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Die Existentialtheorie der Wahrheit und der Psychologismus der Geltungslogik
1. Der Stand der Forschung und der erste Sinn des Wortes "Psychologismus"
Oder etwa doch nicht? Ist eine Darstellung wie die eben fingierte nicht vielleicht dennoch ausgesprochen "standpunktlicher" Art und also einseitig? und folglich in ihrer Einseitigkeit falsch? am Ende sogar fundamental verkehrt? Daß ein solches "Oder" und ein solches "Vielleicht" möglich ist und bei näherer Betrachtung zuletzt sogar recht beachtlich wird, kennzeichnet die ganze ungeheuerliche Zerfahrenheit der Lage, in der sich die wissenschaftliche Philosophie zur Zeit befindet. Will man sich von dieser Zerfahrenheit frei machen und zugleich das Odium standpunktlicher Voreingenommenheit nach Möglichkeit von sich fernhalten, so bleibt nur der Weg der historischen Orientierung. Sie ist in unserem Fall auch aus anderen Gründen eine dringende Notwendigkeit. Denn gerade die weitaus verbreitetste Auffassung der philosophischen Entwicklung in Sachen des Wahrheitsproblems bedarf im entscheidenden Punkt der Berichtigung. Am Ende des vorigen Jahrhunderts - so ungefähr lautet diese Auffassung - war eine klare Fassung und folglich erst recht eine Lösung des Wahrheitsproblems für die Mehrzahl der Forscher unmöglich geworden. Man hatte sie sich verbaut. Durch die damals auf naturwissenschaftlicher Grundlage neu auftretende Psychologie und die überschwänglichen Hoffnungen, die sich zu jener Zeit gerade im Hinblick auf philosophischer Fragen an sie knüpften, wurde eine vorurteilslose Behandlung des Wahrheitsproblems auf lange Zeit hinaus verhindert: denn daß diese in Logik und Erkenntnistheorie ihre naturgemäße Stellung finden mußte, war ja wohl selbstverständlich. Beide Wissenschaften galten aber damals, wenn nicht geradezu als psychologische Teildisziplinen, so doch jedenfalls als solche, die sich in offenkundiger Abhängigkeit von dem neuen, in seinem Umfang, wie es schien, jetzt erst klar erkannten Wissensgebiet befanden. Man ergründet ja ohne Zweifel das Wesen der Wahrheit, indem man die Gesetze ergründet, durch die und in denen sie uns offenbar wird, d. h. also die Gesetze des Denkens und Erkennens, die sich folglich sehr deutlich als Gesetze psychologischer Vorgänge charakterisieren. Und so schien es dann ohne weiteres einzuleuchten, daß eine Inangriffnahme des Wahrheitsproblems ohne Heranziehung der Psychologie unmöglich ist. Ja, die Verbreitung von dergleichen irrtümlichen Gedankengängen war so groß, daß sie sogar einige namhafte Anhänger des größten und durch alle Zeiten erfolgreichsten Gegners jeder Art von "Psychologismus" - so nannte man später solche Lehren - daß sie also sogar einige Kantianer zu verwirren vermochten. Es bedurfte erst eines sehr eindringlichen Sichversenkens in die Grundgedanken der kantischen Position, einer Besinnung auf ihren tiefsten und gerade wegen seiner Tiefe verborgenen Lehrgehalt, um nicht nur gegen alle psychologischen Anwandlungen gefeit zu sein, sondern um vor allem auf der so geschaffenen Basis der Lehre von der Objektivität und unbedingten Geltung der Wahrheit in völlig eindeutiger Klarheit aufbauen zu können. So arbeitete die Marburger Schule die Lehre vom reinen, das Sein bestimmenden Denken heraus, durch die eine von jeder und also auch und besonders von jeder psychischen Erfahrung freie Logik gesichert schien: die logischen Gesetze, die Gesetze der Wahrheit und folglich die "objektive" Wahrheit selbst waren vor psychologischen Beimengungen geschützt. Vor allem aber bemühte sich die südwestdeutsche Schule im Anschluß an LOTZE um die Lehre von einem allem Sein scharf entgegengesetzten "Gelten" der Wahrheit. Die Psychologie hat es wie alle Erfahrungswissenschaften mit dem realen Sein zu tun, die Philosophie mit etwas gänzlich anderem: mit allgemeingültigen Normen und insbesondere die Logik mit den Normen des Denkens.
Am eindrucksvollsten aber hat nach herrschender Auffassung HUSSERL die Lehre vom reinen "Gelten" der Wahrheit verkündet - auch er stark von LOTZE beeinflußt, hie und da an BOLZANO anknüpfend, jedoch im Übrigen bei der Fortführung seiner Arbeiten mit zunehmender Deutlichkeit der unabweisbar engen Beziehung des eigenen Standpunktes zu dem von KANT und seinen Anhängern eingenommenen sich bewußt werdend. (3) Also in kurzer Formulierung: Zwei Richtungen scheinen sich einander gegenüberzusetzen, der Psychologismus auf der einen, der mit LOTZEs Gedanken verbündete Kantianismus auf der anderen Seite. Und der Sinn des Wortes "Psychologismus" wird dabei als eine Lehrmeinung gefaßt, die der Diskussion psychologischer Probleme in philosphischen und besonders logisch-erkenntnistheoretischen Fragen eine wesentliche oder wohl gar grundsätzlich entscheidende Stelle einräumt. Das - der Hauptsache nach bereits erreichte - Ziel des Kantianismus ist es, den Psychologismus zu überwinden, also die Philosophie von der Psychologie zu trennen und auf diese Weise dann das Wahrheitsproblem seiner Lösung entgegenzuführen. - Diese, d. h. die übliche Darstellung ist in entscheidenden Punkten falsch und zwar sowohl historisch wie sachlich. Es war ganz gewiß nicht der Kantianismus, der die neuen Wege im Hinblick auf das Wahrheitsproblem gewiesen hat: weder der historische noch der moderne. Freilich wurde durch KANTs Auflösung des Gegenstandes oder wohl richtiger der Gegenständlichkeit in ein transzendental-logisches Gefüge apriorischer Gesetzmäßigkeiten die Wahrheit sehr wesentlich mitbetroffen: die altehrwürdige Ansicht, welche deren eigentliches Wesen in der Übereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand zu erfassen hoffte, sank zu einer bloßen "Namenserklärung" herab, und als tiefsten Grund, ja als Quelle der Wahrheit trat nunmehr auch hier das neu erarbeitete Moment hervor: sie wird zur Übereinstimmung mit den apriorischen "Verstandesgesetzen", den "Grundfaktoren der Erkenntnis", wie sie später NATORP, den "allgemeingültigen Normen" des logischen Denkens, wie sie WINDELBAND genannt hat (4). Ist nun aber dies die Lehre von der überzeitlichen Wahrheit ansich? Der Unvoreingenommenen wird das schwerlich behaupten. Freilich: Keime und vielleicht in einzelnen Wendungen auch Ansätze dazu wird er gewiß entdecken können. Aber weit besser entwickelt findet er dergleichen Keime und Ansätze am Ende doch gerade in vorkantischer Zeit, besonders wohl in LEIBNIZ' Schriften (5), und es ist sicher kein Zufall, daß ein Anhänger des LEIBNIZ und ein Gegner KANTs war, der - zum ersten Mal mit klarer Erkenntnis der Tragweite der Sache - die "Wahrheiten ansich" in die philosophische Literatur einführt: BERNHARD BOLZANO (6). Dieser gründliche und stets von höchstem Gerechtigkeitssinn erfüllte Denker nennt bei der Aufzählung seiner Vorgänger LEIBNIZ an erster Stelle - KANT erwähnt er überhaupt nicht. (7) Aber BOLZANO war - als Philosoph zumindest - verschollen und wäre