A. SchäffleBouhelierJ. Wolf | ||||||||||||
Der staatssozialistische Charakter der Sozialdemokratie
Andere Aussetzungen MICHELS' an meinem Werk erklären sich aus der Verschiedenheit der Anschauungen in mehreren Fragen. Aber unter den Stellen meines Werkes, an denen MICHELS Aussetzungen zu machen hatte, befinden sich doch einige von besonderem Belang und es dürfte zweckdienlich und nützlich sein, diese Stellen einmal gründlich zu besprechen und mit aller Objektivität die strittigen Tatsachen festzustellen, umsomehr als es mir selber nachträglich scheint, daß ich sie in meiner Geschichte nicht ausführlich genug behandelt habe. Das gilt namentlich für die Frage, ob und inwiefern 1. MARX, 2. als seine Schülerin, die deutsche Sozialdemokratie und 3. als wiederum deren Schülerin, die gesamte sozialdemokratisch-parlamentarische Internationale in den verschiedenen Ländern, die sich ja bekanntlich überall nach deutschem Modell geformt hat, als Anhänger des Staatssozialismus angesehen werden können. In meinem Buch habe ich KARL MARX zusammen mit LOUIS BLANC, RODBERTUS und LASSALLE derselben - staatssozialistischen - Gruppe zugezählt. Es war mir von vornherien klar, daß diese Rubrizierung Widerspruch erwecken würde. Aber ich möchte doch auch heute noch diese Klassifizierung aufrechterhalten und glaube annehmen zu dürfen, daß sich die künftigen Historiker der sozialistischen Bewegung ausnahmslos meiner Meinung anschließen werden. Ich selber glaube aussprechen zu können, daß ich mit meinem Buch zur Beseitigung der gegenteiligen falschen Auffassung des Marxismus beigetragen habe, - darin besteht vielleicht sogar mein Hauptverdienst. Meine Geschichte des Sozialismus ist die erste, in der MARX seinen richtigen Platz erhalten hat. Aber gerade hiergegen wendet sich ROBERT MICHELS mit aller Schärfe, wenn auch nicht unter Außerachtlassung der nötigen Vorsicht, indem er sagt:
Bevor ich diese These erhärte, will ich noch versuchen, ein Mißverständnis zu beseitigen. Man hat behauptet, daß ich ein Gegner der Sozialdemokratie sei und daß die Gegnerschaft ihren Ursprung in den persönlichen Erfahrungen hat, die ich mit den Führern der deutschen Arbeiterpartei gemacht habe. Ich will gern zugeben, daß diese Erfahrungen nicht angenehmer Natur waren. Aber das hat gar nichts mit meinen sachlichen Urteilen zu tun. Diese sind ganz unabhängig. In Parenthese [Klammern - wp] sei übrigens bemerkt, daß selbst MICHELS davon spricht, meine Voreingenommenheit sei "aus seiner Vergangenheit subjektiv berechtigt". Ich erkläre daraufhin, daß ich der deutschen Sozialdemokratie allerdings ohne weiteres besonders gram bin. Gerade weil ich ihr geistig so viel verdanke, erfüllt es mich mit Trauer, zu sehen, wie diese Bewegegung allmählich immer tiefer und tiefer sinkt. Als das Sozialistengesetz zu Fall kam, bin ich der erste gewesen, mit in den Jubel einzustimmen und habe es LIEBKNECHT nachgesprochen, daß die Sozialdemokratie in Deutschland so stark sei, daß selbst ein BISMARCK sich an ihr die Zähne ausbeißen mußte. Später habe ich dann einsehen müssen, daß das alles nichts als Prahlerei war. In Wirklichkeit bedeutete die Abschaffung des Sozialistengesetzes nichts weniger als einen Sieg der Sozialdemokratie über die Regierung. Im Gegenteil, dieses Gesetz konnte abgeschafft werden, weil die Regierung dank seiner ihren Zweck erreicht und die Sozialdemokratie par force auf die legale Bahn gelenkt hatte, sodaß man ruhig hätte sagen können, daß sie zum zweiten Mal mit dieser Partei Theater gespielt und SHAKESPEAREs Stück "Der Widerspenstigen Zähmung" aufgeführt habe. Nur BISMARCK, der das Gesetz gerne noch weiter verlängert gesehen hätte, nicht aber die deutsche Regierung, war geschlagen. Also die bürgerliche Kurzsichtigkeit, nicht die bürgerliche Einsicht, in deren Interesse die Abschaffung gelegen war. Wenn ich heute der deutschen Sozialdemokratie anders gegenüberstehe als früher, so ist daran auch der Brief von MARX an BRACKE, in dem der das Programm von Gotha einer abfälligen Kritik unterzog und der dann längere Jahre von den Führern der Partei unterschlagen worden ist, mit die Ursache. Ich habe dabei gesehen, wie unehrlich die Führer dieser Partei sind, die alle Welt, das Inland wie das Ausland, in dem Wahn gelassen haben, daß MARX der autor intellectualis des Programms sei, sowie auch, wie merkwürdig bei dieser Gelegenheit das Benehmen von MARX und ENGELS selbst war, die, wahrscheinlich um die Parteiführer zu schonen, durch ihr Schweigen den Wahn aufrechterhalten haben. Auf diese Weise schwand mein Vertrauen zu MARX und ENGELS, zu denen ich lange ehrfurchtsvoll aufgesehen hatte, und zu den Leitern der Partei, mit denen ich in jahrelanger persönlicher Freundschaft gelebt hatte. Daß FERDINAND LASSALLE Staatssozialist war, wird wohl von keiner Seite bestritten. Aber auch die Partei. aus welchen Gründen kann uns hier gleichgültig sein, selber ist fünfzehn Jahre lang durch die Aufnahme des Programmpunktes der "Errichtung von Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volkes" staatssozialistisch gewesen, und zwar mit Erlaubnis von Marx und Engels. Ersterer selbst schrieb in seinem erwähnten Brief an BRACKE am 5. Mai 1875: "Es ist meine Pflicht, ein nach meiner Überzeugung durchaus verwerfliches und die Partei demoralisierendes Programm auch nicht durch diplomatisches Stillschweigen anzuerkennen!" (3) Und doch bewahrte KARL MARX dann selber dieses "diplomatische Stillschweigen" bis zu seinem Tode, und wenn ENGELS schließlich den Brief nicht, und zwar gegen den Willen der Parteiführer, insbesondere BEBELs, der sich sehr lebhaft dagegen aussprach, in der "Neuen Zeit" veröffentlich hätte, dann wüßten wir heute noch nicht, wie MARX zum Gothaer Programm gestanden hat. Wenn LIEBKNECHT mit seinem Ausspruch Recht hat, daß "Sozialdemokratie und Staatssozialismus unversöhnliche Gegensätze" sind (4), dann hat also unter seiner Mitwirkung die deutsche Sozialdemokratie fünfzehn Jahre lang in einem "unversöhnlichen Gegensatz" mit sich selbst gelebt. Es ist also unleugbar "something rotten in the State of Denmark". Daher geht es dann auch dieser Partei heute ähnlich wie weiland TILL EULENSPIEGEL, der auch zum Schluß nirgends mehr Achtung findet und von dem die Leute sagen: "Der hat's aber auch danach getrieben!" * Ich will also den Beweis dafür antreten, daß ich Recht hatte, den Marxismus und die Sozialdemokratie der staatssozialistischen Gruppe zuzurechnen. Vor allen Dingen scheint es mir nötig, eine klare Definition des Begriffs "Staatssozialismus" zu finden. Leider geht es diesem Begriff so wie vielen anderen: es ist schwer, für ihn eine feste wissenschaftliche Grundlage zu erhalten. In MEYERs "Konversations-Lexikon" fand ich:
Unter dem Stichwort "Adolf Wagner" fand ich in diesem Lexikon folgendes:
§ 1. Dem Staat kommt es zu, für die Ernährung und Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen können. § 2. Denjenigen, welchen es nur an Mitteln und Gelegenheit, ihrer und der Ihrigen Unterhalt selbst zu verdienen, mangelt, sollen Arbeit, die ihren Kräften und Fähigkeiten gemäß sind, angewiesen werden. § 3. Diejenigen, die nur aus Trägheit, Liebe zum Müßiggang und anderen unordentlichen Neigungen, die Mittel, sich ihren Unterhalt zu verschaffen nicht anwenden wollen, sollen durch Zwang und Strafen zu nützlichen Arbeiten unter gehöriger Aufsicht angehalten werden. § 6. Der Staat ist berechtigt und verpflichtet, Anstalten zu treffen, wodurch der Nahrungslosigkeit seiner Bürger vorgebeugt und der übertriebenen Verschwendung vorgebeugt wird. § 15. Aller Armen und Unvermögenden, denen ihr Unterhalt auf andere Art nicht verschafft werden kann, muß sich die Polizeiobrigkeit eines jeden Ortes annehmen.
