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HEINRICH von SYBEL
Über die Gesetze
historischen Wissens

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"Eine einzelne Notiz, eine Meldung, deren Inhalt mit einer einzigen sinnlichen Wahrnehmung erschöpft werden kann, mag ohne erhebliche Entstellung von einem Gewährsmann zum andern kommen. Ganz anders aber, sobald wir es mit einem Zusammenhang mehrerer Einzelheiten, mit einer Gruppierung oder einer Entwicklung, mit einer Darstellung oder einem Urteil zu tun haben. Hier zeigt nicht bloß die historische, sondern auch die psychologische Erfahrung, daß der unbedeutendste und offenbarste Gegenstand von zwei Gewährsmännern niemals in gleicher Weise dargestellt wird, daß derselbe Erzähler, wenn er mehrmals denselben Gegenstand schildert, bei jeder Wiederholung variiert, daß auch der vorsichtigste und gewissenhafteste Mann der genauesten Selbstkontrolle bedarf, um die Einzelheiten seines Vortrags nur nach dem Zusammenhang der Sache und nicht nach subjektiver Stimmung zu gruppieren: mit einem Wort, daß kein objektiver Tatbestand durch die Auffassung und Darstellung eines Menschengeistes hindurchgeht, ohne aus der Substanz dieses Geistes mehr oder minder erhebliche Umwandlung zu erleiden."

Die historischen Wissenschaften sind in den letzten Menschenaltern in Deutschland zu einer regen und vielseitigen Tätigkeit gelangt. Die Forschung hat weite Quellengebiete neu erschlossen, die künstlerische Darstellung ist mehr als sonst ein Gegenstand aufmerksamen Strebens geworden, ein wirksames Verhältnis der Wissenschaft zum Leben hat sich ohne Schaden der Gründlichkeit und Wahrheitsliebe herausgebildet. Bei einem so mannigfaltigen Wirken und Voranschreiten konnte es nun nicht fehlen, daß die Wissenschaft auch auf sich selbst reflektierte, daß es zu mehrfachen Erörterungen über ihre Technik und Methode, über ihre Mittel und Zwecke, über ihre Aufgaben und Schranken kam. Indem die geschichtlichen und die Naturwissenschaften in der Menge ihrer Ergebnsse wetteiferten, gelangte mehrmals die Frage zur Erörterung, inwieweit die Methode ihrer Forschung übereinstimme oder verschiedenen Wesens, ob die Sicherheit ihrer Resultate gleich groß, die Erkenntnis der leitenden Gesetze auf beiden Seiten gleich weit vorangeschritten sei. Indem die Wissenschaft populär und praktisch anwendbar wurde, erneuerte sich der alte Streit, ob ihr theoretischer Bestand oder ihre praktische Nützlichkeit die letzte Entscheidung über ihren Wert und ihre Gestaltung zu geben habe. Indem die geschichtliche Forschung Gegenstände ergriff, deren Auffassung für die momentane Praxis des Staates und der Kirchen von Bedeutung war, entsprangen lebhafte Verhandlungen, ob nicht die wissenschaftliche Untersuchung nach den Forderungen jener Praxis gewisse Grenzen ein für alle Mal zu respektieren habe, ja noch mehr, ob nicht auch innerhalb dieser Grenzen die Forschung an gewisse, der politischen und kirchlichen Praxis erwünschte Voraussetzungen ein für alle Mal gebunden sei. Das Interesse und die Wichtigkeit dieser Erwägungen ist einleuchtend. Es handelt sich um nichts Geringeres, als um die Fragen, inwieweit der Mensch wissen dürfe und inwiefern er wissen könne - inwieweit der historischen Kritik die wissenschaftliche Untersuchung gestattet und inwieweit ein Ergebnis für dieselbe sachlich erreichbar ist.

Es scheint mir, daß bei einem Fest wie dem heutigen, wo wir das Andenken des hohen Gründers unserer Universität begehen, eine Erörterung über solche Fundamentalfragen der Wissenschaft wohl an ihrer Stelle ist. Offenbar ist nur dann der Wert unserer königlichen Gründung gesichert, wenn über jene Fragen eine klare Orientierung und richtige Entscheidung vorhanden ist. Ich maße mir nicht an, den ganzen Umfang und die volle Tiefe des Gegenstandes erschöpfen zu wollen; ich vermeide an dieser Stelle insbesondere das Verhältnis der Wissenschaft zu den politischen und kirchlichen Forderungen zu berühren. Dagegen versuche ich einige Bemerkungen über jene andere Seite der Sache, über die Möglichkeit eines sicheren Erkennens auf dem Gebiet der historischen Wissenschaften und was damit unmittelbar zusammenhängt, über die Möglichkeit einer im mathematischen Sinne exakten Methode bei den Forschungen des historischen Faches.