sicher verschollen geblieben, hätten in neuer Zeit sich nicht unabhängig von ihm Tendenzen entwickelt, die der Wiederaufnahme seiner wichtigsten Grundanschauungen günstig sein mußten. So war es in der Tat; und dabei ist zweierlei bemerkenswert: erstens nahmen auch diese Tendenzen von einer ausgesprochen kantgegnerischen Seite ihren Ausgang, zweitens aber - und das ist besonders wichtig - flossen sie aus einem entschiedenen "Psychologismus" heraus, zumindest wenn man dieses Wort in dem üblichen, oben schon dargelegten Sinn nimmt und also mit ihm alle die Bestrebungen zusammenfaßt, welche einen fruchtbaren Betrieb der philosophischen Fundamentaldisziplinen - Logik und Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik - ohne Heranziehung der Psychologie für unmöglich halten. Wir meinen natürlich die gewaltigen Anregungen, die die philosophische Wissenschaft FRANZ BRENTANO zu verdanken hat. Ein wie entschiedener Gegner der kantischen Philosophie BRENTANO war, weiß jeder, der seine "Vier Phasen" (8) gelesen hat; und nicht minder war er Psychologist - ausgesprochener Vertreter des Psychologismus, sofern nur eben das wort in dem von mir oben fixierten und innerhalb der kantischen Schulen allgemein vertretenen Sinn gefaßt wird. Aber noch mehr: nur weil er - in diesem Sinne - Psychologist war, konnte er die Lösung des Wahrheitsproblems so fördern, wie er sie tatsächlich gefördert hat. Denn - um es einmal mit aller Bestimmtheit auszusprechen - der übliche Kampf gegen den so gekennzeichneten Psychologismus ist einfach grober Unfug: er beruth auf den ungeheuerlichsten Unklarheiten. Philosophie generell ohne Psychologie betreiben zu wollen heißt in der Tat nichts anderes, als sich durch Verzicht auf das unentbehrlichste Hilfsmittel systematisch zur Unfruchtbarkeit zu verurteilen. Man nehme die ethisch-ästhetische Problemgruppe: Will man eine Ethik aufbauen ohne von Gesinnung, von Wollen, von Motiven zu reden? oder eine Ästhetik ohne den Begriff des ästhetischen Genießens und Wertens? Natürlich nicht. Aber man scheint es für möglich zu halten, dabei der wissenschaftlichen Psychologie, die selbstverständlich hier nur ganz allgemein die Beantwortung psychologischer Fragen nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten bedeutet, vollkommen entraten zu können - was doch nur heißen kann, daß man entschlossen ist, die groben und oberflächlichen Distinktionen der Vulgärpsychologie denjenigen vorzuziehen, welche die wissenschaftliche Analyse bereitstellt! Und nicht anders steht es mit der Logik und der Erkenntnistheorie. Zunächst sei an BOLZANO erinnert, der ja manchen noch als der extremste Typus des "Anti-Psychologisten" erscheint und der doch ausdrücklich anerkannt hat (9), daß "die Logik, wenn sonst von keiner anderen Wissenschaft, wenigstens von der Psychologie abhängig ist". Es bedarf in der Tat nur schlichter Unvoreingenommenheit, um zu sehen, daß gerade die grundsätzlich wichtigsten Fragen des logisch-erkenntnistheoretischen Problemkreises sich nur durch eine ausgiebige Heranziehung psychologischer Untersuchungen entscheiden lasen. Selbst wenn man - prononziert anti-psychologistisch - die logischen Gesetze als überindividuelle Normen auffaßt, nach denen sich das individuelle Denken richtet, treibt man offenkundig Psychologie. Denn man muß erstens den schwierigen Begriff der überindividuellen Norm klarstellen und wird das nur können, wenn man zuvor den ihr antagonistischen des psychologischen Gesetzes klargestellt hat - eine Aufgabe, die, wie wohl sicher die vergleichsweise weniger schwierige, doch gewiß nicht so selbstverständlich leicht ist, wie sie manchen zu sein scheint. Man mag darin nur indirekt psychologische Forschung erblicken, aber zweifellos unmittelbare Psychologie ist es, wenn man nun zweitens den gerade für das genaue Verständnis des Begriffs einer außerpsychischen Norm grundlegend wichtigen Gedanken des individuellen "Sichrichtens nach ..." ins Auge fassen muß, da er zweifellos eine handgreiflich psychologische Tatsache betrifft. Und schließlich wird man ganz allgemein, wenn man das Wesen der wahren Erkenntnis und des richtig Gedachten ergründen will, an einer Analyse des Erkennens und Denkens nicht vorübergehen. Daß beide Korrelate und nur in ihrer gegenseitigen Korrelation überhaupt zu verstehen sind, ist mindestens eine Möglichkeit, an deren eingehender Erörterung niemand vorübergehen darf, dem es mit den Problemen ernst ist. Man verstehe recht: daß das Logische in seinem Kern von allem Psychischen toto coelo [völlig - wp] verschieden und von ihm unabhängig ist, bestreite ich gewiß nicht; es ist aber falsch, daraus auch eine Unabhängigkeit der entsprechenden Wissensgebiete zu folgern und zu meinen, daß psychologische Untersuchungen in der Logik nichts zu suchen haben. Das Gegenteil ist der Fall. Und weil dies von allen Denkern der Gegenwart BRENTANO zuerst klar gesehen hat und weil er zuerst die von aller experimentellen Forschungsweise wohl unterschiedene Besonderheit des psychologischen Verfahrens erkannte und anwandte, das im Dienst dieser Probleme erforderlich war, konnte er für die Erkenntnistheorie und die Philosophie überhaupt das leisten, was er tatsächlich geleistet hat. Denn daß hier hochbedeutsame Leistungen vorliegen, wird jetzt glücklicherweise mit ständig zunehmender Deutlichkeit erkannt. Mit Recht sagt T. K. OESTERREICH, daß BRENTANO es war, aus dessen vielseitigen Anregungen eine der wichtigsten philosophischen Bewegungen der Gegenwart hervorgegangen ist, welche die jüngste Zeit auf deutschem und österreichischem Boden zu verzeichnen hat: die Phänomenologie (10). Nur die verdunkelnde Wirkung der einseitigen Schlagworte Psychologismus und Anti-Psychologismus konnte das bisher nicht klar hervortreten lassen. Und nicht bloß einseitig sind diese Ausdrücke, sondern vor allem vieldeutig. Der Sinn, den wir ihnen bisher im Anschluß an die herrschende Richtung zu geben genötigt waren, ist nicht der einzige und vielleicht nicht einmal der nächstliegende. und der Einfluß Franz Brentanos. Wie manch andere mit "-ismus" endigenden Worte hat auch das Wort "Psychologismus" eine detraktierende Bedeutung. Militarismus heißt nicht einfach Militärwesen, sondern verkehrtes Militärwesen, Militärwesen an unrechter Stelle, analog ist Kapitalismus meist nicht einfach Kapitalwirtschaft, sondern Kapitalwirtschaft an unrechter Stelle und, da im Falle "Psychologismus" die detraktierende Bedeutung von Anbeginn selbstverständlich ist, so wäre auch er also allgemein als Psychologiean unrechter Stelle zu verstehen (11). Bei einer so weiten Fassung ist es dann zumindest ein Problem, ob der Psychologismus im früheren Sinn berechtigt ist oder nicht, ob mit anderen Worten die Psychologie wirklich ganz aus der Philosophie und speziell aus der Erkenntnistheorie verbannt werden muß. Es ist zu untersuchen, ob überhaupt und inwieweit psychologische Untersuchungen (in dem oben angegebenen