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JOHANN GOTTLIEB DRESSLER
(1799 - 1867)
Die Grundlehren
der Psychologie und Logik


"Wenn wir darum die Seelenlehre eine  Naturwissenschaft  nennen, so heißt das nicht: die Seele ist ein materielles Wesen, sondern es heißt: sie wird nach der  Methode der Naturforscher studiert, studiert auf dem Weg der  Beobachtung und Erfahrung. Nur ist die Erfahrung hier eine innere, die Erfahrung des  Selbstbewußtseins, während sie bei den Gegenstände der äußeren Natur eine sinnliche ist. Die frühere Psychologie wollte die Seele durch bloßes Denken, durch die sogenannte Begriffsspekulation erkennen, zumindest legte sie auf die Tatsachen der Erfahrung viel zu wenig Gewicht, und kam daher über bloße Worterklärungen selten hinaus. Die neue Psychologie hält es mit dem Grundsatz der Naturforscher: erst sind die  Tatsachen aufzusuchen und festzustellen, und dann erst darf das Denken mit seinen Erklärungen hinzutreten, und wo sich Hypothesen dabei erforderlich machen, müssen sie so gebildet werden, daß sie zu den Tatsachen genau passen."

Vorrede

Die Grundlehren der Psychologie und Logik, welche ich hiermit dem Publikum übergebe, sind ganz auf die Tatsachen der inneren Erfahrung gebaut. Dies bedarf in unseren Tagen wohl keiner Rechtfertigung mehr. Auch in geistigen Dingen liefert nur die Erfahrung, die genaue Beobachtung der Tatsachen, volle Gewißheit; die sogenannte Spekulation, welche die Wahrheit durch bloßes Denken auffinden will, führt mehr oder weniger in die Irre. Die vorliegende Schrift hält sich darum streng an die Kräfte und Gesetze, wie sie sich dem Seelenbeobachter tatsächlich darstellen, und die Erklärungen, welche sie gibt, sind lediglich aus dem Wahrgenommenen abgeleitet. Dadurch hofft sie sich als nützlicher Leitfaden für Lehrer zu erweisen, welche über die Seelen- und Denklehre zu unterrichten haben; aber auch jeder andere Lehrer, welcher den Geist seiner Schüler wahrhaft bilden will, dürfte sie brauchbar finden, denn Seelenkenntnis kann weder der Lehrer noch der Erzieher entbehren, wenn er nicht die größten Fehlgriffe tun soll. Der sogenannte praktische Takt, mit welchem noch soviele Pädagogen ausreichen zu können glauben, kann unmöglich genügen. Was in der Seele durch den Lehrer oder Erzieher entwickelt werden soll, setzt schon erworbene  Vorbildungen  voraus, an welche es sich anschließen, in welchen es Wurzel schlagen muß, wie sich schon daraus erhellt, daß man kein Kind sofort nach dessen Geburt unterrichten kann. Wer nun diese Vorbildungen, die für jedes zu erzielende Produkt besondere sind, nicht genau kennt, wer sich über die Kräfte und Gesetze täuscht, die bei allem geistigen Werden den Ausschlag geben, der wird Produkte aus Faktoren gewinnen wollen, die vielleicht noch gar nicht oder doch nicht in der rechten Beschaffenheit erworben sind, und so wird er vergeblich auf das Kind einwirken, denn auch auf dem Gebiet des Geistigen wird nie etwas aus Nichts und das Rechte nimmermehr aus dem Unangemessenen. In dieser Beziehung haben die bisher angenommenen abstrakten Seelenvermögen vielfach auf Abwege geführt. Der Verstand z. B. ist bei der Geburt nicht in der Art vorhanden, wie man noch immer meint; nicht als eine besondere selbständige Kraft ist er angeboren, sondern er entwickelt sich erst aus den  Elementar kräften, die wirklich und allein angeboren sind, und Gleiches gilt von der angeblichen Erinnerungskraft, dem besonderen Gedächtnis, dem Willen etc. Nur ein genaues Anschließen an die richtig erkannten  Grund kräfte der Seele, wie sie in der vorliegenden Schrift mit Sorgfalt aufgestellt sind, vermag die Zwecke der Erziehung und des Unterrichts erfolgreich zu machen.

Das Gesagte gilt namentlich auch in Bezug auf die Logik. Ihre Lehren und Vorschriften können nur dadurch praktische Fruchtbarkeit gewinnen, daß sie sich ganz auf die erwiesenen Tatsachen des Seelenlebens gründen, denn das Denken erfolgt ja innerhalb der Seele, ist ein Produkt von deren Entwicklung, und so kann das wahre Wesen der Logik nur dadurch zutage treten, daß sie mit der Psychologie Hand in Hand geht. Diese Wahrheit ist hier durchgeführt. Soll die Logik, wie es ihre Bestimmung ist, eine Natur- und Kunstlehre des Denkens sein, soll sie, woran sie von jeher gelitten hat, die dürren, hohlen Abstraktionen aufgeben und eine anziehende, sicher leitende Wissenschaft werden, so muß sie ihr Licht aus der Psychologie empfangen, so wahr das Denken nur eine Betätigung von Seelenkräften und Seelengesetzen ist. Daß eine solche Denklehre vom Althergebrachten vielfach abweicht, ist natürlich, sie wird aber in keinem Punkt ihre Rechtfertigung schuldig bleiben.

Soviel im Allgemeinen über die vorliegende Schrift, die sich auch zum Selbstunterricht für Jedermann empfehlen möchte, der in Sachen des geistigen Lebens kein Fremdling bleiben will. Im Einzelnen mag sie für sich selbst sprechen und ihren vielfachen neuen Ergebnissen Eingang zu verschaffen suchen. Bei aller Kürze, deren sie sich befleißigt, indem sie nur die Grundlehren der genannten Wissenschaften aufstellt, hofft sie doch überall klar und verständlich zu sein.



  P s y c h o l o g i e  

Einleitung

§ 1.

Die Psychologie oder Seelenlehre ist ein Teil der  Anthropologie,  d. h. der Lehre vom Menschen. Da nämlich der Mensch aus Leib und Seele besteht, die trotz ihrer innigen Verbindung und Wechselwirkung zwei ganz verschiedene Wesen sind, so muß die Anthropologie in zwei Hauptteile zerfallen: in  Leibeslehre  und  Seelenlehre.  Jene heißt mit einem griechischen Wort  Somatologie  und wird wieder in  Anatomie  (Lehre vin der Form und dem Bau des Leibes) und  Physiologie  (Lehre von den Kräften und Verrichtungen der organischen Bestandteile) eingeteilt. Die Seelenlehre hat es mit dem zu tun, was in uns denkt, fühlt und will, und das sind geistige Tätigkeiten, welche zwar nicht ohne Mitwirkung des Körpers hervorgebracht werden können, aber auch nicht durch diesen allein, wie jeder Tote (Entseelte) zeigt. Das Leibliche wird natürlich von der Seelenkunde mit in Betracht zu ziehen sein, jedoch nur soweit, als die Wechselwirkung reicht, die zwischen Körper und Geist im lebenden Menschen stattfindet. Hauptaufgabe für die Psychologie bleibt, die geistigen Kräfte und Gesetze zu erörtern, durch welche das Seelenleben sich aus kleinen Anfängen zu einer Höhe und Umfänglichkeit entwickelt, die sonst bei keinem Wesen in der uns bekannten Natur vorkommen.


§ 2.

Unseren Leib fassen wir, wie die Außendinge überhaupt, durch die äußeren Sinne auf; das Seelische ist nur durch das  Selbstbewußtsein  wahrnehmbar. Denn da die Seele ein  geistiges,  völlig  raumloses  Wesen ist, so kann sie keinem der äußeren Sinne kund werden. Dem neugeborenen Kind fehlt alles Bewußtsein; die Seele nimmt noch nicht die äußeren Objekte, am allerwenigsten sich selbst wahr, und darum vermag sie ihr  ursprüngliches,  noch ganz elementarisches Sein nicht zu erkennen. Daß sie allmählich Bewußtsein in sich ausbildet, dazu muß ihr allerdings die  Fähigkeit  angeboren sein, sonst müßte der Mensch zeitlebens so bewußtlos bleiben, wie der Baum, die Blume usw., aber zur Selbstwahrnehmung bedarf die Seele durchaus ein  entwickeltes, ausgebildetes  Bewußtsein. Dieses innere Licht ist der einzige Quell für die Seelenerkenntnis, nur gibt es keinen Aufschluß über den der Bewußtseinsentwicklung vorangehenden Zustand der Seele. Wohl nehmen wir das Geistige auch an anderen wahr, aber nur mittelbar, nämlich durch deren Mienen, Gebärden, Worte und Taten. Nie stellen uns diese Äußerungen des Geistigen die Seele selsbt dar; wir schließen von denselben nur auf das zurück, was ihnen zugrunde liegt, und dieser Schluß kann so falsch geschehen, daß man am Ende, wie es den Materialisten begegnet, auf gar keine Seele, sondern auf die irrige Meingung kommt, als erklärten sich jene Erscheinungen aus rein  leiblichen  Funktionen, aus den Verichtungen des Gehirns und der Nerven.


