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PAUL NATORP
Einleitung in die Psychologie
nach kritischer Methode

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"Streben und Tätigkeit sind durchaus subjektive, folglich psychologische Begriffe; wer sie in die objektive Wissenschaft hineinträgt, verwandelt diese in Mythologie."

"Nichts scheint gerechtfertigter, nichts wissenschaftlicher, als daß man in den scheinbar ruhenden, starren Formen, den fertigen Gestaltungen des Bewußtseins, bloß willkürliche Abstraktionen sieht, die in Handlung und Entwicklung, in einen kontinuierlichen Prozeß, in Energie wieder aufzulösen die eigentliche Aufgabe der Psychologie ist."

"Das Bleiben oder Zurückkehren desselben Inhaltes ist, wenn derselbe nicht etwa bloß ein gleicher heißen soll, bereits eine Annahme, die über den gegebenen Tatbestand hinausgeht."

"Nicht das Phänomen als solches, sondern dessen Auffassung unter einheitlichen Gesichtspunkten (Funktionen) des Denkens, der Substantialität und Kausalität, bestimmt die Einheit des Vorgangs. Daß aber Substanz und Kausalität keine Data, sondern theoretische Voraussetzungen sind, die auf die Erklärung eines Gegebenen zielen, sollte keines Wortes bedürfen."

"Die Repräsentation des Nicht-Jetzt im Jetzt, diese Identifikation des Nichtidentischen ist gewiß wunderbar, aber sie wird auch um nichts begreiflicher durch die Annahme, daß dieselben Inhalte geblieben sind; es ist damit doch nicht erklärt, daß sie für unser Bewußtsein dieselbe, uns als identisch bewußt sind. Jedenfalls ist dieses Wunder eine Tatsache, und in dieser Tatsache des Zeitbewußtseins ist die vermißte Kontinuität des Bewußtseins zur Genüge gesichert."

"Das Bewußtsein, als Ausdruck der letzten Subjektivität des Erscheinens, ist ansich gar keiner Objektivierung fähig; auf Objektivierung aber zielt alle Erklärung oder Theorie."


§ 6.

Um die Aufgabe der Psychologie positiv zu bestimmen, kommt es darauf an, am Inhalt des Bewußtseins, so wie er sich im jedesmaligen Bewußtsein konkret darstellt, ein Merkmal aufzufinden, welches allem Inhalt, eben sofern er im Bewußtsein ist, gemeinsam und eigentümlich ist, und hinsichtlich dessen er den Gegenstand einer eigentümlichen Untersuchung bilden kann.

Ein solches Merkmal ist die Verbindung, worin sich die in abstracto isolierbaren Teilinhalte im jedesmaligen wirklichen Bewußtsein darstellen; und zwar diese Verbindung, bloß sofern sie subjektiv im Bewußtsein gegeben ist, ohne Berücksichtigung der Frage, was sie objektiv bedeutet oder gilt. Denn das Dasein der Erscheinungen, bloß als Erscheinungen, oder ihr subjektives Dasein allemal für ein Ich, abgesehen von der Frage nach dem Gegenstand, der darin erscheint, ist ihr psychisches Dasein, oder diejenige Seite der Erscheinung, nach welcher sie Gegenstand einer psychologischen Untersuchung ist. In den Bereich derselben fallen daher zunächst alle solche Erscheinungen, denen die Wissenschaft objektive Gültigkeit überhaupt abspricht: Sinnestäuschungen, gedankliche Jllusionen aller Art; aber auch die Vorstellung der sinnlichen Qualitäten, überhaupt die ganze normale, nichtwissenschaftliche Vorstellung der Dinge; desgleichen die freien Erzeugnisse der Phantasie in Spiel und Kunst, vollends das ganze, rein subjektive Leben des Gefühls und Strebens; schließlich aber auch die gesamte Arbeit der objektiv-wissenschaftlichen Erkenntnis, bloß als eine besonders charakterisierte Weise der Vorstellungsverbindung betrachtet, unangesehen des Anspruchs auf gegenständliche Wahrheit, dessen Begründung außerhalb der Grenzen der Psychologie liegt.

1. Nach dem Ergebnis der letzten Untersuchung sind wir für die positive Bestimmung der Aufgabe der Psychologie jedenfalls auf den Inhalt des Bewußtseins angewiesen. Es fragt sich also, ob sich etwa am Inhalt des Bewußtseins, und zwar am ganzen Inhalt, sofern er im Bewußtsein ist, ein Merkmal findet, welches ihm ausschließlich in dieser Beziehung zukommt und ihn zum Objekt einer eigentümlichen Untersuchung macht.

Ein solches Merkmal ist uns nun schon begegnet in derjenigen Einheit, worin der Inhalt im jedesmaligen Bewußtsein, in dem, was wir den Einzelakt des Bewußtseins nennen können, sich darstellt. Sage ich: im jedesmaligen Bewußtsein, so scheint darin zu liegen, daß für jeden solchen ursprünglichen Akt der Inhalt ein schlechthin gegenwärtiger ist, oder daß darin keine Zeit unterschieden wird. Sobald wir Zeit unterscheiden können, muß sich auch schon eine Mehrheit von Bewußtseinsakten unterscheiden lassen. Wie aber zwei Inhalte unterscheidbar (wie zu mehreren, unterschiedenen Bewußtseinsakten gehörig) gegeben sein können, ohne daß doch der vorhergehende Inhalt (und Akt) für den folgenden überhaupt verloren ist; wie es also möglich ist, zwei oder mehrere ursprüngliche Bewußtseinsakte wiederum in einem Akt zu vereinigen, das mag schwierig zu verstehen sein; jedenfalls geschieht es tatsächlich so. Wollen wir diese Möglichkeit sofort mit ins Auge fassen, so müssen wir den Begriff jener Einheit, die der Inhalt im jedesmaligen, unmittelbaren Bewußtsein hat, so erweitern, daß dadurch eine Mannigfaltigkeit, und auch das Bewußtsein einer Mannigfaltigkeit (Unterscheidung), nicht ausgeschlossen wird. Sollte es sich vollends zeigen, daß ein absolut isolierter Einzelinhalt im Bewußtsein überhaupt nicht nachweisbar ist, so würde die fragliche Einheit notwendig eine Vereinigung eines Mannigfaltigen, folglich eine Verbindung sein. Als eine Form derselben erkennt man sofort die zeitliche Verbindung; versteht man darunter eine Verbindung in einem Nacheinander, so steht ihr offenbar als zweite Art die Simultanverbindung gegenüber. Auf diesen Grundformen beruth alle Verbindung in der unmittelbaren Weise der "Vorstellung". Man pflegt davon die Verbindung in Form des "Begriffs" radikal zu unterscheiden; doch dürfte (nach dem in § 5, 4 Gesagten) klar sein, daß diese Art der Verbindung die erstere notwendig voraussetzt und ohne sie gar nicht stattfinden kann. Wir können daher unsere Betrachtung auf die Verbindung in Form einer "Vorstellung" vorläufig einschränken.