Sinn) innerhalb der Fragestellungen dieser Wissenschaften berechtigt sind und inwiefern andererseits ein "Psychologismus" vorliegt. Daß dergleichen Untersuchungen in nicht geringem Ausmaß selbst psychologischer Natur sein müssen, ist nach dem oben Gesagten selbstverständlich: mit einer absichtlichen Vermengung beider Begriffe des Psychologismus kann man also paradoxerweise sagen, daß die Überwindung des "Psychologismus" nur durch einen "Psychologismus" zu erreichen ist. Nur ein "Psychologist" wie BRENTANO konnte die Waffen liefern, die nötig waren, um den "Psychologismus" erfolgreich zu bekämpfen. Er hat ihn keineswegs restlos besiegt: es ist wichtig hervorzuheben, daß in manchen wesentlichen Punkten andere klarer gesehen haben als er; in anderen aber und ebenso wesentlichen müssen seine Anschauungen as die fortgeschritteneren gelten. Davon soll nunmehr die Rede sein. Jedermann weiß, daß die psychologische Auffassung des Begriffs der Wahrheit, also die Verkennung ihres absolut "objektiven" Charakters der offenkundigste Beleg dessen ist, was mit Recht als Psychologismus bekämpft werden muß. Gerade hier aber übertraf BRENTANO seine Zeitgenossen an Klarheit. Bereits im Jahre 1889 verkündete er mit aller wünschenswerten Bestimmtheit die Lehre von der Objektivität der Wahrheit. Zu dieser Zeit erschien zunächst der inhaltsreiche Vortrag "Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis" im Druck (12). Freilich wer sich nur an den Text des Vortrags hält, wird - zumindest im Hinblick auf unsere Frage - vielleicht enttäuscht sein. Das Entscheidende steht in einer Anmerkung (13): "ob ich sage, ein affirmatives Urteil ist wahr - heißt es hier - oder sein Gegenstand ist existierend, in beiden Fällen sage ich ein und dasselbe." Aus demselben Jahr stammt ein anderer, bedauerlicherweise bis heute noch ungedruckter Vortrag, der sich speziell mit dem Begriff der Wahrheit beschäftigt (14). Man darf diesen Vortrag als eine völlig eindeutige Absage an alle Denkrichtungen auffassen, die auch noch in unseren Tagen versuchen, die Wahrheit zu subjektivieren und zu relativeren. Er vertieft und erläutert die eben angeführte Grundthese noch mannigfach und gelangt nach lehrreichen polemischen Auseinandersetzungen (insbesondere mit WINDELBAND) zuletzt zu folgender Definition der Wahrheit:
Im Jahr 1894 erschien zunächst TWARDOWSKIs Abhandlung "Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen" (15), in der zum ersten Mal in der neueren Literatur auf BOLZANO verwiesen wird, 1899 folgt MEINONGs Arbeit "Über Gegenstände höherer Ordnung" (16), der Keim der späteren Gegenstandstheorie; 1900 und 1901 HUSSERLs "Logische Untersuchungen" (17) und endlich 1902 TWARDOWSKIs viel zu wenig beachteter Aufsatz "Über sogenannte relative Wahrheiten" - vielleicht die bündigste Widerlegung des erkenntnistheoretischen Relativismus, die bisher in der Literatur vorliegt. (18) und Geltungslogik. Leider ist die Entwicklung nicht geradlinig weitergegangen. Es gewann - wie ja gewiß verständlich - die Richtung den stärksten Einfluß, welche den herrschenden Anschauungen - also dem Kantianismus - verhältnismäßig am weitesten entgegenkam. HUSSERL, der außer von BRENTANO auch noch sehr nachhaltig von PAUL NATORP beeinflußt ist, konnte ohne Schwierigkeit so interpretiert werden, als habe er mit anderen von LOTZE die verwirrende, aber kantische Spuren deutlich verratende Lehre vom "Gelten" der Wahrheit übernommen (19); welche Lehre bekanntlich auch heute noch bei einer großen Anzahl kantisch orientierter Denker ganz außerordentlich beliebt ist. Dennoch ist sie unklar; denn sie führt, wenn man das Wort "Gelten" auch nur einigermaßen in einem vom Sprachgebrauch nahegelegten Sinn anwendet, geradewegs in den "Psychologismus" hinein - freilich nicht in jenen äußerlich gefaßten Psychologismus, von dem ir hier ausgegangen sind und dessen Bezirk man leicht abweisen kann, indem man etwa künstlich das Gebiet des Geltens als das der Philosophie und damit eo ipso [schlechthin - wp] als außerpsychisch definiert, sondern in unserem prinzipiell gefaßten: sie führt mit anderen Worten in eine verkehrte und unhaltbare Psychologie. Denn so mannigfach die Bedeutungen des Wortes "Gelten" auseinandergehen, so haben sie doch bis auf einen noch zu erwähnenden Sonderfall alle die Beziehung auf ein Subjekt gemeinsam. "Das Gelten", sagt HEINRICH SCHOLZ (20) mit Recht - "ist stets ein Gelten für jemanden, für ein Subjekt, das imstande ist, den Inhalt dessen, was gelten soll, zu vernehmen." Und mit Recht nennt darum SCHOLZ den Geltungsbegriff einen charakteristischen Relationsbegriff. Als Grundbedeutung des Wortes "Gelten" wird man vielleicht die des "Für-wert-gehalten-werdens" ansehen dürfen. "Herr X ist ein bedeutender Mensch, aber er gilt nichts" will besagen, daß ein tatsächlich vorhandener Wert nicht für einen solchen gehalten wird. Ist dieser Wert speziell die Wahrheit, so läßt sich ohne weiteres sagen: ein Satz (z. B. der Satz von der Subjektivität unserer Sinnesqualitäten vor seiner Entdeckung) ist wahr, aber er gilt oder galt noch nicht. Das heißt dann nur: er wird oder wurde, trotzdem er tatsächlich wahr ist, nicht für wahr gehalten. Man sieht, wie grundfalsch bei dieser Bedeutung die Behauptung LOTZEs wird, auch ein niemals gedachter Satz könnte Geltung haben. Die Verschwommenheit des Geltungsbegriffs ermöglicht es nun freilich, daß er auch die spezielle Bedeutung des "mit Recht für wertvoll gehalten werdens" annehmen kann. Dann muß natürlich ein wahrer und um seiner Wahrheit willen wertvoller Satz auch gelten. Das kommt aber zuletzt nur auf die Banalität hinaus, daß ein wahrer Satz immter mit Recht für wahr gehalten wird; und da ein nie gedachter Satz auch nie für wahr gehalten werden kann, ganz gleich ob mit Recht oder Unrecht, so erweist sich LOTZEs Behauptung noch immer als verkehrt. Man kann nun allerdings noch weiter gehen: Das mit Recht für wertvoll Gehaltenes ist das "ansich", d. h. abgesehen von diesem Gehaltenwerden Wertvolle - genau wie das mit Recht für viereckig, für dumm, für relativ Gehaltene das in einem analogen Sinn "ansich" Viereckige, Dumme, Relative ist. Und so ist es ganz natürlich, wenn Gelten schließlich die Bedeutung dieses "ansich wertvoll Seins" annimmt. Auch hier folgt dann von selbst, daß für jeden, für den aus irgendeinem Grund eine Wahrheit zu einem Wert wird, diese Wahrheit gelten muß. Aber auch hier hat das Gelten nicht aufgehört, ein "Gelten für ..." zu sein. Weil der Satz S wahr ist, wird er nicht bloß für wertvoll für mich gehalten, sondern er ist tatsächlich wertvoll für mich. Schließlich drängt der häufige Spezialfall des Geltens im Sinne von "mit Recht für wahr gehalten werden" den Sprachgebrauch dahin, beides zu identifizieren, und als letztes Stadium ergibt sich endlich die Gleichsetzung von Gelten und Wahrsein selber - und sie ist höchst begreiflich, da der einzig zureichende Grund für das mit Recht