§ 3.

Da sich die Seele aus Kräften entwickelt, aus welchen sie  ursprünglich,  also bei der Geburt, besteht, so muß uns gerade die Kenntnis dieser Urkräfte (Urvermögen) von der höchsten Wichtigkeit sein. Sind sie nun durch unmittelbare Wahrnehmung nicht zu erfassen, so fragt es sich: können sie nicht auf  mittelbare  Weise vorstellig gemacht werden? Auch das wird unmgöglich sein, wenn im Laufe der Zeit Kräfte in die Seelenentwicklung eingreifen, die nicht nur neue, sondern von den früheren hinzukommenden  ansich  von derselben Beschaffenheit sind, wie die ersten. Es läßt sich dann denken, daß nur die verschiedene  Ausbildung  der Kräfte zu verschiedenen Resultaten führe, und somit würde sich begreifen lassen, warum die Seele späterhin als ein ganz anderes Wesen erscheint, als in dunklen Anfang. Die Erfahrung, die der Erwachsene an sich macht, lehrt nun, daß neue Kräfte mit  verschiedener  Natur seiner Seele niemals zuwachsen, daß ferner die  Gesetze,  nach welchen die Entwicklung der Kräfte bei ihm erfolgt, sich immerdar gleichbleiben, und so brauchen wir nur in Abrechnung zu stellen, was von außen her entwickeln auf die Seelenvermögen einwirkt und eingewirkt hat, und wir werden die Urvermögen auffinden, werden sie aus den verschiedensten Produkten herauszuerkennen imstande sein.


§ 4.

Die Seelenkunde hat also in Betreff dessen, was sich der unmittelbaren Wahrnehmung entzieht, ganz denselben Weg der Erforschung einzuschlagen wie die Astronomie. Hat der Astronom die Kräfte und Gesetze erkannt, die  jetzt  in den Himmelserscheinungen regieren, so findet er mit Sicherheit, welches der Stand sowie die sonstige Beschaffenheit der Gestirne vor Jahrtausenden war, denn die Natur bleibt sich überall in ihren Kräften und Gesetzen gleich, und es kann darum ein untrügliches Zurückschließen vom Späteren auf das Frühere stattfinden. In der Geologie ist auf ähnliche Weise der frühere Zustand der Erde aus dem Walten der Kräfte und Gesetze erschlossen worden, die  jetzt  im Erdball herrschen, und bei fortgesetzter Beobachtung wird das zu immer mehr Aufklärung führen. Die Psychologie unterscheidet sich von den Wissenschaften, welche sich mit der äußeren Natur beschäftigen, allerdings gänzlich durch den  Gegenstand mit welchem sie es zu tun hat. Dieser Gegenstand ist ein Wesen, welches aus  geistigen  Kräften besteht, d. h. aus Kräften, welche zwar eines materiellen Stützpunktes (das sind die Hirnzellen) bedürfen, aber ihre Tätigkeit durch  unmittelbare  Einwirkung aufeinander, ohne direkte Mitwirkung der Materie, entfalten, wogegen in der äußeren Natur nur  materielle,  d. h. nur in innigster Verbindung mit der Materie tätige und also nur mittelbar, mittels dieser Materie, aufeinander wirkende Kräfte vorkommen. Trotzdem kann und muß die Forschungsweise, die  Methode welche bei der Aufsuchung der Wahrheit anzuwenden ist, hier und dort gleich sein. Wenn wir darum die Seelenlehre eine  Naturwissenschaft  nennen, so heißt das nicht: die Seele ist ein materielles Wesen, sondern es heißt: sie wird nach der  Methode  der Naturforscher studiert, studiert auf dem Weg der  Beobachtung  und Erfahrung.' Nur ist die Erfahrung hier eine innere, die Erfahrung des  Selbstbewußtseins,  während sie bei den Gegenstände der äußeren Natur eine sinnliche ist. Die frühere Psychologie wollte die Seele durch bloßes Denken, durch die sogenannte Begriffsspekulation erkennen, zumindest legte sie auf die Tatsachen der Erfahrung viel zu wenig Gewicht, und kam daher über bloße Worterklärungen selten hinaus. Die neue Psychologie hält es mit dem Grundsatz der Naturforscher: erst sind die  Tatsachen  aufzusuchen und festzustellen, und dann erst darf das Denken mit seinen Erklärungen hinzutreten, und wo sich Hypothesen dabei erforderlich machen, müssen sie so gebildet werden, daß sie zu den Tatsachen genau passen. - Im Lauf der Entwicklung erhebt sich die Seele mit ihrem Denken allerdings weit über die Natur, sie erfaßt das Ideale und Überirdische; sie selbst aber wird dadurch, solange sie im Leib lebt, nicht in überirdisches Wesen; sie behält immer ihre anerschaffene Natur, und schon aus diesem Grund rechtfertigt sich für die Psychologie der Titel:  Naturwissenschaft.  Man vergesse nur nie: die Seelenkunde ist eine Wissenschaft von der  geistigen  Natur.


§ 5.

Diese geistige Natur ist nun, wie sich zeigen wird, schon bei der Geburt eine mehrfach zusammengesetzte, und im Laufe des Lebens entwickelt sie sich zu einem Reichtum von Gebilden, der ins Unendliche gehen kann und geht, wobei alles raumlos bleibt. Dieser Reichtum ist es, der die Zergliederung der Seelenerscheinungen für den Anfänger in der Psychologie schwierig macht und leicht zu falschen Voraussetzungen führen kann. Ohne Zergliederung des Entwickelten aber ist keine Zurückrechnung möglich, und es lassen sich dann die Urkräfte nicht auffinden, aus welchen die Seele bei der Geburt besteht. In der äußeren Natur ist die Aufsuchung der Elementarkräfte viel leichter. Denn wiewohl hier die Produkte meistenteils ganz anders aussehn als deren Faktoren, so multiplizieren sich letztere doch nie in dem Umfang, wie dort, und die Entwicklung erreicht darum nie eine Höhe, wie bei der Seele, wo aus bewußtlosen, scheinbar geistlosen und mechanischen Anfängen zuletzt die geistvollsten und mit größter Freiheit waltenden Gebilde hervorgehn. Auf der andern Seite dagegen hat die psychologische Zergliederung einen Vorzug, der bei der Zerlegung der Außendinge gänzlich fehlt. Analysieren (zergliedern) wie z. B. einen Begriff, so finden wir in demselben einen Teil der nämlichen Elemente, die in den Anschauungen lagen, aus welchen der Begriff hervorgegangen ist (siehe unten § 29); sie zeigen sich im Begriff unverwandelt erhalten, wogegen z. B. die Grundelemente des Baumes (Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff etc.) für sich einen ganz anderen Anblick gewähren, als sie in ihrer Verbindung zum und im Baum darbieten. Dies rührt davon her, daß wir das Äußere nur durch unsere Sinne auffassen können; wir nehmen deshalb die Dinge nicht wahr, wie sie  ansich  sind, sondern nur, wie sie uns vermöge der Natur unserer verschiedenen Sinne  erscheinen.  Das Psychische dagegen wird in ganz unmittelbarer Weise, durch sein eigenes Bewußtsein, also durch sich selbst wahrgenommen; wir  sind  das, was wir jetzt wahrnehmen, und es kommen bei dieser Wahrnehmung keine fremdartigen, alterierenden Kräfte ins Spiel. Während also das Äußere nur so erkannt werden kann, wie es unseren verschiedenen Sinnen  erscheint,  d. h. wie es die Natur derselben zuläßt und mit sich bringt, fassen wir das Geistige auf, wie es  ansich  oder seinem innersten Wesen nach ist, also in  voller Wahrheit.  Die Seelenkunde muß daher, richtig ausgebildet, weit zuverlässigere Erkenntnisse liefern, als irgendeine auf die Außenwelt sich beziehende Wissenschaft.


§ 6.

Im Folgenden können wir nun sofort mit den Urkräften der Seele beginnen, da sie von der neueren Psychologie bereits aufgefunden sind. Während man früher annahm, es gebe einen der Seele angeborenen Verstand, einen angeborenen Willen, eine angeborene Urteils-, Gedächtnis-, Phantasiekraft usw. als  besondere  Vermögen, haben die genaueren Zergliederungen gezeigt, daß solche Kräfte Anfangs nicht existieren. Warum sollten sie auch, wenn sie da wären, nicht sofort verstehen, urteilen, phantasieren, schließen, wollen etc.? Das Kind in seinen ersten Lebenswochen zeigt nicht das Mindeste davon; es ist bloß imstande, die äußeren Eindrücke aufzunehmen, auf welche seine angeborenen Kräfte angewiesen sind und hinstreben, und wo ihm diese Eindrücke versagt werden, bleibt auch das Verstehen, Urteilen usw. jederzeit soweit aus, als dieser elementarische Mangel reicht. Kein Blindgeborener gewinnt Urteile über Farben, kein Taubgeborener über Töne usw. Es können also nur die aufnehmenden Kräfte Anfangs da sein; aus diesen und den aufgenommenen Reizen muß sich alles entwickeln, was die Seele späterhin leistet. Ob dies so sei oder nicht, wird sich im Folgenden herausstellen; was wir vortragen, muß in den Tatsachen des Selbstbewußtseins Bestätigung finden.


