tb-4Rudolf StammlerPaul EltzbacherKarl Diehl    
 
RUDOLF EMIL MARTIN
Der Anarchismus
und seine Träger

"Der Liberalismus ist Schwindel, die Pfaffen sind Betrüger, die Bourgeoisie schneidet uns die Hälse ab, die Polizei und das Militär stehen Wacht dabei und die Regierung sagt, das alles sei eben gerade in der Ordnung."

"Mosts Ansichten über den Parlamentarismus waren sehr naiver Natur. Er bildete sich ein, man brauche sich da nur zu Wort melden und könne dann lospauken, daß die Minister nur so von den Bänken kollern. Es kam aber ganz anders. Obgleich er sich fast täglich bemühte, das Wort zu bekommen, hat er dasselbe im ganzen Quartal niemals erhalten. Er mußte sich alle seine Philippiken, welche er gegen Bismarck loszulassen gedachte, verkneifen, und das war ein Glück für ihn. Denn wenn er auf der Parlamentstribüne gewissermaßen Erfolge erzielt hätte, wäre sicherlich der Hochmutsteufel in ihn gefahren und er würde heute jenen geschwollenen Nullen Gesellschaft leisten, die sich darin gefallen, breite Bettelsuppen für das Volk zu erflehen."

"In Deutschland gab es fast an jedem Parteiort Genossen, welche die Rückwärtskonzentrierungen der Liebknecht'schen Clique mit Zorn betrachteten und die umso freudiger die Verbreitung der  Freiheit  in die Hand nahmen. Eine solche  Indisziplin  wurde aber nicht ungestraft geduldet. Die Liebknechtlinge gaben überall die Parole aus, die betreffenden Leute seien  Agents provocateurs,  Polizeispione usw. Liebknecht scheute sich nicht, zu behaupten, Most stehe im Sold der preußischen Regierung; später erklärte er ihn einfach für verrückt. Ja, zuletzt ging die Gemeinheit gar so weit, daß die  Freiheit -Leser ganz direkt der Polizei denunziert wurden. Die Vernichtung dieses Blattes sollte um jeden Preis bewirkt, Most sollte  totgemacht  werden."

Vorwort

In den höchsten Regierungskreisen ebenso, wie im großen Publikum, haben meine in der "Kölnischen Zeitung" veröffentlichten und in zahlreichen Blättern wiedergegebenen Londoner Briefe aufmerksame Leser gefunden; selbst die "New Yorker Staatszeitung" hat sich beeilt, sie Wort für Wort in die Spalten ihres Blattes aufzunehmen. Der "Züricher Sozialdemokrat" unterzog sie einer niederschmetternden Kritik, die mich ebensowenig überraschte, wie die Wutausbrüche in den anarchistischen Klubs.

Dieses rege Interesse bei Für und Wider veranlaßt mich, einer dringenden Aufforderung nachzukommen und meine "Londoner Briefe" zu einem kleinen Werk über den Anarchismus zu vervollständigen.

Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, alles zu veröffentlichen, was ich unter den Anarchisten gehört und gesehen habe, sofern es dazu dienen kann, das Dunkel aufzuhellen, unter dessen Schutz so lange schon die anarchistische Minenarbeit ihr verbrecherisches Wesen trieb. Das rote Gespenst will ich allen erkenntlich, in seiner ganzen abscheu-erregenden Nacktheit an die Wand malen; denn nur der vermag einer Gefahr zu begegnen, der ihr voll und ganz ins Antlitz zu sehen vermag.

Und es ist an der Zeit, daß die Gesellschaft endlich einmal von der Defensive zur Offensive übergeht. "Die Gelegenheit ist günstig." Noch lodern die Flammen der Zwietracht im anarchistischen Lager, noch ist die ganze verderbliche Bewegung feil, wenn sich ein Käufer findet.

Aber auf wie lange? Videant consules, ne quid detrimenti res publica capiat! [Die Konsule mögen zusehen, daß der Staat keinen Schaden erleidet! - wp]

Möchte dieses Buch, indem es auf die Gefahr hinweist, zu ihrer Bekämpfung beitragen.

Mein Material habe ich zu allermeist selbst an der Quelle geschöpft. Außer MOST habe ich die Leiter der anarchistischen Bewegung persönlich kennen gelernt, die geheimsten, nur in wenig Exemplaren verbreiteten anarchistischen Flugblätter befinden sich in meinem Besitz, ebenso ein ganzer Stoß anarchistischer Zeitungen, darunter sämtliche Nummern des bis jetzt noch wenig bekannten "Rebell".

Meine Geschichte des Anarchismus enthält ebenfalls viel neues, bis jetzt noch nicht veröffentlichtes.

Über den französischen und russischen Anarchismus bin ich zu wenig orientiert, um auch sie in den Kreis meiner Betrachtungen ziehen zu können.

Der deutsche, von London aus geleitete Anarchismus ist zunächst das Objekt meiner Studien gewesen. Möchten sie nicht ganz ohne Nutzen für die Gesellschaft und unser Vaterland im Besonderen gewesen sein!



Vorgeschichte

Auf die Ziele der Anarchisten einzugehen, behalte ich mir bis zum Ende des Buches vor; die Anarchisten wollen eben alles und wollen nichts, darum ist diese Frage eine überaus schwierige.

In den traurigen Ruhm, die Väter des deutschen Anarchismus zu sein, teilen sich BAKUNIN, VICTOR DAVE und AUGUST REINSDORF (diesen Namen an dieser Stelle zu finden, wird überraschen, die Begründung dessen zu geben, werde ich jedoch nicht verfehlen).