2. Daß nun in der Tat alles Bewußtsein (zunächst alle Vorstellung) auf Verbindung beruth, läßt sich leicht klar machen; es ergibt sich am einfachsten auf indirektem Weg, indem man versucht, ob sich wohl die elementaren Inhalte des Bewußtseins in einer absoluten Isolierung darstellen lassen.

Soweit eine Isolierung der Inhalte, wenngleich in bloßer Abstraktion, durchführbar ist, wird sie in der Psychologie allerdings durchgeführt werden müssen. Überall suchen wir ja die Verbindung aus den in sie eingehenden Elementen zu begreifen. Und so wird auch die Analyse des Bewußtseins bis zu den einfachsten überhaupt noch selbständig faßbaren und bezeichenbaren Elementen allgemein für eines der notwendigsten Geschäfte des Psychologen erachtet. In der Tat muß, wer von den Inhalten irgendetwas weiteres erkennen will, zunächst sie selber kennen, so wie, um einen trivialen Vergleich zu gebrauchen, wer das Kartenspiel lernen will, vor allem die Karten kennen muß. Man wird daher versuchen müssen, die überhaupt vorkommenden einfachen Inhalte nach ihren Unterscheidungen und Abstufungen zu kennzeichnen und zu rubrizieren, jeden zunächst wie etwas für sich hinzustellen und hinsichtlich seiner Ähnlichkeit und Verschiedenheit gegen andere zu beschreiben.

Indessen sehen wir doch tatsächlich keinen Elementarinhalt in einer solchen Vereinzelung im Bewußtsein auftreten, wie er sich etwa durch Abstraktion vereinzeln läßt, sondern aus sehr mannigfachen, meist komplizierten Verbindungen müssen wir durch eine bisweilen fast gewaltsam scheinende Abstraktion die einfachen Inhalte erst herauslösen.

Und selbst durch eine noch so weit getriebene Abstraktion wird eine vollständige Isolierung nicht erreicht. Die Empfindung, z. B. Farbe oder Ton, läßt sich gar nicht aus aller räumlichen und zeitlichen Verbindung lösen. Desgleichen bei den Lust- und Unlustgefühlen, den Begehrungen kommt man in Verlegenheit, wie man das für sich stellen sollte, was doch niemals für sich erlebt wird, sondern stets nur als Begleiterscheinung, in einer unlöslichen Verflechtung mit anderen Erscheinungen (Empfindungen, Vorstellungen) im Bewußtsein auftritt. Allen komplexeren Gestaltungen des Bewußtseins aber ist eben die Komplexion so sehr wesentlich, daß man ihre Eigentümlichkeit ganz vernichten würde, wenn man alle Verbindung in Abzug bringen wollte. Raum und Zeit sind nichts anderes als gewisse ursprüngliche Ordnungen und Beziehungen, mithin Weisen der Verbindung, die, wenn man sie in absolute Elemente auflösen wollte, sofort ihre ganze Bedeutung einbüßen würden. Erwägt man nun, wie sehr all unser Vorstellen an diese ursprünglichen "Bedingungen", Raum und Zeit, gebunden ist, wieviel davon noch übrig bleibt, wollte man alle räumliche und zeitliche Verbindung daraus wegdenken, so muß klar werden, daß in der Tat die Verbindung die Grundgestalt, die eigentliche Existenzweise psychischer Inhalte, die Isolierung der Elementarteile, soweit überhaupt ausführbar, erst Resultat wissenschaftlicher Abstraktion ist.

3. Ist demnach die Verbindung unzweifelhaft ein Merkmal, welches allem Inhalt des Bewußtseins, und zwar sofern er im Bewußtsein ist, gemeinsam zukommt, so kann man eher im Zweifel sein, ob es auch zugleich ein solches Moment ist, welches den psychischen Tatsachen eigentümlich ist.

Und da könnte die Erwägung einen Augenblick stutzig machen, daß doch auch alle objektive Betrachtung der Dinge es mit Verbindung, sogar ausschließlich, zu tun hat. Indessen auf die Verbindung im jeweiligen Bewußtsein kommt es an; diese läßt sich in der Tat von aller Verbindung, wie sie im objektiven Sein der Dinge, in Abstraktion vom Bewußtsein, dem sie jedesmal gegeben sein mag, vorausgesetzt wird, sehr wohl unterscheiden und zum Gegenstand einer eigenen Untersuchung machen.

Die ganze Arbeit der objektiven Wissenschaft besteht darin: die Phänomene aus der sozusagen zufälligen Verbindung, in der sie in der jedesmaligen Erscheinung, folglich im Bewußtsein, "zusammengeraten" sind, in eine solche Verbindung (unter Gesetzen) zu bringen, in der sie notwendig "zusammengehören", um eine von LOTZE gern gebrauchte Ausdrucksweise anzuwenden; oder, wenn man lieber will, die objektiv notwendige Ordnung der "Natur" aus der subjektiven und zufälligen Ordnung (vielmehr Unordnung) der Phänomene herauszuerkennen. Allein zunächst, vor aller Beziehung auf eine zugrunde liegende "wahre" Ordnung der Dinge unter Gesetzen, sind doch die Phänomene und ihre anscheinend regellose Unordnung, in der sie "zusammengeraten" sind, auch etwas. Die Erscheinungen sind da, sie sind etwas, jedenfalls darin, daß sie erscheinen; sogar ist dies ihre erste, ihre unmittelbare Existenzform. Mag die Erscheinung ferner auch ein "Objekt" bedeuten oder darauf hinweisen; vom Standpunkt der Erscheinung selbst ist dies ein ihr Außerwesentliches, erst Hinzukommendes, Sekundäres; ihre unmittelbare, ursprüngliche Daseinsweise, als Erscheinung, weiß nichts von dieser Bedeutung fürs Objekt. Heißt die Wissenschaft dieses ursprüngliches Sein der Erscheinung subjektiv, so ist es zu allererst dieses subjektive Sein der Erscheinung, welches die Psychologie angeht. Das subjektive Sein der Phänomene, in Abstraktion von aller Beziehung auf ein Objekt, auf eine objektive Ordnung der Dinge, ist ihr psychisches Dasein in reinster, unmittelbarer Form. Dadurch ist dann auch die Verbindung im Bewußtsein von aller solcher Verbindung, wie sie im "Gegenstand" vorausgesetzt wird, sicher zu entscheiden.