Erstes Kapitel
Von den Kräften der Seele, durch
welche sie äußere Eindrücke aufnimmt


§ 7.

Die Kräfte der Seele, durch welche sie äußere Eindrücke aufnimmt, heißen gewöhnlich Sinnesvermögen, wofür man auch den kürzeren Ausdruck:  Sinne - setzt. Das Wort "Sinn" umfaßt aber Zweierlei, nämlich das körperliche Organ und die psychische Kraft, welche mit Hilfe dieses Organs tätig ist. Das Organ für sich allein leistet nichts, wie jeder Tote (Entseelte) zeigt, aber auch die psychische Kraft bleibt unwirksam und zwar vollständig und überhaupt, teils nur nach außen hin, wenn das Organ sie nicht unterstützt. Wessen Auge z. B. ruiniert wurde, der sieht nicht mehr; blind ist aber auch, wessen Sehnerv, bei völliger Gesundheit des Auges selbst, zerstört ist; sind ferner diejenigen Stellen des Gehirns, zu welchen die einzelnen Sinnesnerven sich begeben, durch Erkrankung oder Verletzung funktionsunfähig, so findet ebenfalls keine Sinneswahrnehmung statt. Jede Sinneswahrnehmung ist also auf die Integrität des äußeren Sinnesorgans (Auge, Ohr etc.), welches man ausschließlich als "Sinnesorgan" zu bezeichnen pflegt, des betreffenden, die Verbindung (Leitung) zwischen Sinnesorgan und Gehirn vermittelnden Nerven (Sinnesnerven) und endlich auf die Integrität derjenigen Gehirnpartie gegründet, deren Nervenzellen mit dem Sinnesnerv in Verbindung stehen. Jeder materielle Sinnesapparat besteht sonach aus drei Abteilungen; die zwei wichtigsten sind die an den beiden Endpunkten des leitenden Sinnesnerven angebrachten Nervenvorbau: der peripherische Nervenvorbau, welcher am äußeren Ende (d. h. eigentlich der Anfang) des Sinnesnerven sich befindet und innerhalb des sogenannten Sinnesorgans liegt (die Netzhaut des Auges, die Hörnervausbreitung im inneren Ohr, die Tastkörperchen der Haut usw.), und der zentrale Nervenvorbau, aus Hirnzellen bestehend und am zentralen Ende des Sinnesnerven innerhalb des Gehirns gelegen. Zwischen beiden fungiert als dritter Teil des Sinnesapparates der Sinnesverv selbst, indem er die Leitung von der Peripherie zum Zentrum besorgt. Dieser Bau ist den sogenannten spezifischen Sinnen, durch welche wir die Beschaffenheit äußerer Objekte erkennen, eigentümlich, während die Empfindungen unserer Körperzustände (siehe unten) durch Nervenapparate vermittelt werden, welchen ein solcher peripherischer Vorbau fehlt.

Die eigentliche Funktion des ganzen Sinnesapparates konzentriert sich nun auf die erwähnten Nervenvorbaue; sie sind die eigentlichen Vermittler zwischen Außenwelt und Seele, wie sie ja auch in unmittelbaren Beziehungen zu diesen stehen: der peripherische Vorbau wird direkt von den äußeren Reizen getroffen, der zentrale ist mit den psychischen Elementen verknüpft. Die Tätigkeit beider ist der  Umsetzung des Reizes  gewidmet, weshalb sie auch Umsetzungsapparate genannt werden. Die äußeren Sinnesreize bestehen nämlich in einer  Bewegung  verschiedener Medien: des Äthers (Licht und strahlende Wärme), der Luft (Schall), fester Körper oder der Körpermoleküle (Tastreiz, fortgeleitete Wärme) und in Molekularbewegungen der Schmeck- und Riechstoffe. Diese Medien selbst dringen nun niemals als "Reize" in die peripherischen Nervenvorbaue ein; der schwingende Äther, die schwingende Luft bleiben außerhalb des betreffenden Vorbaus. Dieser besitzt aber die Fähigkeit, diejenige Kraft, welche die physikalischen Stoffe in Bewegung setzte, den Äther, die Luft, die Moleküle erregte, auf sich selbst übergehen zu lassen, auf sich zu übertragen. Das Wesen dieser Kraft ist uns gänzlich unbekannt; wir wissen nur, daß das ganze Leben der Natur durch das Walten von Kraft bedingt wird; daß sie bald als freie, lebendige, bald als gebundene auftritt und sich scheinbar mannigfach verwandelt (Bewegung geht in Wärme, Licht, Elektrizität über etc.), während sie doch im Grunde  eine  bleibt. Die verschiedenen Modifikationen dieser Kraft, wie sie z. B. als Lichtreiz gleichzeitig die verschiedenen Geschwindigkeiten der Ätherschwingungen (die Farben) hervorruft, können wir zur Zeit ebenfalls auf ihren Urgrund nicht zurückführen. Genug: diese lebendige Kraft ist es, welche von den peripherischen Nervenvorbauen aufgenommen und dem Sinnesnerv zur Weiterleitung übergeben wird, bis sie in den zentralen Vorbauen, den Hirnzellen, ankommt. Die Funktion dieser besteht nun in einer abermaligen Umsetzung der Kraft, und zwar in der Übertragung auf die psychischen Elemente, mit welchen sie sich, als ihrer Natur nach verwandt, vereinigt. Diese Vereinigung ist es, was wir als Empfindung bezeichnen: sie ist die Empfindung selbst. Wir "empfinden" also nicht Materielles, aus Atomen Bestehendes, sondern Immaterielles, die lebendige Kraft, welche wir nur negativ charakterisieren können als nicht atomistisch zusammengesetzt gleich der Seele selbst. Das Materielle, was wir sehen, hören usw., ist also nicht Inhalt unserer Empfindung, sondern nur Gegenstand unserer menschlichen Denkungsweise, wie solche als unmittelbare Folgerung aus der eigentümlichen Art unserer Geistestätigkeit entspringt.

Der physikalische Vorgang innerhalb der Nervensubstanz besteht während dieser Übertragung und Leitung in einer Molekularbewegung der Nervenmasse (Nervenerregung), welche aber keinen durch das Experiment nachweisbaren spezifischen Charakter trägt, vielmehr für unsere jetztige Erkenntnis ganz derjenigen gleicht, welche durch alle anderen Reize (mechanische, elektrische Reizung usw.) hervorgebracht werden kann. daß aber die lebendige Kraft, welche z. B. als Lichtreiz die Ätherschwingungen hervorrief, tatsächlich fortgeleitet und mit den psychischen Elementen vereinigt wird, geht aus Folgendem hervor. Wird jemand durch Verletzung der Netzhaut des Auges blind, so gelingt es durch mechanische und anderweitige Reizung des Sehnerven, ihm eine Lichtempfindung im Allgemeinen (heller Schein, lichte Flecken) zu erzeugen. Bei einem absolut blind Geborenen, dessen psychische Elemente sich niemals mit der lebendigen Kraft des Lichtreizes verbunden hatten, ist keine Reizung des Sehnerven, selbst keine unmittelbare Reizung des Hirns (der Hirnzellen) durch Gehirnerschütterung, Fieber, Alkohol usw., die doch bei jedem Menschen Lichterscheinungen hervorruft, jemals imstande, eine Lichtempfindung zu bewirken. Die Lichtempfindung ist also unter allen Umständen durch die Vereinigung von psychischer Kraft und lebendiger Kraft des Reizes bedingt. War diese Vereinigung bereits mehrmals erfolgt, so vermag auch eine anderweitige (z. B. mechanische) Erregung des Sehnerven die Empfindung der allgemeinen Qualität des Sehsinns, d. h. des Lichts, hervorzurufen, da die gleichsam aufgespeicherte, mit der psychischen Kraft verbundene Kraft des Lichtreizes mit erregt wird. Man nennt dies dann mit Recht subjektive Lichterscheinungen, da sie nur auf der Erregung desjenigen beruhen, was bereits Inhalt unserer selbst geworden ist. Es bleibt in diesem Fall aber bei der allgemeinen Qualität der Sinnesempfindung (Lichtempfindung), bei einer inhaltlosen Erregung des Sehsinns. Die Lichtempfindung mit positivem Inhalt, das objektive Sehen, ist nur dann möglich, wenn die lebendige Kraft des äußeren Lichtreizes sich mit der psychischen Kraft vereinigt.