Auf den ersten Blick scheinen die Klagen nicht unberechtigt, welche man häufig genug über die ewigen Schwankungen des historischen Wissens vernimmt. Je glänzender die Fortschritte der Forschung sind, desto größer ist auch die Zahl der angeblichen Tatsachen, die sie als irrige Annahmen früheren Halbwissens über Bord wirft. Was heute ein Forscher auf den Trümmern der bisherigen Ansichten erbaut, schlägt morgen ein anderer wieder zu Scherben. Oft haben wenige Jahre erfolgreichen Fleisses ausgereicht, weite Strecken der Vergangenheit in ein völlig neues Licht zu setzen. Fast an keiner Stelle hat es jetzt ein Erwachsener noch so bequem, sich in historischen Dingen auf die Erinnerungen seiner Schuljahre verlassen zu können. Nun ist allerdings die Schule weniger zum Lehren als zum Bilden vorhanden, nicht so sehr das Überliefern einzelner Notizen, sondern die allgemeine Stärkung des Geistes ist ihr Zweck; sie ist dann auch nur sehr langsam imstande, die neuen Ergebnisse der Forschung unter ihre Lehrmittel aufzunehmen und vor allem auf dem üppig produzierenden Boden der Geschichte muß sich schon nach wenigen Jahren derjenige ratlos finden, der seine Gymnasialkenntnisse als sicheren Besitz für das Leben betrachtete. Für den Einzelnen kann das unter Umständen lästig und beschwerlich sein, für die Sache selbst ist es, wie man leicht erkennt, nicht ein Zeichen der Schwäche, sondern der Stärke. Alle menschliche Vorstellung beginnt mit dem Irrtum, alles Wissen mit dem Zweifel, der Beseitigung des Irrtums; die bequeme Trägheit, welche ruhig im Gleis der bestehenden Überlieferung verharrte, wäre das gerade Gegenteil geistigen Lebens. Wir wollen freilich keine willkürliche, beweislose Neuerung, wohl aber die stete, nach fester Regel vorwärtsschreitende Entwicklung bewiesener Erkenntnis.

Was ist nun erforderlich, damit in der historischen Forschung eine Tatsache als bewiesen, ein Beweis als geführt erachtet werden kann?

Der Naturforscher hat ausschließlich mit Gegenständen sinnlicher Wahrnehmung zu tun, mit Gegenständen, die er bei jeder selbständigen Untersuchungen mit eigenen Augen sieht, mit den eigenen Sinnen beobachtet. Dieser Beobachtung kann er nach der Beschaffenheit ihrer Objekte die möglichst große Zuverlässigkeit geben, durch Messung und Wägung, durch Isolierung und Vervielfachung der Experimente, durch die Kontrolle einer die leisesten Abwandlungen verfolgenden Rechnung.

Der Historiker dagegen hat die Handlungen und Zustände der Menschen zu seinem Gegenstand, ein Material also, das nur zum Teil in den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung fällt und gerade in der Hauptsache, den Stimmungen, Motiven und Tendenzen der handelnden Personen nur durch geistiges Verständnis begriffen werden kann. Von vornherein fallen hier für die Beobachtung diejenigen Mittel exakter Kontrolle fort, über welche der Naturforscher verfügt und vor allem, nur in den seltensten Fällen ist der Historiker imstande, vollständig aus eigener Beobachtung der Personene und Tatsachen zu berichten. Durchgängig ist er darauf beschränkt, entweder aus den ihm noch sichtbaren Fragmenten oder Folgen der Vorgänge auf deren Verlauf zurückzuschließen oder sich ein Bild desselben aus den Berichten dritter Personen zu entwerfen, Personen, welche die Sache selbst gesehen und dann  hoffentlich  gut beobachtet oder sie ihrerseits von Augenzeugen und dann  hoffentlich  guten Augenzeugen erfahren haben.