Daher wird die Eigentümlichkeit des psychologischen Interesses am ersichtlichsten an allen solchen Phänomenen, denen die Wissenschaft überhaupt eine objektive Geltung abstreitet. Sinnestäuschungen und gedankliche Jllusionen, die Phantasmen des Traums und Wahnsinns, sind psychologisch nicht weniger wichtig als die geordnetsten Beobachtungen und Gedankenoperationen des wissenschaftlichen Forschers. Namentlich aber gibt es weit ausgedehnte Gebiete von Erscheinungen, die im Bewußtseinsleben durchaus normal und von wahrer, unstreitiger, obgleich bloß subjektiver Bedeutung sind, denen dagegen die Wissenschaft die objektive Bedeutung abspricht. Das typische Beispiel dafür sind die sinnlichen Qualitäten. Mag denselben die Wissenschaft eine objektive Realität abstreiten, sie hören darum doch nicht auf zu erscheinen, und wo sollte dies ihr Dasein als Erscheinung zu Recht und Anerkennung kommen, wenn nicht in der Psychologie? Auch bleiben uns die Dinge selbst farbig und tönend; selbst diese Vorstellungsweise der "Dinge" hat jedenfalls das Recht des Daseins, nämlich des psychischen; ein solches Recht sichert ihr die Psychologie. Von da aus muß sofort einleuchten, wie überhaupt unsere ganze nicht-wissenschaftliche Vorstellung der Dinge die Psychologie angeht. Nach durchaus subjektiven, nicht objektiv-wissenschaftlichen Gesichtspunkten sind uns die Dinge, solange wir nicht Wissenschaft treiben, samt und sonders benannt; und nicht etwa erst die Benennung, sondern zu allererst die Vorstellung, welche für die Namengebung der Dinge, ihrer Eigenschaften, Zustände, Tätigkeiten etc. maßgebend ist, all dies ist psychologisch. Natürlich ist auch die Benennung als solche von bloß subjektiver, mithin psychologischer Bedeutung; daß man auch weiß, wie die Sterne heißen, ist keine objektiv-wissenschaftliche Erkenntnis. Gleiches gilt, vielleicht noch ersichtlicher, von der "freien", nämlich gar nicht auf objektiv Wirkliches gerichteten Phantasietätigkeit, die sich etwa auf die beiden Hauptrubriken: Spiel und Kunst, reduzieren läßt; schließlich für das rein subjektive Leben des Gefühls und Strebens, die ganze aktive Seite des menschlichen Daseins, sofern sie ins Bewußtsein fällt. Mit Streben und Tätigkeit hat die objektive Wissenschaft eigentlich nichts zu tun, sie weiß nur vom Geschehen und von den Abhängigkeiten des Geschehens, von den abstrakten Relationen der Gesetze. Streben und Tätigkeit sind durchaus "subjektive", folglich psychologische Begriffe; wer sie in die objektive Wissenschaft hineinträgt, verwandelt diese in Mythologie. Eine solche Mythologie kann aber durchaus auch ihre wahren und ernsten subjektiven Gründe haben; insofern hat sie für die Psychologie Interesse und findet darin ihr Recht.

4. Schließlich aber ist das Gebiet der Psychologie doch nicht bloß durch den Gegensatz zur objektiven Wissenschaft bestimmt. Vielmehr geht die ganze Vorstellun der Objektivität und die ganze Leistung der Wissenschaft, wodurch dieselbe aus den Phänomenen erst herausgearbeitet wird, eben als Vorstellung, als Bewußtseinsgestalt, gleichfalls die Psychologie an. Es wurde schon gesagt, daß diese Leistung eigentlich in der Herstellung neuer, festerer Verbindungen von Bewußtseinsinhalten aus den zunächst gegebenen, nach bestimmten leitenden Grundsätzen und Regulativen, d. h. allgemeinen Gesichtspunkten besteht. Dies alles findet im Bewußtsein statt, verlang also auch als eine Weise des Bewußtseins psychologisch bestimmt zu werden. Was Gesetz, was Begriff, was Allgemeines ist, wie sich die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen unter die Einheiten der Gesetze fügt, dies will im ganzen Zusammenhang des subjektiven Geschehens dargelegt und nachgewiesen sein. Die gesamte objektive Erkenntnis (der Phänomene unter einem Gesetz), als eine bloß besonders charakterisierte Weise der Vorstellungsverbindung betrachtet, bildet mithin einen Vorwurf der Psychologie nicht weniger als alle Arten des Irrtums und Wahns und die gesamte nichtwissenschaftliche Vorstellung.

Der gemeinschaftliche Gesichtspunkt aber für dieses so umfassende Gebiet von Erscheinungen ist der der Verbindung; immer mit der näheren Bestimmung, daß es sich um eine Verbindung handelt, wie sie im jeweiligen Bewußtsein gegeben ist. Daher gehört zu ihrer Aufgabe nicht die Begründung des Vorrechts gewisser Vorstellungsverbindungen, als objekt gültiger. Der Unterschied objektiver und subjektiver Geltung von Vorstellungen bildet nicht ihren Fragepunkt. Zwar sofern dieser Unterschied auch wieder dem Bewußtsein angehört, da doch eben wir es sind, die im (erkennenden) Bewußtsein ihn setzen, mag wohl auch die Psychologie ihn in eine Untersuchung ziehen, und nach subjektiven Gründen einer solchen Bevorzugung forschen. Aber sicher bedeutet doch objektive Wahrheit oder Gültigkeit noch etwas anderes als bloß die tatsächlich im Bewußtsein vollzogene und anerkannte Vorstellungsverbindung; sie wird im "Gegenstand" ansich bestehend gedacht, unabhängig von der Frage, ob sie und wem sie zu Bewußtsein kommt und was oder wieviel sie dem, dem sie zu Bewußtsein kommt, gilt und wert ist. Sie besteht ansich, d. h. sie besteht für eine Betrachtung, welche von der Subjektivität des Vorstellens ausdrücklich und mit Notwendigkeit abstrahiert. Keine Frage, daß in dieser Entgegensetzung der Objektivität gegen die Subjektivität ein Problem liegt; hier darf wohl der Unterschied als durch das Faktum der Wissenschaft feststehend zugrunde gelegt werden; soweit es übrigens für unseren Zweck erforderlich ist, wird der zweite Abschnitt die Frage berücksichtigen; und sonst sei auf meinen Aufsatz "Über objektive und subjektive Begründung der Erkenntnis" (2)verwiesen.

Allgemein also bildet die Verbindung der Inhalte im tatsächlichen Bewußtsein (daher ohne Rücksicht des Unterschieds objektiver oder bloß subjektiver Gültigkeit) das Objekt der psychologischen Untersuchung.