Das eigentliche Sehen, Hören usw. ist also eine rein psychische Tätigkeit, welche durch die körperlichen Substrate nur vermittelt wird. Denn vom Verhalten der psychischen Elemente zu der in den Hirnzellen ankommenden Kraft des Reizes hängt es ab, ob eine Empfindung, bzw. Wahrnehmung zustande kommt. Jene Vermittlung ist aber die Grundbedingung für die Existenz aller psychischen Tätigkeit, denn die Seele bedarf, um sich das zu ihrer Entwicklung nötige Material anzueignen, des  ganzen,  aus Sinnesorgan, Sinnesnerv und Hirnzellen bestehenden materiellen Apparates; ist einer dieser Teile von der Geburt an nicht vorhanden oder funktionsunfähig, so findet gar keine Entwicklung im betreffenden Sinnesgebiet statt; ist aber die Seele mit Hilfe des vollständigen Apparates in den Besitz eines solchen Materials gelangt, so wird dasselbe festgehalten und weiter verarbeitet, wenn auch der Apparat selber zugrunde geht. Blind- und Taubgewordene z. B. bleiben im Besitz des erworbenen Erkenntnismaterials, mag nun die Störung im äußeren Sinnesorgan, im leitenden Sinnesnerven oder im Gehirn selbst liegen. Immer also ist es die  psychische  Kraft, welche sich, wie nach innen hin, so nach außen hin betätigt. Im letzteren Fall heißt sie eben Sinneskraft, d. h. aufnehmende, die äußeren Eindrücke (Licht-, Schall-, Duftreize usw.) mit sich verbindende Kraft; im ersteren Fall führt sie verschiedene Namen:  Gedächtniskraft,  inwiefern sie auch im unbewußten Zustand die aufgenommenen Eindrücke bewahrt;  Erinnerungskraft;  sofern sie von Neuem mit ihrem Inhalt bewußt wird;  Phantasiekraft,  sofern sie nach ihrer Entwicklung die Produkte bald so, bald so verbindet, usw.

Das Folgende muß diese Wahrheiten weiter ausführen und begründen. Hier nur noch eine kurze Bemerkung über die  Zahl  der Sinne. Obwohl man gewöhnlich nur fünf Sinne annimmt: den  Gesichtssinn,  den  Gehörsinn,  den  Geschmackssinn,  den  Geruchssinn  und den  Gefühlssinn,  so ist doch die Zerlegung des zuletzt genannten Sinnes in zwei Abteilungen wissenschaftlich geboten, wonach neben den vier erstgenannten Sinne noch der  Tastsinn  und der  allgemeine Empfindungssinn,  welcher auch  Vitalsinn,  Lebenssinn, Gemeingefühl genannt wird, aufzuführen sind. Während nämlich die Empfindungen des Tastsinns, welche in Druck- und Temperaturempfindungen zerfallen, uns gleich den Empfindungen der übrigen Sinne zu Vorstellungen von der Beschaffenheit äußerer Objekte verhelfen, gibt es noch andere Empfindungsqualitäten, welche von den Empfindungsnerven überhaupt, im Gegensatz zu den spezifischen Sinnesnerven vermittelt werden, und uns nicht über die Beschaffenheit äußerer Objekte, sondern über Zustände unseres eigenen Körpers belehren. Von diesen Empfindungsqualitäten sind die bemerkenswertesten der Schmerz, der Hunger und Durst, der Ekel, die Müdigkeit, das Gefühl unseres Wohl- oder Übelbefindens überhaupt. Dem erstgenannten Gemeingefühl, dem Schmerz, sind alle mit Empfindungsnerven versehenen Körperteile, auch die Sinnesorgane, zugänglich. In letzteren kann die normale Sinnesempfindung bei übermäßiger Intensität des Reizes ihren Charakter vollständig verlieren, indem der objektive Vorgang, auf den sie eigentlich bezogen werden müßte, von der subjektiven Empfindung verdrängt wird (Schmerz des Auges, ohne Wahrnehmung äußerer Objekte, bei zu starker Beleuchtung, Blendung).


§ 8.

Die Sinneskräfte sind also Kräfte der  Seele selbst,  insofern diese auffassend nach außen hin tätig ist. Das Gelingen dieser Tätigkeit setzt aber durchaus die Erfüllung mehrerer Bedingungen voraus. Zuerst müssen, wie bereits erwähnt, die  Sinnesapparate  gesund sein. Wie der Blinde nicht sieht, der Taube nicht hört, so kann man auch mit erfrorenen Fingern nicht tasten, bei heftigem Schnupfen nicht riechen, bei verbrannter oder stark belegter Zunge nicht schmecken usw. - Ferner müssen  Reize  von den Dingen ausgehn und bis zu den Sinnesorganen gelangen. Wer kann sehen, wenn es stockfinster ist, also kein Licht von den Gegenständen her ins Auge fällt? Wer vermag zu hören, wenn die Luft durch keinen Gegenstand erschüttert wird oder wenn diese den Schall verursachende Erschütterung in so großer Ferne stattfindet, daß sie nicht bis ans Ohr reicht? Ähnliches gilt bei den übrigen Sinnen. Den Apfel, solange er hoch oben am Wipfel des Baumes hängt, schmeckt, riecht und tastet keiner, der unten steht, usw. - Nicht minder ist drittens erforderlich, daß die  Seele  ihr  Streben  auf die Eindrücke richtet, dieses Streben also nicht gehemmt ist. Im tiefen Schlaf, in der Ohnmacht, in der Betäubung pausiert dieses Streben; es pausiert aber auch, wenn man mit etwas anderem, das nicht zur Sache gehört, innerlich oder äußerlich sehr stark beschäftigt ist. Manche Seelenkranke z. B. bemerken nichts, wenn man sie mit Nadeln sticht, eine Pistole vor ihren Ohren abschießt und dergleichen, obgleich ihre Sinnesorgane völlig gesund sind. Sie sind mit ihrer "fixen Idee" innerlich so beschäftigt, daß all ihr Streben nur diese Idee zugewendet bleibt, und dann findet der äußere Eindruck keine Aufnahme. Den nämlichen Grund hat es, wenn der Denker, der sich in die Lösung einer schwierigen Aufgabe vertieft hat, nicht hört, was um ihn herum gesprochen wird. Im heftigen Schlachtgetümmel bemerkt ferner mancher Soldat nicht, daß er verwundet worden ist und Kartenspieler haben oft keine Aufmerksamkeit für das, was sich in ihrer Nähe zuträgt. Auch in diesem Fall ist das Seelenstreben nach einer gewissen Richtung hin so fixiert, daß von anderer Seite kommende Reize nicht aufgefaßt werden. Der tiefere Grund von all diesen Erscheinungen wird in § 25 bei der Besprechung der  Aufmerksamkeit  zutage treten. - Also eine Art Hinstreben auf die Reize muß von Seiten der Seele jederzeit stattfinden, wenn die Außendinge nicht unaufgefaßt bleiben sollen. Nur so entsteht das, was wir sinnliche  Empfindungen  und  Wahrnehmungen  nennen. Den Unterschied dieser zweierlei Akte wird das Folgende erörtern; das Bisherige hat gezeigt, daß jede Empfindung und jede Wahrnehmung  zwei  Elemente voraussetzt:  Reiz,  der von außen her kommt und  Seelenkraft,  die ihn aufnimmt und aneignet.


§ 9.

Das Kind vermag eigentliche Wahrnehmungen gleich nach der Geburt noch nicht zu bilden, aber sinnliche Empfindungen enstehen ihm sofort. Es sieht, hört, schmeckt, fühlt usw. ja sogleich, nur daß das fast ohne alles Bewußtsein geschieht, so daß es nicht weiß, mit was für Gegenständen es dabei seine Sinne zu tun haben. Allmählich nur gelangt es zum bewußten  Vorstellen  der Gegenstände. Seine Kraft reicht also anfangs nur zur Bildung dunkler Empfindungen aus; aber diese Kraft ist, wie wir gefunden haben, etwas anderes und mehr, als die körperliche Organkraft, und wir müssen sie die psychische  Urkraft  nennen, da sie die erste und alleinige Kraft ist, aus welcher die Seele bei der Geburt besteht. Genauer paßt hier jedoch der Ausdruck  Urvermögen,  da man von Kraft lieber erst dann spricht, wenn es sich um die später eintretenden höheren Gebilde handelt, die aus den Urvermögen hervorgehen. Indessen lassen sich beide Ausdrücke gebrauchen, wenn man nur nicht übersieht, daß die Urkraft notwendig schwächer sein muß, als die entwickelte. In Bezug auf die ursprüngliche Kraft ist aber noch Folgendes wohl zu beherzigen.