JOHANN MOST, dessen Bedeutung für die anarchistische Bewegung wir nicht unterschätzen, ist nur der Schüler der letzten beiden, besonders DAVEs.

Historisch betrachtet ist der Anarchismus ein Auswuchs der von KARL MARX 1864 gestifteten Internationale.

Der gemäßigten Sozialdemokratischen Richtung LASALLEs, der noch ein einziges deutsches Kaisertum mit seinem sozialistischen Programm in Einklang bringen mußte, folgte der internationale Kommunismus LIEBKNECHTs und BEBELs.

Es ist in der Natur der sozialdemokratischen Bewegung, die, wie FRANZ MEHRING treffend bemerkt, mit allen Mitteln öffentlichen Wirkens die Zuchtlosigkeit in den Massen groß zieht, begründet, daß ihr bald eine radikalere Richtung folgte.

Der erste, der in der Neuzeit ein rein anarchistisches Programm aufstellte, war der Russe BAKUNIN, ein Mann, der alle Wechselfälle des Lebens auf das Bitterste gekostet hatte.

Während seiner vieljährigen Verbannung in Sibirien hatte er einen unstillbaren Haß gegen jede bestehende Ordnung eingesogen. In seinem anarchistischen Programm bekundet sich seine viehisch-brutale Gesinnung. Er predigt kurzweg die Beseitigung aller Klassenunterschiede, aller Autoritäten, des Staates, der Religion, jeder Ungleichheit unter den Menschen, bis auf den Unterschied von Mann und Weib. Beide Geschlechter sollen kurzgeschorenes Haar, weite Kleider, Hüte von gleichem Schnitt und blaue Brillen tragen, das Letztere, damit sich ein schönes Gesicht keinerlei Vorzüge mehr vor einem minder schönen erfreut.

In seiner abschreckenden Roheit rät er den Frauen  les fruits de leurs amours ou plutôt de leurs nécessités naturelles  [die Fruchttriebe ihrer Liebe oder vielmehr ihre natürlichen Bedürfnisse - wp] zu unterdrücken.

Auf seiner Flucht aus Sibirien über Japan kam BAKUNIN nach London und ging von da in die Schweiz. Im Jahre 1868 schloß sich ihm der Belgier VICTOR DAVE an, dem wir ein besonderes Kapitel widmen werden. Diese beiden nun trugen den Anarchismus in die internationale Arbeiterassoziation von KARL MARX und verschafften sich daselbst bald einen beträchtlichen Anhang. Auf dem gemeinsamen Kongreß der "Internationale" im Haag gerieten Sozialdemokraten und Anarchisten zum erstenmal heftig aneinander.

DAVE äußerte sich in Bezug darauf vor dem Reichsgericht im Oktober 1881 folgendermaßen:
    "... Ich war dann Mitglied der "Internationalen Arbeiter-Assoziation", und in dieser internationalen Arbeiterassoziation, wo Sie davon viel gelesen haben werden in Zeitungen - jetzt nicht mehr - da war eine Richtung die des Herrn KARL MARX vertreten, die auch kommunistisch-autoritär - Staatskommunistisch wird das wohl auf deutsch heißen. Ich habe dann in Zeitungen, welche die anarchistische Richtung repräsentieren, diese Ideen von Karl Marx und natürlich auch seinen Anhang stets mich bemüht zu bekämpfen, bis im Jahre 1872 der allgemeine internationale Kongreß von Haag in Holland gekommen ist, wo es mir gelungen ist, KARL MARX über Bord zu werfen. Das war ein Sieg des anarchistischen Prinzips innerhalb dieser internationalen Arbeiter-Assoziation. Ich war der Wortführer der sogenannten Minorität, aber diese Minorität war eigentlich die Majorität."
Der schwachen Majorität von MARX und des Generalrates gelang es zwar, BAKUNIN und Genossen aus der Internationale auszustoßen, allein die so entstandene Spaltung war eine Schwächung der Internationale. BAKUNIN und Genossen gründeten eine neue Internationale, welche ihre Fäden über ganz Europa von Rußland bis nach Spanien spann. Man setzt vielfacht die spanischen Empörungen von 1873, die Putsche in Benevent, Bern und Petersburg, den großen Eisenbahnstreik in den Vereinigten Staaten auf ihre Rechnung. Wir aber sind der Meinung, daß in der Mitte der 70-er Jahre die Bakuninsche Partei, trotz einer gewissen Organisation solcher Heldentaten noch nicht fähig war.

Bald nach BAKUNINs am 1. Juli im Spital zu Bern erfolgten Tod beschlossen seine Anhänger einen Weltkongreß nach Gent zu berufen. Auch die Marxisten entsandten dorthin ihre Delegierten. Die seit dem Gothaer Kongreß vereinigten deutschen Sozialdemokraten vertrat WILHELM LIEBKNECHT.

Der Kampf zwischen Sozialdemokraten (deutschen Sozialdemokraten und Marxisten) und den BAKUNIN'schen Anarchisten war ein heftiger. Die letzteren wollten den Weg der Gewalt nicht verlassen, während die ersteren geradezu behaupteten, mit Putschen und Attentaten tue man der Reaktion den größten Gefallen.

Wiederum blieben die Gemäßigten in der Majorität, welche indessen in logischer Konsequenz anarchistischer Weltanschauung nicht respektiert wurde.