5. Noch haben wir diesen zweiten Fundamentalbegriff der Psychologie, den Begriff der Verbindung, mit dem Urbegriff der Bewußtheit in ein Verhältnis zu setzen.

Erklärten wir "Bewußtheit" überhaupt als die Beziehung gegebener Inhalte auf ein Ich, und zwar die gleiche und selbe für alle, so ist "Verbindung" eben die Weise, wie sich in der jedesmaligen Beziehung auf ein und dasselbe Ich ein mannigfaltiger Inhalt darstellt oder erscheint. Ja, wir dürfen sagen, die Verbindung ist nichts anderes als der konkrete Ausdruck jener Beziehung selbst. Prüft man, was der Vergleich mit der Beziehung auf ein Zentrum (§ 4, 2) Konkretes bedeutet, so wird man immer nur Verhältnisse oder Beziehungen unter den Inhalten des Bewußtseins aufzeigen können, etwa die Beziehung, wodurch zwei oder mehrere Punkte in einer Strecke (Zeitpunkte in einer Zeitstrecke) verbunden gedacht werden. Ich behaupte nun, eben durch diese Verbindung der Inhalte sei die Bewußtheit oder die Beziehung auf ein und dasselbe Ich ausgedrückt, soweit sie eines Ausdrucks in concreto überhaupt fähig ist. Das Ich oder Bewußtsein ist nicht in der Zeit, sondern die Zeit ist im Bewußtsein, ihre Einheit ist die Einheit des Bewußtseins. Die Einheit dieses Mannigfaltigen, folglich die Verbindung, charakterisiert das Bewußtsein, jedoch nur als erscheinend am Inhalt. Wie das Mannigfaltige eines sein kann, nämlich ein Bewußtsein, das ist freilich keiner weiteren Erklärung fähig; doch ist gewiß, daß es, im Erlebnis des Bewußtseins, eines ist; daß diese Einheit ein charakteristisches Moment des subjektiven Erlebnisses ist.

So erlangt also in der "Verbindung" die Bewußtheit selbst erst ihren bestimmten und positiven Wert; das Ich ist ein und dasselbe allemal für eine gewisse, beliebig weit erstreckte Verbindung von Inhalten. Und wenn leicht das eine Bewußtsein als dasjenige erscheint, welches, vermöge der gemeinsamen Beziehung auf dasselbe, die Einheit im Inhalt (d. h. die Verbindung) bewirkt, so darf man doch nicht übersehen, daß sich auch umgekehrt die Einheit und Selbigkeit des Ich gar nicht anders als durch eine Verbindung konkret darstellen läßt. Ist es sehr natürlich zu sagen: die Verbindung findet vermöge der gemeinschaftlichen Beziehung auf dasselbe Ich statt, so ist doch diese Erklärung eigentlich tautologisch; denn das Ich ist auch umgekehrt ein und dasselbe für eine Mehrheit von Inhalten nur, sofern diese Inhalte eine Verbindung haben. Verbindung ist die Beziehung auf ein und dasselbe Ich; Beziehung auf ein und dasselbe Ich, das ist die Verbindung; Eins durch das Andere erklären heißt idem per idem [dasselbe durch dasselbe - wp] erklären.

Es erhellt sich jetzt wohl, wie sich von diesem einzigen Punkt aus der Zugang in ein weites Feld von Untersuchungen öffnet. War die abstrakte Bewußtheit das Leerste und Armseligste, was sich nur erdenken läßt, so ist dagegen die bestimmte Verbindung der Inhalte im jeweiligen Bewußtsein von grenzenloser Mannigfaltigkeit und bietet der Untersuchung überreichen Stoff. Auf ihr beruth nämlich auch alle konkrete Bedeutung des Ich. "Ich" heißt für uns gewöhnlich nicht "ein Subjekt überhaupt", sondern "unser" Subjekt, d. h. jedem sein eigenes. Diesem jedem eigene Ich oder "Selbst" ist allein charakterisiert durch die Besonderheit, vielmehr Einzigkeit seiner Erlebnisse; es beruth zunächst auf der Kontinuität dieser Erlebnisse in seiner Erinnerung, d. h. auf einer sehr verwickelten Komplexion von lauter Verbindungen (zeitlichen und simultanen); nur dadurch bin ich "ich Selbiger".


§ 7.

Da alle Inhalte im Bewußtsein in Sukzession auftreten, folglich aller sonstigen Verbindung die Sukzession als ursprünglichste Form der Verbindung zugrunde liegt, so erscheint leicht das Bewußtsein selbst als sukzessives Geschehen, als Prozeß. Und da ein so eigentümlich gestalteter Prozeß auch ein eigentümliches Subjekt und eine eigentümliche Weise der Verursachung vorauszusetzen scheint, so ist man geneigt, die Erscheinungen des Bewußtseins als Wirkungen einer eigentümlichen Kraft oder Tätigkeit (Energie) des Bewußtseins aufzufassen: sei es nun, daß man (wie HERBART) den "Vorstellungen" selbst eine gewisse Eigenexistenz beilegt und sie mit Kräften der Selbsterhaltung begabt, vermöge deren sie sich gegeneinander im Bewußtsein zu behaupten bzw. daraus zu verdrängen streben, oder es vorzieht, all jene Kräfte vielmehr an ein gemeinschaftliches Subjekt des Bewußtseins (Ich oder Seele) zu hängen. Es muß jedoch klar sein, daß ein Subjekt, wie auch eine Kraft oder Tätigkeit des Bewußtseins keinesfalls gegeben ist, sondern nur etwa zur Erklärung des Gegebenen angenommen werden könnte; ferner, daß jede Vorstellung eines Bewußtseinsprozesses, jede Zusammenfassung einer Mehrheit sukzessiver Momente des Bewußtseins als ein Vorgang, bereits eine Objektivierung der Bewußtseinserscheinungen enthält, welche mit dem ihnen wesentlichen Charakter der Subjektivität streitet. Gegeben ist nicht das Bewußtsein als Vorgang in der Zeit, sondern die Zeit als Form des Bewußtseins; d. h. die Möglichkeit, daß eine Mehrheit von Inhalten zugleich durch die Zeit unterschieden und in einem, gleichsam übergreifenden Bewußtsein verbunden ist. Überdies liegt in jeder Vorstellung eines Prozesses schon unvermeidlich die theoretische Voraussetzung einer Einheit des Subjekts wie der Ursache der fraglichen Erscheinungen. Von allen solchen Annahmen ist daher zumindest so lange abzusehen, als es sich bloß um die Feststellung eines psychisch Gegebenen handelt.