Erstens hört man oft sagen: diese oder jene Kraft  "ist der Seele angeboren",  und das klingt, als sei die Seele etwas von ihren Kräften Verschiedenes, als sei "Seele" und "Kraft der Seele" zweierlei. So ist es nicht; beide Ausdrücke besagen dasselbe, denn die psychischen (geistigen) Kräfte des Menschen machen zusammen seine Seele aus: sie  besteht  aus diesen Kräften. Zweitens ist es falsch zu sagen: die Seele ist  eine  Kraft, wie die alte Psychologie annahm. Wäre diese Psychologie konsequent gewesen, so hätte sie, was sie gleichwohl tat, nicht lehren dürfen: die Seele besitzt eine angeborene Verstandeskraft, eine angeborene Urteilskraft, eine angeborene Willenskraft usw. als besondere Kräfte, denn damit ist der  einen  Kraft offenbar widersprochen. Nun existieren solche Kräfte als  ursprüngliche  allerdings nicht, aber verschiedene Seelenvermögen sind sofort da. Jeder Sinn ist ja ein anderer, eine andere Kraft. Dazu kommt ein dritter sehr wichtiger Punkt. Was sich in der Seele entwickelt (Empfindungen, Begehrungen, Vorstellungen usw.), existiert laut der Erfahrung  einzeln;  die Anschauung "rot" z. B. vermengt sich nie mit der Anschauung "schwarz", die Vorstellung des Runden nie mit der Vorstellung des Eckigen, die Empfindung des Süßen nie mit der Empfindung des Sauren oder Bitteren etc., was aber unvermeidlich sein würde, wenn die Reize der Außenwelt in einer einzigen Kraft zusammenträfen. Daraus folgt: es muß jeder verschiedene Eindruck von einem  einzelnen  Urvermögen aufgenommen und bewahrt werden, und jeder einzelne Sinn muß daher gleich anfangs aus vielen  gesonderten  Vermögen bestehen. Daß diese elementaren Vermögen zugleich in der innigsten, unzertrennlichsten Verbindung existieren, lehrt die Erfahrung auf das Unwidersprechlichste; die  Einheit von welcher man mit Recht bei der Seele redet, ist strengste  Verbundenheit  alles Einzelnen in ihr: zunächst zu bestimmten Sinnensystemen und dann dieser Systeme zum Seelenganzen.

Die Ausdrücke:  Kraft, Vermögen, Urvermögen  - müssen also bei wissenschaftlich eingehender Behandlung des Psychischen im Plural gebraucht werden. Denn die  einzelnen  Erscheinungen, die erklärt werden sollen, setzen durchaus  einzelne  Vermögen voraus. Das Folgende wird die näheren Beweise hierfür liefern. Der rechte Name für die Urvermögen wird nun; laut des Bisherigen, der Ausdruck:  geistig-sinnliche  Vermögen sein. "Sinnlich" sind sie zu nennen, insofern sie mit Hilfe der körperlichen Organe äußere Eindrücke aufnehmen, also für diese Reize  empfänglich  sind; "geistig" müssen sie heißen, weil sie ihrem Grundwesen nach  immateriell  sind und weil alles Höhere, das sich in der Seele entwickelt und dann das Geistige im  engeren  Sinn des Wortes ausmacht (siehe § 31), nur aus ihnen hervorgeht. An diesen geistigen Charakter ist durchaus zu deuten, auch wo wir sie schlechtweg  Sinnesvermögen  nennen. Wer bloß an Sinnes organe  bei diesem Wort dächte, würdei Sache ganz falsch verstehen. Alle Seelenentwicklung beginnt mit der Tätigkeit dieser Vermögen.


§ 10.

Was die Fähigkeit der Urvermögen, äußere Reize aufzunehmen, betrifft, so nennen wir diese Fähigkeit kurzweg die  Reizempfänglichkeit  der Urvermögen, welche eine der Grundeigenschaften der Seele ist. Sie zeigt sich höchst mannigfaltig abgestuft, mögen wir nun einen und denselben Sinn in verschiedenen Menschen, oder die verschiedenen Sinne eines und desselben Menschen in Betracht ziehen. Es ist bekannt, daß nicht alle Menschen ein gleich scharfes Auge haben, ebenso wie die Feinheit des Gehörs bei verschiedenen Individuen differieren kann. Ferner haben manche viel Reizempfänglichkeit im Geschmackssinn, manche im Geruchssinn; sie schmecken die feinsten Eigenschaften der Speisen und Getränke heraus und utnerscheiden Düfte der Blumen, die anderen entgehen. Die Empfänglichkeit für die dem Tastsinn angehörigen Empfindungsqualitäten des Drucks und der Temperatur ist ebenfalls ungleich verteilt (verschiedene Feinfühligkeit der Fingerspitzen usw.), und schließlich liefert auch für die verschiedene Erregbarkeit des allgemeinen Empfindungssinnes die tägliche Erfahrung zahlreiche Beispiele. Denn mancher hat einen leicht verstimmbaren Magen, ein anderer ist für die Einflüsse eines nahenden Gewitters ausnehmend empfänglich etc. - Worauf die mangelhafte Fähigkeit einzelnen Individuen zur Vollziehung gewisser Sinnesauffassungen, z. B. im Bereich der Farben und Töne, beruth, ist zur Zeit noch großenteils unbekannt; für das Auge nimmt man farbenempfindende (d. h. für gewisse Ätherschwingungen empfängliche) Nervenelemente an, aus deren Anomalie man die Störungen des Farbensinnes (Rotblindheit etc.) erklärt. Jedenfalls hat bei allen diesen Verschiedenheiten der Sinne die größere oder geringere Vollkommenheit der körperlichen Organe einen bedeutenden Einfluß, aber der Hauptgrund davon liegt in den  psychischen  Urvermögen.

Im Tierreich kommt die Reizempfänglichkeit der Sinnesvermögen bekanntlich nicht minder als eine sehr verschiedene vor, ja in vielen Tierarten hat der eine oder der andere Sinne eine außerordentliche Feinheit, während die übrigen hinter demselben wesentlich zurückstehen. Im Gegensatz hierzu zeigen im Menschen alle Sinne, namentlich die höheren, trotz der oben angeführten Differenzen eine weit ebenmäßigere Entwicklung.


§ 11.

Aber nicht bloß aufnehmend sind die Urvermögen, sondern auch das Aufgenommene  festhaltend,  und zwar wiederum in ganz verschiedenen Graden. Das zeigt sich darin, daß man sich die Reize und somit die entsprechenden Gegenstände, nachdem man längere oder kürzere Zeit nicht mehr an sie gedacht hat, rein von innen her wiederum vergegenwärtigen kann, nur daß dies nicht mit der Frische möglich ist, wie im unmittelbaren Moment des Auffassens. Während aber manches sich ganz gut erhalten zeigt, will anderes wenig oder gar nicht von Neuem aufleben, es scheint entschwunden; und wie de Menschen gibt, denen nichts zu entfallen scheint, so gibt es andere, in deren Seelen alles mangelhaft fortdauert. Es fragt sich nun, was ist die Ursache davon? Erstens steht fest, daß die Vermögen selbst nicht entschwinden können, sonst zerbröckelte ja die Seele und alle Sinnestätigkeit hörte auf; was entschwindet, können eben nur die aufgenomenen Reize sein, so weit sie nicht vollkommen  angeeignet  worden sind. Die Art der Aneignung hängt nun zum Teil von der Reizempfänglichkeit der Urvermögen ab; ist diese Empfänglichkeit gering, so ist es natürlich, daß keine innige Verschmelzung zwischen Reiz und Vermögen stattfinden kann; zum Teil kann aber auch der Reiz selber seine geringe Aneignung verursachen, weil er zu  matt  oder zu  flüchtig  einwirkte, denn die Erfahrung lehrt, daß er nur dann gut festgehalten wird, wenn seine Einwirkung das Vermögen nachdrücklich und stetig genug erregte. Der Hauptgrund aber für die Fortdauer des Gesehenen, Gehörten oder sonst Aufgefaßten liegt in den Urvermögen selbst. Sind diese mit hoher  Festhaltungsfähigkeit  begabt, d. h. sind sie  energische, kräftige  Vermögen  (starke  "Kräfte"), so zeigt sich das Aufgenommene in der Regel gut erhalten, sind sie von Natur  schwach kräftig, so geht es teilweise, wo nicht ganz wieder verloren.

Wir haben also hier eine zweite Eigenschaft der psychischen Elementar- oder Urvermögen vor uns, und wir bezeichnen sie kurz mit dem Wort  Kräftigkeit.  Auf ihr beruth größtenteils das, was die gemeinübliche Sprache  Gedächtnis  nennt. Das Gedächtnis ist ein gutes, langes, treues usw., wenn jene Eigenschaft eine vollkommene ist; es ist ein schwaches, schlechtes etc., wenn die Urvermögen selber schwach kraftlos sind. Daher müssen wir eigentlich den Plural: die Gedächtnisse - setzen, und nur in einer abstrakten Zusammenfassung derselben kann von  einem  Gedächtnis die Rede sein. Es gibt allerdings ein Gedächtnis, das nicht zuoberst in den Sinnes- oder Urvermögen begründet ist, wie wir später sehen werden; aber alles von außen her Stammende müssen wir mit diesen Vermögen festhalten, und wir erwerben hierzu täglich neue durch einen Vorgang (Prozeß), der sich uns später darstellen wird.

Das Folgende wird uns überdies lehren, wodurch die anfangs unbewußten Vermögen zum Bewußtsein gelangen, und was ihnen dieses Bewußtsein zeitweise entzieht und dann wiedergibt. Alles nun, was "im Gedächtnis" fortdauert, dauert bekanntlich  unbewußt  fort, und die neue Psychologie nennt es in diesem Zustand  Spur.  Jedes solche Spur ist, laut allem bisher Gesagten,  zwei elementig; der Reiz allein ist nie eine Spur, denn er kann nicht für sich allein in der Seele fortdauern, sondern Spur ist ein Urvermögen in seiner Verbindung mit dem aufgenommenen und festgehaltenem Reiz, oder, wie wir auch sagen können:  Spuren  sind die durch Reiz ausgebildeten Urvermögen in ihrer unbewußten Fortdauer.' Demnach wird es auf die Beschaffenheit dieser Spuren ankommen, ob sich das Gedächtnis als ein gutes oder mangelhaftes erweist, wie ferner von selbst einleuchtet, daß auch die Erinnerung wesentlich durch diese Spuren bedingt ist und ohne sie unmöglich sein würde. Vgl. § 7. - Ob es außer diesen "sinnlichen" oder Erstlingsspuren noch andere höherer Art gibt, wird das Folgende kund machen.


