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LUIGI FABBRI
Marxismus und Anarchismus

"Jawohl, ich weiß es, daß Marx genauso unser Gegner ist wie die anderen, ja, ich weiß sehr wohl, daß er sogar der eigentliche Anstifter der gegen uns losgebrochenen verleumderischen Polemik ist. - Trotzdem habe ich ihn gelobt und ihn einen Riesen genannt. Aus zwei Gründen, lieber Herzen. Der erste ist ein Grund der Gerechtigkeit. Wenn wir von den Beschimpfungen, mit denen er uns bedeckt hat, absehen, dann müssen wir doch die großen Verdienste anerkennen - ich wenigstens erkenne sie an -, die er der Sache des Sozialismus seit 25 Jahren geleistet hat, und in dieser Beziehung läßt er uns alle unzweifelhaft weit hinter sich zurück. Er ist auch einer der ersten Organisatoren, wenn nicht überhaupt geradezu der geistige Schöpfer des Internationalen gewesen. Nach meiner Auffassung ist das ein ungeheures Verdienst, das ich stets dankbar anerkennen werden, wie immer seine Stellung uns gegenüber sein möge."

"Der zweite ist ein politischer und taktischer Grund, die ich für ebenso triftig halte. Marx ist unfehlbar der fähigste Kopf in der Internationale. Bis jetzt übt er auf seine Partei immer noch einen günstigen Einfluß aus und bildet er die höchste Stütze, den kräftigsten Widerstand gegen den Einbruch bürgerlicher Ideen und bürgerlicher Tendenzen in die Bewegung. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich zum Zwecke, um mich an ihm zu rächen, auch nur versucht hätte, seinen so großartigen Einfluß zu unterbinden oder auch nur zu schwächen."


I. Einleitung

Nichts ist problematischer in der Geschichte der sozialen Bewegungen als die historische Wahrheit. Die Ungerechtigkeit, diese Beherrscherin unserer gesamten heutigen Gesellschaftsordnung erstreckt ihre betrügerische Macht selbst auf ein Gebiet, vor dem sie aller Logik nach wenigstens Halt machen müßte, nämlich auf das der historischen Schilderung jener weltgeschichtlichen Ereignisse, welche der Nachwelt überliefert werden. Häufig wird in der Geschichte der Nationien diejenige Version endgültig für die richtige gehalten, welche der im Besitz der Macht befindlichen Majorität genehm ist. So ist es zum Beispiel in Italien, trotzdem doch die Mehrzahl der Männer, welche an der Befreiung und an der Einigung des Vaterlandes mitgearbeitet haben, noch am Leben ist. Selbst hier ist die geschichtliche Wahrheit bereits von derjenigen Partei verdüstert worden, welcher es gelungen ist, sich an die Spitze des Staates zu stellen. Die Geschichte der patriotischen Revolution in Italien ist in der Tat durch erlaubte und unerlaubte Kunstgriffe - kluges Verschweigen und wissentliche Lügen, Verheimlichung oder Zerstörung von Dokumenten, Inhibierung [Behinderung - wp] historischer Publikationen etc. - derartig verwirrt und verdunkelt worden, daß es dem historischen Forscher häufig schwer fällt zu erkennen, wo in ihr die Wahrheit aufhört und die Legende beginnt.

Ähnlich verhält es sich auch mit der Geschichte des Sozialismus. Nur mit dem Unterschied, daß die Geschehnisse in der italienischen Geschichte zum großen Teil wissentlich von einer Regierung und einer Klasse entstellt worden sind, die von der fieberhaften Angst beseelt war, ihre soeben erste mehr oder weniger sicher eroberte Machtstellung zu befestigen, während sich in Bezug auf die Geschichte des Sozialismus viele Irrtümer ohne irgendein Zutun bestimmter Persönlichkeiten gebildet und ganz allmählich, wie von selbst, den Charakter einer historischen Wahrheit angenommen haben. Die Legende schiebt sich hier unmerklich an die Stelle der Geschichte, ja die Legende hat sogar, wie ENRICO MALATESTA einmal in Bezug auf die Pariser Kommune feinsinnig bemerkte (1), häufig ein größeres Interesse für die Forscher als die Wahrheit selbst, da, während die Geschichte nur die nackten, konkreten Tatsachen, die sie selbst nur schwer zu erklären vermag, feststellt, die sich unbewußt bildende Legende den Gesichtswinkel zum Ausdruck bringt, unter welchem die Tatsachen von den Zeitgenossen betrachtet wurden. Die Geschichtslegende zeigt uns auf diese Weise den Seelenzustand eines Volkes, die wahre innere Bedeutung eines historischen Moments. Wenn aber das Studium dessen, was zur Legende geworden ist, nutzbringend sein kann, so ist deshalb andererseits doch die exakte Erkenntnis der Wahrheit, aus welcher heraus ja auch die Empfindungen, welche zur Bildung der betreffenden Legende beigetragen haben, leichter zu erklären sind, nicht weniger notwendig.

Über die Geschichte des Sozialismus sich heute schon ein abschließendes Urteil zu bilden, ist meines Erachtens nach freilich unmöglich, da es stets von persönlichen Überzeugungen und partei-politischem Fanatismus beeinflußt sein würde. Die Ereignisse, über die gerichtet werden müßte, liegen uns noch zu nahe, wir selbst sind noch zu sehr in sie verwebt, als daß Unparteilichkeit immer möglich wäre. Wohl aber können wir, als Zeitgenossen, gewissenhaft das Material vorbereiten, mit dem unsere Nachkommen diese neue Geschichte rekonstruieren werden, die den Namen des Sozialismus tragen und in den Augen unserer Urenkel als der größte Ruhm unserer Zeit dastehen wird.

Eine gewisse Periode des Sozialismus - man könnte sie die "heroische Periode" nennen - erscheint, so zeitlich nahe sie uns auch noch liegt, durch eine Unmenge von Vorurteilen, irrtümlichen Ansichten und Unsicherheiten, bereits halb verwischt und unseren Augen verborgen. Gerade diejenigen, die die Geschichte dieser Periode genau zu kennen vermeinen, haben nur eine Teilansicht von ihr - die Ansicht ihres eigenen Teils - und halten diese naiv für die Geschichte des Ganzen. Es ist dies die Periode der "Internationalen" sowie die Zeit der Entwicklung und Verbreitung des Sozialismus in Euroap, also die Periode von 1848 bis 1878. Mit der Zeit gewinnen die Ereignisse jener 30 Jahre, und zumal die Art und Weise, in welcher sich damals die Ideen zu bilden und zu formulieren begannen, eine immer größere Bedeutung. Zumal regt die heutige Krise innerhalbt des Sozialismus, welche seltsame Analogien mit der damaligen Krise aufweist, sowie die unbestreitbare Rückkehr zu Ideen, welche bis vor kurzem in Vergessenheit geraten waren, dazu an, alles, was mit jener Bewegung zusammenhängt, wieder auszugraben und es auf seine Wesenheit hin zu untersuchen.

Nach dem Untergang der Pariser Kommune schied sich bekanntlich die sozialistische Bewegung in zwei Strömungen, die später zum demokratischen Sozialismus einersetis und zum libertären Sozialismus andererseits führen sollten (2). Es ist ferner bekannt, daß die erstere Strömung bei den nordischen Nationen die Oberhand gewann, während die letztere in den romanischen Nationen vorherrschte. Während die erstere bald eine blühende wissenschaftliche und historische Literatur hervorbrachte, wurde von der letzteren aber nur weniges bekannt, das hier und da in Zeitungen verstreut erschien und das entweder von reaktionären Schriftstellern verleumderisch entstellt oder von Anhängern der sozialistischen Gegenpartei mit unvermeidlicher Parteilichkeit wiedergegeben wurde. Um von Ereignissen, bei welchen die Aktion zweier gegnerischer Parteien im Spiele ist, sich ein einigermaßen exaktes Bild machen zu können, genügt es aber nicht, nur den Bericht und die Meinung einer Partei allein anzuhören; man muß auch die gegnerischen Stimmen vernehmen. Und das ist im fraglichen Fall umso wichtiger, als bei alleiniger Beachtung der Stimmen aus der ersteren Partei ein großer Teil der Geschichte des Sozialismus in den romanischen Ländern in Dunkel gehüllt bleibt und die Ereignisse innerhalb der Anarchistenpartei sowie die stufenweise Entwicklung der anarchistischen Ideen unaufgeklärt erscheinen.