Niemand wird bezweifeln, welche Art der Belehrung die größere Sicherheit gibt. Die Sache oder auch nur Bruchstücke  selbst  sehen ist besser, als sich von den besten Augenzeugen darüber erzählen zu lassen. Dem Historiker also ist es ein unschätzbarer Gewinn, wenn er irgendwo noch realen Überresten der vergangenen Ereignisse begegnet. Hier kommt er sofort in eine Lage, welche in vielen Fällen jener des Naturforschers ganz ähnlich ist: mit gleicher Sicherheit, wie der Geologe aus den Petrefakten [Fossilien - wp] die frühere Entwicklung der Erdrinde, erschließt der Historiker aus Denkmälern und Urkunden die vergangenen Perioden des Menschenlebens. Es ist wahr, die menschlichen Zustände entwickeln sich durch den Einfluß der individuellen Willensfreiheit nicht in so gleichförmiger Regelmäßigkeit wie die terrestrischen [auf der Erde - wp]; es ist also der Schluß aus einem einzelnen Überrest auf ganze Zustände in der Geschichte nicht überall gleich sicher wie in der Natur. Dafür sind für die geschichtliche Forschung die Bruchstücke des menschlichen Tuns sehr viel reicher, feiner und mannigfaltiger; sie sind erfüllt von den Niederschlägen des gesamten geistigen Daseins. Neben den Denkmälern und Urkunden, welche die Resultate des verschiedensten Handelns darstellen, erscheinen zahlreiche Akten, Depeschen und Briefe, Dokumente, welche nicht erzählen wollen, sondern von denen jedes Stück ein Teil der Aktion selbst ist und deren Reihe das Werden und den Zusammenhang derselben unmittelbar vor Augen legt. Wo es uns vergönnt ist, Materialien dieses Schlages zu benutzen, kann sich die historische Kritik fast allein auf die Frage der Echtheit beschränken, auf die Frage, ob das Dokument wirklich das ist, wofür es sich ausgibt. Die forschende Tätigkeit ist damit erledigt; es kommt dann weiter darauf an, das hier festgestellte tatsächliche Material zu den weiteren Zwecken, der Kombination, der Erkenntnis eines leitenden Gesetzes, der künstlerischen Darstellung zu verwerten.

Auf einen ganz verschiedenen Boden aber gelangt er Historiker, wenn er nicht mehr Reste der Ereignisse selbst, sondern nur erzählende Darstellungen derselben zu seiner Quelle hat: hier ist es, wo die Aufgabe der historischen Kritik im engeren Sinne des Wortes beginnt und die Lösung derselben die Möglichkeit des Wissens erst begründet. Es ist wichtig, sich hiervon eine möglichst genaue Vorstellung zu machen.

Wer eine Tatsache nach den Erzählungen Dritter erkennen will, soll, sagt man, den Wert seiner Quellen prüfen, ursprüngliche und abgeleitete, parteiische und unparteiische Zeugnisse unterscheiden. Er soll fragen, ob der Zeuge die Wahrheit sagen wollte und ob er sie sagen konnte. Das alles ist schön und gut: nur kommt es darauf an, ob und wie es sich ausführen läßt. Wenn man prüfen soll, ob ein Erzähler die Wahrheit sagen konnte, so ist die Frage, ob jemals ein Erzähler im strengen Sinne des Wortes die Wahrheit berichtet, ob er jemals ein absolut zutreffendes Bild der Tatsache gegeben hat. Allerdings eine einzelne Notiz, eine Meldung, deren Inhalt mit einer einzigen sinnlichen Wahrnehmung erschöpft werden kann, mag ohne erhebliche Entstellung von einem Gewährsmann zum andern kommen. Ganz anders aber, sobald wir es mit einem Zusammenhang mehrerer Einzelheiten, mit einer Gruppierung oder einer Entwicklung, mit einer Darstellung oder einem Urteil zu tun haben. Hier zeigt nicht bloß die historische, sondern auch die psychologische Erfahrung, daß der unbedeutendste und offenbarste Gegenstand von zwei Gewährsmännern niemals in gleicher Weise dargestellt wird, daß derselbe Erzähler, wenn er mehrmals denselben Gegenstand schildert, bei jeder Wiederholung variiert, daß auch der vorsichtigste und gewissenhafteste Mann der genauesten Selbstkontrolle bedarf, um die Einzelheiten seines Vortrags nur nach dem Zusammenhang der Sache und nicht nach subjektiver Stimmung zu gruppieren: mit einem Wort, daß kein objektiver Tatbestand durch die Auffassung und Darstellung eines Menschengeistes hindurchgeht, ohne aus der Substanz dieses Geistes mehr oder minder erhebliche Umwandlung zu erleiden. Es ist, wie wenn ein weißer Lichtstrahl sukzessiv durch verschieden gefärbte Gläser passiert: die Bilder behalten die Umrisse des Urbildes, aber sie erscheinen ein jedes in der Farbe des betreffenden Glases. Sobald die Absicht zu erzählen, die Absicht erzählend zu darzustellen, im Geist vorhanden ist, wirkt die persönliche Natur des Erzählenden mit gestaltender Kraft auf den Stoff ein. Die größte Schärfe und Klarheit der Beobachtung gibt dagegen keinen Schutz, denn die richtig empfangenen Eindrücke werden in der Darstellung eben umgeformt, Die stärkste Liebe zur Wahrheit steht nicht im Weg: denn der Erzählende ist im Moment eben der Überzeugung, daß seine Ausarbeitung die rechte Wahrheit sei. Die naivste Unbefangenheit der Erzählung ist keine Garantie gegen die Verfälschung, denn diese vollzieht sich in den meisten Fällen naiv und unbewußt und was allein sie verhüten oder wieder gut machen kann, ist gerade der reflektierende, kritische, selbstbewußte Verstand.

