ra-2 Händler und HeldenDie Quintessenz des Sozialismus    
 
WERNER SOMBART
Sozialismus und soziale Bewegung
im 19. Jahrhundert


"Alles ist in Fluß gekommen: Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Moral, Religion; alle Vorstellungen davon befinden sich in einem solchen Gärungsprozeß, daß wir schließlich gar zu dem Wahn gedrängt werden, es gäbe überhaupt nichts mehr Festes. Und das ist vielleicht eines der allerwichtigsten Momente für die Erklärung des Inhaltes der modernen sozialen Bestrebungen. Denn es erklärt zweierlei: Zum ersten jene zersetzende Kritik des Bestehenden, die nun an nichts mehr einen guten Schimmer läßt, die allen früheren Glauben zum alten Eisen wirft, um mit neuem auf den Markt zu treten. Sodann aber auch den fanatischen Glauben an die Erreichbarkeit irgendeines beliebigen zukünftigen Zustandes. Wenn so viel sich geändert hat, wenn solche Wunder, an die niemand je zu glauben gewagt hatte, sich spielend vor unseren Augen verwirklichen: warum nicht noch mehr? Warum nicht alles Wünschbare? So wird die revolutionäre Gegenwart zum Nährboden für die soziale Utopie der Zukunft. Edison und Siemens sind die geistigen Väter der Bellamy und Bebel."

I.
Woher und wohin?
    "Das ist's denn wieder, wie die Sterne wollten:
    Bedingung und Gesetz; und aller Wille
    Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten,
    Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille."
                           - GOETHE, Urworte
Wenn KARL MARX das kommunistische Manifest mit den bekannten Worten beginnt: "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen", so hat er nach meinem Empfinden damit eine der größten Wahrheiten ausgesprochen, die unser Jahrhundert erfüllen. Aber er hat nicht die ganze Wahrheit gesagt. Denn es ist nicht richtig, daß alle Geschiche der Gesellschaft lediglich in Klassenkämpfen auslaufe. Wenn wir überhaupt die "Weltgeschichte" in eine Formel bringen wollen, so werden wir, meine ich, sagen müssen, daß es  zwei Gegensätze  sind, um die sich die ganze Gesellschaftsgeschichte dreht, ich will sie die  sozialen  und die  nationalen  Gegensätze nennen; und dabei national im weitesten Verstand fassen. Die Menschheit entwickelt sich, in dem sie sich zunächst zu Gemeinschaften zusammenschließt und dann weiter, indem diese Gemeinschaften erst gegeneinander kämpfen und streben, dann aber auch innerhalb dieser Gemeinschaften der einzelne über den anderen hinaus nach Höherem zu trachten beginnt, um sich, wie KANT es einmal ausdrückt, einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl  leiden,  von denen er aber auch nicht  lassen  kann. So sehen wir hier das Streben der Gemeinschaften nach Reichtum, Macht, Geltung und dort dasselbe Streben nach Macht, Reichtum, Ansehen bei den einzelnen. Das, scheint mir, sind die beiden Gegensätze, die tatsächlich alle Geschichte erfüllen. Denn die Geschichte beginnt erst, wo diese Gegensätze sich entfalten. Es soll nur ein Vergleich sein und die derbe Form darf Sie nicht schrecken, wenn ich sage: Es ist die Menschheitsgeschichte entweder ein  Kampf um den Futteranteil  oder  ein Kampf um den Futterplatz  auf unserer Erde. Diese beiden großen Gegensätze sind es, die jeweilig gegeneinander auftreten, die jeweilig die Menschheit beherrschen. Wir stehen heute am Schluß eines geschichtlichen Abschnitts großen nationalen Gefühls und mitten drin in einer Periode großer sozialer Gegensätze und die weltverschiedenen Anschauungen, die sich heutzutage in einzelnen Menschengruppen bilden, gehen, scheint mir, alle auf die Alternative "National oder Sozial" zurück.