2. daß er in Deutschland in einem ganz anderen Sinn gebraucht wird als außerhalb des Landes.
Der Begriff "Staatssozialismus" liegt im Wort selbst eingeschlossen. Das Wort ist zusammengestellt aus den zwei Worten Staat und Sozialismus. Was Sozialismus bedeutet, weiß man. Es ist die Sozialisierung bzw. Gemeinschaftlichmachung der Produktionsmittel. Fügt man dem das Wort Staat hinzu, so ist es klar, daß diese Beifügung sich auf die Körperschaft bezieht, welcher diese Sozialisierung zur Ausführung überlassen wird. Welchen Zweck man damit verfolgt und welche Konsequenzen diese Verquickung nach sich ziehen muß, das sind weitere Fragen, die zunächst mit der wissenschaftlichen Definition des Wortes nichts zu tun haben. Jeder weiß, was unter dem Wort "Staat" zu verstehen ist, und wer es nicht wissen sollte, der fühlt es. Da wir auch wissen, was das Wort "Sozialismus" bedeutet, so ist es klar, daß wir auch wissen müssen, was Staatssozialismus ist. Wenn man sich für Verstaatlichung erklärt, ist es gar nicht nötig, sich dabei einen bestimmten Staat, der diese Verstaatlichung vornimmt, zu denken. Wenn der eine dabei an den Zukunftsstaat in Form einer Abschaffung des gegenwärtigen Klassenstaats, der andere aber gerade an letzteren denkt, so kann daraus nur Verwirrung entstehen. Jeder Begriff muß scharf umrissen sein, sonst hat er keinen Wert. Der Begriff hat das Vorhandensein eines stabilen Elementes zur Voraussetzung. Wenn ich z. B. von der Verstaatlichung der Eisenbahnen spreche, so meine ich damit, daß der Staat die Eisenbahnen verwalten und ausnutzen soll. Da versteht jeder ohne weiteres, daß hier Staat im Sinne von "Gegenwartsstaat" gebraucht ist, und es wäre lächerlich, behaupten zu wollen, die Verstaatlichung dieses Betriebszweiges dürfe erst im Jahre 3000 zugelassen werden. Unter Staatssozialismus ist also jedes System der Verstaatlichung der Produktionsmittel zu verstehen, ohne sich dabei auf teleologische Fragen einzulassen, z. B. darauf, welchen Zweck der Verstaatlicher bei seiner Handlung verfolgt. Betrachten wir nun einmal die Definition, die KARL MARX dem Staatssozialismus gegeben hat, um daraus für unsere Streitfrage, ob wir ihn den Staatssozialisten zur Recht oder zu Unrecht zugezählt haben, einen Schluß zu ziehen. Was lesen wir darüber im bekannten kommunistischen Manifest von KARL MARX und FRIEDRICH ENGELS?
1. Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrenten zu Staats ausgaben. 2. Starke Progressivsteuer. 3. Abschaffung des Erbrechts. 4. Konfiszierung des Eigentums aller Emigranten und Rebellen. 5. Zentralisation des Kredits in den Händen des Staates durch eine Nationalbank mit Staats kapital und ausschließlichem Monopol. 6. Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staates. 7. Vermehrung der Nationalfabriken, Produktionsinstrumente, Urbarmachung und Verbesserung der Ländereien nach einem gemeinschaftlichen Plan. 8. Gleicher Arbeitszwang für Alle, Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau. 9. Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und Industrie, Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land. 10. Öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder, Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form, Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion usw.
Freier Staat - was ist das? Die deutsche Arbeiterpartei - wenigstens wenn sie das Programm zu dem ihrigen macht (7) - zeigt, wie ihr die sozialdemokratischen Ideen nicht einmal hauttief sitzen, indem sie, statt die bestehende Gesellschaft (und es gilt das von jeder künftigen) als Grundlage des bestehenden Staates (oder künftigen für eine künftige Gesellschaft) zu behandeln, den Staat vielmehr als ein selbstständiges Wesen behandelt, das seine eigenen geistigen, sittlichen, freiheitlichen Grundlagen besitzt. Und nun gar der wüste Mißbrauch, den das Programm mit den Worten "heutiger Staat", "heutige Gesellschaft" treibt, und den noch wüsteren Mißverstand, den es über den Staat anrichtet, an den es seine Forderungen richtet. Nachdem KARL MARX den heutigen Staat eine "Fiktion" genannt hat, fährt er folgendermaßen fort:
Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann, als die revolutionäre Diktatur des Proletariats. Das Programm nun hat es weder mit letzterer zu tun, noch mit dem zukünftigen Staatswesen der kommunistischen Gesellschaft. Seine politischen Forderungen enthalten nichts außer der alten weltbekannten demokratischen Litanei: allgemeines Wahlrecht, direkte Gesetzgebung, Volksrecht, Volkswehr usw. Sie sind ein bloßes Echo der bürgerlichen Volkspartei, des Friedens- und Freiheitsbundes. Sie sind lauter Forderungen, die, soweit sie nicht in phantastischer Vorstellung übertrieben, bereits realisiert sind. Nur liegt der Staat, dem sie angehören, nicht innerhalb der deutschen Reichsgrenze, sondern in der Schweiz, den Vereinigten Staaten usw. Diese Sorte Zukunftsstaat ist heutiger Staat, obgleich außerhalb des Rahmens des im deutschen Reich existierenden." Die Sozialdemokraten sollten diese vernichtende Kritik von MARX nur andächtig und unvoreingenommen lesen! Aber sie haben 15 Jahre unter jenem Programm gelebt. Das beweist allerdings, daß die sozialistischen Ideen in dieser Partei in der Tat noch nicht einmal "hauttief" sitzen. Wie dem auch sei, jedenfalls ersieht man aus dem von uns zitierten Dokument, daß auch MARX der Meinung war, daß die Partei wirklich den "heutigen Staat" vor Augen hat. Dadurch ist der Beweis geliefert, daß die Partei trotz allen Leugnens dem Staatssozialismus huldigt. Wäre dem nicht so, müßten wir uns doch die Fragen vorlegen: Was sollte denn Marx sonst gemeint haben? Wie hat er sich die Entwicklung der Dinge vorgestellt? Einerseits neigte er selber stark zum Staatssozialismus, dringt er doch vor allem auf die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse, so sehr, daß er im ursprünglichen Wortlaut der Statuten der Internationalen auf heimtückische Weise hinter die Worte "politische Bewegung" die Worte "als Mittel" (as a mean) - nämlich zur ökonomischen Emanzipation der Arbeiterklasse - hineinschmuggelte, und andererseits bezeichnet er die wirtschaftliche Bewegung der Arbeiter als die wichtigere und die politische als ihren Bedürfnissen unterworfen - was so viel ist als die Politik als unrichtig und nicht zum Ziel führend zu erklären. Auch sah er den Niedergang der Bewegung voraus, indem er sagte:
Das vorliegende Gesetz ist ansich sehr unbedeutend. Sie fürchten es wegen dessen, ws drum und dran hängt. Es ist das spitze Ende des Keils, welcher in die heutige Gesellschaft eingetrieben wird; das dicke Ende wird schon nachkommen, ob Fürst BISMARCK will oder nicht! Indem der Staat die Versicherung gegen Unfälle in der Industrie in die Hand nimmt, bringt er sich in die Lage, auch die Kontrolle über die Industrie in die Hand nehmen zu müssen. Das ist absolut notwendig. Wollte Fürst BISMARCK nicht diese Konsequenzen, so wäre das Gesetz eine elende Farce, schlimmer als das elendeste Wahlmanöver, und das können wir dem Fürsten BISMARCK doch nicht zutrauen. Dafür, daß es ihm Ernst ist bürgt seine Stellung, sein Interesse, er muß. Nun, meine Herren, daß die Kontrolle der gesamten Arbeiterverhältnisse an diesem Gesetz hängt, ist zugegeben worden. Fürst BISMARCK ist schon weiter gegangen; er hat gesagt: Ja, wenn die Dinge so stehen, daß die Großindustrie nicht mehr konkurrieren kann, daß einzelne Fabriken von Privatindustriellen nicht mehr betrieben werden können, dann muß der Staat eintreten. Wohlan, meine Herren! der Fürst BISMARCK mag so weiter gehen in Richtung auf unser Ziel, auf diesem Weg marschieren wir zusammen." Aber LIEBKNECHT ging noch weiter. Er ist ein so "enragierter Staatssozialist", daß er den Sozialismus sogar als Werkzeug der Rettung für den Gegenwartsstaat anpreist. Der Sozialismus rettet den Klassenstaat! Für diese seine Auffassung sind folgende Worte ein gültiger Beleg.
