Angeborene oder ursprünglich in die Monade hineingelegte Inhalte sind  beide  Arten von Wahrheiten; aber der Grad der Gewißheit ist bei ihrem erstmaligen klaren und deutlichen Erleben so verschieden, daß die einen als "von den Sinnen kommend" bezeichnet werden können, gegenüber den anderen, die dann die eigentlich angeborenen Inhalte sind. Die Unterscheidung zwischen dem ursprünglich-angeborenen (vérités de raison) und dem durch die Sinne erworbenen (vérites de fait) ist danach bei LEIBNIZ nicht eine Scheidung nach der  Genesis  der Vorstellungen und Urteile wie bei DESCARTES, sondern nach ihrem logischen Wert, dem Gewißheitscharakter, der ihnen eigen ist. Wenn LEIBNIZ also gelegentlich leugnet, daß die von Lord HERBERT CHERBURY aufgestellten fünf "notitiae commune" oder angeborenen Prinzipien angeborene seien, weil sie nicht absolute oder logische, sondern nur zufällige oder tatsächliche Notwendigkeit an sich tragen, so will er diesen damit nur den Charakter der intellektuell- oder logisch-angeborenen Wahrheiten absprechen und sie demzufolge den  Tatsachenwahrheiten  zuordnen, ohne aber im geringsten den Satz umstoßen zu wollen, daß auch alle Erfahrungswahrheiten im letzten Grund aus der Seeleneinheit selbst stammen, d. h. ihrem ursprünglichen Besitzstand angehören und somit angeborene Prinzipien der Seele bilden.

Als solche Vernunftwahrheiten, die gegenüber den Tatsachenwahrheiten den eingeborenen Bestand der Monade par excellene bilden, nennt LEIBNIZ die Sätze der Mathematik, Logik und Metaphysik; doch auch zahlreiche Sätze der Moral. Kurzum: die eigentlich angeborenen Erkenntnisse sind die, welche aus dem "lumiére née avec nous" [angeborenen Licht - wp] folgen. LEIBNIZ beruft sich zur Verteidigung der Existenz angeborener Erkenntnisse auf PLATO, indem er an den  Menon  erinnert, wo PLATO einen empirischen Beweis dafür geliefert hat, daß die ganze Mathematik dem Geist ursprünglich mitgegeben sei. Die Lehre von der Anamnesis [Erinnerung - wp], führt er aus, ist der von der "tabula rasa" [unbeschriebens Blatt - wp] bei ARISTOTELES und LOCKE unbedingt vorzuziehen.

Auf die Frage, wie diese eingeborenen Inhalte der Seele zu denken seien, hat LEIBNIZ geantwortet, daß man sie sich ähnlich vorstellen kann wie die Gedächtnisresiduen, die von jedem Erlebnis zurückbleiben. Die Tatsache der eingeborenen Ideen sei keineswegs wunderbarer als die Tatsache des Gedächtnisses. Denn wie es sich beim Gedächtnis um einen Bestand von bestimmten Spuren handelt, die - ohne daß wir um ihre Existenz und ihr Wesen direkt etwas wüßten - uns die Möglichkeit geben, frühere Inhalte unseres Bewußtseins als Erinnerungs- oder Einbildungsvorstellungen zurückzurufen, so handelt es sich ähnlich bei den angeborenen Ideen um bestimmte, von Gott ursprünglich in die Seele gelegte Disposition, aufgrund deren in jedem Menschen die Möglichkeit besteht, bei Eintritt gewisser dazu erforderlicher Bedingungen aller Wahrheiten der Mathematik, Logik, Metaphysik usw. klar bewußt zu werden. LEIBNIZ nennt das ein  virtuelles  Eingeborensein im Unterschied von einem  reellen,  das er leugnet.

Solche ursprünglichen Anlagen sind nun aber nicht etwa als bloße  latente  Möglichkeiten zu bestimmten Erkenntnissen zu denken, die, solange eine solche Erkenntnis nicht stattfindet, völlig unwirksam blieben. Sie bilden vielmehr beständig tätigere Präformationen, die eine gewisse Wirksamkeit entfalten auch bei solchen, denen das ihnen eingeborene Wissen nie oder erst spät klar bewußt wird. Wer auch nie die Gesetze der Logik gelernt hat, wendet sie doch im Denken richtig an; und wer auch nie gewisse Moralvorschriften zu deutlicher Einsicht erhoben hat, zeigt doch in seinem praktischen Handeln, daß er solche, ohne von ihnen zu wissen, in sich trägt, und daß sie sein Tun und Lassen bestimmen. Diese Anlagen sind auch nicht so unbestimmter Natur, daß sie sich mit einer gewissen Freiheit bald nach dieser bald nach jener Richtung hin entwickeln könnten, sondern zeigen eine fest vorgezeichnete Konstanz, ähnlich wie die Linien und Adern im Marmor für den ihn bearbeitenden Bildhauer eine gewisse feste Präformation bedeuten können, die unabänderlich hingenommen werden muß.