für wahr Gehaltenwerden eines Sachverhalts die Wahrheit dieses Sachverhaltes selbst ist, womit natürlich die hier selbstverständlich obwaltende sachliche Verschiedenheit nicht aufgehoben, sondern vorausgesetzt ist: unzweifelhaft gibt es über vieles, z. B. über die Anzahl aller im vorigen Herbst im Gebiet des Deutschen Reiches gewachsenen Weinbeeren eine Wahrheit, ohne daß diese Wahrheit bekannt zu sein, d. h. von irgendjemand gedacht und also auch mit Recht für das, was sie ist, nämlich eine Wahrheit gehalten zu werden braucht. Aber für den unexakten Sprachgebrauch ist in der Tat Gelten und Wahrsein oft so gut wie identisch. Offenbar scheint es nun, als sei dies LOTZEs Geltungsbegriff. Nur wenn man Gelten und Wahrsein gleichsetzt, hat es einen Sinn zu sagen, der Inhalt eines wahren Satzes gilt, auch wenn ihn niemand denkt (21): er bleibt eben auch dann ein wahrer Satz. Gleichwohl ist das eine ungenügende Interpretation von LOTZEs Standpunkt. Er redet nicht bloß von geltenden Sätzen, sondern auch oft genug und in dem offenbaren Glauben, damit Wesentliches hervorzuheben, von geltenden Wahrheiten (22) - einer offenbaren Tautologie, wenn für ihn Wahrsein und Gelten restlos zusammenfallen würde. Denn nicht von Wahrheiten braucht gesagt zu werden: sie gelten, wenn Gelten Wahrsein bedeutet, wohl aber von Sätzen. Es scheint also doch in LOTZEs Geltungsbegriff ein Faktor zu stecken, der über das Wahrsein hinausgeht. Und auch sonst dürfte es nicht gegen den Sprachgebrauch sein, von Wahrheiten das Gelten noch besonders hervorzuheben. Immer schimmert der Wertbegriff durch den Geltungsbegriff hindurch. "Der pythagoräische Lehrsatz galt vor seiner Entdeckung" heißt nicht nur schlicht: er war wahr, sondern zugleich: er war eben gemäß seiner Wahrheit schon damals ein wertvolles, d. h. irgendwelche menschlichen Ziele irgendwie förderndes Etwas: er würde um seiner Wahrheit willen in einem beliebigen Zeitpunkt vor seiner Entdeckung den Menschen, falls es solche damals gegeben hat und sie ihn gekannt hätten, die Förderung ihrer Ziele gebracht haben, die ihnen eben Wahrheiten zu bringen pflegen. Das normative Moment, mit dem die Wahrheit dadurch in Verbindung gebracht wird, hat LOTZE gekannt und nur leider durch das Hineinspielen einer verschwommenen Metaphysik zugleich wieder verdunkelt: gerade einer solchen Verschwommenheit wegen war aber der unklare und vieldeutige Ausdruck Gelten adäquat (23); und es war nur konsequent, wenn die Nachfolger LOTZEs den Wert- und Normgedanken der Geltung energischer herausarbeiteten als er selbst und so zuletzt als logischen Ort der Geltung und der - als Wert behaupteten - "Wahrheit ansich" ein überindividuelles Bewußtsein als Normbewußtsein (24) forderten. Das alles ist nun ohne allen Zweifel offenkundiger Psychologismus - das Wort natürlich wieder in unserem zweiten Sinn genommen. Oder will man Psychologismus nur da finden, wo von einem individuellen empirischen Bewußtsein die Rede ist? Aber "Bewußtsein" ist eben doch ein psychologischer Begriff und bleibt ein solcher unter allen Umständen. Zudem ist es uns nur von uns selbst her bekannt und also primär gewiß nicht überindividuell. Wer ein überindividuelles Bewußtsein einführt, treibt damit Psychologie und zwar in verkehrter Weise und darum vielleicht an falscher Stelle, wenn er es etwa versäumen sollte, das Vorhandensein dieses Bewußtseins nach wissenschaftlicher Methode sicherzustellen, d. h. in ständigem Kontakt mit den Fragestellungen der psychologischen Forschung, die ja natürlich keineswegs mit der prononziert [ausgesprochen - wp] experimentellen Psychologie der Gegenwart zusammenfällt. Daß die Erforschung und Analyse des Normbegriffs und dessen, was damit zusammenhängt, ohne wissenschaftliche Psychologie unmöglich ist, wurde schon oben hervorgehoben; die Wissenschaftlichkeit zeigt sich u. a. aber darin, daß sie sich ihrer Grenzen bewußt ist: das seinem Wesen nach der psychologischen Betrachtung Unzugängliche wird ihr auch tatsächlich nicht unterworfen, und umgekehrt: was eine psychologische Betrachtung erfordert, wird in der psychischen Schicht belassen, wird also innerhalb ihrer erforscht und nicht etwa ins Außerpsychische umgebogen. Beides hängt aufs Engste zusammen: indem die Badener Schule die Wahrheit als solche (d. h. abgesehen von ihrer eventuellen Beziehung zu menschlichen Zielen) als Norm und Wert behauptete, subsumierte sie etwas offenbar aller Psychologie Transzendentes einer Kategorie unter, deren psychologische Natur jedem Unbefangenen deutlich ist. Die richtige Einsicht in die außerpsychische Natur der Wahrheit war andererseits stark genug, um sich trotzdem durchzusetzen: was allerdings nur dadurch möglich war, daß dem offenkundigen Sachverhalt zum Trotz auch der Wertbegriff seines psychologischen Gehaltes entkleidet wurde. Wie unmöglich das ist und zu wie ungeheuerlichen Konstruktionen das - bei RICKERT (25) - geführt hat, ist von anderer Seite bereits einwandfrei dargelegt worden (26). Die Wahrheit ist nie als solche ein Wert, sondern kann es nur etwa in dem Sinne werden, wie dies auch von der geraden Linie gesagt werden muß. Wertvoll oder ein Wert ist unter anderem - aber nur diese Bedeutung kommt hier in Betracht - das, dessen man um irgendeines Zieles willen bedarf, also z. B. zwei Stellen auf dem kürzesten Weg miteinander verbinden will, für den ist die Gerade ein Wert oder wertvoll (und zugleich eine Norm): darum ist aber doch gewiß nicht die Gerade als solche, abgesehen von diesen menschlichen Zielen ein Wert. Wer das dennoch behaupten wollte, würde sich des ausgesprochensten Psychologismus schuldig machen: er interpretiert etwas offenbar Außerpsychisches, nämlich die Gerade psychologisch (als Wert) und treibt so Psychologie an der falschen Stelle. Von der Wahrheit gilt aber völlig Analoges. Und so ist dann eben die Wertlogik und (da, wie wir gesehen haben, die Geltungslogik die Wertlogik bereits im Keim enthält und durch diesen Keim erst völlig verständlich wird) auch die Geltungslogik im letzten Grund psychologistisch - so sehr sie selbst das Gegenteil behauptet. Die Einführung mystischer Begriffe, wie eines überindividuellen Bewußtseins, eines erkenntnistheoretischen Subjekts usw. ändert daran gar nichts. Es ist für den Psychologismus schwerlich von Vorteil, wenn er durch einen Mystizismus "gemildert" ist (27). Der Geltungslogik oder richtiger: der Geltungstheorie der Wahrheit dürfen wir die Anschauung Brentanos als Existentialtheorie der Wahrheit gegenüberstellen. "Wahr ist ein Urteil, wenn es von etwas, das ist, behauptet, daß es ist." Danach trifft also das wahre Urteil etwas Seiendes (zumindest das affirmative, vom negativen, das Nichtseiendes leugnet, gilt Analoges), während das falsche dieses nicht tut. Statt des Wortes "Treffen" oder "Entsprechendsein", "Passendsein" usw., wie BRENTANO selber sich ausdrückt, könnte man auch "Übereinstimmen" sagen und hätte damit die alte