Jedoch auch aus einem anderen Grund ist es notwendig, zugleich mit der Geschichte der einen Partei auch diejenige der anderen zu studieren, da sich nämlich innerhalb der beiden Strömungen ein Phänomen bemerkbar macht, das auch in der Physik, zwischen gewissen in Kontakt miteinander gebrachten Körpern, beobachtet wird: der eine Teil nimmt mit der Länge der Zeit Ideen, Merkmale und Formeln des anderen an und umgekehrt. Und das umso mehr, als die Meinungsverschiedenheiten zu Anfang geringer waren, als sie es infolge der Zeit wurden. Zur Erkenntnis all dieser Tatsachen verhelfen aber, ich wiederhole es, die Berichte und Erinnerungen, die von Männern einer einzigen - wenn auch der größeren - Fraktion geschrieben worden sind, nicht; denn alle diese Männer waren und sind unter den Streitenden selbst und können sich deshalb nicht der eigenen Parteileidenschaft entziehen (3).

Heutzutage jedoch sind keine Lücken in der Geschichte des Sozialismus mehr zu beklagen. Die ausführliche und gewissenhafte Studie von MAX NETTLAU über BAKUNIN (4), die Memoiren von PETER KROPOTKIN (5) und GUSTAVE LEFRANCAIS (6), die in jüngster Zeit wieder ans Licht gebrachten, noch nicht fertig herausgegebenen Dokumente und Erinnerungen von JAMES GUILLAUME über die Internationale und die Jura-Föderation (7), die Untersuchungen über den Ursprung und die ersten Perioden des Sozialismus von TSCHERKESOFF (8), die mit erläuternden und historischen Fußnoten versehene Neuherausgabe der bis vor kurzer Zeit verschollenen Werke und Korrespondenzen BAKUNINs selbst (9), die Erinnerungen aus der ersten Zeit der Internationale in Spanien von ANSELMO LORENZO (10), alle diese Werke bieten schon ein ziemlich reiches - übrigens durch neue Schriften noch leicht zu vermehrendes - Material, aus dem die zukünftigen Geschichtsschreiber mit vollen Händen Tatsachen und Dokumente schöpfen können.

Bei einigen dieser Autoren findet man freilich, das versteht sich von selbst, die gleich parteiische Leidenschaftlichkeit wie bei ihren Gegnern; aber gerade aus dem Widerstreit der Meinungen erkennt man am besten die Wahrheit, und aus der Art, wie die Ereignisse in den verschiedenen Quellen erzählt worden sind, lassen sich historische Schlußfolgerungen ziehen.

Wenn auch wir nun versuchen wollen, durch die Mitteilung einiger aus einem sorgfältigen Studium der ersten, der heroischen Periode des Sozialismus gewonnenen Beobachtungen dazu beizutragen, die Geschehnisse, welche bis jetzt eine zu parteiische und leidenschaftliche Beurteilung erfahren haben, in ihrem wahren Licht erscheinen zu lassen, so wird es notwendig sein, auf die ersten Anfänge zurückzugreifen.

Bekanntlich zerfält die Geschichte der Internationalen in zwei Perioden: die erste von ihrer Begründung im Jahre 1864 an bis zur Verpflanzung des Generalrats nach New York im Jahre 1872, die zweite von 1872 (Kongreß in Haag) bis nach den Kongressen von Verviers und Gent im Jahre 1877. Die erste Periode ist die bekanntere und wichtigere, sowohl deshalb, weil in ihr die sozialistischen Ideen entwickelt und ausgearbeitet wurden, als auch wegen des heftigen Kampfes, der damals zwischen MARX und BAKUNIN ausbrach; ferner auch deshalb, weil gerade in jener Epoche Europa die stürmische und gewitterschwangere Periode der Kriege in Deutschland, Italien und Frankreich, sowie der Kommune in Paris durchlebte, sowie schließlich aus dem Grund, weil diese Geschichtsperiode, während deren die Leitung der Internationale ununterbrochen in den Händen von MARX und seinen Freunden gelegen hat, in der reichen sozialdemokratischen Literatur besonders zahlreiche Erläuterer und Chronisten gefunden hat.

Die zweite Periode dagegen, die der sogenannt anarchistischen Internationale, ist weniger bekannt, und zwar aus folgendem Grund: Der auf dem Kongreß der Internationale im Haag 1872 gefaßte Beschluß der marxistischen Mehrheit - marxistisch in diesem Fall gleich persönliche Anhänger von MARX, nicht gleich Anhänger seiner Lehre gesetzt - bedeutete in Wahrheit die Freigabe des Kampfesfeldes an BAKUNIN und seine Freunde, wenn auch auf demselben Kongreß BAKUNIN und GUILLAUME aus der Internationale ausgeschlossen wurden. Tatsächlich verfiel die von der libertären Richtung geschiedene marxistische Internationale in Untätigkeit. ENGELS erklärt diese Tatsache folgendermaßen (11): "Ma quando queste circostanze si produssero, la froma die quell' organizzazione era invecchiata: lo svilupp del movimento l'aveva sorpassato. Da allora in poi Marx non sie mescolo all' agitanzione."

Tatsächlich hatte die Internationale mit dem Jahr 1872 nur ihre erste Aufgabe vollendet: die Ausarbeitung und Formulierung der Prinzipien des revolutionären Sozialismus, und es war nun der Augenblick gekommen, wo man zur praktischen Aktion übergehen mußte. Auch wenn wir von allen persönlichen Zwistigkeiten zwischen dem deutschen Nationalökonomen und dem russischen Revolutionär absehen, so muß doch zugegeben werden, daß auf dem Gebiet der praktischen Aktion nicht mehr dieselbe Einigkeit herrschen konnte, die vielleicht hätte aufrecht erhalten werden können, hätte es sich auch weiter nur um Theorien gehandelt. Die Gefolgschaft des einen und des anderen standen im Begriff, zwei voneinander abweichende Wege einzuschlagen, und der sozialistische Strom konnte deshalb nicht mehr geeint im selben Bett weiterfließen.

Die Sozialdemokraten traten nach einer Periode der Sammlung in das politisch-parlamentarische Leben ein und ließen somit die revolutionären Propagandaformen der alten Internationale fahren. Die libertären Sozialisten dagegen, deren Temperament eine größere Befriedigung und Betätigungsmöglichkeit in der revolutionären Propaganda fand, fuhren auf der alten Bahn weiter fort, indem sie die ihnen eigenen revolutionären Charakterzüge nach und nach noch verschärften und in diesem Sinne eine besondere Doktrin entwickelten, die heute unter dem Namen des Anarchisus bekannt ist. Sie waren, bis 1878, und in einigen Nationen bis 1882, die Fortführer der Internationale. Diese lebte, trotzdem die Marxisten sie für tot erklärten, in ihren regionalen, nationalen und internationalen Kongressen und in ihren Riesen-Prozessen noch mehrere Jahre lang weiter fort. In Italien fällt sogar gerade die Zeit der größten Blüte der Internationalen in diese zweite Periode, nach der Pariser Kommune (12). Der erste, unter dem Namen "Conferenza di Rimini" bekannte Kongreß der Internationale in Italien wurde in den ersten Augusttagen des Jahres 1872 abgehalten. Auf ihm fand auch erst die regelrechte und definitive Konstituierung der italienischen Föderation der Internationalen statt, die hauptsächlich dank der propagandistischen Tätigkeit ANDREA COSTAs zustande gekommen war (13). Unzählige Prozesse wurden dann noch in Italien nach 1873 bis zum Jahr 1882 gegen die Internationalisten geführt. Dem damaligen Studenten ANDREA COSTA wurde als einem gemeingefährlichen Individuum der Prozeß gemacht; er wurde sogar als solches unter Polizeiaufsicht gestellt. Der zweite Kongreß der Internationalisten (Bologna 1873) wurde gewaltsam aufgelöst und die Regierung ließ sämtliche Delegierten verhaften (14). Auch der dritte Kongreß wurde verboten, und man verhaftete die Mitglieder des für ihn konstituierten Korrespondenzbüros. Aber er wurde trotzdem auf dem Land, in der Umgebung von Florenz, in Pontassieve, unter äußerst dramatischen Nebenumständen, im Oktober 1876 abgehalten. In die gleiche Zeit fallen zwei Putschversuche, von denen der eine im Jahre 1874 sich fast über ganz Italien erstreckte, der andere, im Jahre 1877, in sehr viel begrenzterem Umkreis, in der Gegend von Benevent, stattfand. Am ersten nahm BAKUNIN selbst, am zweiten SERGIUS STEPNIAK teil (15).