Ehe ich nun mit meine Aufgabe: "Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert" dem einen dieser Gegensätze, dem sozialen, mich im weiteren Verlauf zuwende, möchte ich zuerst die Frage aufwerfen:  "Was ist denn eine soziale Bewegung?"  Ich antworte:  "Unter einer sozialen Bewegung verstehen wir den Inbegriff aller derjenigen Bestrebungen einer sozialen Klasse, die darauf gerichtet sind, eine bestehende soziale Ordnung in einer den Interessen dieser Klasse entsprechenden Weise grundsätzlich umzugestalten.  Die Bestandteil, die sich in jeder sozialen Bewegung wieder finden müssen, sind also folgende:  Erstens  eine  bestehende Ordnung,  in der eine gegebene Gesellschaft lebt und zwar eine soziale Ordnung, die sich in ihren Hauptbestandteilen zurückführen läßt auf die Ordnung der Produktion und die Verteilung von Sachgütern als der notwendigen Grundlage, auf der das menschliche Dasein ruht. Diese bestimmte Produktions- und Verteilungsordnung ist der Ausgangspunkt für jede soziale Bewegung.  Zweitens,  eine  soziale Klasse,  die mit dem bestehenden Zustand unzufrieden ist. Unter einer sozialen Klasse verstehe ich eine Anzahl gleich interessierter Personen und zwar, was das entscheidende ist, wirtschaftlich gleich interessierter Personen, noch genauer, solcher Menschen, die an einer bestimmten Produktions- und Verteilungsweise in einer gegebenen Ordnung interessiert sind. Wir müssen bei jeder sozialen Klasse auf diese Ordnung der materiellen Beziehungen zurückgehen und dürfen uns nicht blenden und irre führen lassen von den ideologischen Verbrämungen, die die einzelnen Klassen haben. Diese ideologischen Elemente, die häufig führen, sind nur die Umlagerungen um den Grundstock der wirtschaftlich verschiedenen Klassen. Und das  Dritte:  Ein  Ziel,  das sich diese mit dem Bestehenden unzufriedene Klasse als zu erreichendes steckt, ein  Ideal,  welches alles dasjenige zusammenfaßt, was die zukünftige Form, in der die Gesellschaft sich bewegen will, darstellt, und das seinen Ausdruck findet in den Forderungen, den Programmen dieser Klasse. Durchgängig, wo wir überhaupt von einer sozialen Bewegung sprechen können, finden wir also: einen  Ausgangspunkt,  die bestehende soziale Ordnung, einen  Träger  der Bewegung, die soziale Klasse, ein  Ziel,  das Ideal der neuen Gesellschaft.

Meine Aufgabe im Folgenden soll nun sein, einige Gesichtspunkte für das Verständnis einer bestimmten, der modernen, sozialen Bewegung zu geben. Was aber heißt: eine soziale  Bewegung verstehen?  Dieses: daß man die soziale Bewegung begreifen lernt in ihrer notwendigen geschichtlichen Bedingtheit, in ihrer ursächlichen Verknüpfung mit Geschehnissen, aus denen heraus mit Notwendigkeit gezwungen, sich dasjenige ergibt, was wir als soziale Bewegung bezeichnen. Also begreifen lernen, warum sich bestimmte soziale Klassen bilden, warum diese bestimmten sozialen Klassen diese bestimmten Gegensätze darstellen, warum vor allem die treibende, angreifende soziale Klasse gerade ihr Ideal hat und haben muß, auf das sie hinstrebt. Also vor allem einsehen lernen, daß die Bewegung nicht der Laune, der Willkür, der Böswilligkeit Einzelner entsprungen, daß sie nicht  gemacht,  sondern  geworden  ist.