Die Furcht vor den Konsequenzen halten Sie nicht ab, den ersten Schritt auf diesem Boden zu tun! Jetzt haben Sie noch Boden unter den Füßen. Es ist vorhin der Geist des russischen Nihilismus beschworen worden. Meine Herren, die bloße Repression ohne Organisation, ohne organisches Schaffen, ohne positive Maßregeln muß mit Notwendigkeit die Gesellschaft in die völlige Auflösung und den Staat in nihilistische Zustände hineindrängen. Vor dem Nihilismus rettet Sie bloß der Sozialismus, ohne den Sozialismus sind Sie überhaupt nicht mehr imstande, den heutigen Staat aufrechtzuerhalten."
Zum Schluß preist LIEBKNECHT dann das Gesetz an und empfiehlt seine gewöhnlichen Amendements [Zusätze - wp]; darauf heißt es: "Der Sozialdemokratie freilich haben Sie damit nicht den Boden entzogen, sondern einen Dienst geleistet, denn dieses Gesetz ist ein Zeugnis für die Wahrheit des sozialistischen Gedankens." Weitere Beweise für den Staatssozialismus der Sozialdemokratie dürften sich nach dem Gesagten erübrigen. Es ist übrigens merkwürdig, wie MARX durch LIEBKNECKT, der sich doch sonst so gerne als "Soldat der Revolution" nennen und rühmen hörte, und seine übrigen deutschen Freunde Schlag auf Schlag in der Praxis verleugnet wurde. Es liegt die Vermutung nahe, daß es MARX ähnlich gegangen ist wie seinerzeit KLOPSTOCK: man pries ihn viel, aber man las ihn nicht. Ein kritischer Blick auf MARX' und LIEBKNECHTs Gedankenwelt beweist das zur Genüge. Hier ist die Gegenüberstellung:
Man müßte schon mit Blindheit geschlagen sein, um nicht zu erkennen, daß die beiden hier angeführten Ausführungen Gegensätze sind. Dem einen gilt der Staat als Mittel, um den Pauperismus zu bekämpfen, der andere verwirft ihn für denselben Zweck glattweg. Dieselbe Diskrepanz offenbart sich auch in der Frage der Gewaltanwendung:
Auch hier stehen wir wieder vor These und Antithese! Allerdings - aber das macht die Verwirrung nicht besser - kann man einige zwanzig Stellen bei LIEBKNECHT selbst nachweisen, die das Entgegengesetzte seiner von uns zitierten Sätze sagen, vor allem die Stelle:
Auch diese zwei Auffassungen stehen sich wie Feuer und Wasser gegenüber. Hier vertritt ENGELS eine durchaus anarchistische Idee vom Wesen des Staates. Ich wie jeder andere Anarchist sind jederzeit bereit, zu unterschreiben, was er in seinem Buch "Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" (Seite 139 - 140) sowie in seiner Schrift "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" (Seite 267 - 268) über den Staat gesagt hat. Ebenso trifft sich das, was ENGELS über dasselbe Thema in seinem Vorwort zur Broschüre "Internationales aus dem Volksstaat", in der er vom "Verschwinden des Staates und der Demokratie" als dem politischen Ziel der sozialdemokratischen Partei spricht, ausgesprochen hat, mit anarchistischen Ideengängen. Während ENGELS doch die Anarchisten innig gehaßt und eifrig mit seinen Bannstrahlen bedacht hat, unterließ er es doch nicht, in Wirklichkeit Anarchie zu predigen. Man wäre versucht, an eine besondere Kraft der anarchistischen Gedankenwelt, die sich selbst ihren erbittertsten Gegnern aufdrängt, zu glauben. Doch weiter:
Auch hier wieder scharf in die Augen springende Unterschiede. Bei LIEBKNECHT findet man den Wesenskern des Staatssozialismus, während KAUTSKY mit recht anarchistischen Argumenten gegen den Staat Front macht. Die von LIEBKNECHT und seinen Freunden zu häufig verwandten Ausdrücke "wahrer Sozialismus", "der richtige Staat", "der wahre Staatsbegriff" erinnern übrigens sehr an das famose "wahre Christentum". Es gibt an die zweitausend wahre Christentümer, die sich gegenseitig ausschließen und in Acht und Bann tun; ebenso gibt es heute auch einige Tausend wahre Sozialismen, die von der Geschichte nichts gelernt und alles vergessen haben, und die in ihrem kleinen alleinseligmachenden Reich sich und wenigen Anhängern eine unfehlbare Doktrin predigen. Allerdings hat MARX in seinem "Kapital" die Arbeiterschutzgesetzgebung mit der denkbar größten Verherrlichung bedacht. Alle bürgerlichen Reformer können in diesem Buch eine Reihe von Argumenten finden für die These, daß der Schutz der Arbeiter sehr gut durch die Gesetzgebung geregelt zu werden vermag. Gewiß übersehe ich nicht, daß MARX in dieser selben Schrift auch für die Umwandlung der kapitalistischen Produktionsweise in die sozialistische kommunistische eintrat. Aber diese Zwiespältigkeit beweist nichts anderes, als daß auch MARX kein Mann der eisernen Logik war. Auf der einen Seite anerkannt er die Notwendigkeit einer Besserregelung der Gesellschaft durch eine Schutzgesetzgebung auf der Basis des Gegenwartsstaates; auf der anderen Seite plädierte er für die Notwendigkeiten eines gänzlichen Verschwindens der heutigen Gesellschaft. Es ergeht MARX wie GOETHEs Faust. Auch er kann sagen:
Die eine will sich von der andern trennen; Die eine hält in derber Liebeslust Sich an die Welt, mit klammernden Organen; Die andere hebt gewaltsam sich vom Dust Zu den Gefilden hoher Ahnen." Wenn wir der Meinung sind, daß Staatssozialismus die Lehre ist, nach welcher alle Angelegenheiten der Menschheit durch das Eingreifen des Staates geleitet und geregelt werden müssen, ohne sich um das Wesen dieses Staates zu kümmern, - was ja auch nicht nötig ist - und ferner, daß der Anarchismus die Lehre ist, nach welcher alle Angelegenheiten der Menschheit entweder durch eine rein individuelle Initiative oder doch auf dem Weg freiwilliger Assoziation, der jedermann jederzeit beitreten und wieder den Rücken kehren kann, und aufgrund derer der Staat abgeschafft werden muß, dann besteht für uns kein Zweifel mehr darüber, daß MARX in die erstere Kategorie hineingehört. Wenn die Marxisten uns vorwerfen, daß wir MARX Unrecht täten und ihm eine Auffassung unterschöben, die er nie besessen, da er dem Wort Staat eine ganz andere Bedeutung gegeben hat, ja die Worte "Staat" und "Gesellschaft" einander sogar gleichgesetzt habe und sozusagen den Staat abgeschafft wissen wollte, weil durch die von ihm geforderte Aufhebung der Apparat der organisierten Macht zur Unterdrückung einer Klasse durch die anderen von selbst ausgeschaltet wird - dann müssen wir uns doch an die geistreiche Bemerkung des Amerikaners BENJAMIN TUCKER (8) erinnern, der sagt, gewiß habe MARX Staat und Gesellschaft gleichgesetzt, aber doch nur in dem Sinne, in dem man etwa das Schaf und den Löwen gleichsetzen kann, nachdem der Löwe das Schaf aufgefressen hat. MARXens Einheit von Gesellschaft und Staat gleicht der Einheit von Mann und Weib vor dem Gesetz: Mann und Weib sind Eins und diese Eins ist der Mann. So sind nach MARX auch Staat und Gesellschaft Eins; aber diese Eins ist der Staat. Hätte MARX umgekehrt in seiner Gleichsetzung den Staat in der Gesellschaft aufgehen lassen, so wäre er Anarchist gewesen, denn für die Anarchisten bedeutet das Wort Gesellschaft nur den ganzen Komplex von Beziehungen zwischen den einzelnen Menschen, die sich spontan und organisch selbst bilden ohne Dazwischentreten einer äußeren, konstitutionellen, autoritären Macht. Daß MARX nicht diesen Staatsbegriff hatte, wird dadurch bewiesen, daß er daran dachte, den Staat zur Einführung und Aufrechterhaltung des Sozialismus zu verwenden durch die Inbeschlagnahme des Kapitals und seine öffentliche Verwaltung durch eine autoritäre Macht. Daß diese Macht von nun an nicht mehr patriarchalen, sondern demokratischen Charakter tragen soll, ist irrelevant. Ohne jenen Unterschied in der Auffassung des Staatsbegriffs wäre aber auch die ganze Kampagne der Anarchisten gegen MARX völlig unbegreiflich gewesen. Weder ROBERT