1. In § 4 wurde gezeigt, daß das Subjekt des Bewußtseins und die Natur der Bewußtheit überhaupt kein Objekt einer eigentümlichen psychologischen Untersuchung bilden kann. Es wurde ferner (§ 5) die Meinung zurückgewiesen, als könne, wenngleich nicht das Ich in abstracto und sein allgemeines Verhalten zum Inhalt, so doch das besondere Verhalten desselben in den einzelnen Gestaltungen des Bewußtseins (Empfindung, Vorstellung usw.), als ebensovielen verschiedenen Bewußtseinstätigkeiten, den Gegenstand der Psychologie bilden. Nach der Beseitigung beider Auffassungen blieb als alleiniges Objekt der psychologischen Forschung der Inhalt, und zwar hinsichtlich seiner Verbindung im jeweiligen Bewußtsein, übrig.

Jedoch die Meinung, als ob sich doch auch vom Ich und der Bewußtseinstätigkeit etwas sagen lassen muß, will sich so leichten Kaufs nicht verdrängen lasen; und sie könnte versuchen, sich gerade an ein bestimmtes Moment des Inhalts und zwar seiner Verbindung anzuklammern, an das Moment der Sukzession. Allen Bewußtseinsphänomenen ist es gemeinsam, im Nacheinander aufzutreten; zumindest unterschieden, d. h. in seinen Einzelmomenten zu einem gesonderten Bewußtsein gebracht, wird auch eine als simultan vorgestellte Mehrheit von Inhalten nur, indem wir eins nach dem anderen setzen; und wenn die Einzelelemente, um unterschieden zu werden, nacheinander gegeben sein müssen, so müssen auch die mannigfachen Verbindungen der Elementarinhalt sich, zumindest ursprünglich, sukzessiv im Bewußtsein vollziehen, wiewohl sie hernach als gleichsam fertige Produkte der Vorstellungstätigkeit bereit zu stehen und auf gegebenen Anlaß ohne weiteres im Bewußtsein wieder aufzutreten scheinen. In unserer Sprache würden wir diese tatsächliche Bedeutung der Sukzession im Bewußtsein damit ausdrücken, daß aller Verbindung der Inhalte (auch der Simultanverbindung) als Urform der Verbindung die Zeit zugrunde liegt.

Indessen ist es sehr natürlich, daß mit der Vorstellung der Sukzession sich unmittelbar die einer Tätigkeit oder Kraft verknüpft. Der Sprachausdruck unterstützt noch diese ansich naheliegende Übertragung. Empfindung, Vorstellung, Gedanke, Begehren, Gefühl, Wille oder was auch immer man für einen Ausdruck wählen mag für irgendwelche bestimmte Erscheinungen des Bewußtseins, scheint immer zweierlei zu bedeuten, das Empfundene, Vorgestellte, Gedachte, als Objekt des Begehrens, Fühlens, Wollens und das Empfinden, Vorstellen, Denken, Begehren, Füllen Wollen als Akt. Auch "Verbindung" kann ebensowohl das Verbundensein der Inhalte bedeuten, ihr Auftreten im Bewußtsein als verbunden, wie auch die Herstellung, den sukzessiven Vollzug der Verbindung, als Akt oder Prozeß des Bewußtseins gedacht. Der Ausdruck der Tätigkeit ist sprachlich gar nicht zu vermeiden; darin aber liegt unmittelbar die Annahme einer den Inhalt (bzw. dessen Verbindung) bewirkenden, zumindest ins Bewußtsein heraufrufenden Kraft. Nimmt man eine solche, stillschweigend oder ausdrücklich, an, so ist es dann nur natürlich, daß man den Akt als das Primäre, weil Verursachende, die tatsächliche Erscheinung im Bewußtsein als das bloß jeweilige Resultat der Bewußtseinstätigkeit betrachtet.

2. Einmal zugelassen, erscheint aber die Annahme des Bewußtseins als Tätigkeit, als "Energie", und die Bevorzugung einer eben auf dieses Moment der Tätigkeit gerichteten Untersuchung vor einer bloßen Analyse des Inhalts nicht bloß natürlich, sondern leicht auch als wissenschaftlich notwendig. Es erscheint sehr viel wissenschaftlicher, die gestaltenden Prozesse, als bloß die gegebenen Gestaltungen ins Auge zu fassen. Seien auch die fertigen Gebilde das für uns Erste, zunächst Gegebene, unmittelbar Erscheinende am Bewußtsein, so gilt es doch sonst überall als Aufgabe der Wissenschaft, vom Erzeugnis auf den Prozeß der Erzeugung zurückzugehen. Daher strebt die Naturwissenschaft überall die ruhenden Formen in lebendige Prozesse, in Handlung umzusetzen; die bloße analysierende Beschreibung der Ersteren betrachtet sie nirgends als letzte Aufgabe, sondern allenfalls als nötige Vorarbeit zur Erforschung des Werdeprozesses. Ja, die ruhende Form erscheint überhaupt als sozusagen willkürliche Fiktion, zumindest als bloße Abstraktion. Um nur überhaupt erst im unaufhaltsamen Strom des Werdens festen Fuß zu fassen, um gleichsam einen Standort zu gewinnen, von dem aus wir ihn überschauen und darüber mit unseren Gedanken Herr werden können, fixieren wir in der Betrachtung zunächst eine bestimmte Stufe des Geschehens. Tatsächlich aber bleibt alles in einem kontinuierlichen Fluß ver Veränderung begriffen, und es beharrt nichts als das Gesetz der Veränderung. Darum gilt Bewegung als das Grundphänomen der Natur, Energie als das Hauptinstrument ihrer Erklärung.