Übrigens war dies schon seit dem anarchistischen Kongreß in Verviers beschlossene Sache.

Obgleich man sich schließlich zu einer Resulution einigte, nach welcher sich die beiden Parteien "der gegenseitigen Achtung versicherten, welche sich Männer schulden, die die Überzeugung ihrer Würde und das Gefühl ihrer Ehrlichkeit haben", begannen sichvon da an Anarchisten und Sozialdemokraten zu scheiden.

Obwohl zu jener Zeit MOST noch sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter war, besaßen die Anarchisten doch schon zu allen Schandtaten entschlossene Männer, so den bekannten OTTO RINKE, der schon auf dem Genter Kongreß eine hervorragende Rolle spielte.

Von einschneidender Bedeutung für das Verhältis der "Blauen" zu den "Roten" war das Attentat auf Seine Majestät Kaiser WILHELM vom 11. Mai 1878.

Erst später ist es der Welt klar geworden, daß man es in HÖDEL mit einem wirklichen Anarchisten zu tun hatte. Eine Verbindung NOBILINGs mit den Anarchisten läßt sich nicht nachweisen. Die "Freiheit" bezeichnet ihn als "Genossen". Ein hervorragender Anarchist hat mir indessen versichert, daß sie mit NOBILING nichts zu tun hätten.

Der 11. Mai sollte nur der Anfang einer blutigen Ära des Terrorismus sein. Zum Glück aber war die Zeit noch nicht gekommen, da wir, nach des Reichskanzlers Worten, unter der Tyrannei einer Gesellschaft von Banditenn zu leben haben.

Den Attentaten folgte das Ausnahmegesetz. Mit ihm verschwand der Buchbinder MOST, ehemaliger Reichstagsabgeordneter für Chemnitz, aus Deutschland, um in London, nicht der Vater, wohl aber der Organisator des Anarchismus zu werden.

Zum Verständnis der Londoner anarchistischen Bewegung scheint es mir notwendig, MOST und seine frühere Tätigkeit näher zu charakterisieren. Ist doch die jüngste, so immense Entwicklung des Anarchismus aufs allerengste mit seinem Namen verknüpft und ohne MOST gar nicht denkbar.

Als sehr brauchbares und viel Neues enthaltendes Material werde ich vornehmlich eine soeben in New York erschienene, von einem seiner Freunde geschriebene Broschüre "Acht Jahre hinter Schloß und Riegel", Skizzen aus dem Leben JOHANN MOSTs von ANONYMUS VERITAS, benutzen.


Johann Most

JOHANN MOST ist geboren am 5. Februar 1846 in Augsburg, als Sohn eines unbemittelten Subalternbeamten. Er ist katholisch getauft. Ein langes Krankenlager, eine schmerzhafte Operation, welche eine nie wieder ausgeglichene Verzerrung der linken Backe zur Folge hatte, eine lieblose, geizige Stiefmutter und ein unfreundlicher Lehrmeister waren geeignet, "den Jungen mit jener rauhen Schale zu bekleiden, die ihm bei den späteren Bitternissen des Lebens vielleicht gut zustatten kam". Freilich war er auch von Natur störrisch und unbeugsam.

Seine Jugendliebe war das Theater, in das er sich auf alle mögliche und unmögliche Weise Eingang zu verschaffen wußte. Auch der Stock seines Buchbindermeisters vermochte ihm die Lust an der verbotenen Frucht nicht zu versalzen. Jahre lang hatte MOST seinem prosaischen Handwerk und seiner verzerrten Backe zum Trotz noch gehofft, ganz die Bühne besteigen zu können.
    "Wenn er fortgeschickt wurde, um fertige Ware anzuliefern, Rohmaterialien einzukaufen und auch für die Meisterin Marktgänge zu tun, so pflegte er auf der Straße - auswendig oder nach dem Buch - Gedichte oder ganze dramatische Szenen zu deklamieren, was mitunter die Straßenjugend zu förmlichen Zusammenrottungen veranlaßte."
Später hat er seine Muse in den Dienst der anarchistischen Agitation gestellt und das mit großem Erfolg. Seine Prosa und auch seine Gedichte weisen wildpoetische und geradezu klassisch-revolutionäre Stellen auf.

1863 hatte er ausgelernt, wir zweifeln, ob er ein tüchtiger Buchbinder geworden wäre. Den Lehrjahren folgtenn die Wanderjahre. Als fechtender Handwerksbursche ist weit in der Welt herumgekommen.

1867 landete er in Locle in der französischen Schweiz. Unzufrieden, wie er war, ging er mit Feuer auf die daselbst grassierende sozialistische Bewegung ein und schloß sich einem Arbeiterbildungsverein an. "Kaum war er ein Jünger des neuen Evangeliums geworden, so trug er auch schon das lebhafteste Verlangen in sich, ein Apostel desselben zu werden."

Er scheint bereits in Locle und in Zürich mit Erfolg für die sozialistische Bewegung tätig gewesen zu sein. 1868 ging er nach Wien. Die damals dort herrschende liberale Ära gestattete den Arbeitern mehr Freiheit, als anderswo zu haben war. Das hatte MOST angezogen. Bald war er ganz in seinem Element und - populär, wonach er sich längst gesehnt hatte. Eine Brandrede, gehalten in einer Volksversammlung auf der "Schönen Aussicht", deren kurzer Sinn war: "der Liberalismus ist Schwindel, die Pfaffen sind Betrüger, die Bourgeoisie schneidet uns die Hälse ab, die Polizei und das Militär stehen Wacht dabei und die Regierung sagt, das alles sei eben gerade in der Ordnung", verschaffte ihm einen Monat strengen Arrest. Bald darauf wurde er wegen Hochverrats, verübt als Rädelsführer bei der Gelegenheit einer großen Volksdemonstration, mit einigen Genossen verhaftet.