MICHELS noch LUIGI FABBRI ((9) werden doch behaupten wollen, daß der Kampf zwischen BAKUNIN und MARX auf einem Mißverstehen MARXens beruth habe. Wer wagt es, ernsthaft zu behaupten, daß Anarchismus und Sozialdemokratie zwei Linien gleichen, die sich irgendwann einmal in einem Punkt treffen, und wer wagt es, zu leugnen, daß sie vielmehr zwei Linien vergleichbar sind, die, wie weit man sie auch ziehen würde, immer gleich weit voneinander entfernt bleiben? MARX steht BISMARCK näher als dem Anarchismus. Beide erkennen die Notwendigkeit der Autorität an, wodurch der Wille des Individuums dem der Gesamtheit untertan sein soll und wollen das Prinzip der Mehrheit als Richtschnur aufstellen, während umgekehrt der Anarchismus die Souveränität des Individuums proklamiert. Die Reaktion der Anarchisten gegen MARX ist nur durch seine staatssozialistische Tendenz zu erklären. Es ist unbestreitbar, daß MARX ein ausgesprochener Freund der Zentralisation war. Im Gesellschaftsleben kann aber nur der Staat zentralisieren. Was immer man unter dem Wort Staat verstehen will, man wird es immer mit einer Regelung und Verteilung der Produktion durch eine bestimmte Körperschaft zu tun haben, welche Namen auch immer man dieser geben will. * GEORG von VOLLMAR, einer der unstreitig sympathischsten Figuren und hellsten Köpfe in der deutschen Sozialdemokratie, ein Mann, der nie ein Blatt vor den Mund nimmt, wenn er etwas zu sagen hat, hatte in einer französischen Revue über den Staatssozialismus und über die Stellung der Sozialisten zum neuen Kurs WILHELM II. einen Artikel geschrieben (10). Alsbald ging ein Sturm der Entrüstung gegen ihn los. Der Vorwärts goß die volle Schales seines Zorns über ihn. Er habe, hieß es, den Klassenkampf verleugnet, mit dem Erfurter Programm gebrochen. Man sprach von einer Spaltung der modernen Arbeiterbewegung, einem weiteren Schritt nach rechts, von unverfälschtem Possibilismus, offenbarer Kompromißpolitik, von einer Verwässerung und Versumpfung der Partei, einer Verrückung des Ziels der revolutionären Sozialdemokratie, Regierungssozialismus. VOLLMAR faßte den gegen ihn geschleuderten Spieß mit der gewohnten Ruhe auf, äußerte über das vor ihm liegende gedruckte Sündenregister: "Derlei nimmt kein Besonnener ernst!" - wodurch er LIEBKNECHT der Unbesonnenheit bezichtigte - und schrieb eine kleine Broschüre, die wir uns näher ansehen wollen. In ihr bemerkte VOLLMAR:
VOLLMAR versteht unter dem Wort Staatssozialismus folgendes:
VOLLMAR hatte darauf hingewiesen, daß KAUTSKY selbst in der Neuen Zeit 1884 "das Eingreifen des Staates in die wirtschaftlichen Verhältnisse" bezeichnet hatte als "Sozialismus im weitesten Sinne" und meint, daß sich "der oben angeführte Sozialismus im weiteren Sinne vollkommen mit einem Staatssozialismus in dessen weitestgehender Definition decken würde." Darauf gibt KAUTSKY zur Antwort, daß es aus dem Zusammenhang hervorgeht, daß er "an der betreffenden Stelle unter "Sozialismus im weitesten Sinne" Staatssozialismus und demokratischen Sozialismus (oder Kommunismus) verstanden wissen wollte, daß demnach in dieser Definition die charakteristischen Merkmale fehlen, die den Staatssozialismus von der Sozialdemokratie scheiden." Der Programmentwurf des Parteivorstands definierte den Staatssozialismus als "das System der Verstaatlichung zu fiskalischen Zwecken, das den Staat an die Stelle des Privatunternehmers setzt und damit die Macht der ökonomischen Ausbeutungn und der politischen Unterdrückung des Arbeiters in einer Hand vereinigt." KAUTSKY hält diese Definition für zwar nicht wissenschaftlich genügen, aber doch propagandistisch richtig, da sie die Hauptkennzeichen des Staatssozialismus in zufriedenstellener Weise wiedergibt. Wir wissen nicht recht, warum man den Staatssozialismus durchaus als deutsches oder doch preußisches Gewächs bezeichnet hat. LOUIS BLANC war ein ausgesprochener Staatssozialist. Alle Romane, die den Zukunftsstaat behandeln, sind durch und durch staatssozialistisch. Wenn KAUTSKY sagt: "Der Staat, der zu verstaatlichen hat, ist der heutige preußische, dessen Gewalt womöglich noch verstärkt werden soll; es ist ein Staat, dessen Gewalt zwar unabhängig ist von den Klassen, der aber doch das Interesse des Grundbesitzes als das höchste betrachtet, also der richtige Junkerstaat", so werden wir antworten: Gewiß, der Staatssozialismus wird in Preußen die Verstaatlichung des preußischen Staates bedeuten, aber in Frankreich, England, Holland usw. die Verstaatlichung des französischen, englischen, holländischen Staates. VOLLMAR hat vollkommen recht, wenn er sagt:
Auch in seiner bekannten Rede über das Tabaksmonopol hat VOLLMAR im Reichstag deutlich durchblicken lassen, daß die Sozialdemokratie "ansich für die Verstaatlichung eine gewisse Neigung hat, insofern dieselbe den Staat, im Prinzip wenigstens, als den allein berechtigten Anordner der Produktion aufstellt." Hier haben wir also das Geständnis, daß der Staat im Prinzip "der allein berechtigte Anordner der Produktion" ist. Welcher Staat? Natürlich der bestehende Staat, als der einzige, mit dem praktisch gerechnet werden kann. Auch aus den Programmen der sozialdemokratischen Parteien außerhalb Deutschlands geht klar hervor, daß "die Verstaatlichung eine allgemeine ökonomische Erscheinung ist, welche allen Ländern gemeindam ist". Im Programm der schweizerischen Sozialdemokratie heißt es sogar, daß "in wirtschaftlicher Beziehung die den heutigen Verhältnissen am besten anzupassende Form der Verwirklichung des sozialdemokratischen Zieles also die Organisation aller wirtschaftlichen Tätigkeit durch das Volk, die Verstaatlichung" ist, um zum Schluß folgende Konklusion zu ziehen: "so wird der Leser nunmehr erkennen, daß die Sozialdemokratie allerorten tatsächlich eine ganze Reihe von Maßregeln angestrebt hat und anstrebt, welche man ganz wohl als staatssozialistisch bezeichnen kann". Ich kann wohl ruhigen Gewissens sagen, daß ich somit meine dahingehende Aufstellung aktenmäßig erwiesen habe. Wir haben unsere These hier um ein ganzes Ende gefördert. Denn in den von uns gewählten Beispielen tritt das Bekenntnis zum Staatssozialismus mit aller Offenheit ungekränkt zutage, sowohl im Prinzip als auch in den praktischen Maßregeln zur Erreichung des Ziels. Auf dem Parteitag in Berlin 1892 wurde die Frage des Staatssozialismus von der deutschen Sozialdemokratie offizielle auf die Tagesordnung gesetzt. Die einstimmig angenommene Resolution lautete folgenermaßen:
Die Sozialdemokratie hat mit dem sogenannten Staatssozialismus nichts gemein. Der sogenannte Staatssozialismus, insofern er auf die Verstaatlichung zu fiskalischen Zwecken hinzielt, will den Staat an die Stelle der Privatkapitalisten setzen und ihm die Macht geben, dem arbeitenden Volk das Doppeljoch der ökonomischen Ausbeutung und der politischen Sklaverei aufzuerlegen. Der sogenannte Staatssozialismus, insofern er sich mit einer Sozialreform oder der Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen beschäftigt, ist ein System von Halbheiten, das seine Entstehung der Furcht vor der Sozialdemokratie verdankt. Er bezweckt, durch kleine Konzessionen und allerlei Palliativmittel [keine Heilung sondern nur eine Reduzierung der Folgen - wp] die Arbeiterklasse der Sozialdemokratie zu entfremden und diese dadurch zu lähmen. Die Sozialdemokratie hat nie verschmäht, solche staatliche Maßregeln zu fordern oder - falls von anderer Seite vorgeschlagen - zu billigen, welche eine Hebung der Lage der Arbeiterklasse unter dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem herbeiführen könnten. Sie betrachtet solche Maßregeln aber nur als kleine Abschlagszahlungen, die ihr Streben nach der sozialistischen Neugestaltung des Staates und der Gesellschaft in keinster Weise beirren. Die Sozialdemokratie ist ihrem Wesen nach revolutionär, der Staatssozialismus konservativ. Sozialdemokratie und Staatssozialismus sind unversöhnliche Gegensätze." Der sogenannte Staatssozialismus, heißt es in der interessanten, noch heute magebenden Resolution weiter, will den Staat anstelle des Privatkapitalisten setzen. Aber das ist ja gerade derselbe Vorwurf, den die wissenschaftlichen Gegner der Sozialdemokratie dieser selbst vorwerfen. In seiner Schrift "Gesellschaftliches und Privateigentum?" spricht EDUARD BERNSTEIN aus, daß "zunächst nur die Verstaatlichung der eigentlichen Großproduktion" nötig sein würde. Er meint, es sei töricht, sich darüber zu streiten, "ob der Staat erst nur die Kontrolle oder sofort die unmittelbare Leitung des Produktionsprozesses zu übernehmen haben wird." Für ihn besteht die Hauptsache in der "einheitlichen Regelung der Produktion". Diese Worte beziehen sich nicht auf die Zukunft, sondern auf den Gegenwartsstaat, denn: "auch hierfür lassen sich unter der heutigen Gesellschaft bereits eine Reihe entsprechender Beispiele anführen." Also sofort und jetzt schon! (12) KAUTSKY seinerseits sagt in der Erläuterung zum Erfurter Programm: "Der Übergang zur sozialistischen Gesellschaft bedingt keineswegs die Expropriatrion der Kleinhandwerker und Kleinbauern" (13), deren Ankündigung, setzen wir hinzu, allerdings dem Wahlsozialismus von heute gefährlich werden könnte. Der sozialdemokratische Bauer auf dem Lande muß doch vor allen Dingen beruhigt werden! VANDERVELDE geht sogar so weit, vorzuschlagen, man solle sich mit der Vergesellschaft der Bergwerke, Steingruben und der großen Verkehrs- und Produktionsmittel zufrieden geben (14), da der Kleinhandel und die Kleinindustrie gerade den besten Boden für die freie Assoziation abgeben würden. LIEBKNECHT hingegen verteidigt die von ihm eingebrachte Resolution auf dem Berliner Parteitag mit folgenden Worten:
Aber nach Ansicht der Sozialdemokratie unterschieben die Bürgerlichen wie auch die Anarchisten dem Wort "Staat" stets die Bedeutung Gegenwartsstaat. Die bürgerlichen Staatssozialisten "wollen die Quadratur des Zirkels, einen Sozialismus, der kein Sozialismus ist, in einem Staat, der das Gegenteil des Sozialismus ist. Aber LIEBKNECHT selbst hat von einem "Hineinwachsen in die sozialistische Gesellschaft" gesprochen, eine Auffassung, die eine langsame Reformarbeit involviert. Auch BEBEL hat häufig der gleichen Ansicht Ausdruck verliehen. Die gewöhnliche Vorstellung von der Eroberung der öffentlichen Macht ist bei der Sozialdemokratie stets an den Parlamentarismus gebunden und hängt von der Eroberung der Mehrheit in den gesetzgebenden Körperschaften ab. Hier sind die Jungen allerdings mit dem Meister im Widerspruch. Diesem war die Ökonomie die Basis des ganzen "Überbaus", jene aber glauben, die Ökonomie mit Hilfe der Politik verändern zu können. LIEBKNECHT sagt: "Der freie Staat kann nimmermehr der heutige Staat sein, ein freier Staat ist nie und nimmer möglich auf der Grundlage der kapitalistischen Produktion" sowie ferner:
Die Taktik der Sozialdemokratie geht auf den Staat aus, und zwar mit staatlichen Mitteln. Sie trägt alle Merkmale des Staates. Genau wie der Staat, hat auch sie ihre Rebellen, und genau wie er die seinen, behandelt sie die ihrigen. Solange ich nun der Freund der deutschen Sozialdemokratie war, nannte man mich "unseren bedeutenden und tapferen Mitkämpfer". Seitdem ich an der Richtigkeit der Lehren zweifle, bin ich "der alte redselige Pfarrer" geworden und meine Schriften sind vom Parteiverleger vom Verkauf zurückgezogen oder direkt verboten worden. Zwar wird der Staatssozialismus der Partei bisweilen in ihren eigenen Reihen bekämpft. Kurz nach dem Fall des Sozialistengesetzes aber traten die sogenannten Jungen gegen die Parteileitung auf und Dr. HANS MÜLLER schrieb: "Es begann ein Klassenkampf in der Partei zwischen dem revolutionär-proletarischen und dem possibilistisch-kleinbürgerlichen Element" (15). Aber jeder neue Parteitag vollzog einen neuen Schritt vom Sozialismus weg, wenn auch in der Form einer Springprozession in Echternah, einen Schritt vorwärts und zwei zurück, wie in Jena und Mannheim, wo mit einem ungeheuren Aufwand von Kunst bewiesen wurde, daß die dem Generalstreik feindliche Resolution der Gewerkschaften von Köln und die dem Generalstreik "gegebenenfalls" freundliche Resolution der "radikalen" Sozialdemokraten vom Parteitag in Jena sich eigentlich gar nicht widersprechen. Allzueifrige Versuche, die Sozialdemokratie restlos im Staatssozialismus aufgehen zu lassen, stoßen zwar zunächst auf Widerstand, aber zuletzt behalten immer diese Rebellen recht und der Friede, den sie mit den Orthodoxen schließen, fällt nicht zu ihren Ungunsten aus. Auf dem Parteitag in Erfurt bestand die Absicht, gegen VOLLMAR mit den schärfsten Mitteln vorzugehen. BEBEL, LIEBKNECHT und andere beschuldigten ihn, eine neue Taktik in die Partei einführen zu wollen, so daß man ruhig den Namen der sozialistischen Partei in den einer "Deutschen Arbeiterpartei" verwandeln kann. Aber als VOLLMAR seine Zähne zeigte und drohte, wenn man eine scharfe Resolution gegen ihn annähme und seine Ideen als nachteilig bezeichnet, er zum letzten Mal zur Partei gesprochen haben würde, wurde alle Schärfe aus den vorliegenden Resolutionen entfernt und zum Schluß eine Resolution angenommen, für die VOLLMAR selbst stimmen konnte. Das geschah nicht etwa, weil VOLLMAR einigermaßen nach links, sondern umgekehrt, weil die gesamte Partei nach rechts abgeschwenkt war. Auf dem Parteitag zu Berlin platzten die Meinungen von VOLLMAR mit denen der Parteileitung wieder aufeinander. Aber der Schlußakt des Streites bestand in einer gegenseitigen Apotheose. Später trat dann EDUARD BERNSTEIN auf und gab Ideen kund, die von LIEBKNECHT als die Negation des gesamten Programms bezeichnet wurden; aber auch dieser Streit endete mit einer "embrassade générale" [allgemeinen Umarmung - wp]. Bei all diesen neuen Streitigkeiten hat die Parteileitung eine ungewöhnliche Virtuosität an den Tag gelegt. Die staatssozialistische Diplomatie siegte glänzend. Die Sozialdemokraten leugnen ihre Verwandtschaft mit dem Staatssozialismus zu Unrecht ab. Sie haben den LOUIS BLANCschen Gedanken von der Regierung als höchsten Regler der Produktion übernommen, und sie treiben damit bonapartistische Sozialpolitik. (16) Diesen Staatssozialismus hat die deutsche Sozialdemokratie nach Kräften exportiert. Er ist zwar "made in Germany", hat aber heute überall Wurzel geschlagen, wo ein günstiger Boden vorhanden war. Theoretisch betrachtet sind die Sozialdemokraten allerorts dem Staatssozialismus gegenüber in einem hohen Grad unsicher und schwankend geblieben, sie haben ihn in einem Atem als "eminent staatsbildend" und als "staatsstürzende Kraft" apostrophiert, wie sie dann überhaupt in allen ihren Begriffen und Ansichten überaus schwankend sind und einmal den Sozialismus als nahe bevorstehend - wir erinnern an BEBELs Wort auf einem Parteitag, daß nur weinge der Anwesenden die Erreichung des Endziels nicht mehr erleben würden - ein andermal wieder als in weiter Ferne liegend verkünden. So auch dem Staat gegenüber, von dem es einmal heißt, er fiele sofort nach der Eroberung der Macht durch das organisierte Proletariat "in sich selbst zusammen", dann wieder, er werde unmittelbar nach der Besitzergreifung durch die Sozialdemokratie "weiter ausgebaut". Der