Und nun zur modernen sozialen Bewegung! Wodurch wird sie gekennzeichnet? Wenn wir an dem festhalten, was die Bestandteile jeder sozialen Bewegung bildet, so können wir die moderne soziale Bewegung, nach zwei Seiten hin kennzeichnen, nämlich nach dem Ziel, das sie sich steckt einerseits, nach den Trägern der Bewegung, der treibenden Klasse, andererseits. Die moderne soziale Bewegung ist nun ihrem Ziel nach eine  sozialistische  Bewegung, weil sie, wie zu zeigen sein wird, letzten Endes einheitlich auf die Herstellung sozialistischen Eigentums gerichtet ist, zumindest an den Produktionsmitteln, d. h. auf eine sozialistische, gemeinwirtschaftliche Gesellschaft, die sie anstelle der bestehenden, privatwirtschaftlichen setzen will. Sie ist eigenartig andrerseits nach den Trägern dadurch, daß sie eine  proletarische  Bewegung oder, wie wir häufiger sagen, eine Arbeiterbewegung ist: die Klasse, auf der sie ruth, die ihr den Antrieb gibt, ist das Proletariat, eine Klasse freier Lohnarbeiter.

Und nun gilt es zu fragen: Lassen sich wohl diejenigen Umstände herausfinden, aus denen heraus diese solcherweise gekennzeichnete Bewegung als ein notwendig entstandenes Erzeugnis der geschichtlichen Entwicklung zu begreifen ist? Ich sagte, die soziale Bewegung habe zu Trägern das moderne Proletariat, eine Klasse freier, lebenslänglicher Lohnarbeiter. Die erste Bedingung ihres Vorhandenseins ist also die Entstehung diese Klasse selbst. Jede soziale Klasse ist das Ergebnis, der Ausdruck einer bestimmten Produktionsweise, das Proletariat derjenigen Produktionsweise, die wir als die kapitalistische zu bezeichnen gewohnt sind.  Die Entstehungsgeschichte des Proletariats  ist also die Geschichte des Kapitalismus. Dieser kann nicht bestehen, er kann auch nicht wachsen, ohne das Proletariat zu erzeugen. Es kann nun nicht meine Aufgabe sein, Ihnen auch nur in skizzenhafter Form eine Geschichte des Kapitalismus zu geben. Nur so viel mag zum Verständnis seines Wesens angedeutet werden: Die kapitalistische Produktionsweise beruth darauf, daß die Herstellung der materiellen Güter erfolgt durch das Zusammenwirken zweier sozial getrennter Klassen, einer Klasse, die sich im Besitz der nötigen sachlichen Produktionsfaktoren, der Produktionsmittel befindet: Maschinen, Werkzeuge, Fabriken, Rohstoffe usw., d. h. der Kapitalistenklasse einerseits - mit den persönlichen Produktionsfaktoren, den Besitzern von nur Arbeitskräften andererseits: das sind eben die freien Lohnarbeiter. Vergegenwärtigen wir uns, daß  jede  Gütererzeugung auf der Vereinigung der persönlichen und der sachlichen Produktionsfaktoren beruth, dann unterscheidet sich die kapitalistische Produktionsweise dadurch von anderen, daß die beiden notwendigen Produktionsfaktoren durch zwei sozial getrennte Klassen vertreten werden, die sich auf dem Weg der freien