Als Anhänger der Eisenacher Partei, deren Tendenzen denen des österreichischen Kaiserhauses schnurstracks entgegenlaufend seien, wurde ihnen der Prozeß gemacht. MOST selbst wurde zu 5 Jahren schweren Kerkers, verschärft durch eine Fasttag im Monat, verurteilt.

Aus einem Passus "des Wiener Tagblattes" über den Prozeß mag man ersehen, welchen Eindruck der 24-jährige MOST damals schon machte: "Wer ihn so dasitzen sieht, angetan mit einem harmlosen, grauen Sommeranzug, mit seinem, durch einen grotesken Einfall der Natur nach links verschobenen Gesicht, der vermeint zunächst eine komische Figur vor sich zu haben. Beobachtet man ihn genauer, wie er mit vorwärts gebeugtem Kopf, funkelnden Augen gierig den Fragen des Präsidenten lauscht, um sie sofort mit einer seltenen Schlagfertigkeit zu beantworten, so wird man unwillkürlich an die erste französische Revolution und die Reden erinnert, welche im Konvent gehalten wurden, und man muß gestehen, daß dieses anscheinend nichtssagende Männchen sehr ernst zu nehmen ist."

Zur Verbüßung seiner Haft wurde MOST mit seinem Genossen PAPST nach Suben transportiert. Die Behandlung, die ihnen als politischen Sträflingen zuteil wurde, war eine sehr humane:
    "Die beiden Kameraden ließen sich eine Menge nützlicher Bücher kommen und gaben sich mit Eifer den Studien hin. Wir konstatieren hier umso lieber die anständige Behandlung, welche MOST in Suben genoß, als dessen Erfahrungen in anderen Gefängnissen, namentlich in England und Amerika, ein drastisches Gegenstück hierzu bildeten."
Noch war kein halbes Jahr verstrichen, als für MOST schon die Stunde der Befreiung schlug. Ein Wechsel des Ministeriums und eine Amnestie aller politischen Gefangenen führte dieses für den Betroffenen sehr angenehme, für die Menschheit weniger erfreuliche Ereignis herbei. Eine halbe Stunde nach erfolgter Freilassung stand MOST schon wieder auf der Rednerbühne, Unzufriedenheit und Aufruhr in die Reihen der Arbeiter zu tragen. "Seine Freunde pflegten zu sagen, MOST habe sein Hirn im Zuchthaus geladen und schieße nun los."

Nach wenigen Wochen hatte er bereits eine großartige Agitation ins Leben gerufen. Die plötzlich erfolgte Ausweisung entriß ihn seiner unheilvollen Tätigkeit Anfang Mai 1871.
    "Sie reizen das Volk auf", sagte der Kommissär, welcher die moralische Hinrichtung vollziehen sollte. "Für die Amnestie haben Sie auf eine solche Weise schweren Undank gezollt. Die Regierung hat daher beschlossen, Sie für immer aus allen österreichischen Kronländern abzuschaffen."

    "Für immer? fragte MOST mit boshaftem Lächeln.

    "Jawohl, für immer."

    "Es ist ja gar nicht gesagt, daß Österreich für immer existiert."
In den Abschiedsworten, die MOST an seine Genossen richtete, prophezeite er die soziale Revolution, der Tag werde bald kommen, wo auf Tod und Leben gekämpft werden muß.
    "Er selbst hat stets gern jener Erlebnisse gedacht, die er in Österreich durchmachte. Das dortige Parteitreiben war damals so edel, so jungfräulich, ohne die Korruption intriganter Politiker einerseits und ohne schmutziges Gezänk ehrgeiziger Pymäen andererseits, kurz, ohne jene unsäglich traurigen Beiwerke, die unser Freund seitdem fast überall angetroffen hat."
Aus dem bisher Mitgeteilten wird ersichtlich sein, wie radikal MOST schon damals dachte und redete, freilich hat er noch gute Fortschritte gemacht. Was will aber auch ein so durch und durch ehrsüchtiger, nicht unbegabter Sozialdemokrat um heraufzukommen anderes tun, als - radikal werden.
    "Als neue Operationsbasis seiner Ehrsucht hatte MOST sich Deutschland,  sein sogenanntes Vaterland  ausgesucht. Der Empfang, der ihm hier von seiten der Sozialdemokraten zuteil wurde, ließ viel zu wünschen übrig. "Der deutsch-französische Krieg hatte die Organisation und Agitation der deutschen Sozialdemokraten arg geschädigt. Die Einziehung zahlreicher Mitglieder der Partei zur Armee, allgemeine Siegesduselei, militärische und polizeiliche Gewaltstreiche gegenüber den besten agitatorischen Kräften und manche sonstige Übelstände hatten es mit sich gebracht, daß für eine Weile das sozialistische Parteileben auf deutschem Boden sehr stark im Hintergrund verschwand."
Ein interessantes Geständnis aus dem Mund von Anarchisten ist, daß die "Siegesduselei" der Partei geschadet hat. Möchte ein bevorstehender Krieg, mit seinem patriotischen Schwung, die gleiche Frucht zeitigen!