Suchen wir diesen Hauptpunkt noch etwas näher zu fassen. Ich erwähnte vorher die Akten, Depeschen, Korrespondenzen als Überreste der Handlungen im Gegensatz zu den erzählenden Darstellungen derselben. Nun weiß jeder, daß in der Praxis dieser Gegensatz gerade bei Briefen und Depeschen vielfach ineinander fließt, eine Menge Aktenstücke sind nichts als erzählende Darstellungen, eine Menge Depeschen und Gesandtschaftsberichte scheinen nichts anderes sein zu sollen. Indessen wird man bei einiger Aufmerksamkeit niemals im Zweifel bleiben, auf welche Seite das betreffende Dokument gehört und welcher Maßstab demnach an seine Beurteilung zu legen ist. Der letzte Zweck des Verfassers entscheidet alles, der Wille, in einem Fall eine Handlung zu vollziehen oder hervorzurufen, im andern, durch eine Darstellung den Leser zu unterrichten. Ein Beispiel mag es erläutern. Wer die Telegramme und Depeschen zusammennähme, die zwischen den Gesandten der neuesten Londoner Konferenz und ihren Regierungen während der Dauer der Sitzungen gewechselt worden sind, fände ohne Zweifel in den Berichten der Gesandten manche Erzählung, dennoch aber würden wir sagen, er hätte in jenen Aktenstücken nicht eine darstellende Geschichte der Konferenz, sondern in einem geschichtlichen Spiegelbild die Konferenz selbst. Die Depeschen, obgleich manche in einem erzählenden Ton auftreten, sind nicht Erzählung der Konferenzdebatten, sie sind eine Quelle oder Bestandteil eben dieser Debatten. Als aber am Schluß der Sitzungen Baron BRUNNOW ein geschichtliches Resumé derselben anfertigte - ganz gewiß, da es für die Öffentlichkeit bestimmt war, mit dem sorgsamsten Streben, jede tatsächliche Unrichtigkeit zu vermeiden - zeigte sich sofort die Kraft der subjektiven Einflüsse; das Bild nahm auf der Stelle eine sehr ausgesprochene Färbung an und die deutschen Gesandten beeilten sich, ihrerseits - wieder mit nicht geringer Wahrheitsliebe - eine Darstellung zu liefern, welche dann ein vom russischen völlig verschiedenes Bild gewährt. Dieselbe Erscheinung zeigt sich fast ausnahmslos, wo ein Selbsthandelnder seine Taten und Erlebnisse später in einer erzählenden Darstellung aufzeichnet, wenn er seine Memoiren schreibt. Solche Memoiren bedeutender Menschen wird niemand geringschätzen, aber frei vom Einfluß darstellender Verfälschung sind sie fast nie. Vergleicht man z. B. die Memoiren LAFAYETTEs, DUMOURIEZs oder NAPOLEONs mit den Briefen, Depeschen, Orderbüchern dieser Feldherren, so treten sofort eine Menge von Entstellungen, Trübungen und Unrichtigkeiten in dem Memoiren hervor. Der Grund ist klar. Die Order, die der Feldherr auf dem Schlachtfeld erläßt, wollen nicht erzählen, sondern sind selbst eine Handlung oder eine Quelle von Handlungen; von der Einwirkung des darstellenden Triebes ist bei ihnen keine Rede. Bei den Memoiren aber wirkt dieser auf Schritt und Tritt. Manches Mal ist eine bewußte Lüge im Spiel, viel häufiger aber eine unbewußte Verschiebung des Zusammenhangs, eine Abschwächung des Gedächtnisses, eine Änderung des Urteils. Marschall MARMONT hat in seinen Memoiren die wichtigsten Aktenstücke selbst abdrucken lassen, als gewiß den Leser nicht irre führen wollen. Umso frappanter ist es, daß an vielen erheblichen Stellen diese Noten den Text seiner Erzählung formell und geradezu widerlegen. Jeder weiß es, daß keine sicherere Korrektheit im Einzelnen bei der Selbstbiographie unseres großen Dichters stattfindet - nur daß GOETHE dieses Verhältnis mit klarer Einsicht gleich auf dem Titel ausgedrückt und sein unsterbliches Buch deshalb Wahrheit und Dichtung genannt hat.