Vereinbarung, des "freien Lohnvertrages", zum Produktionsprozeß, damit dieser überhaupt zustande komme, notwendig zusammenfinden müssen. Die so geartete Produktionsweise ist in die Geschichte selbst als eine Notwendigkeit eingetreten. Sie erschien in dem Augenblick, als die Bedürfnisse so mächtig geworden waren, daß die frühere Produktionsweise diesen neu entstandenen Verhältnissen nicht mehr genügen konnte, in der Zeit, als die neuen großen Märkte erschlossen wurden. Sie erschien ursprünglich lediglich mit der geschichtlichen Aufgabe, den zur Behauptung dieser neuen Absatzgebiete notwendigen kaufmännischen Geist der Güterproduktion einzupflanzen. Der Kaufmann schwingt sich zum Leiter der Produktion auf und zwingt die große Menge der bloßen Handarbeiter in seinen Dienst. Sie wird dann weiter noch mehr zu einer Notwendigkeit in dem Maße, wie durch die Entwicklung der Produktionstechnik die Betriebe sich so sehr vergrößern, daß die Zusammenfassung vieler Arbeitskräfte zu einem Arbeitsprozeß technisch unvermeidlich wird, also vor allem seit der Einführung des Dampfes in Güterproduktion und Gütertransport. Die Trägerin der kapitalistischen Produktionsweise, die Klasse, die sie vertritt, ist die  Bourgeoisie.  Wie gern spräche ich von der großen geschichtlichen Aufgabe, die sie erfüllt hat! Aber wieder muß ich mich mit dem Hinweis begnügen, daß als das Wesentliche einer solchen historischen Mission wir die wunderbare Entfaltung ansehen müssen, die sie den materiellen Produktivkräften hat angedeihen lassen. Unter dem Zwang der Konkurrenz, gepeitscht von der Geißel des Erwerbstriebs, der mit ihr in die moderne Geschichte eintritt, hat sie uns jene Märchen aus Tausend und eine Nacht in die Wirklichkeit gezaubert, an deren Wundern wir uns täglich freuen, wenn wir durch die Straßen unserer Großstädte oder durch die Gewerbeausstellungen schlendern, wenn wir mit den Antipoden reden, wenn wir in Palästen über das Weltmeer fahren oder uns im Glanz unserer üppigen Salons sonnen. Was für unsere Zwecke das Wichtigste ist: Das Dasein dieser kapitalistischen Produktionsweise ist die notwendige Bedingung für diejenigen Klasse, die Trägerin der modernen, sozialen Bewegung ist: das Proletariat. Ich sagte schon vorher, das Proletariat folgt der kapitalistischen Produktionsweise wie ihr Schatten. Diese Produktionsweise kann nicht anders bestehen, kann sich nicht anders entfalten als unter der Bedingung, daß unter dem Befehlt einzelner sich Scharen besitzloser Arbeiter in großen Unternehmungen zusammenschließen; sie hat zur notwendigen Voraussetzung eine Auseinanderreißung der ganzen Gesellschaft in zwei Klassen, die Inhaber der Produktionsmittel und die persönlichen Produktionsfaktoren. Somit ist die Existenz des Kaptialismus die notwendige Vorbedingung des Proletariats und damit der modernen sozialen Bewegung überhaupt.