Auch in Leipzig hatte MOST kein Glück. Sein Empfang bei LIEBKNECHT war kühl:
    MOST: Ist hier der Bürger Liebknecht?
    LIEBKNECHT: Ich heiße so, was wollen Sie?
    MOST: Mein Name ist Most.
    LIEBKNECHT: So, Sie sind Most. Ja, was wollen Sie denn in Leipzig?
    MOST: Ich suche Arbeit.
    LIEBKNECHT: Arbeit gibt es hier nicht. Gehen Sie doch nach Berlin.
    MOST: Ich habe keine Lust, mich mit den Lassalleanern herumzuschlagen.
    LIEBKNECHT: Hier in Mitteldeutschland hat sich übrigens der wissenschaftliche Sozialismus eingebürgert. Mit Revolutionsphrasen kann da nicht operiert werden.
    MOST: Dann guten Morgen!"
Obendrein noch von der Polizei in Leipzig ausgewiesen, kam ihm die Aufforderung gerade recht, die Redaktion der "Chemnitzer Freien Presse" zu übernehmen. Die Zeitung war wohl da, nur fehlten die Abonnenten, MOSTs Aufgabe war also keine leichte. "Wenn wir sagen, er agitierte Tag und Nacht, so nehmen wir den Mund nicht zu voll. Die Zeitung war ein Abendblatt. Sobald sie fertig war, ging die Vorbereitung zur mündlichen Propaganda los. Denn da war selten ein Tag, an dem MOST nicht irgendeine Versammlung abzuhalten hatte."
    "In Chemnitz organisierte er zunächst alle möglichen Gewerkschaften, die aber von vornherein nichts anderes waren, als Teil der sozialdemokratischen Partei."

    "Nicht minder stark nahm er sich der Umgebung an. An manchen Abenden, fuhr er per Bahn 1-2 Stunden weit, hielt eine Volksversammlung ab, kehrte mit dem ersten Frühzug, nachdem er etwa bei irgendeinem Weber etliche Stunden auf einem alten Sofa geschlafen hatte, wieder zur Redaktionsarbeit zurück."

    "Im Blatt wie in den Versammlungen schlug er einen Ton an, der in dieser Gegend noch nie zuvor vernommen worden war, der aber auf Leser und Hörer eine unwiderstehliche Wirkung ausübte."

    "Die Leipziger Parteigrößen suchten zwar abzuwiegeln, indem sie fortwährend schrieben, mit einer solchen Sprache stoße man den Leuten nur vor den Kopf, allein MOST, der von jeher eine selbständige Natur war und sich nicht regieren lassen wollte, pflegte darauf zu antworten, es stehe den Ratgebern völlig frei, anders zu agitieren, er täte, was er nicht lassen könne."
Sind auch die obigen Zitate aus keiner unparteiischen Feder geflossen, so darf doch nicht in Abrede gestellt werden, daß MOST ein außerordentlich rühriger, arbeitsamer und energischer Agitator war und noch ist; desto gefährlicher ist er der öffentlichen Ordnung. Auch in Chemnitz wurde er in zahlreiche Prozesse verwickelt, doch bekam er nur einmal "Freiquartier" im roten Turm.

"Die Nachsicht, welche MOST während dieser Haft und auch im Laufe späterer Gefangenschaften in Sachsen genoß (vielen anderen ist es in jener Zeit auch nicht schlechter gegangen, BEBEL und LIEBKNECHT mit eingerechnet), dürfte übrigens einem etwas sonderbaren Verhältnis geschuldet gewesen sein, das wir hier nicht unbeleuchtet lassen wollen.

"Die sächsische Bourgeoisie war nämlich durchweg national-liberal, d. h. bismärckisch gesinnt, das Beamtentum aber hegte partikularistische - bismarckfeindliche - Grundsätze. Nur der Staatsanwalt von Chemnitz war ein verkappter Bismärcker.

"Da nun die sozialistische Agitation sich hauptsächlich gegen die Kapitalisten und die Zentral-(Reichs-)Regierung kehrte, so sahen die sächsisch-partikularistischen Bürokraten dieselbe mit einer gewissen Schadenfreude, wenigstens so lange, bis ihnen die Sache anfing, gefährlich genug zu werden, um gemeinsam mit der ihnen so verhaßten Bourgeoisie ernsthafter gegen die Sozialdemokratie zu Felde zu ziehen."

So mein anarchistischer Gewährsmann [Informant - wp] !

Erst eine zynisch rohe Demonstration am Sedanfest 1872 trug MOST eine längere Gefangenschaft ein.

Ich geben den schmählichen Vorgang mit den Worten der mir vorliegenden Broschüre, mich jeden Kommentars enthaltend: "Am 2. September bemühte sich die Chemnitzer Bourgeoisie, ihren Reichspatriotismus im hellsten Licht zu zeigen. Sie behängte ihre Häuser mit dreifarbigen Lappen, machte jedoch damit wenig Effekt, weil die sämtlichen Arbeiter gar nicht flaggten oder auf MOSTs Anraten alle ihre Steuerzettel aneinander klebten und zum Fenster hinaushängten usw."

Ein ähnliches Stückchen MOSTs war eine von ihm komponierte Festzeitung, "von  A  bis  Z  ein ungeheurer Hohn auf die Sedanerei".

"Gleich auf der ersten Seite stand die  Wacht am Rhein  nach der Krambambuli-Melodie zu singen und mit sehr boshaftem Text."