Zukunftsstaat wird nach den offiziellen Mitteilungen KAUTSKYs (17) aus einem sozialistischen Gemeinwesen bestehen, in dem "alle Produktionsmittel in einer Hand vereinigt" sind und es "nur einen einzigen Arbeitgeber gibt, den zu wechseln unmöglich ist". Das wird also ein ungemein kräftiges Staatswesen, das dem der absoluten Monarchie ähnlich sieht, denn ob die Macht in der Hand einer Person oder einiger weniger Personen liegt, hat bei gleicher Gradstärke der Zentralisation genau dieselbe Wirkung. Es ist auch nicht verlockend, wenn KAUTSKY selbst zugibt, daß wenn "der Arbeiter unter der kapitalistischen Großindustrie noch eine gewisse Freiheit hat", dies in der sozialistischen Gesellschaft nicht mehr der Fall sein kann, daß in ihr der Arbeiter also selbst das Stückchen kapitalistischer Freiheit noch einbüßt. Anstelle der Abhängigkeit des Arbeiters von einem Kapitalisten, dessen Interessen wenigstens den seiner Konkurrenten feindlich gegenüberstehen, setzt die Sozialdemokratie die "Abhängigkeit von einer Gesellschaft, deren Mitglied er selbst ist, einer Gesellschaft gleichberechtigter Genossen, die gleiche Interessen haben." Aber die Unfreiheit bleibt dieselbe, ob der Anlaß zu ihr von einem Fabrikanten oder von einem Hundert gleichberechtigter Genossen ausgeht. Wenn KAUTSKY gleich darauf auch noch sagt: "Die Gewerkschaften sind bereits ein Bild jener "Tyrannei des sozialistischen Zwangsstaates", von der unsere Gegner faseln. Da werden bereits die Arbeitsbedingungen des Einzelnen auf das genaueste und strengste gehandhabt, es ist aber bisher noch keinem Mitglied einer dieser Gewerkschaften eingefallen, darin eine unerträgliche Beeinträchtigung seiner persönlichen Freiheit zu erblicken", so müssen wir gestehen, daß es uns sehr gewagt erscheint, solche Dinge niederzuschreiben. Heute haben schon genug Mitglieder der Gewerkschaften selbst eingesehen, wie schwer die Tyrannei ihrer Organisationen auf ihnen lastet, die bei Strafe des Hungertodes von den Kollegen unbedingten Gehorsam fordern. KAUTSKY hat gut reden: "aber die Unfreiheit der Arbeit verliert in einem sozialistischen Gemeinwesen nicht nur ihren drückenden Charakter, sie wird auch die Grundlage werden der höchsten Freiheit, die im Menschengeschlecht bisher möglich gewesen ist." Die Arbeit verliert ihren "drückenden Charakter" nie, und nun soll sie gar noch zur "Grundlage der höchsten Freiheit" werden. O sancta simplicitas! Das heißt ja beweisen wollen, daß Freiheit Unfreiheit ist und noch dazu desto freier wird, je unfreier sie ist.
QUACK hat ganz Recht, wenn er sagt, der marxistische Staat wird aus einem Heer von Beamten bestehen und nur Kontrolleure und Kontrollierte kennen, denn er schließt jede freie Vereinigung freier Menschen von vornherein aus. Zwar wird in ihm jeder Mensch sein Brot haben, aber die Liebe zum Lebensunterhalt wird dabei das Motiv des Lebens selber, nämlich die Würde des freien Menschen, preisgeben. (18) Der logische Schluß ist unabwendbar: Die Bahn des Parlamentarismus führt zum Staatssozialismus. Seit die Sozialdemokratie resolut diese Bahn betreten hat, ist nicht mehr davon die Rede gewesen, daß sie vor allen Dingen auf die Vernichtung des alten Staates hinzuwirken habe (nach dem jungen LIEBKNECHT), wenn sie sich auch "für die soziale Praxis erst den staatlichen Boden erkämpfen" muß. Es ist der Partei so gegangen, wie es, nach des alten LIEBKNECHTs Worten, der alten Fortschrittspartei ergangen war, die "sich im eigentlichsten Sinn des Wortes totgeredet hat", denn das "Volk hörte stets dieselben Reden und sah stets dieselbe Resultatlosigkeit": sie befindet sich auf dem Weg, der dahin führt, daß das Volk sich von ihr abwendet, "erst mit Gleichgültigkeit, dann mit Ekel". LIEBKNECHT hat sich genugsam lustig gemacht über die, die das "allgemeine Stimmrecht für die wundertätige Springwurzel halten, welchen den Enterbten die Pforte der Staatsgewalt öffnet" und sagt, daß diejenigen, welche lehren, daß "in dem Wahn, sich auch im Polizei- und Militärstaat am allgemeinen Stimmrecht, wie weiland MÜNCHHAUSEN an seinem Zopf, aus dem Sumpf des sozialen Elends herausheben zu können" verdienen, daß "MÜNCHHAUSENs Zopf ihr Hinterhaupt schmücken sollte". Ich verweise auf mein 1895 in Paris erschienenes Buch "Le Socialisme en Danger", in welchem ich den Entwicklungsprozeß der Sozialdemokratie Schritt für Schritt verfolgt habe. Diese Partei dient nur dazu, einem fünften Stand das Leben zu geben. Die Gefahr für den Sozialismus besteht im Einfluß des Kapitalismus auf die Sozialdemokratie selbst. In demselben Maß, da eine immer größer werdenden Zahl ihrer Anhänger etwas zu verlieren haben, verliert sie ihren Charakter. Die Zeiten, in denen man mit dem kommunistischen Manifest ausrufen konnte: "Ihr habt nichts zu verlieren als eure Ketten, ihr habt eine Welt zu gewinnen!" sind vorbei. Besitz aber macht immer träge. Daher ist die Sozialdemokratie mit den Jahren immer gemäßigter, verständiger, praktischer, diplomatischer, schlauer geworden. Damit hat sie allerdings gleichzeitig all ihre Kraft und Größe eingebüßt und ist farblos geworden. Wir sind überzeugt, daß sie immer noch mehr Stimmen auf ihre Kandidaten vereinigen, immer noch mehr Würdenträger gewinnen wird, daß ihr Buchhandel immer schwunghafter werden, ihre Bierhäuser und Zigarrenverkaufsstellen immer mehr anwachsen, daß ihre Konsumvereine immer mehr Bäckereien gründen, mit anderen Worten, daß die Zahl derer, die an einer friedlichen und ruhigen Entwicklung ökonomisch interessiert sind, stets zunehmen wird. Aber wir sind ebenso sicher, daß mit all dem der der Partei selbst gefährliche "revolutionäre Geist" verschwinden wird. Kapitalistische Leitmotive leiten bereits heute häufig die Parteipolitik. Als vor etlichen Jahren die Arbeitslosen in Berlin einen Umzug gemacht hatten, wurden sie von der Parteileitung als "Ballonmützen" beschimpft, weil sie sich erlaubt hatten, die Läden einiger sozialdemokratischer Einzelhändler zu plündern. Die Beschädigung "sozialdemokratischen Eigentums" wird zum größten Verbrechen, das Arbeiter begehen können. * Es bliebe nur noch übrig, die Idee der Autorität zu analysieren, die im letzten Grund das wertvollste Kriterium zur Einteilung und Unterscheidung von Ideengängen und Theorien bildet. Aber eine derartige Untersuchung würde uns zu weit führen und außerdem können wir uns hier in allem den Ausführungen PROUDHONs in seiner "Idée Générale de la Revolution au XIX. Siecle" anschließen. * Wer die Formel der Eroberung der politischen Macht annimmt, zunächst als das vornehmste Ziel und dann als das Ziel schlechthin, der muß beim Staatssozialismus landen. Der Staatssozialismus als solcher ist unabhängig von der Existenz oder Nichtexistenz einer absolut monarchischen Oberleitung. Im Begriff Staat liegt nicht der Begriff der Monarchie, wohl aber der der straffen Zentralleitung eingeschlossen. Er sagt uns nichts darüber, ob diese Zentralleitung ein oder viele Häupter haben soll. Da die Sozialdemokratie, den Fußspuren von MARX folgend, also nach der Verstaatlichung strebt, wie sie es ja selbst zugibt, so ist sie als staatssozialistisch zu bezeichnen. Die Entschuldigung, daß sie es nur für die Zukunft und nicht für die Gegenwart ist, ist vollkommen hinfällig; denn ihre tägliche Praxis liefert uns die Beweise, daß sie nicht an den Staat der Zukunft, sondern an den Staat der Gegenwart, den monarchistischen und militaristischen Staat, denkt. Wer innerhalb des bestehenden Staates für die Erweiterung der Machtssphäre des Staates tätig ist, der muß auch in theoretischer Hinsicht ein Staatssozialist sein. Freilich