Inzwischen fanden auch internationale Kongresse in Saint-Imier 1872, der als "anti-autoritärer" Kongreß bezeichnet wurde, in Genf 1873, Brüssel 1874, Bern 1876, Verviers und Gent 1877, London 1881 und Genf 1882 statt. Die beiden letzteren Kongresse können bereits als anarchistische betrachtet werden, insbesondere die Trennung der Anarchisten von all denjenigen Elementen, die, ohne Anarchisten zu sein, aus bloßer Opposition gegen MARX BAKUNIN Gefolgschaft geleistet hatten, bereits seit 1878 eine vollendete Tatsache war (16). Die Prozesse, die nach 1878 in Italien und Frankreich offiziell gegen die "Internationalisten" stattfanden, und von denen der Prozeß von Lyon 1882, in den bekanntlich KROPOTKIN verwickelt war (17), als der bedeutendste genannt zu werden verdient, waren in Wirklichkeit nur noch gegen die rein anarchistische Propaganda dieser Fraktion gerichtet.

Die Anarchisten, isoliert von der öffentlichen Meinung, fanden wenige Verteidiger. Nur in Italien erhob sich der bekannte Philosoph GUISEPPE FERRARI, ehemals Professor an der Universität Straßburg, und erklärte angesichts der italienischen Kammer den sozialistischen Anarchismus als eine Folge der Impotenz der heutigen Volkswirtschaft und des falsch verstandenen freihändlerischen Freiheitsgedankens. Wolle man, daß die Internationale nicht in Attentate ausartet, so müsse man ihr Ellenbogenfreiheit geben und sie respektieren. Die Rede FERRARIs rief in Italien ungeheuren Eindruck hervor, zumal sie zeitlich mit den großen Prozessen gegen die Internationalisten in Rom, Florenz, Livorno, Carrara, Trani, Neapel und Bologna zusammenfiel. Alle diese Prozesse belästigten die Anarchisten zwar durch die mit ihnen verbundene lange Untersuchungshaft, endeten aber übrigens stets mit einem vollständigen Freispruch für die Angeklagten.

Die Schriftsteller unter den Marxisten haben die Gewohnheit angenommen, die ganze historische Periode der Internationalen von 1872 - 80 einfach zu überspringen. Sie haben dadurch den bürgerlichen Schriftstellern das Studium der gesamten sozialistischen Bewegung ungemein erschwert. Im Wissenskomplex der heutigen Laienwelt entbehrt das Wissen über die Geschichte des Sozialismus jeglicher Kontinuität. Die bürgerlischen Schriftsteller springen von MARX und ENGELS sofort auf 1880 über. Mit anderen Worten, nach ihnen beginnt die Geschichte der modernen Arbeiterbewegung erst von der Periode an, in welcher der eine Zweig der ehemaligen Internationalen, nämlich die Sozialdemokratie in den Parlamenten Geltung zu erlangen begann. Selbst die Ausläufer der marxistischen Internationalen sind im Dunkeln geblieben. Auf diese Weise ist die Nachlässigkeit der sozialdemokratischen Historiker Ursache dafür geworden, daß der Durchschnitt unserer Sozialwissenschaftler nicht nur über die Geschichte der Internationalisten mit anarchistischen Tendenzen und über die Bedeutung BAKUNINs, sondern auch über die gesamten Anfänge der sozialistischen Bewegung in den romanischen Ländern überhaupt, ja, selbst über die Interpretation, die der Marxismus in ihnen gefunden hat, und sogar über die Entwicklung der sozialistischen Idee bei MARX und seinen Freunden in der Zeitspanne von 1864 bis 72, so gut wie gar keine exakten Kenntnisse aufweist.

Es ist z. B. immer noch historisches Gut, daß zwischen MARX und BAKUNIN und ihren respektiven Anhängern dieselbe Verschiedenheit in Methode und Gedankenwelt obwaltete, wie etwa heute zwischen Sozialdemokraten und Anarchisten. Es gibt heute noch ernsthafte Leute, in deren Augen MARX ein parlamentarisch gesinnter Kollektivist und BAKUNIN ein individualistischer Dynamitarde ist. In Wirklichkeit hingegen war sowohl die heutige Theorie des autoritären und zentralistischen Kollektivismus als auch die des anarchistischen Kommunismus sowie schließlich die der individualistischen Propaganda der Tat in der Zeit der Internationale nur im Keim und dazu noch in ungeheuer verschiedenartigen Schattierungen vorhanden. Zunächst eins: wie weit sonst auch immer ihre Ansichten auseinandergehen mochten, die Mitglieder der Internationale waren ausnahmslos erstens Sozialisten dem Endziel nach und zweitens Revolutionäre der Methode nach. Der Unterschied zwischen den beiden Richtungen in ihr war mehr praktischer als theoretischer Natur; er betraf mehr die Verschiedenheit der Charaktere und Temperamente und weniger die der wissenschaftlichen Überzeugungen.

KARL MARX war eine Gelehrtennatur, fleißig, geduldig, berechnend, zäh, kalt. MICHAEL BAKUNIN hingegen war ein Mann der Tat, ungeduldig und leidenschaftlich über alle Begriffe hinaus, unregelmäßig, gleichgültig gegen sich selbst, schnell wechselnd in seinen Entschlüssen. Beide hatten in der Schule HEGELs gelernt, aber der eine war ein deutscher Jude, und der andere ein slawischer Grande [Adelsmann - wp]. Die geistige Grundrichtung des einen war materialistisch, die des anderen wies trotz ihrer Tendenz zum Atheismus starke Tendenzen zum Idealismus auf. Der eine beschäftigte sich vorwiegend mit naturwissenschaftlichen und nationalökonomischen Studien, dabei den englischen und deutschen Publizisten der Zeit folgend. Der andere schöpfte mehr aus den Schriften philosophischen und historischen Inhalts, aus der französischen und italienischen Literatur und blieb geistig unter dem Bann der Renaissance-Periode und der großen französischen Revolution. Revolutionär waren sie alle beide, MARX mehr mit dem Gehirn, BAKUNIN mehr mit dem Herzen. MARX war mehr der große Revolutionierer der Köpfe, BAKUNIN mehr der große Lehrmeister der Mittel des praktischen Handelns.

Natürlich ist das alles  cum grano salis  [mit einem Augenzwinkern - wp] zu verstehen. Aber wer immer die Verschiedenheit der Temperamente dieser beiden Männer vor Augen hat, weiß, daß es ihnen psychologisch auf die Dauer schwer werden mußte, Arm in Arm zu gehen; der weiß auch, daß eben aufgrund der Verschiedenheit der Temperamente auch die geistige Richtung der beiden Männer, die zuerst fast die gleiche gewesen war, mit der Zeit immer mehr divergieren mußte. Ob dem Dualismus jener beiden Männer ein Dualismus der beiden europäischen Rassengemeinschaften, der germanisch-angelsächsischen und der romanisch-slawischen, zugrunde lag (18)? Wenn man die Geschichte der Internationale verfolgt, gewinnt diese Hypothes beinahe an Wahrscheinlichkeit. Ein allerdings konservativ gerichteter Schriftsteller hat im Kampf der Romanen und Slawen gegen MARX geradezu das Resultat eines Rassenkampfes und eine Art Revanche für die Siege der Preußen 1870 erblicken wollen (19). Das ist zweifellos eine arge Übertreibung. Immerhin hat BAKUNIN die Niederlage Frankreichs für die Niederlage der Zivilisation gehalten und zwei leidenschaftliche Pamphlete geschrieben, in denen er nachzuweisen versuchte, daß die Bekämpfung Deutschlands im Interesse der internationalen Revolution liegt (20), Pamphlete, die von seiten der Marxisten wenig genug goutiert wurden.