Ich gebe einen Vers daraus wieder als Probe der MOST'schen Poesie:
    "Ihr dauert mich, ihr armen Toren;
    Euch macht die Knechtschaft wenig Pein,
    Zu Sklaven seid Ihr auserkoren
    Und mein dabei noch frei zu sein:
    Ihr könnet nichts als kläglich schrein
    Das blöde Lied "Die Wacht am Rhein",
    Die Wi - Wa- Wacht am Rhein,
    Die Wacht am Rhein!
In einem anderen Lied hieße es:
    "Heran, heran Du kühne Schar! Es bläst der Sturm, es fliegt das Haar.
    Ein Ruf aus tausend Kehlen braust,
    Zum Himmel hoch ballt sich die Faust. -
    Es wirbelt dumpf das Aufgebot,
    Es flattert hoch die Fahne rot; -
    Arbeitend leben oder kämpfend den Tod."
Am 3. September reiste MOST nach Mainz zum Sozialistenkongreß, auf seiner Rückreise wurde er verhaftet. Das Urteil lautete auf 8 Monate Gefängnis, die er in Zwickau "abzusitzen" hatte. Die Behandlung, die ihm dort zuteil wurde, war wieder eine sehr anständige:
    "Seine Klause wurde so recht zu einem Studier- und Arbeitszimmer für MOST. Er konnte nämlich nicht nur von außen Bücher nach Bedarf beziehen, sondern auch die Bibliothek der Gefängnisbeamten benutzen, die nicht ohne verschiedene gute Werke war."
Seiner Freilassung folgte die Ausweisung aus Chemnitz. Die Übernahme der "Volksstimme" in Mainz verschaffte ihm sogleich wieder eine ausreichende Beschäftigung. Merkwürdigerweise fand MOST trotzdem in jener Periode Zeit zum Heiraten. "Zwar hatte er sich immer mit Vorliebe den Anschein gegeben, als ob sein Herz dem schönen Geschlecht gegenüber zugenagelt wäre, allein die Sache war in Wirklichkeit nicht halb so schlimm. Genug, er hatte sich schon kurz nach seiner Ankunft in Chemnitz in ein Paar schwarze Augen verguckt, deren Besitzerin allgemein als eines der schönsten Mädchen der Stadt angesehen wurde."

Wirklich?
    "Die Gefangenschaften hatten eine frühere eheliche Verbindung verhindert. Jetzt aber wurder der fatale Kontrakt unterzeichnet. Denn als eine total verfehlte Sache stellte sich diese Ehe in nicht allzu ferner Zeit heraus."

    "Mit der Zeit spitzte sich für ihn die ganze Angelegenheit zu der Frage zu: Partei oder Familie? MOST opferte die Familie."
Wie edelmütig!

Zwölf Tage vor seiner Hochzeit war er, im Januar 1874, zum Reichstagsabgeordneten für Chemnitz gewählt worden.
    "Wenn er in Mainz geblieben wäre, so hätte er klüger getan, denn im Reichstag wurden seine Pläne total zu Wasser."

    "Seine Ansichten über den Parlamentarismus waren eben sehr naiver Natur. Er bildete sich ein, man brauche sich da nur zu Wort melden und könne dann lospauken, daß die Minister nur so von den Bänken kollern. Es kam aber ganz anders."

    "Obgleich er sich fast täglich bemühte, das Wort zu bekommen, hat er dasselbe im ganzen Quartal niemals erhalten. Er mußte sich alle seine Philippiken, welche er gegen BISMARCK loszulassen gedachte, verkneifen, und das war ein Glück für ihn. Denn wenn er auf der Parlamentstribüne gewissermaßen Erfolge erzielt hätte, wäre sicherlich der Hochmutsteufel in ihn gefahren und er würde heute jenen geschwollenen Nullen Gesellschaft leisten, die sich darin gefallen, breite Bettelsuppen für das Volk zu erflehen."
Seine ersten Parlamentsferien brachten ihm eine unangenehme Überraschung in Gestalt des Staatsanwalts TESSENDORF, der ihn aufgrund eines über die  Pariser Kommune  gehaltenen Vortrags verhaften ließ.

Am 16. September 1874 wanderte er auf 18 Monate in die "Bastille am Plötzensee".

Nach wiederholten Beschwerden bei der Aufsichtskommission, beim Kammergericht, beim Justizminister, beim Reichskanzler und beim Reichstag, welche zwar allesamt keinen direkten Erfolg hatten, gelang es ihm endlich, sich wiederum eine äußerst humane Behandlung zu sichern. Wiederum studierte er eifrig und schrieb noch mehr; so daß mit Recht gesagt werden kann, das Zuchthaus war MOSTs Hochschule gewesen.

Nach seiner Freilassung im Juni 1876 übernahm er die "Berliner Freie Presse". Vor MOST zählte das Blatt 2000 Abonnenten, zu Ende des Jahres 1877 hatte es deren 15 000 aufzuweisen.

In diese Periode fällt sein Angriff gegen MOMMSEN und TREITSCHKE, "deren Geschichtsfälschungen er aufdeckte".

Ebenso will er STÖCKER und WANGEMANN gründlich "verhämmert" haben.

"In Summa-Summarum war MOST in jener Zeit der populärste Mann von Berlin". 1878 nach erfolgter Reichstagsauflösung wurde er nicht wiedergewählt.

Am 16. Dezember 1878 wurde er aufgrund des Sozialistengesetzes ausgewiesen.