Allen menschlichen Monaden (esprits oder âmes raisonnables) ist also nach dem Gesagten mit der "ratio", die ihnen zukommt, ein Inbegriff von ursprünglichen notwendigen Wahrheiten eingeboren, die - anfangs nur als Anlagen in ihnen schlummernd - sich erst allmählich zu bewußten Erkenntnissen entwickeln. Wichtig sind nun die Äußerungen von LEIBNIZ über die Faktoren, die zu einer Apperzeption, d. h. zu einer klaren Einsicht der angeborenen Wahrheiten notwendig sind. Fürs erste betont er, daß die Fähigkeit, die ursprünglich uns mitgegebenen Sätze zu apperzipieren, entsprechend der gradweis-kontinuierlichen Verschiedenheit der Menschen und ihrer verfließenden Grenzen nach unten zu den Tieren und nach oben zu höhren Wesen sehr verschieden ist. Selbst den Gelehrten, die für eine solche Apperzeption die meisten Vorbedingungenn besitzen, ist es vielfach nicht leicht, die Möglichkeit einer Apperzeption der Wahrheiten der Mathematik, Metaphysik und Logik in einem auch nur annähernd vollständigen Umfang zu realisieren. Es gibt danach unendlich viel mehr wissenschaftliche Wahrheiten in uns, als bisher zu klarer und deutlicher Einsicht erhoben worden sind. LEIBNIZ zweifelt nicht darn, daß alle uns bekannten Wahrheiten schon immer im Geist der Menschen enthalten gewesen sind, freilich ohne apperzipiert zu werden. So ist es auch keineswegs verwunderlich, daß die meisten Menschen - und zwar gerade die ungebildeten und ungelehrten - dahinleben, ohne von dem ihnen eingeborenen Schatz überhaupt Kenntnis zu nehmen, obgleich sie doch von den in ihnen verborgenen notwendigen Wahrheiten in ihrem Denken und Handeln nicht unbeeinflußt bleiben. Auch LEIBNIZ erklärt die Tatsache, daß die eingeborenen Ideen und Prinzipien zum Teil gar nicht apperzipiert werden wie DESCARTES, indem er die Schuld daran dem Körper zuweist.

Als wesentlichsten Faktor, der zur Apperzeption der notwendigen Wahrheiten führt, nennt LEIBNIZ die Aufmerksamkeit. Erst dann nämlich vermögen wir die Wahrheiten des uns eingeborenen Lichts deutlich zu denken, wenn wir sie zu genügend klaren Perzeptionen erhoben haben, um sie voneinander zu unterscheiden; und diese Unterscheidung, ohne die niemals die Apperzeption zustande kommt, ist ein Werk der Aufmerksamkeit.  Aufmerksamkeit  und  Unterscheidung  werden auch in einem anderen Zusammenhang von LEIBNIZ als Hauptbedingungen zum Eintritt einer Apperzeption von bis dahin unapperzipierten Inhalten des Geistes angegeben.
LITERATUR: Kurt Joachim Grau, Die Entwicklung des Bewußtseinsbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert, Halle a. d. Saale 1916
    Anmerkungen
    1) Daß LEIBNIZ' vielbetonte Tendenz, nach allen Richtungen hin Konzessionen zu machen, zum großen Teil nur darin besteht, daß er überlieferte Termini aufnimmt, ihnen aber einen neuen Sinn unterlegt, bemerken richtig: FRANK RALL, "Der Leibniz'sche Substanzbegriff", Halle 1899 und RINTELEN, "Leibnizens Substanzbegriff", München 1903.
    2) HERBART spricht fast durchgehend nur mit Worten höchster Anerkennung von LEIBNIZ; so sagt er z. B. gelegentlich hinsichtlich der Lehre von den "petites perceptions": "Leibniz' Aufmerksamkeit auf die kleinen Vorstellungen, durch deren Hilfe er die Kontinuität der geistigen Phänomene verfolgt, ... verrät das Auge des Metaphysikers, dem es nicht genügt, nur das anszuschaun, was auf dem Vorhang der Wahrnehmung zu sehen ist, sondern der hinter diesen Vorhang blickt und ... die wahren Kräfte aufsucht, aus denen die sätmliche Tätigkeit des Gemüts erklärt werden muß." (HERBART, Werke V, Ausgabe HARTENSTEIN, Seite 243f)
    3) Vgl. EDUARD von HARTMANN, Philosophie des Unbewußten, Bd. 1, Leipzig 1904, Seite 15
    4) Vgl. FECHNER, Elemente der Psychophysik, Leipzig 1889, Teil 1, Seite 246f
    5) In den lateinischen Schriften heißt es für "apperzeption" nicht "apperceptio", sondern animadversio" [Beobachtung - wp]; in den deutschen Schriften LEIBNIZ' findet sich dafür der Terminus "Gewahrnehmung".