aristotelische Übereinstimmungstheorie der Wahrheit gerettet. Aber das Verdienst BRENTANOs ist es, auf die Mehrdeutigkeit des Ausdruckes "Übereinstimmung" hingewiesen zu haben: die Mißverständnisse und Irrtümer, die an die alte Theorie geknüpft sind, entstehen, sobald man "Übereinstimmen" wie üblich mit "Gleich- oder Ähnlichsein" übersetzt. Freilich bedarf die Lehre BRENTANOs der Ergänzung und Weiterführung. Was das Treffen oder Passendsein besagt, muß noch genauer dargelegt werden; vor allem aber gilt es, sie aus ihrer Verflechtung mit der heute überlebten Urteilstheorie ihres Autors so vollständig wie möglich zu lösen. Unter Urteil wollen wir also im Folgenden nicht das Existentialurteil verstehen, auch nicht den Akt der Urteilsfällung und das Bewußtsein der Wahrheit, sondern nur den der einfachen Prädikation, der merkmalsmäßigen Zuordnung eines Merkmals zu einem Gegenstand. der merkmalsmäßigen Zuordnung: das soll besagen, daß nicht jede Zuordnung eines Merkmals zu einem Gegenstand schon eine merkmalsmäßige ist. Sage ich: "Zahl 12 und gerade", so habe ich der Zahl 12 das Merkmal "gerade" in gewisser Weise zugeordnet, aber ich habe es ihr nicht als Merkmal zugeordnet, es nicht als Merkmal der Zahl 12 (es ihr zuordnend) gefaßt in der Weise, wie eben Merkmale Gegenständen zukommen und wie ich sie an jedem beliebigen (konkreten) Gegenstand unmittelbar "erschauen" kann. Das ist sehr wichtig! Denn nunmehr ergeben sich zwei Fälle merkmalsmäßiger Zuordnung. Ich kann nämlich erstens ein Merkmal einem Gegenstand nur im Allgemeinen "merkmalsmäßig" zuordnen, so daß sich in der entsprechenden Rede aus dem Wortlaut des Gesagten ergibt, daß ich den Gegenstand als einen durch dieses Merkmal charakterisierten meine. Das ist offenbar auch der Fall, wenn ich sage: "die Zahl 12 ist ungerade." Oft aber werde ich dem Gegenstand ein Merkmal beilegen, das ihm (tatsächlich) zukommt. In beiden Fällen ist durch die merkmalsmäßige Zuordnung ein bestimmt geartetes Gebilde gekennzeichnet. Dort heißt dieses: die ungerade Zahl 12, hier: die gerade Zahl 12; dort gehört es dem Gebiet des Seienden oder Existierenden an, hier dem des Nicht-Existierenden. Wir wollen nun (da Ausdrücke wie Urteilsinhalt, Sachverhalt usw. bereits anderweitig vergeben sind) derartige Gebilde Urteilsgebilde nennen: also gehört z. B. zu dem Urteil "Meerwasser ist salzhaltig" das Urteilsgebilde "salzhaltiges Meerwasser", zu den Urteilen "Gold ist amorph [nicht kristallin - wp]" und "es gibt Drachen" die Gebilde "amorphes Gold" und "seiende Drachen". Immer, wenn das Urteilsgebilde sich als existierend herausstellt, nennen wir das entsprechende (affirmative) Urteil wahr, wenn als nicht-existierend falsch. So wird die Existenz zum Wahrheitskriterium: Wahrheit und Sein sind Korrelate (28). Vielleicht fragt man: ist nicht "Sein" im Grunde ein viel weniger reinlicher, weil viel weniger eindeutiger Begriff als Wahrheit? (29) Bin ich nicht berechtigt, alles, was mir irgendwie gegeben sein kann, ein Etwas zu nennen, und ist nicht jedes Etwas auch ein Seiendes? Ist nicht auch das amorphe Gold oder etwa der gewölbte Himmel oder die im Meer versinkende Sonne, ja selbst die ungerade Zahl 12 "etwas" und somit seiend? Ich antworte: natürlich kann man den Begriff des Etwas künstlich so weit ausdehnen; der normale Sprachgebrauch sträubt sich dagegen: er wird eine gerade Zahl, die ungerade ist, genauso wie das runde Viereck und das hölzerne Eisen eben als das kontradiktorische Gegenteil eines Etwas ansehen, als nichts - oder wenn schon immerhin als etwas, dann als etwas, das es nicht gibt, als ein nichtseiendes Etwas. Besser gesagt: es handelt sich in solchen Fällen um rein begriffliche Gebilde, denen kein Gegenstand entspricht oder - mit BRENTANO zu reden - um bloß attributive Einheiten. Denn hier hat das fragliche "Etwas" (Zahl 12 usw.) sein Merkmal (ungerade) lediglich aufgrund meiner merkmalsmäßigen Zuordnung: es hat es erst durch sie überhaupt erhalten; nicht aber kommt es ihm "ansich" zu, d. h. unabhängig von einer solchen Zuordnung, unabhängig also (im Sinne meiner Definition) vom Urteilsakt eines Subjekts. Unabhängig von aller merkmalsmäßigen Zuordnung eines Subjekts kommt vielmehr der Zahl 12 das Merkmal "gerade" zu, dem Viereck das Merkmal "eckig", dem Gold das Merkmal "kristallinisch" usw. Überall, wo Seiendes in Frage steht, hat es seine Merkmale unabhängig von meiner merkmalsmäßigen Zuordnung. Wem seine Merkmale unabhängig von meiner merkmalsmäßigen Zuordnung zukommen, das nenne ich ein Seiendes oder ein Etwas im echten und eigentlichen Sinn. Sofern dies vom kristallinischen Gold, vom salzhaltigen Meerwasser oder - zumindest nach nicht-konventioneller Meinung - von der geraden Zahl 12 zutrifft, existieren sie alle oder sind sie alle seiende Etwasse. Man wird sagen: danach müßte auch der gewölbte Himmel existieren. Denn keineswegs sind ja wir es, die wir hier mit unseren prädizierenden Akten dem Himmel die Wölbung beilegen. Vielmehr ist er uns von Anbeginn als gewölbt gegeben - wir nehmen ihn so wahr. Dieser Einwand ist berechtigt. Aber er trifft uns nicht. Denn das Himmelsgewölbe oder der gewölbte Himmel (ebenso wie die versinkende Sonne usw.) existiert in der Tat. Es existiert freilich nur phänomenal, genauso wie auch die von uns wahrgenommenen Farben, Töne, Gerüche usw. nur phänomenal existieren. Mit anderen Worten: das phänomenale Himmelsgewölbe existiert, das reale (30) Himmelsgewölbe existiert nicht. Nur indem wir in der vulgären Rede, die nur für das Reale interessiert ist, elliptisch Himmelsgewölbe schlechthin sagen, wo wir in Wahrheit das reale Himmelsgewölbe meinen, erklärt sich die Selbstverständlichkeit, mit der wir denjenigen beipflichten, welche die Existenz des Himmelsgewölbes bestreiten. Der Satz: "das Himmelsgewölbe existiert" wird also erst dadurch falsch, daß wir seinem Subjekt das Merkmal "real" merkmalsmäßig zuordnen. Denn es kommt ihm nun einmal (wie die Physik gezeigt hat) dieses Merkmal nicht ansich zu, sondern erst infolge unserer (in der gewöhnlichen Sprechweise freilich unterdrückten) merkmalsmäßigen Zuordnung. So ergibt sich, daß meine Definition auch hier zurecht besteht: das reale Himmelsgewölbe hat sein Merkmal nicht von meiner Zuordnung unabhängig, und infolgedessen existiert es nicht. Zugleich zeigen unsere früheren Ausführungen, daß der Gegenstand "reales Himmelsgewölbe (realer gewölbter Himmel)" als Urteilsgebildegefaßt werden kann. Da wir nun außerdem wissen, daß es sich als nicht existierend herausgestellt hat, so ist im Sinne meiner Definition klar, daß das entsprechende Urteil: "das Himmelsgewölbe ist real" (ebenso auch: "das reale Himmelsgewölbe existiert", "der reale Himmel ist gewölbt" usw.) falsch sein muß. Setzen wir die Definition der Existenz in die der Wahrheit ein, so folgt weiter, daß wir ein Urteil dann wahr nennen müssen, wenn es einem Gegenstand das Merkmal (merkmalsmäßig) zuordnet, das