Soll nun an dieser Lebendigkeit und Regsamkeit des Geschehens etwa das Bewußtsein allein nicht teilhaben? Vielmehr muß nicht alles Leben und Regen der Natur im Leben und Regen des Bewußtseins sich uns darstellen, da wir ja von keiner Natur anders wissen als in dem Bewußtsein, welches wir von ihr haben? Und so scheint nichts gerechtfertigter, nichts wissenschaftlicher, als daß man auch hier in den scheinbar ruhenden, starren Formen, den fertigen Gestaltungen des Bewußtseins, bloß willkürliche Abstraktionen sieht, die in Handlung und Entwicklung, in einen kontinuierlichen Prozeß, in Energie wieder aufzulösen die eigentliche Aufgabe der Psychologie ist. Davon war ARISTOTELES durchdringen, daß die Erscheinungen des Bewußtseins als Lebenserscheinungen, als Energien aufzufassen sind. Bloß zur Unterscheidung der mannigfachen Arten der seelischen Energie unterschied er die "Vermögen", wofür man immerhin, ohne an der Sache etwas zu ändern, den heute beliebteren Ausdruck der "Funktion" setzen darf. Allerdings dachte sich ARISTOTELES die Aufgabe viel zu einfach; er glaubte noch mit ganz wenigen, im Grunde doch nach ziemlich roher Übersicht unterschiedenen Grundkräften auszukommen, er übersah bei weitem nicht die ganze Komplikation des Problems. Das empfand HERBART, in dieser Richtung hat er die aristotelische Auffassung der Psychologie hauptsächlich korrigiert; doch nur um sie in der Verbesserung umso reiner zur Geltung zu bringen. Das ist die eigentliche Bedeutung des Feldzugs gegen die "Vermögen". Der Streit gegen die bloßen Möglichkeiten, ihr unsicheres Schweben zwischen Sein und Nichtsein, ist zumindest sekundär; er trifft ernsthaft weder ARISTOTELES noch auch DESCARTES oder LEIBNIZ, allenfalls die Neoscholastik WOLFFs und seiner Schule. Daß man Vermögen nur annimmt, um gewisse charakteristische Tätigkeiten oder Funktionen zu unterscheiden, an dieser Besinnung hat es keinem der Vorgenannten gefehlt. Dagegen hat kaum ein Anderer so entschieden wie gerade HERBART die eigentlich aristotelelische Grundauffassung des Bewußtseins als Energie als das Palladium [heilig gehaltene Sache - wp] der Psychologie behauptet; und es scheint, daß er dadurch am meisten auf die Psychologie, weit über die Grenzen der herbartischen Schule hinaus, gewirkt hat. Das ist jetzt so ziemlich der allgemeine Standpunkt in der Psychologie; und so scheint es nicht überflüssig, von Neuem aufgrund der bereits erreichten Feststellungen zu untersuchen, was denn eigentlich dazu berechtigt, von Bewußtseinstätigkeiten, vom Bewußtsein als Tätigkeit zu sprechen; nämlich das Recht uns dazu die Phänomene des Bewußtseins geben.

3. Das scheinbare Recht dieser Vorstellungsweise beruth, wie schon angedeutet, auf der tatsächlichen Bedeutung der Sukzession im Bewußtsein, die wir damit ausdrückten, daß aller Verbindung der Inhalte im Bewußtsein die Zeit als ursprünglichste Form der Verbindung zugrunde liegt.

Daß alles Bewußtsein in Form der Sukzession auftritt, ist ja wohl keinem Streit unterworfen; es ist Sache einer einfachen Beobachtung, daß wir nicht bloß Bewußtseinszustände überhaupt, sondern eine Sukzession von solchen in uns erleben; daß in ihrer Sukzession die Inhalte anders und nochmal anders erscheinen; und daß dieser Wechsel der Erscheinungen niemals stillsteht.

Aber ist darum notwendig das Bewußtsein als ein sukzessives Geschehen, ein kontinuierlicher Prozeß der Veränderung aufzufassen? Diese Auffassung ginge über das Gegebene des Bewußtseins jedenfalls hinaus, möchte sie sich auch sonst etwa, nämlich als Theorie zur Erklärung des Gegebenen, rechtfertigen lassen. Gegeben ist nicht das Bewußtsein als Vorgang in der Zeit, sondern die Zeit als eine Form des Bewußtseins; die Sukzession ist im Bewußtsein, nicht das Bewußtsein in Sukzession gegeben. Das ist keine bloße Veränderung der Sprache, sondern eine gänzliche Umkehrung in der Auffassung der Sache selbst. Daß aber nur diese Auffassung den unmittelbaren Befund des Bewußtseins zutreffend ausdrückt, dürfte klar sein. Wir finden unmittelbar die Zeit als Inhalt des Bewußtseins, richtiger als Grundform, in der sich aller Inhalt des Bewußtseins darstellt; nicht aber das Bewußtsein als in der Zeit geschehenden Prozeß; dann müßte die Zeit voraus unabhängig gegeben sein, in die sich der Vorgang des Bewußtseins, gleich anderen Vorgängen, erst hineinordnet. Der letzteren Vorstellung nachzugeben, mag sehr naheliegen, aber sie übersieht ganz die Ursprünglichkeit des Bewußtseins, sie verkennt, die spezifische Bedeutung desselben, nach der es keine Erscheinung (neben andern), sondern das Erscheinen selbst ausdrückt.

Hat man einmal das Bewußtsein als Vorgang in der Zeit, als Prozeß aufgefaßt, so ist es ganz unvermeidlich, diesem Vorgang auch ein Subjekt zugrunde zu legen, welches die sukzessive auftretenden Erscheinungen ansich als Veränderungen seines Zustandes erlebt; ferner aber auch diesem Subjekt irgendeinem Anteil an der Verursachung dieser Erscheinungen zuzuweisen. Viele Psychologen scheinen dann auch diese Annahmen nicht etwa für unvermeidliche Hypothesen, sondern geradezu für unmittelbare Data anzusehen; man spricht vielfach von "Tätigkeiten" des Bewußtseins, nicht in der Meinung, eine Hypothese aufzustellen, sondern das unmittelbar Gegebene zu bezeichnen. Es sollte aber doch klar sein, daß "Tätigkeit" eine Verursachung und ein Subjekt derselben einschließt, Ursache aber und ihr Subjekt in keinem Fall etwas Gegebenes ist. Von Aktionen erleben wir nichts, weder außerhalb von noch in uns; weder von einer Aktion der Vorstellungen gegeneinander, noch von einer Aktion des Ich.

So sehr wir dies als selbstverständlich betrachten, so scheint es doch nicht überflüssig, es für die hauptsächlich in Frage kommenden Fälle besonders zu beweisen, und dadurch zugleich unsere abweichende Auffassung etwas näher zu erläutern. Es handelt sich
    1) um den Eintritt, das längere oder kürzere, überhaupt irgendeine Zeit dauernde Verbleiben von ein und demselben Inhalt im Bewußtsein, den Austritt, und eventuell die Wiederkehr des entschwundenen Inhalts;

    2) um den Wechsel der Beschaffenheit; nach hergebrachter Einteilung
      a) das qualitative Anderswerden der Inhalte (namentlich im Fall des stetigen Übergangs durch alle unterscheidbaren Zwischenstufen, z. B. von einer Farbe zu anderen, von einem Ton zum anderen),
      b) den Intensitätsgrad, das Crescendo und Diminuendo der Empfindungen und Gefühle;

    3) um die Entstehung bzw. Aufhebung von Verbindungen, sofern sie sich als sukzessives Geschehen in uns beobachten läßt, nicht plötzlich oder unvermittelt da ist.
Es wird also behauptet, daß wir in allen diesen Fällen wohl eine Sukzession von Inhalten, nicht aber eine sie sukzessiv, sei es produzierende oder zumindest verändernde oder zusammen- bzw. auseinanderbringende Tätigkeit des Bewußtseins erleben.