Den ruhmvollen Abschluß seiner Berliner Tätigkeit aber hatte ein zweiter, wenn auch nur halbjähriger, unfreiwilliger Aufenthalt in seinem lieben Plötzensee gebildet.


Weiterentwicklung des Anarchismus

Als MOST am 16. Dezember 1878 die "Bastille am Plötzensee" verließ, wurde ihm bedeutet, daß er binnen 24 Stunden Berlin den Rücken zu kehren habe. Von hier wandte sich MOST nach Hamburg, wo ihn seine Parteigenossen aber sehr wenig zuvorkommend empfingen und ihm statt Hilfe den Rat gaben, nach Amerika auszuwandern. MOST begab sich nun nach London, wo er von den Mitgliedern des kommunistischen Arbeiterbildungsvereins mit offenen Armen aufgenommen wurde. Dieser auch "Socialdemocratic Working Men's Club" genannte Verein war im Jahr 1848 von den deutschen Emigranten KARL MARX, FRIEDRICH ENGELS, RUNGE, SCHERZER und WOLF gegründet worden, er allein war den Prinzipien der Internationale treu geblieben und zählte damals vier Abteilungen (Sektionen) mit einigen Hundert Mitgliedern.

Angesichts des Umstandes, heißt es in einer anarchistischen Broschüre, daß damals in ganz Europa keine einzige revolutionäre Zeitung deutscher Sprache existierte, hielt man den Zeitpunkt für gekommen, eine solche auf englischem Boden ins Leben zu rufen. Man gründete die so berüchtigt gewordene "Freiheit" und setzte MOST als Redakteur derselben ein. Obgleich keine Geldmittel dazu vorhanden waren - soeben hatte nämlich der Verein 1000 Mark zur Unterstützung der aus Berlin Ausgewiesenenn nach Deutschland gesandt - folgte dem Beschluß sogleich die Herausgabe der ersten Nummer, welche am 3. Januar 1879 erschien.

Wer immer Adressen in Deutschland und Österreich wohnender Genossen besaß, schaffte dieselben herbei. Dementsprechend wurde expediert [verschickt - wp]. Die weitere Verbreitung, so kalkulierte man, müsse sich bei dem allgemeinen Bedürfnis nach einem solchen Organ ganz von selbst entwickeln. Sofort erfolgte natürlich das Verbot seitens der deutschen Regierung, worauf man sich aber gefaßt gemacht hatte. Von besonderem Interesse ist das Verhältnis dieser neuen MOST'schen Schöpfung zur BEBEL-LIEBKNECHT'schen Sozialdemokratie. Obgleich LIEBKNECHT ursprünglich selbst den Plan gehabt haben soll, während der Ära des Ausnahmegesetzes ein solches Organ in London herauszugeben und nur deshalb davon abgekommen sein soll, weil seine Frau sich weigerte, nach England ins Exil zu gehen, war seine Haltung zu einem solchen neuen Organ eine entschieden feindliche. LIEBKNECHT hat von Anfang an - das muß man ihm lassen - vor der "Freiheit" gewarnt und ihre Verbreitung zu verhindern versucht. In MOSTs Biographie lesen wir:
    "In Deutschland gab es fast an jedem Parteiort Genossen, welche die Rückwärtskonzentrierungen der LIEBKNECHTschen Clique mit Zorn betrachteten und die umso freudiger die Verbreitung der "Freiheit" in die Hand nahmen. Eine solche "Indisziplin" wurde aber nicht ungestraft geduldet. Die Liebknechtlinge gaben überall die Parole aus, die betreffenden Leute seien  Agents provocateurs,  Polizeispione usw. LIEBKNECHT scheute sich nicht, zu behaupten, MOST stehe im Sold der preußischen Regierung; später erklärte er ihn einfach für verrückt. Ja, zuletzt ging die Gemeinheit gar so weit, daß die "Freiheit"-Leser ganz direkt der Polizei denunziert wurden. Die Vernichtung dieses Blattes sollte um jeden Preis bewirkt, MOST sollte "totgemacht" werden."
Gleichwohl fand die "Freiheit" unter den deutschen Sozialdemokraten eine recht ausgedehnte Verbreitung, zumals sie ja anfangs noch auf sozialdemokratischem Boden stand. Damals dachten übrigens unsere sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten noch gar nicht daran, MOSTs  Lehren  öffentlich zu verleugnen; die sich bald entspinnenden Feindschaften trugen zunächst einen mehr persönlichen Charakter.

Um ein Gegengewicht wider die "Freiheit" zu haben, gründete die LIEBKNECHT'sche Partei im Oktober 1879 in Zürich den "Sozialdemokrat", welcher von Anfang an MOST mit allem Nachdruck bekämpfte. Als der ehemalige Buchbinder nun aber immer radikaler und zugleich herrischer wurde, da trennten sich bald die gemäßigten Elemente, denen die MOST'sche Diktatur nicht zusagte, unter HEINRICH RACKOW von den Mostianern und erklärten den "Sozialdemokrat" für ihr Organ.

Zu dieser Zeit ging es im kommunistischen Arbeiterbildungsverein zu London recht anarchistisch zu. Man fuchtelte oft in den Versammlungen mit Stöcken und Messern in der Luft herum, und blutige Köpfe waren nichts Seltenes. Die schließliche Trennung der Gemäßigten von den Radikalen vollzog sich unter einer allgemeinen Hauerei.