ihm auch ansich, d. h. unabhängig von dieser Zuordnung, zukommt, wenn es uns also nur eine auch bereits ansich bestehende Zuordnung (ein natürliches Zukommen) nahe bringt. Falsch dagegen ist ein Urteil, wenn sich herausstellt, daß dies nicht der Fall ist, wenn wir also in ihm eine Zuordnung vornehmen, die nicht ansich besteht und sich also als ein bloß künstliches Zukommenmachen erweist. Von dem "ansich Zukommen" selbst haben wir natürlich das Bewußtsein des ansich Zukommens zu unterscheiden. Dieses Bewußtsein kann, wie bekannt genug, durchaus ohne jenes Zukommen bestehen: das Bewußtsein der Wahrheit und die aus ihm entspringende "Wahrheit" für uns, das Für-wahr-Gehaltene oder Geglaubte, fällt nicht zusammen mit der Wahrheit ansich, der eigentlich so zu nennenden Wahrheit (31). Es muß aber noch genauer geschieden werden: Zunächst kann man von einem neutralen Bewußtsein des "Zukommens" schlechthin im Sinne eines bloßen (merkmalsmäßigen) Zugeordnetseins (32) reden, welches Zukommen dann vielleicht ein Ansichzukommen selbst ist, vielleicht aber auch nicht. Ist es kein dergleichen Zukommen, so besteht weder Wahrheitsbewußtsein noch Wahrheit. Anders, wenn ein Bewußtsein des Ansich dieses Zukommens hinzutritt. Ihm entspricht dann selbstverständlich ein als "Ansichzukommen" Bewußtes, ein "ansich Zukommen für uns", das dann ebenfalls entweder ein ansich Zukommen selbst (oder ansich) sein kann oder aber ein bloßes als ein solches Zukommen Bewußtes oder für ein solches Gehaltenes bleibt. Das heißt: hier besteht Wahrheitsbewußtsein (Urteil im Sinne von Überzeugung, "belief" (33) und ihm entsprechend das für wahr Gehaltene, das sich dann entweder als tatsächlich oder als ansich wahr herausstellt oder nicht. Das Gemeinsame aber und die Voraussetzung in all diesen Fällen ist das "schlichte Zukommen", das "Zukommen schlechthin", wie ich es oben genannt habe, und worunter wir nichts anderes verstehen als das einfache merkmalsmäßige Zugeordnetsein eines bestimmten Merkmals zu einem Gegenstand, ganz gleichgültig, ob es ansich ist oder nicht, ganz gleichgültig auch, ob überhaupt und wie jemand dazu Stellung nimmt. Es entspricht ziemlich genau dem, was sonst Sachverhalt (oder von MEINONG "Objektiv") genannt wird. In der Regel sucht man dem Sachverhalt vom Urteil her beizukommen. Er ist das, was im Urteil anerkannt oder verworfen, für wahr oder falsch gehalten wird. Dadurch wird der Irrtum nahegelegt, es habe der Sachverhalt zum Urteil oder doch zum Denken im weiteren Sinne (zu dem außer dem Beurteilen auch das Zweifeln, Fragen usw. gehört) eine wesentliche Beziehung: er erscheint als etwas notwendigerweise stets Gedachtes, als Denk- und speziell als Urteilsinhalt, und also als unter allen Umständen vom Denken oder Urteilen abhängig. Aber als Inhalt, richtiger als Gegenstand eines Urteils darf ich den Sachverhalt höchstens in dem Sinne bezeichnen, in welchem ich etwa auch ein Recht habe, den Ort, auf den ein Wegweiser gerichtet ist, als Inhalt - oder auch hier richtiger als Gegenstand - der Wegweiser-Anzeige zu bezeichnen. Der Anzeige-Gegenstand, der Ort, bleibt, was er ist, mag sich nun der Wegweiser mit seiner Anzeige auf ihn richten oder nicht (34). Genauso kann auch der Urteilsgegenstand, der Sachverhalt bleiben, was er ist, mag er nun jemandem in einem Urteil zu Bewußtsein kommen oder nicht. Von jedem wahren Sachverhalt gilt dies unbedingt: er ist ja eben ein Sachverhalt ansich, ein "ansich Zukommen", wie ich oben gesagt habe. Und am deutlichsten wird das natürlich, wenn Realitäten in Frage stehen. Was in aller Welt soll es auch mit dem Erlebnis eines Urteils zu tun haben, daß Gold kristallinisch ist, oder - in adäquater Terminologie - daß ihm das Merkmal "kristallinisch" zukommt? Denn das, was hier mit den Worten "daß dem Gold das Merkmal kristallinisch zukommt", umschrieben wird, ist ja offenbar nur die sprachschönere Umschreibung für den schwerfälligen Ausdruck: "das dem Gold Zukommen des Merkmals kristallinisch" und bedeutet also im Sinn meiner Definition einen Sachverhalt. Und dieser ist zugleich wahr, was ja eben nichts anderes heißt, als daß er ein Sachverhalt ansich ist, ein Sachverhalt, der seine Merkmale unabhängig von aller merkmalsmäßigen Zuordnung hat, der also - im Sinne meiner früheren Definition - existiert. "Wahrheit" ist in der Tat nur ein anderer Ausdruck für "Existenz" in dem speziellen Fall, daß sie als Merkmal von Sachverhalten auftritt. Der - falsche - Sachverhalt, "daß die Zahl 12 ungerade ist", existiert so wenig wie das - unechte - Etwas "die ungerade Zahl 12" (35). Wahrheit läßt sich also als spezifisch sachverhaltliche Existenz definieren, und das heißt im Sinne meiner Betrachtungen als Unabhängigkeit (der entsprechenden Merkmale) von zuordnenden oder prädizierenden Akten. Darin liegt zugleich, daß es nicht zu befremden braucht, wenn wir dieser Existenz selber wieder eine Existenz zuschreiben (36): denn offenbar ist die fragliche Unabhängigkeit ebenfalls von dergleichen Akten Unabhängiges, ja es läßt sich auf dieselbe Weise zeigen, daß auch diese Existenz wiederum existiert usw. Wahrheiten existieren also: sie haben ein Sein - wenn auch gewiß nicht generell ein reales. Hier wird nun aber der Gegner einhaken: gerade das sei typisch falsch. Wahrheiten haben - so etwa könnte er im Anschluß an LOTZE ausführen - weder das Sein von Geschehnissen nach Art der Akte, die sie erfassen, noch das der Dinge und dinglichen Vorgänge, auf die sie sich in der Regel zu beziehen pflegen: beides wäre zeitlich bestimmt, Wahrheiten aber gelten zeitlos oder überzeitlich. "Sokrates starb im Jahre 399" - ein zeitlicher Tatbestand, wie alles Reale, und zugleich jetzt von mir in einem Akt erfaßt. Der Akt aber und also auch sein Zeitpunkt ist prinzipiell getrennt von jenem Tatbestand und seinem Zeitpunkt. Wer eine Unabhängigkeit vom erfassenden Akt in irgendeinem Sinn anerkennt oder gar, wie ich, das Wesen der Wahrheit in einer solchen sieht, muß das natürlich zugeben, und wenn etwa Überzeitlichkeit nur besagen soll, daß die erfassenden Akte zeitlich über sich selbst hinausgreifen, wenn man also hier bei dem Wort Zeit ausschließlich an die Akte denken würde, so ist Überzeitlichkeit und Zeitlosigkeit der Sachverhalte, ja aller Gegenstände überhaupt natürlich gerade im Sinne meiner Betrachtungen etwas vollkommen Selbstverständliches. Aber es handelt sich offenbar um mehr: die Wahrheit - heißt es - gilt zeitlos auch abgesehen von allen Akten. Der Sachverhalt, daß SOKRATES im Jahre 399 starb, ist heute genauso wahr, wie er es zur Zeit des Todes des Sokrates selbst war und wie er es in tausend Jahren oder, wann immer man sonst will, sein wird. SOKRATES starb, das Ereignis seines Todes ist längst vorübergegangen, aber der Sachverhalt, in dem er sich darstellt, ist heute genauso wahr wie damals und immer: er - oder der Satz, der ihn ausdrückt - gilt zeitlos, unabhängig von allem Wandel und Fließen der