sind selbst unter den Anarchisten die Meinungen hierüber geteilt. LUIGI FABBRI, der mir sonst politisch sehr nahe steht, hat in einem der letzten Hefte dieser Zeitschrift gerade die entgegengesetzte These aufgestellt, indem er behauptete, das MARXsche Ideal der gesellschaftlichen Rekonstruktion sei in hohem Grad libertär und anti-staatlich gewesen und BAKUNIN habe sich von MARX lediglich in Fragen der inneren Organisation der Internationalen und im Temperament unterschieden. Der Rest der Meinungsverschiedenheiten beider Männer aber seien pure Zänkereien gewesen (19). Ich gebe sofort und ohne weiteres zu, daß "die heutige Theorie des autoritären und zentralistischen Kollektivismus wie auch die des anarchistischen Kommunismus sowie schließlich die der individualistischen Propaganda der Tat in der Zeit der Internationalen nur im Keim und noch dazu in ungeheuer verschiedenen Schattierungen vorhanden war". Aber wo es "Keime" gibt, muß es nach naturwissenschaftlichen Gesetzen eine Entwicklung geben. Daß die Entwicklung die Gegensätze zwischen Anarchisten und Sozialisten verschärft hat, ist also nur natürlich. Sobald aber einmal anerkannt wird, daß schon in der Internationalen die "Keime" des Anarchismus schlummerten, fällt auch die These von den Temperamentsunterschieden, die, nach FABBRI, die Hauptursache des Zerwürfnisses zwischen MARX und BAKUNIN gewesen sind, in sich zusammen. Das persönliche Element ist überall unleugbar, aber der scharfe Gegensatz zwischen der sozialdemokratischen und der anarchistischen Gedankenwelt setzt doch auch einen ideellen Antagonismus voraus. Wäre die Gegnerschaft zwischen den beiden Fraktionen heute noch möglich, wenn sie nur auf den Zwist zwischen MARX und BAKUNIN von anno dazumal zurückzuführen wäre? Wäre dem so, so würden sich die Nachfolger beider Männer wohl von dieser Vergangenheit losgesagt haben. Sie würden sich gesagt haben, daß beide Männer nun längst tot sind und nur noch ihre Ideen lebendig. Darum kommt es mir unrichtig vor, wenn FABBRI den Unterschied zwischen den beiden Richtungen in der Internationalen als für mehr praktischer als theoretischer Natur erklärt, daß er mehr die innere Organisation der Partei als die theoretischen Grenzlinien, mehr die Verschiedenheit der Charaktere als die der wissenschaftlichen Überzeugung betroffen habe, und ich weise nochmals darauf hin, daß der Keim der Verschiedenheit auch im zufolge immer vorhanden war. Auch im Sperma kann der Forscher zunächst keine Unterschiede erkennen, und doch scheiden sich nachher die Geschlechter und aus anscheinend demselben Sperma entstehen Mann und Weib. Gerade daraus, daß beide Männer, MARX und BAKUNIN, ganz andere Temperamente waren, muß der Schluß gezogen werden, daß auch ihre Geistesrichtungen voneinander sehr verschieden gewesen sein müssen. Auch kann die Abstammung der beiden nicht ohne einen tiefgehenden Einfluß auf ihre Weltanschauung geblieben sein. KARL MARX war Jude - sein Kapital ist voll talmudistischen Geistes - und hat geistig nie ganz den inneren Zusammenhang mit dem Kreis der Rabbiner, dem er physisch entstammte, verloren. BAKUNIN seinerseits war ein Christ und es ist ihm deshalb nie gelngen, sich vom Glauben an das Absolute völlig zu befreien, wenn er sich auch bei ihm auf besondere Art und Weise offenbarte. Der eine war ein Deutscher, der an die Superiorität seines Volkes glaubte und im Russen den Erbfeind sah, gegen den es hieß, stets auf der Hut zu sein, der andere ein Slawe, dessen Rasse bestimmt ist, in die alten Adern der Germanen und Romanen junges und frisches Blut zu gießen. Ich möchte auch hier wieder auf die Stelle hinweisen, in der QUACK die Persönlichkeiten der beiden Männer gegenüberstellt und charakterisiert: MARX, der ganz Strategie, Konzentration, Ausdauer, BAKUNIN, der ganz Feuer und Begeisterungsfähigkeit ist. Der eine ganz Meister über sich selbst, der andere ganz das Kind durchglühter edler Leidenschaft. Diese Schilderung QUACKs, die einem Juwel, oder besser noch einem jener feinen und peinlich minutiösen Bildchen verglichen werden kann, mit welchen die Kleinkunst der holländischen Malerei im 17. Jahrhundert exzellierte, muß jeder gelesen haben, der sich für den Kampf zwischen den beiden Männern psychologisch interessiert (20) MARX hat meines Erachtens entschieden Ähnlichkeit mit CALVIN, dessen mächtiger und logischer Geist auch so viel Einfluß auf andere ausgeübt hat. Beide waren Dogmatiker, der eine auf religiösem, der andere auf nationalökonomischem Gebiet. Beide haben das Dogma, das sie geschaffen haben, mit großer Konsequenz durchgeführt und verteidigt. Wer einmal ihre Prämissen zugegeben hat, ist ihnen verfallen. Denn der Rest schließt wie eine Kette wunderbar schön zusammen. So hat auch SYBEL über MARX gesprochen (21). Der dogmatische Geist jener beiden Männer hatte kein Verständnis für irgendeine von ihnen abweichende Meinung. Hätte MARX statt im 19. Jahrhundert im 16. Jahrhundert gelebt, er würde zweifellos mit BAKUNIN genauso verfahren sein wie der fanatische Genfer Reformator mit MICHAEL SERVETUS und anderen sogenannten Häretikern. Was ALEXANDER HERZEN über BAKUNIN schreibt, ist völlig richtig. Er hatte das Zeug zum Agitator wie zum Apostel, zum Parteichef wie zum Sektierer, zum Priester wie zum Soldaten. Man kann ihn sich ebenso als Anabaptisten wie als Jakobiner denken, ANACHARSIS CLOOTZ oder in der Umgebung von BABEUF, aber stets auf der äußersten Linken - immer und überall würde er die Massen mitgerissen und auf das Geschick der Völker Einfluß ausgeübt haben! Solche entgegengesetzt veranlagten Charaktere mußten bei der leisesten Berührung aufeinanderplatzen. Die kleinliche und armselige Weise, mit der MARX und ENGELS über ihre Widersacher herfielen, ist auch zum Charakteristikum ihrer Nachfolger in der Sozialdemokratie geworden. Heute noch erklingen dieselben Vorwürfe gegen die Ketzer, denen ihre "totale Unwissenheit" vorgehalten wird und die als "kleinbürgerliche Ideologen" verächtlich gemacht werden. Ja, wer sich ihrer Zucht nicht blindlings unterwirft, wird sogar geradezu als "Feind der Arbeitersache" verdächtigt. Natürlich wird durch all das der Unterschied zwischen MARX und BAKUNIN, zwischen Sozialdemokratie und Anarchismus, noch nicht erklärt. Es scheint bei einigen Sozialisten eine Tendenz zu bestehen, die dahin geht, die scharfen Kanten zwischen beiden Richtungen nach Möglichkeit abzuschleifen, um auf diese Weise die beiden Richtungen zu sicherer Einheit zu bringen. Zum Schluß wird man nach dem Vorbild der katholischen Kirche mit ihrem Festtag Sankt PETER und PAUL, eine "Marx-Bakunin-Gedächtnisfeier" abhalten wollen. Auch die christliche Kirche hat ja die beiden feindlichen Brüder nach ihrem Tod allmählich in den gleichen Heiligen-Kalender gebracht und verehrt sie heute als brüderliche Zwei-Einheit. Dieselbe Gefahr droht heute auch MARX und BAKUNIN. MARX war nicht so "staatsfreundlich" und BAKUNIN nicht so "anti-staatlich", wird gesagt, wie man es sich gemeinhin vorstelle. Im letzten Grund stimmen aber beide überein (22). Viel eher als von MARX kann aber von ENGELS gesagt werden, daß er starke anarchistische Neigungen besessen habe. Zeugnisse dafür sind leicht in seinen Schriften "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" sowie "Der Ursprung der Familie, des Privateigentum und des Staates" zu finden. Aber ENGELS war, wie wir in unserer Geschichte des Sozialismus schrieben, ein JANUS mit zwei Köpfen und ist an seiner Zwieschlächtigkeit wissenschaftlich zugrunde gegangen (23). Es ist in hohem Grad nötig, die Dinge auseinanderzuhalten. Wenn nach