Es ist wunderbar, daß MOST bei dem schweren Stand, den er in den ersten Jahren in London hatte, nicht einem dringenden Ruf aus Amerika, die Chefredakteursstelle der "Chicagoer-Arbeiterzeitung" anzunehmen, Folge leistete. Er war von seinen wahnsinnigen anarchistischen Ideen eben schon so verblendet, daß er den plötzlichen Ausbruch einer allgemeinen europäischen Revolution mit jedem Tag erwartete.

Übrigens führte MOST damals keineswegs ein besonders behagliches äußeres Dasein. Er hatte ein einziges Zimmer, welches zugleich Redaktionslokal war. Die für seine Verhältnisse hohe Miete von wöchentlich 7 Mark mußte ihm zur Hälfte vom Verein bezahlt werden.

In einem Brief aus dieser Zeit klagt er bitter über all die großen und kleinen Intrigen, die sich gegen ihn abspielten. "Was davon an die Öffentlichkeit kommt, ist nicht der tausendfachste Teil des Ganzen. Ich muß meine Augen und Ohren überall haben, um täglich neue Fäden zu entdecken, mit denen Intrigennetze gegen mich gesponnen werden, womit ich umgarnt und vernichtet werden soll. Freilich komme ich bald hinter die betreffenden Schliche und zerreiße die Netze. Das ist nun freilich sehr aufreibend."

Seine in Berlin contra MOMMSEN und TREITSCHKE eröffneten Geschichtsvorträge setzte er in London fort und fügte sogar noch nationalökonomische und naturwissenschaftliche (!) hinzu. Mehrmals war er im Laufe des Jahres 1879 in Paris gewesen, wo es ihm gelang, die dort wohnenden deutschen Sozialisten größtenteils für die revolutionäre Sache zu gewinnen. Hier wurde er mit VICTOR DAVE bekannt. Als MOST kurz darauf in der Pariser "La Revolution sociale" einen seiner gemeinen Schimpfartikel veröffentlichte, in dem er "Seine Majestät" den deutschen Kaiser auf das ärgste beleidigte, wurde er verklagt und von einem Pariser Gerichtshof  in contumacian  [in Abwesenheit - wp] zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, wodurch ihm die Rückkehr nach Paris sehr erschwert wurde. Nach Deutschland getraute sich der Prahlhans nie mehr, sondern zog es vor, sich die Kastanien durch andere aus dem Feuer holen zu lassen. Umso glühender und wütender schimpfte er in der "Freiheit" gegen sein "sogenanntes Vaterland". Als MOST seine volksbeglückenden Reden auch den Brüsseler Proletariat vorzutragen für gut fand und schon eine derselben glücklich losgeschossen hatte, wurde er nachts darauf von vier Polizei-Agenten aus seinem Bett gerissen (eine Überraschung, die sich in Amerika unter besonders charakteristischen Umständen wiederholen sollte), aufs Rathaus geschafft und per Eilbeschluß mit dem nächsten Zug nach Ostende befördert. Dort harrten seiner schon wieder ein Polizeikommissar mit Gefolge, die ihm nicht von der Seite wichen, bis das Schiff, welches ihn nach London zurückbrachte, die Anker lichtete.

Im Jahre 1880 brachten es die Parteiwirren mit sich, daß MOST eine Reise in die Schweiz unternehmen mußte. Die Führer der deutschen Sozialdemokratie hatten einen geheimen Kongreß nach Rorschach einberufen. MOST bekam von verschiedenen sächsischen Städten, wahrscheinlich Chemnitz und Crimmitschau, ein Mandat übersandt und wanderte unter einem anderen Namen über Frankreich in die Schweiz. Als er jedoch in Rorschach ankam, stellte es sich heraus, daß diejenigen, welchen den Kongreß einberufen hatten, als sie davon Kenntnis erlangten, daß MOST erscheinen wird, in letzter Sekunde die ganze Angelegenheit rückgängig gemacht. Dieser geheime Kongreß hat später ohne MOST auf Schloß Wyden bei Winterthur stattgefunden.

Trotz dieses Mißerfolgs war MOSTs Schweizerreise von verhängnisvoller Bedeutung. Er benutzte nämlich die Gelegenheit, in den größeren Städten der Schweiz Propaganda zu machen und mit den schon vorhandenen revolutionären Elementen eine festere Verbindung anzuknüpfen. Insbesondere war dieses hinsichtlich AUGUST REINSDORFs, der damals in Freiburg in der Schweiz wohnte, der Fall. Von da ab pflegten diese beiden Revolutionäre eine ungemein lebhafte Korrespondenz; und REINSDORF,  der längst ein überzeugter Anarchist war, bot mit Erfolg seinen ganzen Einfluß auf, auch Most für die anarchistische Sache zu gewinnen.  Der Samen, den VICTOR DAVE in Paris ausgestreut hatte, trieb unter REINSDORFs Einfluß die ersten Keime. MOST wurde Anarchist. DAVE und REINSDORF sind somit nicht die Schüler, nicht die Werkzeuge, sondern die Lehrer MOSTs, wenngleich letzterer durch sein natürliches Talent, seine Organisationsgabe, das Feuer seines Wortes und seiner Feder sich bald in den Vordergrund zu stellen verstand. Es scheint hier geboten, ein kurzes Lebensbild des REINSDORF zu entrollen. Derselbe ist recht eigentlich der Typus des wildesten anarchistischen Stromertums.
LITERATUR: Rudolf Emil Martin, Der Anarchismus und seine Träger [Enthüllungen aus dem Lager der Anarchisten] Berlin 1887