Ich habe geglaubt, auch auf diese Umstände aufmerksam machen zu müssen, um micht von dem Verdacht zu reinigen, als wollte ich eine Art posthumer Versöhnung zwischen MARX und BAKUNIN zustande bringen. Es ist hier nicht der Ort, die Geschichte der Kämpfe zwischen den beiden Männern im Schoß der Internationalen mit historischer Präzision zu beschreiben, geschweige denn, die Frage nach dem ethischen Recht oder Unrecht in diesem Kampf zu beantworten. Wer sich für diese Frage interessiert, der lese die prächtige Vorrede von JAMES GUILLAUME zum zweiten Band der gesammelten Werke BAKUNINs durch (21). Sicher ist eins: es sind meistens die Tatsachen, welche die Ideen erzeugen, und nicht umgekehrt. Dafür legt gerade die Geschichte des Sozialismus ein beredtes Zeugnis ab. Hätte die übertriebene Auslegung der materialistischen Geschichtsauffassung recht, so hätten die Anfangsform der sozialistischen Bewegung der Syndikalismus sein müssen, die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung, die bekanntlich der anarchistischen nicht allzu unähnlich sieht. Die Sozialdemokraten hingegen haben, den Ereignissen und der sogenannten "praktischen" Aktion, deren erster Impuls bekanntlich von MARX selbst ausging, Rechnung tragend, sich den alten Formen des Autoritarismus LOUIS BLANCs genähert und vom kommunistischen Manifest nur das behalten, was MARX und ENGELS selbst als hinfällt und nur aus der Zeit, in der es geschrieben wurde, erklärlich, hinstellen, während sie die revolutionären und die den wahren "deutschen", kleinbürgerlichen Sozialismus bekämpfenden revolutionären Thesen beiseite geschoben und bisweilen selbst verleugnet haben.

Das kommunistische Manifest datiert aus einer Periode, in der der eigentliche Sozialismus noch nicht einmal bestand. Es ist geschrieben worden  vor  der Junischlacht 1848,  vor  der Gründung der Internationale 1864,  vor  der Pariser Kommune 1871, ja, in diesem ganzen Zeitabschnitt der sozialistischen Entwicklung, der fast ein Vierteljahrhundert währte, hat diese kleine Schrift fast gar kein Aufsehen erregt. In kleiner Auflage gedruckt, war sie zu einer bibliographischen Rarität geworden. Erst 1872 wurde die Schrift in weitesten Kreise bekannt (22). Ihr gebührt das Verdienst, zum ersten Mal und in klarer, synthetischer Form den Grundgedanken sozialistischen Werdens Ausdruck verliehen zu haben: dem Klassenkampfgedanken und der materialistischen Geschichtsauffassung, sowie dem wegen seine in hohem Grad ethischen und revolutionären Charakters meines Erachtens ganz besonders bedeutungsvollen Gedanken der internationalen Klassensolidarität: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" Interessant an diesem Schriftchen sind ferner die heftigen Angriffe auf den Staatssozialismus und die Gutheißung der insurrektionellen [aufständischen - wp] Methode, die freilich in sonderbarer Weise mit dem Rekonstruktionsprogramm kontrastieren, welches sich am Schluß des zweiten Kapitels befindet. In den zehn Artikeln dieses Programms stoßen wir bereits auf den staatlichen und rein reformerischen Kollektivismus unserer heutigen Revisionisten, auf die Vorschläge zur Konzentrierung des Kredits in den Händen des alleinbesitzenden Staates, auf die despotische Reglementierung der Arbeit, auf die Drohung mit der Konfiskation gegenüber Emigranten und Rebellen usw. Es ist unbegreiflich, wie MARX einen solchen falschen Stein sein wertvolles Mosaik einfügen konnte. Vielleicht haben MARX und ENGELS selbst ihren Irrtum eingesehen. In der Vorrede zur zweiten Auflage des kommunistischen Manifests sagen sie, der Leser möge ihren revolutionären Vorschlägen am Ende des zweiten Abschnitts nicht allzuviel Aufmerksamkeit schenken. Die Pariser Kommune habe "den Beweis geliefert, daß die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann." (23) Das ist eine Art Druckfehlerangabe, und es wäre deshalb richtiger, wenn die Sozialisten bei der Neuauflage des Manifestes zu Propagandazwecken, ihm die ja ebenfalls von MARX verfaßte Inauguraladresse des Generalrats der Internationale und des Statutes dieser Gesellschaft, die die Emanzipation der Arbeiter als nur durch die Arbeiter selbst erreichbar darstellen, hinzufügen würden.

Auf diese Weise würde in Zukunft das Mißverständnis vermieden werden können, welches den Sozialismus so vielen in einem freiheitsfeindlichen Licht, etwa wie es ALBERT SCHÄFFLE in seiner "Quintessenz" dem Sozialismus gegeben hat, hat erscheinen lassen, ein Mißverständnis, das seinerseits Ursache davon geworden ist, daß das obengenannte Buch eines anti-sozialistischen Bürgerlichen selbst in sozialistischen Kreisen als hervorragendes Propagandawerk gepriesen wird. ARTURO LABRIOLA meint mit Recht, daß keine Schrift mehr als diese einen ebenso weitgeheden als verderblichen Einfluß ausgeübt hat und der Idee eines lächerlichen, starren und gleichsam wie aus einem einzigen Holzklotz geschnitzten (tutto di un pezzo) Kollektivismus, der eine verfluchte Ähnlichkeit mit einem pommerschen Grenadier besitzt, Verbreitung verschafft hat (24).

Die Ideen MARXens haben sich zweifellos in der Zeitspanne von 1847 - 64 wesentlich modifiziert. Nicht das vielleicht, was in ihnen historische oder philosophie Doktrin ist, aber doch das, was sich in ihnen auf praktische revolutionäre Aktion bezieht. MARX ist immer von Instinkt und allgemeiner Geistesrichtung autoritärer Dogmatiker geblieben, aber der Kontakt mit dem begeisterungsvollen Streben, das in den 48er Jahren in allen Völkern zu Hause war, und mit dem revolutionären und ultra-liberalen Ferment, das damals alle jungen Köpfe erfüllt, hatte doch auch MARX dazu gebracht, vieles von jener unverwüstlichen Aspiration nach Freiheit, welche als das Charakteristikum jener Zeit betrachtet werden kann, anzunehmen. Nur daß er, und darin bestand ja sein wissenschaftliches Verdienst, den Begriff der Freiheit von der platonischen, formalen Hülle, welche ihm die Bourgeoisie damals gegeben hatte, loslöste und mit einer Energie und Beharrlichkeit, die schließlich alle Anhänger der sozialistischen Bewegung von damals - und so ist es bis auf den heutigen Tag geblieben - von der Richtigkeit seiner Theorie zu überzeugen wußte, darauf hinwies, daß Freiheit ohne ökonomische Grundlage ein hohles Wort und ohne Aufhebung des Elends nicht möglich ist. Später aber, innerhalb der Internationale und während des Kampfes gegen BAKUNIN, gewinnt der autoritäre Instinkt bei MARX wieder die Oberhand. Doch es ist gut, sich vor Augen zu halten, daß MARX in der "Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation" 1864, sowie bereits früher in den "Klassenkämpfen in Frankreich" 1850 und im "18. Brumaire Bonapartes" 1852, sowie schließlich auch später in der leidenschaftlichen nachträglichen Verteidigung der Kommune in Paris, dem sogenannten "Bürgerkrieg in Frankreich" 1871, mit anderen Worten jedesmal, wenn er es in seinen Schriften nicht mit sozialistischen, sondern mit bürgerlichen Gegner zu tun hatte, seine Theorie über das Wesen der Freiheit so scharf zuspitzte, daß sie mindestens zu vier Fünfteln auch von den äußersten Anarchisten akzeptiert werden könnte.

Von der Behauptung im kommunistischen Manifest, daß die Arbeiter kein Vaterland besitzen, bis zur Proklamation in der Inauguraladresse, daß die arbeitenden Klassen die Pflicht hätten, sich der internationalen Politik zu bemächtigen, die diplomatischen Tricks im Auge zu behalten und unter Umständen mit all ihrer Macht gegen sie aufzutreten, und bis zur Apologie der militärischen Rebellion in der Apotheose der Kommune finden wir bei MARX Antimilitarismus und Antipatriotismus, selbst in der heute von GUSTAVE HERVÉ getragenen Form, genug, um mehreren heutigen sogenannten Marxisten Grauen einzuflößen. So z. B. wenn MARX davon, was er die "Hinrichtung" der Generäle THOMAS und LECOMTE seitens der Kommunarden nennt, spricht, und dabei sagt: "Einer der bonapartistischen Offiziere, der beim nächtlichen Überfall auf Montmatre eine Rolle spielte, General LECOMTE, hatte viermal dem 81. Linienregiment befohlen, auf einen unbewaffneten Haufen in der Place Pigalle zu feuern; als die Truppen sich weigerten, schimpfte er sie wütend aus. Statt Weiber und Kinder zu erschießen, erschossen seine eigenen Leute ihn selbst. Dieselben Leute richteten auch CLÉMENT THOMAS hin". (25) So sah der praktische Anti-Militarismus von MARX aus, also genau so, wie der der heutigen Anti-Militaristen.