4. Ein Inhalt tritt auf, verharrt eine Weile im Bewußtsein, verschwindet, kehrt wieder; d. h. er ist eine kürzere oder längere Zeit da, ist nicht mehr da, ist wiederum da. Von einer ihn aus dem Nichts oder dem Unbewußten hervorrufenden, desgleichen im Bewußtsein festhaltenden oder daraus verdrängenden, fernhaltenden, desgleichen den entschwundenen zurückholenden Tätigkeit erleben wir nichts. Das sind naheliegende Metaphern - aber eben Metaphern.

Ein Inhalt zeigt sukzessiv ein anderes und wieder anderes Aussehen, er erscheint immer wieder anders, sei es der Qualität nach, oder auch intensiv lebendiger, deutlicher, Stärker, gleichsam gegenwärtiger, oder weniger lebendig etc. Auch das ist ein bloßes Nacheinander von Erscheinungen; von einer den Inhalt umgestaltenden, oder steigernden, schwächenden Bewußtseinstätigkeit, einem Zufluß oder Abgang von Kraft, den er erfährt, erleben wir nichts.

Sogar darf man fragen, mit welchem Recht wir überhaupt sagen, daß derselbe Inhalt eine Zeit lang geblieben oder wiedergekehrt oder anders geworden ist. Bei der Wiederkehr ganz entschwundener Inhalte pflegen zumindest die besonneren unter den Psychologen einzuräumen, daß man genau genommen bloß von inhaltlich gleichen, nicht von numerisch identischen Inhalten reden sollte. Auch bei einem kontinuierlichen Qualitätswechsel wird vielleicht Jeder eher geneigt sein, zu sagen, es sei überhaupt ein anderer Inhalt an die Stelle des vorigen getreten, als, es habe derselbe Inhalt nur eine solche Veränderung erlitten, daß man ihn nicht wiedererkennt. Folgerecht aber wird man die Voraussetzung irgendeiner Selbständigkeit der Existenz, einer Subsistenzfähigkeit der Inhalte ganz fallen lassen. Ansich ist jeder Inhalt jedes neuen Bewußtseinsmomentes auch als neuer Inhalt zu betrachten, der nun einem früheren seiner Beschaffenheit nach gleich oder mehr oder weniger ähnlich sein mag und mit ihm zusammenhängt durch das Band der Erinnerung, d. h. (um auch hier jede Vorstellung einer verbindenden Kraft zu eliminieren), in der ursprünglichsten, unmittelbarsten Form der Verbindung, nämlich in der Zeit. An eine den Inhalt im Bewußtsein festhaltende Kraft, etwa auch eine Kraft des Inhalts selbst, sich im Bewußtsein zu behaupten, sind wir vielleicht zu denken geneigt, wo zwei Inhalte zugleich von merklich gleicher oder wenig merklich verschiedener Beschaffenheit sind und in einem ununterbrochenen zeitlichen Konnex stehen; weniger schon, wo der Wechsel durch sehr merkliche Übergänge geschieht; am wenigsten, wo auch die zeitliche Kontinuität unterbrochen ist und erst nach dem Verfließen einer gewissen Zeit der gleiche oder ein mehr oder weniger ähnlicher Inhalt wiederauftritt; schließlich aber ist die Vorstellung von einer sozusagen personalen Identität der Inhalte in den ersten Fällen genausowenig begründet wie im letzten. Das Bleiben oder Zurückkehren desselben Inhaltes ist, wenn "derselbe" nicht etwa bloß "ein gleicher" heißen soll, bereits eine Annahme, die über den gegebenen Tatbestand hinausgeht.

Das war HERBARTs Grundvorstellung: daß "dieselben" Inhalte immer bleiben; daß sie im dunklen Untergrund des Bewußtseins fortexistieren, auch wenn sie die "Schwelle" zu überschreiten nicht die Kraft haben; daß sie mit Kräften der "Selbsterhaltung" versehen sind, vermöge deren sie sich im Verein miteinander bald hemmen, bald unterstützen, verdrängen oder im Dasein erhalten; daß sie im Verhältnis ihrer Kräfte im Bewußtsein steigen oder sinken usw.; eine höchste konsequent durchgeführte Theorie, die für einen Ausdruck des unmittelbaren Tatbestandes auszugeben ihm gar nicht einfallen konnte; denn das konnte einem so guten Beobachter doch nicht entgehen, daß von all dem nichts im unmittelbaren Bewußtsein gegeben ist. Heute ist man im allgemeinen geneigter, die Vorstellungen ihre Kräfte gleichsam erst beziehen zu lassen aus einem gemeinschaftlichen Kraftfond des Bewußtseins. Der mechanische Vergleich der Erhaltung der Gesamtkraft (Energie) in einem System bietet sich naheliegend an; selbst zu einem Unterschied zwischen lebendigen und Spannkräften fehlt es nicht an einem Analogon; man kennt ja längst die latenten Vorstellungen. Wir sehen hier noch ganz von der Frage ab, was alle solche Annahmen etwa als Theorie leisten; wir betonen für jetzt nur, daß es Annahmen sind, theoretische Voraussetzungen, Deutungen, nicht reine Wiedergaben des Tatbestandes; was dann bei einiger Besinnung wohl Jeder einräumen wird.

Kaum ist es nötig, die Betrachtung noch besonders für solche Verbindungen durchzuführen, welche ganz so wie die Einzelinhalte in der Zeit veränderlich sind. Dieselben verhalten sich in jeder Beziehung ebenso wie die Einzelinhalte: sie treten auf, erhalten sich eine Zeitlang mehr oder weniger unverändert, erleiden gewisse Modifikationen, vergehen, kehren in ähnlicher Gestalt wieder; und das nicht einmal, sondern sozusagen gewohnheitsmäßig, als wäre die Verbindung nicht bloß für einmal, sondern ein für allemal geschlossen worden. Solche Vorstellungskomplexe (insbesondere die Wahrnehmungen und Vorstellungen existenter Dinge) treten uns fast wie selbständige Wesen gegenüber, die sich in unserem Bewußtsein wie in einem gegebenen Raum versammeln, wieder auseinandergehen, zurückkehren. Doch wird sich auch hier wieder die Frage einstellen: was uns eigentlich berechtigt, von einem Nacheinander sich gleichbleibender oder wenig merklich sich verändernder Inhalte zu reden als vom Beharren derselben Inhalte, die durch eine gewisse Kraft der Selbsterhaltung im Dasein verharrten, bis sie durch eine der ihren entgegenwirkende Kraft verdrängt werden? Das alles ist Deutung; wir erleben nicht Substistenz [Bestehen durch sich selbst - wp], keine Kraft der Beharrung, sondern erleben nur eine Sukzession von Inhalten, die einander mehr oder weniger gleichen.