§ 12.

Also auch die  Kräftigkeit  oder Festhaltungsfähigkeit der Urvermögen ist bei verschiedenen Menschen verschieden. Es fragt sich nun: wie steht es in dieser Hinsicht bei einem und demselben Individuum mit den verschiedenen Systemen der Urvermögen, d. h. mit den verschiedenen Sinnen? Bekanntlich teilt man die menschlichen Sinne in  höhere  und  niedere  ein, und rechnet zu jenen den Gesichts- und den Gehörsinn, zu diesen den Geschmacks-, Geruchs- und den allgemeinen Empfindungssinn. Wohin man den Tastsinn rechnen solle, darüber kann man ungewiß sein; bei den Blinden namentlich den Bling geborenen  zeigt er sich entschieden nicht als ein niederer. Worauf gründet sich nun jene Einteilung? Von jeher hat man beobachtet, daß sich der Mensch im Bereich des Sichtbaren und Hörbaren höher und vollkommener entwickelt, als auf dem Gebiet dessen, was auf die niederen Sinne einwirkt. Zeigen doch schon die verschiedenen Sprachen, daß wir uns durch das, was wir schmecken, riechen und durch den allgemeinen Empfindungssinn auffassen, wenig ausbilden; denn außer den Wörtern: süß, sauer, bitter, laugenhaft, salzig, fettig, würzig, modrig, dumpfig, schwül, erfrischend, erquickend, ekelhaft - wird es kaum noch viel eigentümliche Bezeichnungen der durch die niederen Sinne wahrnehmbaren Qualitäten geben. Wie dagegen das Sicht- und Hörbare nicht nur an sich die größte Mannigfaltigkeit hat, sondern sich auch sehr verschieden verbinden läßt, so sind die Begriffe, Urteile und Schlüse, die wir dadurch gewinnen, fast zahllos, was zur notwendigen Folge hat, daß auch der Wortreichtum aller Sprachen hier sehr groß ist. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, daß die Qualitäten der Dinge, welche auf die  niederen  Sinne einwirken, ebenfalls sehr mannigfaltig sind, warum also bleibt unsere Entwicklung in Bezug auf sie eine so dürftige? Weil die niederen Sinne das Aufgefaßte nur mangelhaft, zum Teil fast gar nicht festhalten; es fehlt ihnen dazu das nötige Maß der  Kräftigkeit.  An ein gesehenes Bild, an ein gehörtes Wort usw. erinnern wir uns beinahe so deutlich, als hätten wir beides vor Augen und Ohren; wer aber kann sich den Melonengeschmack, den Veilchenduft so vergegenwärtigen, als empfände er diese Eindrücke auf der Zunge oder innerhalb der Nase? Was nun nicht festgehalten wird, kann auch innerlich nicht weiter verarbeitet werden, und so begreift sich, warum vorzugsweise der Gesichts- und Gehörssinn, als die beiden kräftigsten, unsere Seelenentwicklung begründen. Die meiste Kräftigkeit wohnt offenbar in den Sehvermögen; die Hörvermögen stehen ihnen hierin nahe, aber nicht ganz gleich, denn ein fremdes Wort vergessen wir leichter, als eine fremde Gestalt etc. Der Tastsinn besitzt ebenfalls eine bedeutende Kräftigkeit, weshalb namntlich die Blindgeborenen durch denselben viele Kenntnisse erwerben und dauernd festhalten, während ihn die Sehenden gewöhnlich vernachlässigen. - Noch beachte man Folgendes. Schon das kleine Kind will die Uhr, die es schlagen hört, auch sehen, es wendet sich mit den Augen zu ihr hin; und wer möchte den Redner, den er sprechen hört,  nicht  sehen? Nur das Gesehene also befriedigt uns ganz, und wir suchen daher das, was wir durch die übrigen Sinne wahrnehmen, immer auch in den Bereich des Gesichtssinnes zu bringen - ein deutlicher Beweis, daß seine Wahrnehmungen die vollkommensten sind. Er bildet die kräftigsten Spuren und hierdurch wird er zum  Zentralsinn  für die übrigen Sinne, die sich alle an ihn anlehnen.

Demnach folgt: Obgleich die Kräftigkeit der Sinnesvermögen bei  A, B, C  usw. im  Ganzen  größer sein kann, als bei  D, E, F  etc., so hat sie doch bei allen  geistig gesunden  Menschen die  nämliche Abstufung.  Am kräftigsten sind bei allen die beiden höheren Sinne: Gesicht und Gehör; dann folgt in dieser Beziehung der Tastsinn, der sich bei den Sehenden nur deshalb wie ein niederer verhält, weil sie ihn wenig gebrauchen und ausbilden. Entschieden schwächer zeigt sich dann der Geschmacks-, noch schwächer der Geruchs- und der Vitalsinn, wobei letzterer bei jedermann der kraftloseste ist. - Die Blödsinigen, wenn sie es von Geburt sind, leiden, richtig gesagt, an einer Seelen unvollkommenheit,  nicht an einer Seelenkrankheit, die nur bei früher Seelengesunden eintreten kann. Der  angeborene  Blödsinn besteht nämlich, abgesehen von den physischen Verhältnissen, in einer großen Schwäche der Seh- und Hörvermögen, so daß dieselben nichts ordentlich festhalten, obgleich ihre Reizempfänglichkeit gewöhnlich wie bei Gesunden vorhanden ist. Man kann also bei solchen Menschen gar nicht von höheren Sinnen reden.

Die Tiere, auch die edleren, besitzen in keinem ihrer Sinne die  menschliche  Kräftigkeit; ihre Seelenvermögen sind allesamt  niedere,  denn sie bewahren das Gesehene und Gehörte höchstens so, wieder Mensch das Geschmeckte und Gerochene festhält, und daher sind Tier- und Menschenseele schon von Haus aus völlig verschieden. Daß manche Tiere reizempfänglichere Sinne besitzen, als der Mensch, kann ihnen wenig nützen, da alle Fortbildung Kräftigkeit voraussetzt. -


§ 13.

Außer der Reizempfänglichkeit und Kräftigkeit besitzen die Sinnesvermögen noch eine dritte Eigenschaft, die sich in den verschiedenen Graden der  Schnelligkeit  offenbart, womit sie die äußeren Reize auffangen und aneignen. Es ist das die Folge des ihnen angeborenen  Strebens;  denn alles Lebende strebt, und die Seele ist ja nichts Totes oder Mechanisches, sie ist ein Wesen, dessen Kräfte ein noch weit höheres Leben haben, als die Kräfte des Leibes. Hält man einem nicht mehr ganz kleinen Kind (und bei jedem Erwachsenen kann man dieselbe Erfahrung machen) die Augen oder Ohren zu, so wird es die Hände bald wegschieben, denn seine Sinne wollen tätig sein; sie streben nach den Reizen, die sie zu ihrer Entwicklung, gleichsam zu ihrer Ernährung bedürfen, und für welche daher auch der Schöpfer gesorgt hat. Wenn wir daher von der  Lebendigkeit  der physischen Urvermögen sprechen, so meinen wir das mehr oder minder rasche Streben, das ihnen anerschaffen ist. In dieser Beziehung teilt man die Menschen in Sanguiniker und Phlegmatiker ein - eine Unterscheidung, bei welcher freilich nicht bloß das rezeptive, sondern auch das motorische Leben nach seinem verschiedenen Tempo in Betracht kommt. Wie es Menschen gibt, in welchen alles, wie man sagt, Leben ist, so finden sich andere, deren Sinnesauffassungen und innere Regungen mit einer gewissen Langsamkeit erfolgen. Wie schnell sieht mancher z. B. beim Lesen! Seine Augen fassen die Buchstaben mit Blitzesschnelligkeit auf, ein anderer hingegen braucht dazu längere Zeit, auch wenn es nicht an vorgängiger Übung gefehlt hat. Ebenso hören manche sehr schnell, andere offenbar langsamer, doch dürfte wohl unbestreitbar sein, daß bei allen Menschen der Gehörsinn der schnellste ist. Die flüchtigsten Töne der Musik vernimmt auch das langsame Ohr, falls es nicht ganz ungeübt ist, und so schnell die Laute in den Silben und Wörtern aufeinander folgen, sie werden in der Regel alle aufgefaßt. Der Taststinn steht auch bezüglich seiner Lebendigkeit den beiden höchsten Sinnen am nächsten. Bei den Geschmacks-, Geruchs- und Vitalauffassungen kommen große Unterschiede in der Lebendigkeit weniger vor, wie es auch überhaupt unmöglich sein möchte, schnell hintereinander erfolgende Eindrücke  verschiedener  Art in den niederen Sinne genau aufzufassen und zu unterscheiden. Die Vermögen derselben sind augenscheinlich bei allen Menschen trägerer Natur.