Zeit. Wann auch immer ein Wesen den Satz ausspricht, es muß sagen: er ist wahr und nicht: er wird es sein oder er war es (37). Das scheint nun der hier vorgetragenen Auffassung auf das Entschiedenste zu widersprechen. Denn für uns muß der fragliche Sachverhalt, da er ja dem Etwas, auf das er bezogen ist, unmittelbar zugehört, an dessen Seinsweise teilnehmen und also im Fall unseres Beispiels real sein. Es müßten also Sachverhalte vergehen können: die Existenz und also nach meiner Auffassung auch die Wahrheit eines vergangenen Sachverhalts müßte mit ihm zugleich vergangen sein - in krassestem Widerspruch nicht nur zur Geltungslehre, sondern auch zu allem, was unvoreingenommene Betrachtung jedermann zu lehren scheint. Die Dinge liegen jedoch etwas verwickelter. Zunächst sei der Hinweis erlaubt, daß "Zeitlosigkeit" in dem hier allein in Frage stehenden Sinn keineswegs der Wahrheit ausschließlich zukommt. So sind doch gewiß z. B. viele chemische Vorgänge vergangen. Sie haben aufgehört zu sein. Haben sie aber darum auch zugleich aufgehört, chemisch, d. h. etwas durch das Merkmal "chemisch" Ausgezeichnetes zu sein, so daß es also von nun an falsch wäre, sie als etwas ins Reich der Chemie Gehöriges zu betrachten? Aber das Ende ihres zeitlichen Seins ist selbstverständlich kein Ende der Merkmale, durch die dieses Sein sonst noch bestimmt war. Das Gewesene als Gewesenes genommen bleibt ein gewesenes Chemisches und so ein Chemisches überhaupt: nicht etwa ist es ein chemisch Gewesenes geworden, in dem Sinne, daß es sich nun in etwas Nicht-Chemisches, etwa ein Astronomisches oder Psychisches verwandelt hätte. Das überträgt sich sogleich auch auf das Sein selbst. Alles Gewesene hat offenbar in eben dieser seiner Eigenschaft das Merkmal "früher seiend" und wir dürfen doch gewiß das Früherseiende mit dem Jetzt-Seienden einheitlich zusammenfassen: es steht ja dem niemals, d. h. dem weder jetzt noch früher noch vielleicht auch künftig Seienden als geschlossene Gruppe gegenüber, die wir als das (real) Seiende im weiteren Sinne bezeichnen dürfen: als das von aller Zeitlichkeit abgesehen Seiende, parallel dem entsprechenden Nichtseienden, bei dem als niemals Seiendem ebenfalls die Zeitlichkeit außer Betracht bleibt. Und diese Bedeutung wird durch meine bisherigen Ausführungen noch besonders nahe gelegt. Wenn nämlich dasjenige seiend heißen soll, was seine Merkmale ansich hat, so ist damit ohne weiteres deutlich gemacht, von wie sekundärer Bedeutung hier der Temporalmodus ist. Es liegt jedenfalls näher, das Ansich zu negieren: denn sicher haben Dinge und Geschehnisse, ob sie nun jetzt oder früher stattgefunden haben, eben doch alle dieses Ansich miteinander gemein: sie gehören (nicht: sie gehörten) ins Reich des Ansich als desjenigen, das für die Zugehörigkeit seiner Merkmale keiner präzidierenden Akte bedarf oder bedurfte. Sachverhalte, die diesem Reich des Ansich angehören, sind seiende oder wahre Sachverhalte. Gewiß: viele von ihnen sind vergangen und will man darauf Wert legen, so darf man sagen: sie waren. OFt aber ist das Tempus gleichgültig,, das Sein im weiteren Sinne mit Betonung des Ansichmoments soll hervorgehoben werden. Hier bietet sich der Ausdruck "Wahrheit" als weitaus treffendste Bezeichnung dar: daß SOKRATES im Jahr 399 gestorben ist, gehört dem Reich des Ansich an - auch heute noch; es ist ein Teil des großen Gebiets, das ohne die Hilfe prädizidierender Akte ganz gleich ob auskam oder auskommt und das wir, wenn wie hier Sachverhalte in Frage stehen, das der Wahrheit zu nennen ein Recht haben. - Die Lehre BRENTANOs war mein Ausgangspunkt. Mit meinen letzten Gedanken habe ich mich freilich von ihr sehr weit entfernt, so weit, daß ich bei seinen bedingungslosen Anhängern auf scharfen Widerspruch gefaßt bin. Dennoch bin ich ihr in einem sehr wesentlichen Punkt treu geblieben: in der Auffassung der Wahrheit als Korrelat der Existenz und der aus ihr folgenden strikten Ablehnung der Geltungslehre samt ihrem unvermeidlichem Psychologismus. Wahrheit und Existenz (einschließlich der realen) sind so wenig Gegensätze und bedürfen so wenig eines mystischen Geltens zu ihrer Vermittlung, daß sie vielmehr auf eine weite Strecke hin zusammenfallen: Wahrheit ist, um es noch einmal zu sagen, die Existenz von Sachverhalten. Das Wichtigste aber an jeder Art von Existenz ist ihr Ansich, dem gegenüber der zeitliche Charakter, den wir ihr in vielen Fällen zuschreiben müssen, oft gänzlich zurücktritt. Die Wahrheit, indem sie gerade dieses Wichtigste hervorhebt, erscheint darum als zeitindifferent: sie abstrahiert ihrem Wesen nach von der Zeit ihres Sachverhaltes (38). Der berechtigte Kern in der Lehre von der "Zeitlosigkeit" aller Wahrheit liegt in dieser einfachen Tatsache, zugleich aber auch die völlige Überflüssigkeit der Annahme eines besonderen Geltens zu ihrer Erklärung und nicht minder die Überflüssigkeit der Annahme von Wahrheiten, die in dem Sinne "ansich" sind, daß sie (wie die Bolzanos) zwischen Bewußtseinsakten und erfaßtem Sein gleichsam in der Luft schweben. Sie sind vielmehr dem Sein selbst zugehörig. So verstandene Wahrheiten ansich aber gibt es ohne Zweifel, und es war mein Ziel dies zu zeigen. Ja, ich hoffe bewiesen zu haben, daß dieses Ansich das eigentliche Wesen jeder Wahrheit ausmacht, sogar - wie dargelegt - der "Wahrheit für uns".
1) Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, Tübingen 1915, Seite XI. 2) a. a. O., Seite 305f. 3) Husserl, Logische Untersuchungen, Halle/Saale 1913, Bd. 1, Seite 129f. 4) Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft (Ausgabe Kehrbach) Seite 80f, 261f; vgl. Natorp, Sozialpädagogik und andere Schriften, Windelband, Präludien usw. 5) Vgl. besonders den Dialog "De connexione inter res et verba et veritatis realitate" (Erdmann, Seite 76f), dazu Hugo Bergmann, Das philosophische Werk Bernard Bolzanos, Halle/Saale 1909, Seite 12f. 6) Daß es grundfalsch ist, Bolzano als "Halbkantianer" zu bezeichnen, daß er vielmehr in allen wesentlichen Fragen ein ausgesprochener Gegner Kants und des Kantianismus war, wird auch von Konstantin Oesterreich anerkannt. (vgl. dessen "Geschichte der Philosophie, hg. Überweg-Heinze, 1916, Bd. IV, Seite 161). 7) Bolzano, Wissenschaftslehre (1837) Leipzig 1914, Bd. 1, Seite 85, 92. 8) Brentano, Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand, Stuttgart 1895, Seite 24f. 9) Brentano, Wissenschaftslehre, Bd. 1, Seite 54 10) T. K. Oesterreich, Die philosophischen Strömungen der Gegenwart (Hinnebergs Kultur der Gegenwart), Teil 1, Abteilung 6 (Systematische Philosophie), Seite 374. 11) Ähnlich definiert Alois Höfler den Psychologismus (Atti del V. congresso internazionale di psicologia, Roma 1906, Seite 322) zitiert nach Willy Moog, "Logik, Psychologie und Psychologismus", Seite 3. 12) Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, Leipzig 1889 (Neuauflage 1922). 