Für den Sozialismus als einem Ideal der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und für die Propaganda gegen das bürgerliche Monopol und Privileg hat MARX sicherlich mehr mit seinen kleineren Werken als mit seinem größten Werk, das als sein Meisterwerk gilt, geleistet. Heute ist vielleich vom ganzen "Marxismus" das "Kapital" derjenige Teil, der am wenigsten tief in die sozialistische Doktrin eingedrungen ist. Dieses MARXsche Werk, welches innerhalb eines kleinen Kreises von Studierten dazu beigetragen hat, seinem Autor den Namen eines großen Wissenschafters zu verleihen, eine Annahme, die sicherlich den Kredit seiner übrigen sozialistischen Ideen erhöhte, hat für die sozialistische Bewegung mehr eine indirekte, als eine direkte Bedeutung gehabt. Ohne das "Kapital" hätte die moderne Arbeiterbewegung sehr wohl existieren können und dieselben Fortschritte gemacht, die sie mit ihm gemacht hat. Ohne die übrigen sozialistischen Ideen MARXens und die unermüdliche Propaganda dieses Mannes aber nicht. In diesem Sinne ist also das Kapital zweifellos nicht MARXens größte Schöpfung.

Wir bemerkten bereits, daß die sozialistischen Ideen, die die Klarheit und Schärfe ihrer Prägung in der ersten Periode der Internationalen erhalten haben, zu jener Zeit in der marxistischen wie in der bakunistischen Richtung fast dieselben waren. Wenn BAKUNIN auf dem 1868 in Genf abgehaltenen Kongreß "für Frieden und Freiheit" seinen Gedanken von der "Gleichmachung der Klassen und Individuen" als seine Überzeugung von der Notwendigkeit der Abschaffung der Klassen und die Vereinheitlichung der Gesellschaft durch die soziale und ökonomische Gleichheit (26) erklärte, wiederholte er nur einen Gedanken MARXens aus dem zweiten Kapitel der Klassenkämpfe in Frankreich:
    "Das Recht auf Arbeit ist im bürgerlichen Sinne ein Widersinn, ein elender, frommer Wunsch, aber hinter dem Recht auf Arbeit steht die Gewalt über das Kapital, hinter der Gewalt über das Kapital die Aneignung der Produktionsmittel, ihre Unterwerfung unter die assoziierte Arbeiterklasse, also die Aufhebung der Lohnarbeit, des Kapitals und des Wechselverhältnisses." (27)
So hatte MARX diesem Gedanken in noch schärferer und besserer Form als BAKUNIN Ausdruck verliehen. Heute wird er nur noch allein von den Anarchisten vertreten. Was ist in der Tat die Besitzergreifung des Kapitals und die Expropriation, die in so beredter Weise von KROPOTKIN gefordert wird (28), anderes als jenes MARXsche Postulat?

Später, im Jahre 1871, hat MARX, während er die Kommune als weit sozialistischer erscheinen ließ, als sie es in Wirklichkeit war, diesem Gedankengang in noch schärferer Form Ausdruck verliehen:
    "Jawohl meine Herren, die Kommune wollte jenes Klasseneigentum abschaffen, das die Arbeit der Vielen in den Reichtum der Wenigen verwandelt. Sie beabsichtigte die Enteignung der Enteigner. Sie wollte das individuelle Eigentum zu einer Wahrheit machen, indem sie die Produktionsmittel, den Erdboden und das Kapital, jetzt vor allem die Mittel zur Knechtung und Ausbeutung der Arbeit, in bloße Werkzeuge der freien und assoziierten Arbeit verwandelt (29).
MARX hat hier offenbar weniger das Ideal der Pariser Kommune, als vielmehr sein eigenes Ideal zum Ausdruck gebracht. Wir sehen, hier ist nicht mehr die Rede vom "Arbeitszwang" innerhalb "industrieller Armeen", wie er 25 Jahre vorher im "Manifest" geplant war.

MARX hatte also damals mit den Anarchisten das Streben nach  freier und assoziierter Arbeit  gemein, wie er mit BAKUNIN die Auffassung teilte, daß in der sozialen Revolution "das heutige russische Gemeineigentum zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen" kann (30).

MARXens kritische Angriffe gegen die Kleinbourgeoisie und ihren reaktionären und zugleich utopistischen Sozialismus (31) sind bis ins einzelnste ausführlich von BAKUNIN in seinen Broschüren und Artikeln wiederholt worden. Der von BAKUNIN gegen die Mittelbourgeoisie der "Friedens- und Freiheitsliga" geführte Kampf scheint von Stellen aus den intransigentesten [konzessionslosesten - wp] Seiten, die MARX jemals schrieb, beeinflußt zu sein. So schrieb BAKUNIN einmal: "Der bürgerliche Sozialismus steht jetzt wir ein Zwitterwesen zwischen zwei unversöhnbaren Welten: der bürgerlichen Welt und der Arbeitswelt. Seine äquivoke und verderbliche Tätigkeit beschleunigt zwar - das ist nicht zu leugnen - auf der einen Seite das Ende der Bourgeoisie, aber korrumpiert doch zur gleichen Zeit das Proletariat schon im Keim. Er korrumpiert es in zweifacher Hinsicht: In erster Linie schwächt und entstellt er sein Programm und sein Lebensprinzip, - und läßt so das Proletariat unmögliche Hoffnungen hegen und zugleich den lächerlichen Glauben an eine bevorstehende Bekehrung der Bourgeoisie zum Sozialismus fassen, - und ist auf diese Weise bestrebt, es an sich zu fesseln und zum Werkzeug der bürgerlichen Politik zu machen (32). Zwischen den Angriffen MARXens und denen BAKUNINs besteht derselbe Unterschied wie zwischen den zwei Temperamenten: MARX ist mehr voll von Sarkasmus und Ironie, BAKUNIN mehr temperamentvoll und derb.

Wenn, wie bekannt ist, BAKUNIN den Sozialismus als "die Organisierung der Gesellschaft und des kollektiven und gesellschaftlichen Eigentums von unten nach oben mittels der freien Föderation, und nicht von oben nach unten kraft irgendeiner Autorität" (33) auffaßte, so gab MARX seinerseits über diesen Punkt gerade in jenem famosen und nicht gerade anständigen, an die Sektionen der Internationalen gerichteten "Privaten Zirkular" über "die angeblichen Spaltungen der Internationale", worin er BAKUNIN, MALON, HERZEN und alle Nichtmarxisten auf das heftigste angriff (34)

Heute, also nach 35 Jahren, beruft sich zu gleicher Zeit ein Sozialist und ein Anarchist auf diesen MARXschen Satz, um zu zeigen, daß das Ideal des Sozialismus nur eins sein kann. Der erste, ARTURO LABRIOLA, schreibt:
    "Das Resultat all seiner Bestrebungen ist die Neubildung jener gesellschaftlichen Synthese, die dem Arbeiter wieder die Produktionsmittel zurückgibt und welche die autonome, nur ökonomischen und aus der Natur des technischen Prozesses selbst hergeleiteten Gesetzen untertane Herrschaft der Produktion schaffen wird, das heißt, jene Gesellschaftsordnung, die alle Sozialisten, von PROUDHON bis MARX als  "Anarchie"  bezeichnet haben." (35)
Der zweite, JAMES GUILLAUME, bewies, obwohl, wie er sagt, "MARX sich darauf versteifte, uns Föderalisten, die wir doch als solche gerade den sehnlichen Wunsch haben, die Arbeiter in Gruppen zu vereinen und zu organisieren, als Gegner jeglicher Organisation darzustellen", haarklein, daß die "Endziele der beiden im Kampf miteinander befindlichen Richtungen innerhalb der Internationalen identisch" waren, und daß "Gegner und Anhänger MARXens, Bakunisten und Marxisten, in Wirklichkeit  das gleiche Ideal  hatten." (36)

Nachdem MARX dem Wort "Anarchie" dieselbe Definition gegeben hatte, die ihm die Anarchisten beilegten und sie als das Ideal  aller Sozialisten  bezeichnet hatte, mußte er aber ein Kriterium finden, um sich und die Seinen von den Anhängern BAKUNINs unterscheiden zu können, und so kam er auf das Mittel, den Anarchisten den Charakter von Sozialisten abzusprechen und sie als Freund der Unordnung und als Feinde der Organisation und jeder Diszipin hinzustellen. Diese Methode ist dann von den Schriftstellern aller anderen sozialistischen Schulen immer weiter angewandt worden, um die Anarchisten zu bekämpfen. Wir werden aber sehen, wie wenig diese Anschuldigung begründet ist und wie die Anarchisten theoretische  Marxisten  waren - und es zum Teil noch sind. Vorher aber wollen wir diese kurze Betrachtung der sozialistischen Ansichten MARXens damit schließen, daß wir feststellen:
    1. daß das MARXsche Ideal der gesellschaftlichen Rekonstruktion in hohem Grad libertär oder anti-staatlich war;