In der Tat, abgesehen von jenen wirklichen Überresten der Ereignisse selbst, besteht alle geschichtliche Überlieferung aus einer unübersehbaren Mischung von Wahrheit und Dichtung. Wir sehen in den Erzählungen nicht die Dinge selbst, sondern nur die Eindrücke, die sie in der Seele unserer Berichterstatter gemacht haben und wir wissen, daß die Erzählung dieser Eindrücke niemals den Dingen völlig genau entspricht. Aus der Erzählung nun auf die erste Form des Eindrucks und aus diesem auf die Gestalt der Tatsache zurückzuschließen, die Zutaten und Änderungen der subjektiven Einwirkung zu beseitigen und dadurch den objektiven Tatbestand wieder herzustellen: das ist, nach seinem umfassendsten und präzisesten Ausdruck, das Geschäft der historischen Kritik.

Sie hat, um dieses Ziel zu erreichen, im Allgemeinen zwei Wege.

Die person.htmlPersönlichkeit des Berichterstatters ist gleichsam das Medium, durch welches das von der Tatsache ausgehende Licht das Auge des Forschers erreicht, ein Medium, welches, wie wir sahen, den Lichtstrahl niemals völlig ungetrübt oder ungebrochen durchpassieren läßt. Es kommt also darauf an, diese Brechungen und Trübungen genau zu berechnen und dazu ist die unerläßliche Voraussetzung die genaue Kenntnis des Mediums, die genaue Kenntnis der persönlichen Natur jedes Berichterstatters. Das Verfahren ist in gewisser Hinsicht ähnlich dem des Astronomen, der wegen der Einwirkung der Atmosphäre auf die Lichtstrahlen keinen Stern am rechten Ort sieht und erst aus seiner Kenntnis der atmosphärischen Luft den Fehler berechnen und eliminieren muß. Nun erkennt man sofort, daß die entsprechende Berechnung des Historikers weniger einfach ist - denn er hat es nicht mit einem einzigen gleichartigen Medium, sondern mit zahllos verschiedenen Personen zu tun - und daß er die formale Evidenz der mathematischen Rechung nicht erreichen kann - denn bei ihm handelt es sich um die Kenntnis menschlicher Persönlichkeiten und der Kern jeder Persönlichkeit entzieht sich dem arithmetischen Kalkül wie auch der sinnlichen Wahrnehmung. Allein trotzdem ist auch hier die Möglichkeit eines streng wissenschaftlichen Verfahrens keineswegs in Abrede zu stellen. Das Leben selbst lehrt uns, daß ein Mensch das Wesen eines andern, wenn nicht sehen, so doch  verstehen  kann, verstehen bis in alle Einzelheiten, verstehen bis in die inersten Tiefen seiner Erwägungung und Entschlüsse hinein. Der Dichter und der Künstler zeigt es uns durch die sprechende Nachbildung, der Pädagoge und der Herrscher beweist es durch die sichere Leitung der Menschen, daß jenes verstehende Erkennen eines anderen möglich ist - daß es möglich ist, sich in sein Inneres zu versetzen, die Entstehung seiner Eindrücke zu belauschen, das Maß und die Regel seiner Vorstellungen und Gefühle zu erfassen. Eben das ist es, was der historische Kritiker bedarf, was die Sicherheit des historischen Wissens begründet, was dem Rückschluß von der Erzählung auf die erzählte Tatsache exakte Genauigkeit verleiht. Auch ist der allgemeine Grund dieses Verhältnisses nicht schwer zu finden. Nichts ist uns geläufiger als das Wort: ich verstehe mich leicht und schnell mit einem Freund und schwer und langsam mit einem fremden oder widerwärtigen Menschen oder in einem anderen Ausdruck: ich verstehe mich leicht mit jedem, dessen Wesen dem meinigen gleichartig ist. Nun aber findet bei aller individuellen Verschiedenheit eine gewisse Gleichartigkeit und folglich auch die Möglichkeit eines gegenseitigen Verständnisses bei allen Menschen statt, eben weil alle menschlichen Wesens sind und von den gleichen Gesetzen der menschlichen Natur bestimmt werden.
LITERATUR Heinrich von Sybel, Über die Gesetze historischen Wissens, Festrede gehalten am Geburtstag König Friedrich Wilhelm III. am 3. August 1864, Bonn 1864