13) Brentano, Ursprung etc., Anmerkung 25, Seite 76 14) Der Einblick in die Manuskripte Brentanos wurde mir durch das liebenswürdige Entgegenkommen meines Innsbrucker Kollegen, Alfred Kastil ermöglicht, dem ich auch an dieser Stelle meinen Dank dafür aussprechen möchte. 15) Kasimir Twardowski, Leipzig 1894 16) Meinong, Zeitschrift für Psychologie, Bd. 21, Seite 182f. 17) Husserl, Halle/Saale 18) Twardowski, Archiv für systematische Philosophie, Bd. VIII. 19) Vgl. besonders Leo Ssalagoff, "Vom Begriff des Geltens in der modernen Logik", Dissertation, Leipzig 1910. In Wahrheit findet sich bei Husserl der Ausdruck "Gelten" keineswegs als ständiger Terminus. 20) Heinrich Scholz, Zur Analysis des Relativitätsbegriffs, Kant-Studien, Bd. 27, Seite 372. 21) Lotze, Logik, 1880 (Neuauflage 1912), Seite 515. 22) a. a. O., Seite 513f. 23) Vgl. z. B. Lotze, Mikrokosmos, Bd. III, Seite 590f. 24) Gegen das überindividuelle Bewußtsein auch Driesch, Kant-Studien, Bd. 22. Derselbe auch gegen die Geltungslehre: "Ordnungslehre", 1923, Seite 157f. 25) Rickert, Zwei Wege der Erkenntnistheorie, Kant-Studien, Bd. 14, Seite 169f, vgl. auch: Gegenstand der Erkenntnis, Tübingen 1915, Seite 264f und "System der Philosophie", Tübingen 1921, Seite 112f und besonders 117f. 26) Hugo Bergmann, a. a. O. (Nachtrag), Seite 101f, besonders Seite 105. 27) Zur Kritik des Wertbegriffs in der Philosophie Lotzes und der Badener Schule vgl. die klaren Analysen der Schrift von Konrad Wiederhold, Wertbegriff und Wertphilosophie, Berlin 1920 (52. Ergänzungsheft der Kant-Studien). 28) Wie schon Brentanos hervorhebt (Ursprung a. a. O., Seite 76). 29) Über den Begriff des Seins vgl. man vor allem die Darlegungen von Joseph Geyser ("Grundlagen der Logik", Münster 1909 und besonders "Allgemeine Philosophie des Seins und der Natur", ebd. 1915) denen der hier entwickelte Standpunkt relativ am nächsten steht. Aus der älteren Literatur kommt zur allgemeinen Orientierung noch immer in Frage: Adolf Dyroff, Über den Existenzialbegriff, 1902. 30) Real ist ein Etwas, dem das Merkmal "individuell" ansich (im Sinne des Textes zukommt. Vgl. hierzu meine "Grundfragen der Wahrnehmungslehre", München 1918, besonders Seite 126f. Ich gebrauche dort das Wort "wirklich". Da aber z. B. bei Külpe "wirklich" etwas gänzlich anderes bedeutet, ziehe ich hier das Wort "real" vor. Zum genaueren Verständnis des hier entwickelten Standpunktes empfiehlt es sich übrigens meine Lehre von der Schichtenunabhängigkeit (a. a. O. Seite 124f) zu berücksichtigen. Einwände aus dem sogenannten "Satz des Bewußtseins" gegen das hier Vorgetragene werden dadurch hinfällig. 31) Vgl. dazu Nikolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, Berlin und Leipzig 1921, Seite 54 32) Vom Zugeordnetsein unterscheide ich das Zuordnen, vom Sachverhalt das Prädizieren oder "Urteilen" im Sinne von Prädizieren: über die verschiedenen beim Urteil zu beachtenden Schichten vgl. besonders Geyser, Einführung in die Psychologie der Denkvorgänge, Paderborn 1909, sowie die entsprechenden Abschnitte seiner "Grundlagen der Logik" (1909). 33) Von der bleibenden Überzeugung unterscheide ich ihre Gewinnung: die Fällung eines Urteils. 34) Diese Sachlage wird von Heinrich Scholz (a. a. O., Seite 375f, besonders 379f) verkannt. Auch wenn die Wahrheit ein "Relationsbegriff" wäre (was sie nach den Ausführungen des Textes nicht ist), so würde daraus noch immer keine "Abhängigkeit" der Wahrheit "vom Dasein eines urteilsfähigen und vernehmenden Subjekts" folgen, sondern eben nur eine Beziehung zwischen beiden. Ist dann der von einem Wegweiser angezeigte Ort vom Wegweiser abhängig? - - - Daß unsere "Wahrheiten ansich" trotz Scholz keines "intelligiblen Raums" zu ihrer Existenz bedürfen, zeigen hoffentlich die Ausführungen des Textes. 35) Hier zeigt sich zugleich, wie sehr es naheliegt, den Begriff des Sachverhalts (und analog ganz allgemein den des Etwas überhaupt des Gegenstandes) durch Einbeziehung der fälschlich oder nicht existierenden Sachverhalte (und Gegenstände) zu erweitern. 36) Was Brentano glaubte beanstanden zu müssen, vgl. "Klassifikation der psychischen Phänomene", Leipzig 1911, Seite 146f. 37) Eine Tatsache, die Marty zu verkennen scheint (vgl. "Untersuchungen zur allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie" Halle/Saale 1908, Seite 329). 38) Natürlich gibt es daneben noch "ewige" Wahrheiten in einem anderen und eigentlicheren Sinn: es sind die, welche (wie z. B. die arithmetischen) auf ideelle Gegenstände bezogen sind. - - - Die Zeitindifferenz (die sogenannte zeitlose Gültigkeit) aller Wahrheiten, auch der historischen, muß, wenn die hier entwickelten Gedanken richtig sind, eine absolute sein, nicht etwa bloß eine relative. Daß Sokrates im Jahr 399 gestorben ist, ist wenn es überhaupt wahr ist, nicht nur heute und künftig wahr (gültig), sondern war es - so paradox dies zunächst klingt - bereits vor seinem Tod. Wenn die Pythia im Jahr 500 verkündet hätte: "Das Jahr 399 ist das Todesjahr des Sokrates", so hätte sie damit eine Wahrheit verkündet. Der von ihr ausgesagte Sachverhalt war schon damals eine wahre Prophezeiung und wurde es nicht etwa erst mit dem faktisch eintretenden Tod. Das heißt in meinem Sinn: er gehörte schon damals in das Reich des Seienden schlechthin, in welchem sich (weil in ihm die besondere Zeitstelle des einzelnen Seienden grundsätzlich als irrelevant betrachtet wird) sowohl das befindet, was war, wie auch das, was ist, wie auch das, was sein wird. - - - Man pflegt bei der Erörterung der "Zeitlosigkeit" der Wahrheit diese so naheliegende Frage nach der rückbezogenen Wahrheit (wie ich sie nennen möchte) zu übergehen. Richtiger: man verfällt gar nicht auf sie. - - - Daß hier überhaupt ein Problem vorliegt, hat wohl zuerst Bruno Bauch gesehen (Wahrheit, Wert und Wirklichkeit, Leipzig 1923, Seite 38f), wenn er ihm auch eine der meinen entgegengesetzte Lösung gibt: das Urteil "Sokrates starb im Jahr 399" wäre nach ihm vor dem Tod des Sokrates ungültig, ja sinnlos gewesen. Diese abweichende Meinung dürfte wohl in der Hauptsache aus Schwierigkeiten des grammatischen Ausdrucks zu erklären sein. So hört vor allem auch die anscheinende Sonderstellung von Wendungen wie: "ich lebe, schreibe jetzt" usw. auf, wenn man ihre elliptische Natur und das Vorkommen von wesentlich okkasionellen [gelegenheitsbedingten - wp] Ausdrücken (wie ich, jetzt) in ihnen beachtet. Sie stehen dann mit dem Sokrates-Beispiel auf völlig gleicher Stufe. - - - Der vorstehende Aufsatz wurde vor dem Erscheinen des eben zitierten umfassenden Werkes über das Wahrheitsproblem geschrieben. Es konnte also explizit hier nicht herangezogen werden; eine gewisse implizite Berücksichtigung ist natürlich durch die Tatsache seines geltungstheoretischen Standpunkts gegeben - was aber gewiß nicht heißen soll, daß sich die hier gegen andere Vertreter dieses Standpunktes beigebrachten Argumente generell auf die Darlegungen Bauchs übertragen. |