FABBRI Sozialdemokratie und Anarchie zwei divergierende Linien darstellen, die zum Schluß zusammenlaufen, und nach anderen die Sozialdemokratie überhaupt nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Anarchie bildet, so glaube ich demgegenüber behaupten zu dürfen, daß beide Richtungen einander parallel laufen und sie zwei Linien zu vergleichen sind, die sich auch in der Ewigkeit nicht schneiden. Beider Methode und beider Ideenwelt ist absolut gegensätzlich. Die einen wollen alles durch die Gesetzgebung erreichen, die anderen verwerfen jede Gesetzgebung. Die einen halten krampfhaft am Gedanken der Notwendigkeit von Autorität fest, die ihnen zufolge allein eine gesellschaftliche Ordnung verbürgt. Die Anarchisten hingegen verwerfen jede Autorität, als den Ausgangspunkt zur Unfreiheit, zur Sklaverei. Zwischen beiden ist also keine Versöhnung möglich. QUACK, auf dessen ausgezeichnete Ausführungen wir nochmals zurückgreifen müssen, hat MARX als einen Gesetzgeber dargestellt und ihm zwölf Tafeln in die Hand gegeben. Auf der sechsten Gesetztafel steht: "Eine Klasse steht der anderen gegenüber. Deshalb muß Klassenmacht gegenüber Klassenmacht gestellt werden. Daraus ergibt sich die absolute Notwendigkeit für die Arbeiter, sich zu organisieren. Dabei muß natürlich der Wille des einzelnen dem Willen der Gesamtheit geopfert werden. Aus demselben Grund muß auch das Prinzip der Autorität aufrechterhalten werden. Die Eroberung des Staates und der kapitalistischen Feste muß der Beginn unserer Arbeit sein." (24) Bei einer derartigen Auffassung muß natürlich das Wahlrecht den Eckstein bilden; das allgemeine Wahlrecht dient zur "Eroberung der politischen Macht". Durch politische Macht meistert man dann den Staat, die Feste des Kapitalismus. Als Übergangsmaßregel zu diesem Ziel ist die Diktatur des Proletariats notwendig. Diese Diktatur des Proletariats wird in der Praxis natürlich auf eine Diktatur der sozialdemokratischen Führer, der Parteileiter in den verschiedenen Ländern, herauslaufen. Das wäre dann die Auferstehung des "Generalrats" der alten Internationalen, deren Seele MARX war. Das Papsttum wird nicht abgeschafft, sondern nur erweitert. Staat des kirchlichen Papstes erhält man den sozialen Papst - die Diktatur der "Marxisten", mit einem Kreis von Unterführern als Kollegium der Kardinäle. Diese Regierung nimmt dann die Regelung der Produktin in die Hand. Anders läßt sich die "Diktatur" nicht vorstellen. Wenn es eine Autoritätspartei gibt, d. h. eine Partei, in der die Autorität Alpha und Omega ist, dann ist es schon heute die Sozialdemokratie. Jedes zweite Wort eines rechtschaffenen Sozialdemokraten ist "Parteidisziplin". Als Autoritätspartei schlägt die Sozialdemokratie sogar die Katholiken und man kann in dieser Hinsicht sagen, daß der Sozialdemokrat dem Papst in Rom näher steht als dem Anarchisten. Um die Autorität zu verteidigen, benutzt er alle seine Machtmittel, und in der Tat setzt ja auch Autorität das Vorhandensein und die Verwendung von Zwangsmitteln zur Zähmung von Rebellen voraus. Autorität ist aber nur ein anderer Ausdruck für Gefängnis und Polizei. In der belgischen Kammer hat sich EMILE VANDERVELDE sogar geweigert, gegen ein Budget zu stimmen, in dem die Kosten für die Gendarmerie enthalten waren, weil, wie er erklärte, ja auch eine sozialistische Regierung wohl verpflichtet sein würde, ein Korps von Gendarmen zu unterhalten, um die Menschen, die gegen das allgemeine Recht verstoßen, arretieren zu können. Es war wohl GEORG ADLER, der vom anarchistischen Endziel der MARXschen Theorie sprach (25). Aber KARL KAUTSKY bestritt ihm dies auf das Äußerste und wies darauf hin, daß MARX sich schon im Jahre 1850 gegen alle Forderungen einer föderativen Republik verwahrt und den Arbeitern angeraten habe, "auf die entschiedenste Zentralisation der Gewalt in die Hände der Staatsgewalt zu wirken" (26). Ich habe also vollauf Recht, wenn ich MARX und seine Theorie für den Staatssozialismus in Anspruch nehme. Die Sozialdemokratie, wie sie heute ist, ist nur der logische Ausbau der marxistischen Basis. Gewiß, der Sozialismus ist "ein- und unteilbar", aber wer wagt es, zu behaupten, daß die Sozialdemokratie die Trägerin des Sozialismus ist? Trotz aller ihrer Phrasen und Paraphrasen bei feierlichen Gelegenheiten und in wissenschaftlichen Artikeln ist der Sozialismus schon lange aus dem praktischen Programm dieser Partei verschwunden. Nur der Name ist geblieben. Keine einzige Forderung des praktischen Programms der Sozialdemokratie kann als spezifisch sozialistisch bezeichnet werden. Auch ich trete für Toleranz ein, aber diese erstreckt sich für mich nicht auf die Prinzipien. Die Logik und die Natur sind auch nicht "tolerant". Darum seien wir nur tolerant den Genossen gegenüber, aber bleiben wir intolerant, unversöhnlich gegenüber den Prinzipien.
1) Siehe mein Buch "Geschiedenis van het Socialisme", Amsterdam 1901 bis 1902, 3 Bände 2) ROBERT MICHELS: "Zur Geschichte des Sozialismus", Literatur im Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 23, Seite 806 - 812 3) KARL MARX, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, Neue Zeit, Jhg. IX, Bd. 1, 1875, Seite 568f. 4) Protokoll des Parteitags von Berlin 1892, Seite 211 5) Handbuch des Sozialismus, Zürich 1897, Seite 781 6) KARL KAUTSKY in der Neuen Zeit, Jhg. X, Bd. 2, Seite 710. 7) Sie hat es tatsächlich zu dem ihrigen gemacht auf dem Parteitag zu Erfurt. MARX kann von der Qualität der Delegierten, die ein solches Programm, wie es ihnen vorgesetzt wurde, mit Haut und Haar herunterschluckten, allerdings keine große Achtung haben. 8) BENJAMIN TUCKER, Instead of a book 9) LUIGI FABBRI: "Die historischen und sachlichen Zusammenhänge zwischen Marxismus und Anarchismus", Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 26, Seite 559f und ROBERT MICHELS: "Historisch-kritische Einführung in die Geschichte des Sozialismus in Italien", im Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 24, Seite 197f, sowie ausführlicher in seiner Schrift: "Storia del Marxismo in Italia", Roma 1908 und MONGINI, haben eine Synthese von MARX und BAKUNIN zu geben versucht und zwar aufgrund eines eingehenden historischen Vergleichs. 10) GEORG von VOLLMAR, Über Staatssozialismus, Nürnberg 1892 11) GEORG von VOLLMAR, Neue Zeit, Jhg. X, Bd. 2 12) EDUARD BERNSTEIN, Gesellschaftliches Privateigentum, Berlin 1891. 13) KARL KAUTSKY und BRUNO SCHÖNLANK, Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie, Berlin 1904. 14) EMILE VANDERVELDE, Le Collectivisme. 15) HANS MÜLLER, Der Klassenkampf in der deutschen Sozialdemokratie, Zürich 1892. 16) LOUIS NAPOLEON BONAPARTE hat in seiner Broschüre: "Extinction du Pauperism" drei Dinge verlangt 1) ein Gesetz, 2) eine Anzahlung, 3) Organisation 17) KARL KAUTSKY, Erläuterungen zum Erfurter Programm 18) H. P. G. QUACK, De Socialisten 19) LUIGI FABBRI, Die historischen und sachlichen Zusammenhänge zwischen Marxismus und Anarchismus 20) H. P. G. QUACK, De Sozialisten 21) HEINRICH von SYBEL, Die Lehren des heutigen Sozialismus und Kommunismus, in "Vorträge und Aufsätze", Berlin 1874. 22) Einen weiteren Schritt auf diesem Gebiet bedeutet neben den erwähnten Schriften von LUIGI FABBRI und ROBERT MICHELS auch die Schrift von HUBERT LAGARDELLE: "Bakounine" - Conférence prononcée le 24 janvier 1908 dans la Salle des Sociétes Savantes, Paris 1908. 23) NIEUWENHUIS, Geschiedenis van het Socialisme, Bd. 2, Seite 228 24) H. P. G. QUACK, De Socialisten. 25) GEORG ADLER, Geschichte des Sozialismus und Kommunismus, 1899 26) KARL KAUTSKY in der "Neuen Zeit", Bd. 13, Heft 1. |