5. Schließlich muß man sich klar darüber sein, daß bereits jede Auffassung einer Sukzession von Inhalten als ein Vorgang, jede Zusammenfassung einer Mehrheit von Bewußtseinsakten, die wir durch die Zeit unterscheiden, in die Vorstellung eines einheitlichen Prozesses eine Objektivierung des Bewußtseins einschließt; und doch sollte das Bewußtsein vielmehr das letzte Subjektive sein, das aller Objektivierung vorausliegt.

Davon wird man sich am sichersten überzeugen, indem man sich besinnt, daß die Einheit eines Vorgangs in keinem Fall etwas schlechthin Gegebenes ist, sondern nur unter ganz bestimmten Bedingungen behauptet werden darf. Forscht man nach, was denn in der Vorstellung der äußeren Natur die Einheit eines Vorgangs konstituiert, so findet man, daß sie niemals auf der unmittelbaren Erscheinung allein beruth; sondern, damit etwas "objektiv" in der Natur selbst ein Vorgang ist, dazu ist erforderlich, erstens, daß das Subjekt des Naturvorgangs (das Bewegliche) dasselbe geblieben ist, sich nicht etwa unvermerkt mit einem andern vertauscht hat; und zweitens, daß auch die Ursache, daß zumindest in bestimmtes verursachendes Moment dasselbe geblieben ist. Also nicht das Phänomen als solches, sondern dessen Auffassung unter einheitlichen Gesichtspunkten (Funktionen) des Denkens, der Substantialität und Kausalität, bestimmt die Einheit des Vorgangs. Daß aber Substanz und Kausalität keine Data, sondern theoretische Voraussetzungen sind, die auf die Erklärung eines Gegebenen zielen, sollte keines Wortes bedürfen.

Und so muß man sich auch in der Psychologie bewußt sein, daß jede Behauptung irgendeiner Einheit eines Bewußtseinsprozesses stillschweigend die Voraussetzung der Einheit des Subjekts wie der Ursache einschließt. HERBART betrachtete deswegen, ganz folgerichtig, die Inhalte selbst (unter dem Namen der "Vorstellungen") wie beharrliche Existenzen, begabt mit Kräften der Selbsterhaltung. Wer das für gewagte Metaphysik hält, muß sich klar darüber werden, ob er nicht auch eine ebenso gewagte Metaphysik treibt, sobald er nur irgendein Nacheinander von Inhalten als Beharrung derselben Inhalte auffaßt, die nur etwa in einzelnen Bestimmungen gewisse Modifikationen erfahren haben. Vielmehr muß, vor aller Theorie, der Inhalt jedes einzelnen Bewußtseinsaktes auch als neuer Inhalt angesehen werden. Man braucht nicht zu besorgen, daß dadurch das Bewußtsein in isolierte Momente, gleichsam in Atome zerfällt wird. Wird geleugnet, daß der durch Erinnerung vergegenwärtigte Inhalt mit dem früher gegenwärtig gewesenen numerisch derselbe ist, so wird darum nicht die Tatsache der Erinnerung selbst geleugnet, d. h. die Tatsache, daß ein jetzt gegenwärtiger Inhalt einen früher gegenwärtig gewesenen bedeuten, repräsentieren, oder mit ihm identisch gesetzt werden kann. Diese Repräsentation des Nicht-Jetzt im Jetzt, diese Identifikation des Nichtidentischen ist gewiß wunderbar, aber sie wird auch um nichts begreiflicher durch die Annahme, daß dieselben Inhalte geblieben sind; es wäre damit doch nicht erklärt, daß sie für unser Bewußtsein dieselbe, uns als identisch bewußt sind. Jedenfalls ist dieses Wunder eine Tatsache, und in dieser Tatsache des Zeitbewußtseins ist die vermißte Kontinuität des Bewußtseins, in dem Sinn, in welchem sie überhaupt mit Recht behauptet wird, zur Genüge gesichert. Das eben ist die unvergleichliche Eigentümlichkeit des Zeitbewußtseins, daß eine Mehrheit durch die Zeit unterschiedener Momente des Bewußtseins dennoch in einem Bewußtsein vereinigt sind. Was als vergangen vorgestellt wird, muß doch, als vorgestellt, dem Bewußtsein gegenwärtig sein. Vielleicht findet man, daß dasselbe Wunder in jeder bewußten Unterscheidung liegt; A und B unterscheiden heißt doch, von Jedem ein gesondertes Bewußtsein haben; und doch muß ich, um sie zu unterscheiden, auch wiederum beide in einem Bewußtsein zusammen haben. Wie aber ein verschiedenes Bewußtsein dennoch ein Bewußtsein sein kann, das eben ist das Wunder, d. h. es ist die unvergleichliche Eigentümlichkeit des Bewußtseins, die im Grunde in jeder Verbindung einer Mehrheit von Inhalten zu einem Bewußtsein liegt. Es ist schon in der Absicht verfehlt, diese ursprünglichste Eigenheit des Bewußtseins ableiten oder erklären zu wollen; die Erklärung muß notwendig im Zirkel laufen, da alle begrifflichen Handhaben der Erklärung nur Funktionen dieser "Einheit" des Bewußtseins sind und sie also voraussetzen.

6. Nur soweit scheint es notwendig, den Gegenstand hier zu verfolgen; denn es kam bisher nur darauf an, die Auffassung des unmittelbaren Tatbestandes möglichst frei zu erhalten von jeder voreiligen Einmischung der Theorie. Erst jetzt wird sich die Frage erheben, ob überhaupt, und in welcher näheren Gestalt etwa, eine Theorie der psychischen Erscheinungen erreichbar ist. Unsere Erwartungen in dieser Beziehung können freilich von vornherein keine sehr günstigen sein; nicht so sehr, weil man sich über die Theorie der psychischen Phänomene bisher so wenig, auch nur im allgemeinen, hat verständigen können, als, weil unsere bisherigen Betrachtungen uns wieder und wieder darauf hingeführt haben, daß das Bewußtsein, als Ausdruck der letzten Subjektivität des Erscheinens, ansich gar keiner Objektivierung fähig ist; auf Objektivierung aber zielt alle Erklärung oder Theorie. Jedenfalls haben wir durch die bisherige Untersuchung soviel gewonnen, daß wir vorsichtig damit geworden sind, eine noch so naheliegend sich anbietende Theorie als durch den Tatbestand ohne weiteres gefordert zu betrachten.
LITERATUR - Paul Natorp, Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, Freiburg i. Br. 1888