Jetzt frage man sich, ob man die Seele bei der  Geburt  des Menschen eine  völlig leere  nennen könne. Sie hat da allerdings noch nichts von außen aufgenommen und jedenfalls ist sie daher alas eine  gegenständlich  oder  objektiv  leere zur Welt gekommen. Aber als eine "tabula rasa" (leere Tafel) ist sie gewiß nicht zu bezeichnen. Die angeborenen Eigenschaften der  Reizempfänglichkeit, Kräftigkeit  und  Lebendigkeit  sind ein sehr bedeutsamer  subjektiver  Inhalt, der bei allem mitwirkt, was ihr von außen her zuteil wird. Man denke sich nur zwei Menschen nebeneinander, von welchen der eine die genannten Ureigenschaften in hohem, der andere in geringerem Grad besitzt, welchen weitgreifenden Einfluß muß das auf ihre Entwicklung ausüben! Bei stumpfer Reizempfänglichkeit wird wenig aufgenommen, bei geringer Kräftigkeit geht am Aufgefaßten viel verloren, und bei Mangel an Lebendigkeit eilt nicht nur das Flüchtige unaufgenommen vorüber, sondern auch die Verarbeitung und Fortbildung des Aufgefaßten bleibt eine sehr langsame. Der Eine wird also ganz anders fortschreiten, als der andere, der Begabtere sich höher entwickeln, als der minder Begabte; denn was wir  Anlagen, Begabung  nennen, besteht im Naturgeschenk jener Ureigenschaften, nicht in einer besonderen Art von Kräften. Anfangs sind diese Anlagen kaum zu bemerken, aber sie sind da, und da sie sich allem aufprägen, was in der Seele wird, so müssen die objektiv gleichen Produkte einen immer mehr wachsenden  subjektiven  Unterschied bei den verschiedenen Menschen annehmen, welcher der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit jener inneren Faktoren entspricht. - Weiter unten werden wir finden, daß die Urvermögen, welche die Seele täglich als neue gewinnt, ganz im Charakter der ersten auftreten.


§ 14.

In der menschlichen Seele gibt es ncht bloß Kräfte mit Eigenschaften, sondern auch  Gesetze Drei dieser Gesetze sind uns im Vorigen bereits stillschweigend begegnet. Es sind die Gesetze der  Reizaneignung,  der  Spurenfortdauer  und des  Reizentschwindens.  - Unter einem Naturgesetze versteht man nämlich ein solches Geschehen, einen solchen Vorgang (Prozeß), welcher sich, er mag eintreten, wann und so oft er will, ohne Ausnahme gleich bleibt. Vorgehen, geschehen kann aber nur etwas, wo Kräfte sind, welche  wirken;  wirken sie stets auf die nämliche Weise, so wirken sie regelmäßig, und diese Regelmäßigkeit nennt man ihr (anerschaffenes) Gesetz. So bewegt sich z. B. der Ziegel, wenn er vom Dach getrennt wird, nie nach oben sondern stets nach unten, und man sagt nun: er gehorcht dem Gesetz des Falls. Solche Gesetze herrschen, wie in der Außenwelt, so auch in der Seele, und sie sind hier  geistige  Gesetze. Wo sie gestört werden, tritt Wahnsinn oder eine sonstige Seelenkrankheit ein.

Daß also die Urvermögen, um sich zu entwickeln, zunächst äußere Reize von den Gegenständen her aufnehmen und aneignen, ist ein ihnen angeborenes Grundgesetz (sie sind der Reize  bedürftig).  Daß sie die so gewonnene Entwicklung auch im unbewußten Zustand bewahren, d. h. als Spuren fortdauern, ist ein zweites Grundgesetz derselben, und daß der aufgenommene Reiz ihnen nicht vollständig verbleibt, sondern immer ein Teil desselben (der nicht  fest  angeeignete) wieder entschwindet, ist nicht minder ein in ihrem Wesen begründetes drittes Gesetz. Letzteres werden wir im Folgenden unter einem anderen Namen genauer kennen lernen (§ 22). Ein viertes Grundgesetz, das sich, so weit es schon im Bereich der Sinne waltet, den drei genannten nahe anschließt, ist das Gesetz der  gegenseitigen Anziehung des Gleichartigen.  Wir bemerken darüber vorderhand Folgendes.

Man nenne einen Deutschen, der nicht Lateinisch kann, das Wort  imperator,  und es wird ihm nichts dabei einfallen. Man nenne ihm aber das Wort  Kaiser,  und er wird sagen: das kenne ich, es ist der Titel gewisser Regenten. - Ganz natürlich! Denn er trägt Spuren von den Lauten, die in diesem Wort liegen, in seiner Seele, weil er es früher oft gehört hat. Jetzt vernahm er diese Laute wieder und sie wurden von den gleichartigen Spuren, und von keinen anderen, angezogen; diese Spuren wurden dadurch erregt, und so erkannte er das Wort auf der Stelle. - Wir sind an dergleichen Erscheinungen so sehr gewöhnt, daß wir nicht mehr fragen: wie geht es dabei zu? Höchstens spricht man: die Erinnerungskraft hat hier gewirkt. Aber diese Erinnerungskraft konnte, wenn sie vorhanden wäre, hundert andere Wörter ins Bewußtsein rufen, denn jeder Erwachsene trägt ja einen großen Reichtum an sehr verschiedenen Wörtern in sich. Warum geschah das nun nicht? Mit den Vorstellungen von Sachen, die wir gesehen haben, geht es ähnlich. Sehe ich jetzt ein neues Haus, so könnte mir die angebliche Erinnerungskraft ganz fremdartige Vorstellungen dazu erwecken, z. B. Fisch, Zitrone, Baum etc., denn ich trage dieselbe wie tausend andere in mir. Aber nur die Vorstellung Haus wird wach, weil die Lichtreize, die jetzt von diesem Haus her auf meinen Gesichtssinn einwirken, im Ganzen dieselben sind, wie bei früher gesehenen Häusern. Es müßte also das  Un gleichartige sich gegenseitig anziehen und erregen, wenn mir fremdartige Spuren jetzt bewußt werden sollten. Das geschieht nicht, solange das Gesetz der gegenseitigen Anziehung des Gleichartigen ohne Störung bleibt. Dasselbe wirkt sicher, und die Reize brauchen daher keine Marschroute zu bekommen, um bei der rechten Behörde in der Seele anzugelangen. Eine besondere Erinnerungskraft müßte  alles  konfus erregen, wenn sie krank geworden ist, nicht bloß Einzelnes, wie es z. B. bei Wahnsinnigen vorkomt, denen die Anschauung ihrer Beine die Vorstellung von Glas erweckt, und die sich daher einbilden, ihre Beine seien aus Glas, während sie über alles andere ganz vernünftig urteilen.

Manchmal aber erregen die Reize doch falsche Spuren, ohne daß man geisteskrankt ist, z. B. wenn man einen Fremden als einen Bekannten begrüßt, weil man ihn im Augenblick für einen solchen hält. Allein es behauptet niemand, daß nur das  streng Gleich  sich gegenseitig anziehe, sondern schon das  Gleichartige  tut es, folglich auch das  Ähnliche Daher die bekannten Redensarten: das fühlt sich an wie Seide; das klingt wie Weinen; das schmeckt wie Essig; das riecht wie Honig usw. Dinge, die man zum ersten Mal sieht, Wörter, die man zum ersten Mal hört etc., nennen wir  fremd;  sie lassen uns völlig im Ungewissen, im Dunkeln, weil die neue Wahrnehmung keine entsprechenden Spuren in uns vorfindet. Genug: schon im Bereich der Urvermögen herrscht das Gesetz:  das Gleichartige zieht einander an. 


§ 15.

Von den noch unentwickelten Urvermögen, die wir in uns tragen, haben wir alle kein Bewußtsein; wir gleichen in  dieser Beziehung  ganz dem neugeborenen Kind, dessen Seele noch durch und durch bewußtlos ist. Auch die Spuren sind als solche   bewußt, aber nicht bewußt los,  d. .  leer  an Bewußtsein. Das Bewußtsein, das sie als bereits entwickeltes in sich tragen, schweigt, pausiert nur, solange sie unerregt sind. Es lebt sofort auf, sobald sie erregt werden: es  reproduziert  sich, wie man sagt. In den Urvermögen muß sich das Bewußtsein erst  erzeugen,  um dann auch im unerregten, gleichsam gebundenen Zustand fortdauern zu können. Wenn man sagt: die  Spuren  reproduzieren sich, so sind also damit die  entwickelten  Vermögen gemeint, insofern sie von Neuem bewußt werden. Die  Erzeugung  des Bewußtseins ist daher ein ganz anderer Vorgang, als die  Reproduktion  desselben oder der Spuren, wie auch das  Anwachsen  des Bewußtseins zu größerer Stärke ein anderes Geschehen ist. Es fragt sich nun: was hat es mit der  Erzeugung  und der  Verstärkung  des Bewußtseins für eine Bewandtnis? und wodurch wird das entstandene zeitweilig zum Pausieren gebracht?