    2. daß MARX gleich den Anarchisten ein schroffer Gegner des bürgerlichen Sozialismus und der Kleinbourgeoisie war;

    3. daß MARX Revolutionär war, genau wie die Anarchisten Revolutionäre waren. Mag er darin Recht oder Unrecht haben, jedenfalls steht fest, daß er der Meinung war, die Ziele des Sozialismus könnten ohne "den gewaltsamen Umsturz aller gesellschaftlichen Ordnungen" nicht erreicht werden. (Kommunistisches Manifest)
Wir haben schon bemerkt, wie MARXens Denken auch durchaus anti-patriotisch und anti-militaristisch war. Was den Parlamentarismus anbetrifft, so ersparte er auch ihm seine Angriffe und Sarkasmen, die ebenso bissig waren, wie die Schmähungen BAKUNINs, keineswegs. So spricht er z. B. von einer  "unheilbaren Krankheit  des parlamentarischen Kretinismus, ... einem Leiden, das seine unglücklichen Opfer mit der erhabenen Überzeugung erfüllt, daß die ganze Welt, ihre Geschichte und ihre Zukunft, durch eine Majorität von Stimmen in einem besonderen Vertretungskörper gelenkt und bestimmt wird, der die Ehre hat, sie zu seinen Mitgliedern zu zählen." (37) Aber bei diesem letzten Punkt zu verweilen ist zwecklos, da diese Frage um 1870 noch nicht spruchreif war und auch noch nicht die Bedeutung besaß, die ihr heute innewohnt.

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Wenn die heutigen Syndikalisten zu beweisen suchen, daß ihre Richtung eine Rückkehr zur MARXschen Doktrin bedeutet, und ihre Gegner sie stattdessen der Annäherung an die Anarchisten beschuldigen, so haben eigentlich sowohl die einen wie die anderen Recht, denn das eine widerspricht nicht dem anderen. Ich möchte hinzufügen "zum Teil", weil die Syndikalisten nicht vollständig zu MARX zurückkehren und weil sie sich auch weniger den Anarchisten nähern, als es auf den ersten Blick scheint. Sie sind nicht Marxisten tout court [kurz gesagt - wp], weil sie einige Postulate des Marxismus nicht mehr annehmen können, da sie veraltet sind, und sie sind keine Anarchisten, weil sie sich andererseits nicht zu einem völligen Bruch mit dem traditionellen Sozialismus durchzuringen vermögen, den die Anarchisten vollzogen haben.

Dagegen haben die Anarchisten durch ihren Geist der Kritik - im etymologischen Sinn des Wortes ihren "revisionistischen" Geist - gewisse Berührungspunkte mit den Reformisten und Revisionisten. Man weiß zum Beispiel, daß die von BERNSTEIN und GRAZIADEI an einigen marxistischen Lehren geübte Kritik in vielen Teilen der von MERLINO (als er noch Anarchist war) und von TSCHERKESOFF gefällten Kritik entspricht (38). So sind z. B. die einen wie die anderen sozialistischen Parteien - obwohl mit Zwecken und aus Motiven, die sich diametral gegenüberstehen. Auch die Anarchisten verwahren sich - wie die Reformisten - gegen die zu enge Deutung der Begriffe des historischen Materialismus und des Klassenkampfes und legen den verschiedenen nicht rein wirtschaftlichen Faktoren der sozialen Evolution, den Elementen des Gefühls und der Moral sowie den Ideen der politischen Freiheit eine größere Wichtigkeit bei als es die traditionellen Sozialisten tun; ebenso insgesamt allen Fragen, auf die der ökonomische Determinismus nicht exklusiven Einfluß hat. Die einen wie die anderen sehen im sozialistischen Kampf nicht ausschließlich wirtschaftliche und Arbeiter-Interessen im Spiel. KROPOTKIN fand in einem seiner letzten Bücher, daß auch in den nicht proletarischen Klassen die Elemente zu einer Solidarität im Keim sind, wie sie ein zukünftiges sozialistisches und libertäres Leben erfordert (39). Vielleicht liegt in diesen unsichtbaren innerlichen geistigen Beziehungen der Grund für eine Erscheinung, die ich in den zwölf oder fünfzehn Jahren meines politischen Lebens beobachtet habe, und die auch von anderen beobachtet worden sein muß, nämlich dafür, daß fast alle Anarchisten, die aus ihrer Partei ausgetreten sind, um sich der sozialdemokratischen Partei anzuschließen, den reformistischen und revisionistischen Gruppen derselben angehören.

Aber man mißverstehe mich nicht. Es handelte sich dabei, wie ich gesagt habe, um sehr schwache Zusammenhänge, die nicht verhindern, daß im praktischen Leben und im täglichen Kampf Anarchisten und Reformisten Antipoden bleiben. Denn auf dem praktischen Gebiet des revolutionären Kampfes stehen doch, wie ich schon sagte, die Syndikalisten den Anarchisten am nächsten. Und daß dies nicht im Widerspruch mit der Behauptung der Syndikalisten, sie näherten sich wieder MARX, steht, ist ganz klar, weil ja die treuesten Marxisten lange Zeit hindurch die Anarchisten gewesen sind, die im Marxismus eine unerschöpfliche Quelle von Argumenten für ihre revolutionäre Intransigenz gefunden haben.

Das, was die Anarchisten von MARX trennte - das möchte ich nochmals nachdrücklichst wiederholen - war eine Frage des Temperaments und daneben  eine innere Organisationsfrage der Internationale,  die mit persönlichen Zänkereien durchmischt wurde. In der Doktrin waren die Anarchisten Marxisten, und sie waren es in ihrer Haltung gegenüber der großen und kleinen Bourgeoisie und gegenüber den politischen Parteien. Die Frage des Parlamentarismus konnte sie vielleicht trennen; aber zur Zeit der Internationalen, speziell in der ersten Periode, spielte sie keine Rolle und es wäre nutzlos, darüber nachzugrübeln, welche Stellung MARX eingenommen haben würde, wenn ein derartiges Problem in seiner ganzen Schwere sich vor ihm erhoben hätte. Jedenfalls würden die kleineren Werke MARXens (wir meinen kleiner nur in Bezug auf den Umfang) -  Klassenkampf in Frankreich - der 18 Brumaire - Revolution und Konterrevolution - Bürgerkrieg in Frankreich  - eher den Glauben an eine ablehnende als an eine zum Parlamentarismus hinneigende Stellungnahme erwecken (40).

BAKUNIN und die Anarchisten waren nicht nur passive Anhänger der marxistischen Doktrinen, sondern auch ihre eifrigsten Prediger und Propagandisten. Im romanischen und slawischen Europa waren sie sogar - das darf man ruhig behaupten - die ersten und lange Zeit hindurch die einzigen Marxisten überhaupt. Die erste Übersetzung des "Kommunistischen Manifests" ins Russische, die im  "Kolokol"  in London veröffentlicht wurde, rührte von BAKUNIN her, der auch die Übersetzung des  "Kapitals"  begonnen hatte, die er später aus außerhalb seines Willens liegenden Gründen nicht fortführen und vollenden konnte (41). In Italien verdankt man den ersten Auszug aus dem  "Kapital"  dem Anarchisten CARLO CAFIERO, der ihn damals im Gefängnis schrieb, in das man ihn infolge des Aufstandsversuchs von Benevent geworfen hatte. Während CAFIERO an diesem Werk MARXens arbeitete, schrieb LIEBKNECHT in Deutschland, daß CAFIERO und anderen Mitglieder der Bande von Benevent "agents provocateurs" seien!

Wenn ich an diese Einzelheiten erinnere, so deshalb, weil sie einen weiteren Beweis für meine Behauptungen bilden. Würde CAFIERO in Italien den Auszug aus dem  "Kapital"  wirklich angefertigt haben, noch dazu, während der Lärm des MARXschen Kampfes gegen die italienischen Anarchisten immer noch widerhallte, wir wiederholen, würde CAFIERO sich dieser durchaus nicht leichten Arbeit unterzogen haben, wenn er nicht ein felsenfest überzeugter Anhänger der Theorien jenes Buches gewesen wäre?