Wie aber steht es mit diesem selbst? Welches sind die  Bedingungen, unter denen das Proletariat lebt  und wie lassen sich aus diesen Bedingungen jene eigentümlichen Strömungen und Forderungen erklären, die wir in diesem Proletariat erwachsen, sich geltend machen finden werden? Man pflegt, wenn man nach den Eigentümlichkeiten des modernen Proletariats fragt, in der Regel zuerst als Antwort zu erhalten: das ist das große Elend, in dem die Massen dahinleben. Das mag mit einiger Einschränkung gelten; nur darf nicht vergessen werden, daß das  Elend  keine dem modernen Proletariat eigentümliche Erscheinung ist. Wie elend ist die Lage z. B. des Bauern in Rußland, des irischen Pächters? Es muß vielmehr ein eigenartiges Elend gefunden werden, welches das Proletariat kennzeichnet. Ich denke hier hauptsächlich daran, daß durch die heutige Produktionsweise jene oft ungesunden Werkstätten, Bergwerke, Fabriken mit ihrem Lärm, ihrem Staub und ihrer Hitze geschaffen sind, daß durch diese Produktionsweise die Vorbedingungen geschaffen sind, um bestimmte Gruppen von Arbeitern, z. B. Frauen und Kinder in die Produkton hineinzuziehen, daß ferner durch die Anhäufung der Bevölkerung in Industriegegenden und großen Städten der Jammer des äußeren persönlichen Daseins vergrößert worden ist. Immerhin können wir die Verelendung als eine erste Ursache für das Emporwachsen und das Emporstreben neuer Gedanken und neuer Gefühle betrachten. Aber es ist das nicht das wichtigste, wenn wir nach den Grundbedingungen der Daseinsweise des Proletariats fragen. Schon viel bezeichnender istes, daß in dem Augenblick als breite Massen in ihrem Elend sichtbar werden, auf der anderen Seite, glanzvoll wie ein Zaubermärchen, die Million heraufsteigt. Es ist der  Gegensatz  zur behäbigen Villa, den eleganten Equipagen der Reichen, den glänzenden Läden, den üppigen Restaurants, an denen vorbei der Arbeiter in seine Fabrik, in seine Werkstatt, in sein ödes Stadtviertel geht; der Abstand in der Lage, der den Haß in den Massen erzeugt; den Haß. Und das ist wiederum eine Eigenart unserer Zeit,  daß  sie diesen Haß erzeugt und den Haß zum Neid werden läßt. Mir scheint, es geschieht deshalb vor allem, weil diejenigen, die über diesen Glanz verfügen, nicht mehr die Kirche, nicht mehr die Fürsten, sondern, daß es diejenigen sind, von denen sich die Massen abhängig fühlen, in deren wirtschaftlicher Gewalt sie sich unmittelbar sehen, in denen sie ihre sogenannten Ausbeuter erblicken: dieser ausgesucht moderne Kontrast ist es erst, was die Glut des Gefühls des Hasses in den Massen erzeugt. Noch eins! Es ist nicht die bloße elende Lage, der Abstand von den Wohlhabenden, sondern eine andere furchtbare Geißel wird über den Köpfen der Proletarier geschwungen: ich meine die  Unsicherheit ihrer Existenz.  Auch hier haben wir es wieder mit einer Eigentümlichkeit des modernen sozialen Lebens zu tun, wenn wir es recht verstehen. Unsicherheit der Existenz freilich gibt es auch sonst: Der Japaner schreckt vor dem Erdbeben zurück, das jeden Augenblick ihn und seine Habe verschlingen kann; er Kirgise zittert vor dem Sandsturm im Sommer, dem Schneesturm im Winter, der ihm die Futterplätze seiner Tiere vernichtet; eine Überschwemmung, eine Dürre in Rußland kann den Bauern seiner Ernte berauben und ihn dem Hungertod preisgeben. Aber was wiederum ein Sondermerkmal der Unsicherheit des Proletariats bildet, die sich in Erwerbslosigkeit und Arbeitslosigkeit äußert, ist dieses, daß diese Unsicherheit begriffen Worden ist nicht als Folge von Naturtatsachen wie in jenen anderen Fällen, von denen ich sprach, sondern  folgend aus bestimmten Organisationsformen des wirtschaftlichen Lebens  - das ist das entscheidende.
    "Gegen die Natur kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustand der Gesellschaft gewinnt der Mangel sogleich die Form des Unrechts, was dieser oder jner Klasse angetan wird." (HEGEL)
Während daher jene Unsicherheit als Naturtatsache zum Aberglauben, zur Frömmelei führt, erzeugt diese, wenn ich sie so nennen darf, soziale Unsicherheit in der Verstandeswelt eine Schärfung und Verfeinerung des Urteils. Man sucht nach den Gründen, die diese Unsicherheit herbeiführen. Sie bewirkt moralisch eine Steigerung jener Gefühle der Abneigung, die in den Massen heranwachsen, läßt Haß und Neid zur Empörung anschwellen. Hier also ist der Boden, auf dem die revolutionären Leidenschaften, Haß, Neid, Empörung im Proletariat anwachsen: eigentümliche Elendsformen, Gegensatz dieses Elendes zum Glanz der Brotherren, Unsicherheit des Daseins, begriffen aus den Organisationsformen des wirtschaftlichen Lebens.