In der ganzen Natur wird bekanntlich nie Etwas aus Nichts, und auch in der Seele kann es nicht anders sein. Brächte daher die menschliche Seele nicht schon den Keim, die Anlage zur Entstehung des Bewußtseins bei der Geburt mit, wie könnte es sich entwickeln? Den äußeren Reizen kann sie es nicht zu verdanken haben, denn diese bringen entschieden kein Bewußtsein mit; die Erfahrung lehrt aber:  Urvermögen  und Reize, beide für sich selber unbewußt, geben in ihrer Vereinigung Bewußtsein;' so lautet das hier waltende Seelengesetz. Wenn jedoch der eigentliche Grund hiervor nur in der Seele liegen kann, worin besteht er ? Wodurch wird ferner das Bewußtsein stärker und stärker? - Man erwäge folgende Beispiele.

Als wir zum ersten Mal in die Schule gingen, besaßen wir von den Buchstaben kein Bewußtsein. Der Lehrer ließ uns aber z. B. den Buchstaben  A  anschauen; ein einzelnes Sehvermögen nahm den vom  A  ausgehenden Lichtreiz auf und verband denselben mit sich; so entstand uns die erste Spur von der Gestalt dieses Buchstabens. Wir  wußten  nun, wie das  A  aussieht, aber wir wußten es  äußerst dunkel.  Am nächsten Tag (überhaupt das nächste Mal) wurde diese Auffassung wiederholt und dadurch  ein anderes einzelnes  Sehvermögen ausgebildet. Die Spur von der vorigen Auffassung wurde als gleichartige miterregt; wir besaßen nun  zwei  vereinigte Spuren, von denen jede nur ein ganz schwaches Bewußtsein enthielt, aber wir bemerkten schon ein wenig, daß uns das  A  jetzt deutlicher erkennbar war, als früher. Die dritte Auffassung bildete ein  drittes besonderes  Sehvermögen aus; zu der neuen Spur, wie wir so abermals gewannen, gesellten sich die beiden vorigen, und so ist es fortgegangen, bis uns das  A  seiner Gestalt nach mit vollem Bewußtsein in der Seele stand. Wie viele Spuren hierzu erforderlich waren, kann niemand sagen, aber man rechne zurück und man wird finden, daß sie bei den meisten Gebilden in die Hunderte, ja wohl in die Tausende gehen. Von den übrigen Buchstaben mußten wir auf gleiche Weise besondere Spuren erwerben und nur mit deren Vermehrung verstärkte sich das Bewußtsein für dieselben. Wären die Spuren nicht nach ihrer  Gleichartigkeit  zusammengeflossen, sondern z. B. die von  F  mit den Spuren von  M,  welche Verwirrung würde das gegeben haben! Glücklicherweise entgingen wir einem solchen Nachteil durch das uns schon bekannte Gesetz, welches zugleich erklärt, warum uns das Zusammengesetzte als einfach vorkommt. Kann sich das zur innigsten Einheit Verschmolzene unmittelbar als ein Mehrfaches kundgeben? Aber das Stärkerwerden der Seelengebilde setzt eine Vermehrung ihrer Elemente voraus, denn aus Nichts wird Nichts. Als wir singen lernten, wurden alle einzelnen Töne auf die nämliche Weise gesondert erworben, wenn sie auch, wie meistenteils, sich sehr bald zu ganzen Melodien verbanden; aber die Spuren entwickelten sich hier im Gehörsinn, folglich in Vermögen ganz anderer Art. Gleiches gilt vom  Klang  der Buchstaben, und wir haben daher in der Leselehrstunde immer  zweierlei  Spuren von jedem Buchstaben gleichzeitig erworben, denn der Lehrer brachte uns ja auch den  Laut  desselben zu Gehör.

Daß wir schon von anderen Dingen Bewußtsein besaßen, als wir anfingen in die Schule zu gehen, nützte uns für die Buchstaben nichts, wir mußten für dieselben das Bewußtsein von vorn gewinnen. Woraus entstand es nun? Welches war der  Keim  in der Seele, aus welchem es sich hervorbildete? Lediglich die angeborene  Kräftigkeit  der Sinnesvermögen. Je größer diese, desto mehr führt sie zu einem klaren Bewußtsein. Das hat sich uns schon im Vorigen mehrfach herausgestellt; der Unterricht bestätigt es am vollsten. Wie schwer fällt es den Seelen mit schwachem Urvermögen (bei den sogannten "Schwachköpfen"), ein klares Bewußtsein zu erzeugen! Sie halten die Eindrücke wenig fest, darum müssen sie mit dem, was sie sich für den Augenblick bewußt vorstellen, immer wieder von vorn anfangen. Noch deutlicher zeigt sich das an den Tieren, denen ja (selbst den edleren) die menschliche Kräftigkeit durchaus fehlt. Sie werden sich daher wohl der augenblicklichen Eindrücke bewußt, bringen es aber zu keinem wachsenden, dauerhaften und klaren Bewußtsein. Es entstehen ihnen nur mangelhafte oder gar keine Spuren, weil das Aufgefaßte meist gänzlich entschwindet. Nur kräftige Vermögen, welche den Reiz gut festhalten, bewahren sich die  bestimmte  Bewußtseinsentwicklung, die als  fertiges  Bewußtsein auftritt, wenn sie (als Spuren) zu neuer Erregung gelangen. Was wir  pausierendes  Bewußtsein nennen, ist Fortdauer der speziellen Entwicklung der Vermögen, so daß sie, auch wenn sie mit dem Verlust der jetztigen Erregung wieder unbewußt werden, doch die  erlangte  (gegenständliche)  Ausbildung  damit nicht einbüßen. Die niederen Sinne des Menschen sind zur Festhaltung einer solchen Ausbildung ebenfalls ziemlich unfähig, und ein pausierendes Bewußtsein gewinnen sie daher auch wenig oder gar nicht. Wohl entsteht bei starken Eindrücken oft ein sehr lebhaftes Bewußtsein in ihnen, wie namentlich der Schmerz beweist, der damit gern verbunden ist; aber erhält sich dieses Bewußtsein so, daß wir es später erneuern könnten, wie uns das in den höheren Sinnen möglich ist? Wir wissen recht wohl, wie uns erlittene Schläge weh taten, aber wir verdanken dieses Wissen mehr den Bewußtseinsakten, die gleichzeitig in den höheren Sinnen erregt waren; in den niederen kehrt die Schmerzempfindung (glücklicherweise!) nicht von fern in der früheren Stärke zurück. Genug: das Bewußtsein einzelner Gebilde erlischt zeitweilig,  weil  es sich nur so lange behaupten kann, als die Vermögen erregt sind.' Mit dem Abbrechen des Reizes hört diese Erregung auf; das entwickelte Vermögen wird zum unbewußten, nicht aber zum bewußt losen  in der Art, wie es vor der Entwicklung war. Bei einer erneuten Erregung tritt es so weit als ein vervollkommnetes auf, als es sich die erlangte Ausbildung bewahren konnte.

In der Bewußtseinsfähigkeit wurzelt übrigens zugleich die  Geistigkeit,  denn man schreibt nur denjenigen Seelen Geist im eigentlichen Sinne dieses Wortes zu, in denen sich ein klares Bewußtsein entwickelt und behauptet. Hieraus folgt, daß die Seelen der Tiere durchaus als  ungeistige  zu bezeichnen sind, und auch die Seele des Menschen ragt mit ihren niederen Systemen nicht in das Gebiet reiner Geistigkeit hinauf.

Die Erfahrung lehrt also augenscheinlich: das Bewußtsein  entsteht,  wenn die Urvermögen Reize mit sich vereinigen, und je inniger und dauerhafter diese Elemente miteinander verschmelzen, desto vollkommener entsteht es. Der tiefste Grund von den teils stärkeren, teils schwächeren Bewußtseinserscheinungen liegt jedoch in den Urvermögen. Anfänglich bilden sich noch keine bestimmten  Sinneswahrnehmungen,  sondern nur  Sinnesempfindungen  aus, d. h. solche Akte, deren Bewußtsein nur ein schwaches, dunkles ist. Erhalten sich diese Akte vollkommen als Spuren, so  wächst  das Bewußtsein des so entstehenden Gebildes zu immer größerer Stärker an, denn die gleichartigen Spuren fließen zusammen. Die Empfindung wird dann allmählich zur deutlichen  Wahrnehmung  oder zu dem, was man mit einem allgemeineren Ausdruck  Vorstellung  nennt. Der Gegenstand, von welchem die Reize ausgingen, stellt sich dann von Neuem gleichsam vor uns hin, auch wenn wir die Anschauung von ihm nur rein innerlich zurückrufen, und aus dieser Tatsache ist das Wort  Vorstellung  entstanden. Daß übrigens auch auf das Maß (die rechte Stärke) des Reizes viel ankommt, wenn sich das Bewußtsein gut erzeugen und erhalten soll, wird im Folgenden zutage treten.
LITERATUR - Johann Gotllieb Dreßler, Die Grundlehren der Psychologie und Logik - ein Leitfaden zum Unterricht in diesen Wissenschaften für höhere Lehranstalten sowie zur Selbstbelehrung - Leipzig 1872