Übrigens übernimmt es CAFIERO selbst, das zu sagen:
    "Ein tiefes Gefühl der Trauer hat mich beim Studium des  Kapitals  beschlichen, als ich daran dachte, daß dieses Buch in Italien gänzich unbekannt ist und wer weiß wie lange noch unbekannt bleiben würde. - - Dieses Buch stellt die neue Wahrheit dar, die ein von den Irrtümern und Lügen eines ganzen Jahrhunderts aufgebautes Gebäude niederreißt, es zermalmt und es in alle Winde zerstäubt. - Hoffentlich hält MARX bald sein Versprechen und wird uns den zweiten Band des  Kapitals  schenken, der handeln wird von etc. etc. ..." (42)
Auch wurde die erste italienische Ausgabe des "Kommunistischen Manifests" nur durch die Bemühungen einer Anarchistengruppe in Mailand veröffentlicht. Sie besitzt ein Vorwort von PIETRO GORI, der das Bändchen dem Publikum als ein Werk von allerhöchstem Interesse empfiehlt, "das in vorurteilsloser Weise und mit kalter logischer Schärfe den Zerstörungsgedanken, den eigentliche Vorläufer des modernen Sozialismus im Resumé enthält" und das, trotz der von den Ideen und der Kritik inzwischen gemachten Fortschritte "eine der genialsten Synthesen der sozialistischen Bewegung" ist und bleibt (43).

Oft wirft man - vielleicht nicht so ganz zu Unrecht - den Anarchisten die Armut ihrer Literatur auf ökonomischem Gebiet vor (44). Aber die Anarchisten antworten sehr treffend darauf, daß sie Sozialisten sind und daß sie als solche mit allen anderen Schulen des Sozialismus die ökonomische Literatur des ganzen Sozialismus gemeinsam haben. Sie können nicht noch einmal dort mähen, wo schon geschnitten ist, und nicht noch einmal wiederholen, was ihre Vettern von der Sozialdemokratie schon in oft so großartiger Weise gesagt haben. Allenfalls konnten sie versuchen, das zu korrigieren, was ihnen in den ökonomischen Theorien MARXens ein Irrtum zu sein schien. Diese Aufgabe jedoch haben sie durch die Feder MERLINOs, CORNELISSENs, TSCHERKESOFFs, NIEUWENHUIS u. a. mehr auch zur Genüge erfüllt.

Freilich kann man sagen, daß diese Marx-Kritiken sehr spät gekommen sind. Am Anfang waren die Anarchisten in Bezug auf die Ökonomie durch und durch Marxisten, und das sogar soweit, daß sie auch die in den Theorien dieses Mannes enthaltenen Irrtümer aufnahmen und sogar den Verlag der marxistischen Propaganda-Broschüren von LAFARGUE und ENGELS besorgten. Ja, noch mehr, es waren die Anarchisten, die am längsten die marxistische Tradition gepflegt haben (ich spreche von den romanischen Nationen und speziell von Italien), und es ist eine Tatsache, wie ich schon an anderer Stelle bemerkte (45), daß sie aus dem, was im Marxismus fatalistisch und katastrophisch ist, die sachliche Berechtigung zu ihrer apokalyptischen Haltung abgeleitet haben. Aber sie haben außerdem gleichzeitig auch ihre unwandelbare Treue zum reinen, anti-bürgerlichen und antistaatlichen Prinzip des Sozialismus, ihren revolutionären Geist und ihre Methode des Kampfes und der direkten Aktion von ihm abgeleitet. So kommt es, daß es scheinen konnte, als ob sich die Syndikalisten dadurch, daß sie die Prinzipien und Systeme des Marxismus wieder aufnahmen, dem Anarchismus genähert hätten.

MICHAEL BAKUNIN selbst begnügte sich nicht nur in allen seinen Schriften damit, die MARXsche Theorie des Klassenkampfes darzulegen und zu erklären und daraus rücksichtslos die Konsequenzen zu ziehen, sondern er vergaß auch in den Zeiten des heftigsten Kampfes mit MARX niemals die Verdienste dieses Mannes und unterließ es nie, sich in der Theorie als sein Anhänger zu bekennen. HERZEN, der ihm daraus den Vorwurf der Schwäche machte, weil er seine Haltung gegenüber MARX für nicht energisch genug hielt, erhielt von BAKUNIN die Antwort:
    "Jawohl, ich weiß es, daß MARX genauso unser Gegner ist wie die anderen, ja, ich weiß sehr wohl, daß er sogar der eigentliche Anstifter der gegen uns losgebrochenen verleumderischen Polemik ist. - Trotzdem habe ich ihn gelobt und ihn einen Riesen genannt. Aus zwei Gründen, lieber HERZEN. Der  erste  ist ein Grund der  Gerechtigkeit.  Wenn wir von den Beschimpfungen, mit denen er uns bedeckt hat, absehen, dann müssen wir doch die großen Verdienste anerkennen - ich wenigstens erkenne sie an -, die er der Sache des Sozialismus seit 25 Jahren geleistet hat, und in dieser Beziehung läßt er uns alle unzweifelhaft weit hinter sich zurück. Er ist auch einer der ersten Organisatoren, wenn nicht überhaupt geradezu der geistige Schöpfer des  Internationalen  gewesen. Nach meiner Auffassung ist das ein ungeheures Verdienst, das ich stets dankbar anerkennen werden, wie immer seine Stellung uns gegenüber sein möge. - Der  zweite  ist ein politischer und taktischer Grund, die ich für ebenso triftig halte. MARX ist unfehlbar der fähigste Kopf in der Internationale. Bis jetzt übt er auf seine Partei immer noch einen günstigen Einfluß aus und bildet er die höchste Stütze, den kräftigsten Widerstand gegen den Einbruch bürgerlicher Ideen und bürgerlicher Tendenzen in die Bewegung. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich zum Zwecke, um mich an ihm zu rächen, auch nur versucht hätte, seinen so großartigen Einfluß zu unterbinden oder auch nur zu schwächen." (46)
Tatsächlich entbrannte kurz darauf der Kampf zwischen den beiden Männern, aber es war MARX der ihn eröffnete.

Hier eine andere, viel besprochene Erklärung BAKUNINs aus dem Jahr 1870, die sich auf die Ideen bezieht:
    "MARX als Denker ist auf einem guten Weg. Er hat als Prinzip festgestellt, daß alle politischen, religiösen, juristischen Einrichtungen in der Geschichte nicht die Ursachen, sondern die Wirkungen ökonomischer Entwicklungen sind. Das ist ein großer und fruchtbarer Gedanke, den er zwar nicht absolut selbständig erfunden hat - denn er ist schon von anderen vorher empfunden und zum Teil auch ausgedrückt worden -, aber alles in allem gebührt ihm die Ehre, diesen Gedanken wissenschaftlich fest verankert und ihn zur Basis eines ganzen ökonomischen Systems gemacht zu haben".
Und weiter:
    "Es ist wohl möglich, daß MARX sich theoretisch zu einer rationaleren Auffassung der Freiheit aufschwingen kann als PROUDHON, aber der Instinkt der Freiheit fehlt ihm: er ist von Kopf bis Fuß ein Autoritär." (47)
Auch BAKUNIN glaube also wie man sieht, daß im  theoretischen  Begriff der Freiheit MARX selbst PROUDHON überlegen war, und daß die Divergenz sich nur auf eine Verschiedenheit des  Instinkts,  des Gefühls beschränkte.