Um nun aber verstehen zu können, wie diese Triebkräfte zu den eigenartigen Vorstellungskreisen hindrängen, die die heutige soziale Bewegung kennzeichnen, müssen wir uns vergegenwärtigen, daß die Masen, die wir in jener Lage kennen gelernt haben, wie mit einem Zauberschlag hingeworfen, nicht langsam gewachsen sind. Es ist als ob die frühere Geschichte für Millionen von Menschen plötzlich ausgelöscht worden wäre. Denn wie die Voraussetzung des Kapitalismus Zusammenfassung in großen Betrieben ist, so ist es auch die Anhäufung der Massen in Städten und Industriemittelpunkten. Diese Anhäufung aber bedeutet nichts anderes als dieses, daß vollständig ungegliederte Massen aus den verschiedensten Gebieten des Landes auf einem Punkt zusammengeworfen werden und ihnen zugerufen wird: "Lebt!" Sie bedeutet einen vollständigen Bruch mit der Vergangenheit, ein Zerreißen aller Beziehungen zur Heimat, zum Dorf, zur Familie, zu den Sitten; bedeutet damit die Zertrümmerung aller früheren Ideale in dieser heimat-, besitz- und zusammenhanglosen Masse. Es ist dies ein Moment, welches häufig unterschätzt wird. Man vergißt, daß es ein ganz  neues Leben  ist, das die modernen proletarischen Haufen zu beginnen haben. In seiner Eigenart finde ich aber ebenso viele Erklärungsgründe, ich möchte sagen, für den positiven Aufbau der proletarischen Ideenwelt, wie eben für die Zerstörung alles dessen, was ehedem dem Menschen lieb und teuer war. Ich meine: die sozialistischen Ideale gemeinsamen Lebens und Wirtschaftens müßten mit Notwendigkeit aus den Industrieorten und Arbeitervierteln der Großstädte hervorwachsen. In den Mietskasernen, in den gewaltigen Fabriken, in großen Versammlungen und Vergnügungslokalen findet sich der einzelne von Gott und der Welt verlassene Proletarier mit seinen Leidensgefährten wieder zusammen als Glied in einem riesigen neuen Organismus. Hier sind neue Gemeinschaften in der Bildung begriffen und diese neuen Gemeinschaften tragen dank der modernen Technik stark kommunistisches Gepräge. Und sie entwickeln sich, wachsen, festigen sich, in dem Maße, wie die Reize des persönlichen Daseins für den einzelnen schwinden: je öder die Dachkammer in der Vorstadt, desto anziehender dien neuen Gemeinschaftsmittelpunkt, in denen sich der Vereinsamte gleichsam als Mensch erst wieder findet. Das Individuum verschwindet, der Genosse entsteht. Einheitliches Klassenbewußtsein bildet sich aus und die Gewöhnung an kommunistische Arbeit und kommunistischen Genuß.