Das, was MARX seinerseits BAKUNIN zum Vorwurf machte, war, daß er die "Anarchie" durch Unordnung und Desorganisation im Schoße der  Internationale  einführe. Aber das versteht sich: Jedes Parteioberhaupt schleudert die Anklage der Desorganisation auf die rebellischen Minderheiten in der Partei. BAKUNIN wollte tatsächlich nur eine weniger zentralisierte Organisation der Internationale. Aber die Bakunisten waren deshalb nicht weniger fest organisiert als die Marxisten; dafür waren die spanischen, italienischen, belgischen usw. Föderationen ein Beweis. Übrigens brach BAKUNIN selbst in beredter Weise eine Lanze zugunsten der Organisation, und zwar sogar in der Zeit, in der er am meisten wegen seinen desorganisatorischen Neigungen angegriffen wurde. Er schrieb während der Kommune:
    "Wie sehr ich auch dem, was man in Frankreich Disziplin nennt, feindlich gegenüberstehe, so erkenne ich doch an, daß eine gewisse, nicht automatische, sondern freiwillige und überlegte Disziplin immer da notwendig ist und sein wird, wo einige freiwillig geeinte Individuen irgendeine gemeinschaftliche Arbeit oder eine gemeinschaftliche Aktion beginnen wollen. Diese Disziplin ist die freiwillige und auf einen gemeinsamen Zweck hin mit voller Überlegung ausgeführte Konkordanz aller individuellen Anstrengungen." (48)

LITERATUR: Luigi Fabbri, Die historischen und sachlichen Zusammenhänge zwischen Marxismus und Anarchismus, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 26, Tübingen 1908
    Anmerkungen
    1) ENRICO MALATESTA, Il Comunie di Parigi; il 18 marzo 1871, in "Il Pensiero", Rivista Quindicinale di Sociologia, Arte e Letteratura, anno V, Nr. 6, Roma, 16 marzo 1907.
    2) In jener Zeit wurden in der Propaganda die Ausdrücke "anarchistisch", "sozialistische" und "revolutionär" durcheinander und durchaus äquivalent gebraucht. Vgl. auch ROBERT MICHELS, Proletariat und Bourgeoisie in der sozialistischen Bewegung Italiens, Studien zur Klassen und Berufsanalyse des Sozialismus in Italien, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 21.
    3) Über die große Ungerechtigkeit und die Härten von MARX in der Beurteilung der der anderen Richtung angehörenden Sozialisten vgl. EDUARD BERNSTEIN, Dokumente des Sozialismus, Jhg. I, Nr. 1 und ROBERT MICHELS, Historisch-kritische Einführung in die Geschichte des Marxismus in Italien, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 24, Seite 193f
    4) MAX NETTLAU, Michael Bakunin, eine Biographie, London 1900. Ein Werk von 837 Folioseiten in drei Bänden, von welchem nur 50 autokopierte Manuskriptexemplare existieren.
    5) PIERRE KROPOTKINE, Autour d'une vie, Paris
    6) GUSTAVE LEFRANCAIS, Souveniers d'un révolutionnaire, Bruxelles, Bibliothéque des Temps Nouveaux
    7) JAMES GUILLAUME, L'Internationale, Documents et souvenirs (1864 - 78), Paris 1905 - 07, 3 Bände
    8) WLADIMIR TSCHERKESOFF, Pages d'histoire socialiste: Doctrine et Actes de la Socialdemocratie allemande, Paris 1896
    9) MICHEL BAKOUNINE, Oeuvres, Tome I., mit einer langen Einleitung von NETTLAU. Tome II, mit Biographie und bibliographischen Notizen von JAMES GUILLAUME, Paris. Sowie "Correspondance avec Herzen et Ogarjew", Paris.
    10) ANSELMO LORENZO, El proletariado militante, Barcelona
    11) FEDERICO ENGELS, Prefazione a Carlo Marx, Capitale e salario, Milano 1893
    12) Vgl. ETTORE SOCCI (Abgeordneter im italienischen Parlament); "Un anno alle Murate. Memorie", Pitgliano 1898.
    13) ALFREDO ANGIOLINI, "Cinquant' anni di socialismo in Italia", Firenze 1900.
    14) ANDREA COSTA, "Bagliori di socialismo", Firenze 1900
    15) Vgl. ALFREDO ANGIOLINI, a. a. O. und FRANCESCO PEZZI, "Un errore giudiziario", Firenze 1882, Seite 19 - 47.
    16) ETTORE ZOCCOLI, "L' Anarchia", Torino 1907, Seite 389 - 399.
    17) PIERRE KROPOTKINE, a. a. O., Seite 465 - 69.
    18) Hier ist allerdings zu bemerken, daß MARX nicht germanischer, sondern jüdischer Herkunft war. Somit dürfte dieser Rassenvergleich, der auch aus anderen Gründen nichtssagend ist, in sich zusammenfallen (Anm. d. Übers.)
    19) TULLIO MARTELLO, Storia dell' Internazionale, Napoli 1873, Seite 472 - 78.
    20) MICHEL BAKOUNINE, Lettres a un francais sur la crise actuelle (septembre 1870). Es ist weder der Name des Autors, noch derjenige des Herausgebers angegeben.
    21) MICHEL BAKOUNINE, Oeuvres, a. a. O. tome II.
    22) EMILE VANDERVELDE, Le jubilé du Manifeste Communiste, in der Tageszeitung "Le Peuple", Bruxelles, 28. März 1898
    23) KARL MARX und FRIEDRICH ENGELS, Das kommunistische Manifest, Berlin 1901
    24) ARTURO LABRIOLA, Riforme e Revoluzione sociale, Lugano 1906, Seite 166
    25) KARL MARX, Der Bürgerkrieg in Frankreich, Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiter-Assoziation. Dritte deutsche Auflage, vermehrt durch die beiden Adressen des Generalrats über den deutsch-französischen Krieg und durch eine Einleitung von FRIEDRICH ENGELS, Berlin 1891, Seite 38
    26) Memoire presente par la Federation jurassienne de l'Association internationale des travailleurs a toutes les Federations de l'Internationale, Souvillier 1873
    27) KARL MARX, Die Klassenkämpfe a. a. O., Seite 48
    28) PIERRE KROPOTKIN, Paroles d'un révolté, Paris, Seite 315 - 342. Derselbe "La conquete du pain", Paris, Seite 47 - 64.
    29) KARL MARX, Der Bürgerkrieg in Frankreich, a. a. O., Seite 49
    30) Das kommunistische Manifest, a. a. O., Seite 6
    31) Außer im Manifest, a. a. O., Seite 25, vgl noch "Die Klassenkämpfe" a. a. O. und "Der 18 Brumaire", a. a. O. und fast alle übrigen Schriften von MARX.
    32) MICHAEL BAKUNIN in "Mémoire" etc. a. a. O., Seite 18
    33) BAKUNIN, "Memoire" etc. a. a. O. - Siehe auch die zweite Rede BAKUNINS auf dem Internationalen Kongreß der Friedensliga in Genf, 1867 (Protokoll des Kongresses, Seite 28).
    34) KARL MARX, Les pretendues scissions de l'Internationale, 1872, Seite 97. - Auch in sozialistischen Propagandaschriften wird häufig das  anarchistische  Endziel nach Erreichung des  sozialistischen  Endziels als erstrebenswert anerkannt. (Anm. d. Übers.)
    35) ARTURO LABRIOLA, Riforme, a. a. O., Seite 206
    36) JAMES GUILLAUME, L'Internationale, a. a. O., Seit 298.
    37) KARL MARX, Revolution und Konter-Revolution in Deutschland, ins Deutsche übertragen von KARL KAUTSKY, Stuttgart 1896.
    38) Vgl. SAVIERO MERLINO, Il lato fossile del socialismo contemporaneo, im "Pensiero", a. a. O., Bd. 1, Nr. 4, 5, 6. Dieser Artikel wurde im Jahre 1889 von MERLINO für die "Revolte" (Paris) geschrieben, aber damals nicht publiziert. Siehe auch WLADIMIR TSCHERKESOFF, Pages d'histoire socialiste", a. a. O.
    39) PIERRE KROPOTKINE, L'Entr'aide, Paris 1906, Seite 314 - 317.
    40) Dieselbe Ansicht äußert EDUARD BERNSTEIN in einem Artikel der "Sozialistischen Monatshefte".
    41) ROBERT MICHELS, Marxismus in Italien, a. a. O., Seite 210
    42) Il Capitale di Carlo Marx, brevemente compendiato de CARLO CAFIERO, Milano 1879, Seite 5 - 7.
    43) "Il manifesto del partito communista", a. a. O., Seite 5 - 7.
    44) ROBERT MICHELS, Sozialistische Bewegung in Italien, a. a. O., Seite 205
    45) LUIGI FABBRI, Socialismo, sindacalismo, anarchismo", in der Zeitschrift "Il Diveniere Sociale", Roma 1906
    46) MICHEL BAKOUNINE, Correspondance, a. a. O., Seite 291 - (Brief vom 28. Oktober 1869)
    47) Aus einem nicht veröffentlichten Manuskript vom Jahr 1870, das JAMES GUILLAUME in seinem Vorwort zu den "Oeuvres", a. a. O., Vol. II, Seite XIII - XIV zitiert.
    48) BAKOUNINE, Oeuvres, a. a. O., Vol. II, Seite 297