Soviel zur Psychologie des Proletariats!

Um nun aber volles Verständnis für die moderne soziale Bewegung zu gewinen, wollen wir uns noch der  allgemeinen Zeitumstände  bewußt werden, unter denen sie sich abspielt. Auch hier müssen ein paar Bemerkenungen genügen. Wenn wir die moderne Zeit kennzeichnen wollen, so läßt es sich vielleicht mit folgenden Worten tun: Vor allem herrscht in ihr eine  Lebendigkeit,  wie ich sie mir in keiner früheren Zeit denken kann. Ein Lebensstrom flutet durch die heutige Gesellschaft, den keine frühere Zeit gekannt hat und dadurch ist eine Raschheit des Kontaktes einzelner Mitglieder einer Gesellschaft ermöglicht, wie sie früher nicht denkbar war. Das haben die neuzeitlichen Verkehrsmittel bewirkt, die uns der Kapitalismus geschaffen hat. Die Möglichkeit heutzutage über ein großes Land hin in wenigen Stunden sich verständigen zu können, mittels Telegraf, Telefon, Zeitungen, die Möglichkeit, große Massen mit den modernen Transportmitteln von einem Ort zum andern zu werfen, hat einen Zustand des Zusammenschlusses größerer Massen, ein Gefühl der Allgegenwart erzeugt, das allen früheren Zeiten unbekannt war. Zumal in den Großstädten der Neuzeit. Die Leichtigkeit großer Massenbewegungen ist dadurch ganz außerordentlich gewachsen. Und gleicherweise ist dasjenig in den Massen zur Entwicklung gelangt, was wir die Bildung zu nennen gewohnt sind: Kenntnisse und mit den Kenntnissen die Ansprüche.

Mit dieser Lebendigkeit aber aufs engste verbunden ist dasjenige, was man die  Nervosität  unserer Zeit nennen kann, die Untätigkeit, das Hastende, Unsichere aller Lebensformen. Durch die Eigentümlichkeit der Wirtschaftsverhältnisse ist in allen Zweigen nicht nur des ökonomischen, sondern jeden sozialen Daseins überhaupt dieser Zug der Unruhe, des Hastens eingedrungen. Das Zeitalter des freien Wettbewerbs äußert sich auf allen Gebieten: jeder strebt dem andern voraus, keiner wird seines Daseins froh. Die schöne beschauliche Ruhe ist dahin.

Und endlich noch eins! Ich will es einmal des  Revolutionarismus  nennen und meine damit die Tatsache, daß niemals eine Zeit wie die unsrige eine solche vollständige Umschichtung jeglicher Daseinsform erlebt hat. Alles ist in Fluß gekommen: Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Moral, Religion; alle Vorstellungen davon befinden sich in einem solchen Gärungsprozeß, daß wir schließlich gar zu dem Wahn gedrängt werden, es gäbe überhaupt nichts mehr Festes. Und das ist vielleicht eines der allerwichtigsten Momente für die Erklärung des Inhaltes der modernen sozialen Bestrebungen. Denn es erklärt zweierlei: Zum ersten jene zersetzende Kritik des Bestehenden, die nun an nichts mehr einen guten Schimmer läßt, die allen früheren Glauben zum alten Eisen wirft, um mit neuem auf den Markt zu treten.

Sodann aber auch den fanatischen Glauben an die Erreichbarkeit irgendeines beliebigen zukünftigen Zustandes. Wenn so viel sich geändert hat, wenn solche Wunder, an die niemand je zu glauben gewagt hatte, sich spielend vor unseren Augen verwirklichen: warum nicht noch mehr? Warum nicht alles Wünschbare? So wird die revolutionäre Gegenwart zum Nährboden für die soziale Utopie der Zukunft. EDISON und SIEMENS sind die geistigen Väter der BELLAMY und BEBEL.

Das scheinen mir im wesentlichen scheinen mir die Bedingungen zu sein, unter denen eine soziale Bewegung in der neuen Zeit sich entwickelt hat: die eigentümliche Daseinsweise des Proletariats: spezifisches Elend, Kontrast, Unsicherheit, abgeleitet aus den Eigenarten des modernen Wirtschaftssystems; Neugestaltung aller Daseinsformen, durch die Zerreißung der früheren Verbindungen und Herausbildung ganz neuer Gemeinschaftszentren auf kommunistischer Grundlage, neuer Zusammenschlüsse in den Großstädten und Großbetrieben; endlich zuletzt die eigentümliche Zeitatmosphäre, in der sich die soziale Bewegung abspielt: Lebendigkeit, Nervosität, Revolutionarismus.

Und nun zu dieser sozialen Bewegung selbst in Lehre und Leben!
LITERATUR: Werner Sombart, Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert, Jena 1901